Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Roman spielt im Värmland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und behandelt die Ehe des Pfarrers Karl-Artur Ekenstedt mit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Hausiererin Anna Svärd. Zugleich schildert der Roman, wie sich der im ersten Teil der Trilogie dargestellte Fluch, der auf dem Ring des alten Generals Löwensköld liegt, erfüllt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 496
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Selma Lagerlöf
Anna das Mädchen aus Dalarne
Was man auch gegen Thea Sundler einwenden mag, das eine muß man zugeben, sie verstand es besser als irgend jemand, Karl Artur Ekenstedt zu behandeln.
Denkt man zum Beispiel an Charlotte Löwensköld, so hatte auch diese versucht, ihn zu veranlassen, nach Karlstadt zu fahren und sich mit seiner Mutter zu versöhnen. Aber um ihn dazu zu bewegen, hatte sie ihn an alles erinnert, was ihm die Mutter gewesen war, und zuletzt hatte sie es tatsächlich versucht, ihn damit zu erschrecken, daß er nicht mehr so gut werde predigen können wie bisher, wenn er undankbar gegen seine Mutter sei.
Das war ganz so, als wollte sie, daß er wie der verlorene Sohn kommen und flehen sollte, wieder in Gnaden im Elternhaus aufgenommen zu werden. Aber in der Geistesverfassung, in der er sich damals befand, war das nichts für ihn, der so große Erfolge mit seinen Predigten gehabt hatte und von der ganzen Gemeinde hochgeschätzt wurde.
Thea Sundler griff es ganz anders an, als sie ihn veranlassen wollte, wieder nach Karlstadt zu reisen. Sie fragte ihn, ob das wahr sei, was sie von der lieben Tante Ekenstedt gehört habe, nämlich, daß diese verlange, man sollte sie auch für die kleinste Kleinigkeit, womit man sich gegen sie vergangen habe, um Verzeihung bitten? Aber wenn sie es bei andern so genau nehme, so sei sie wohl auch selbst willig und bereit … Ja, Karl Artur mußte zugeben, daß sie so sei. Im selben Augenblick, wo die Mutter einsehe, daß sie sich vergangen habe, sei sie auch bereit, es wiedergutzumachen und sich zu versöhnen.
Da erinnerte ihn Thea an damals, wo die liebe Tante Ekenstedt im schlimmsten Tauwetter die gefährliche Reise nach Upsala unternommen hatte, nur damit er sie um Verzeihung bitten könne. Und sie wunderte sich darüber, daß er, ein christlicher Pfarrer, einen weniger versöhnlichen Sinn habe als ein gewöhnliches weltliches Menschenkind.
Karl Artur begriff nicht so recht, wo sie hinauswollte. Er starrte sie nur unverwandt an.
Aber Frau Sundler sagte, diesmal sei es die liebe Frau Oberst Ekenstedt gewesen, die sich gegen ihn vergangen habe, und wenn sie so gerecht sei, wie er behaupte, dann könne er ja nicht daran zweifeln, daß sie es jetzt bereute und sich von ganzem Herzen danach sehne, ihn um Verzeihung zu bitten. Aber sie könne ja nicht zu ihm kommen, weil sie krank sei, und darum sei es seine Pflicht, zu ihr zu reisen.
Das war etwas ganz anderes, als womit ihm Charlotte gekommen war. Das hieß nicht, als verlorener Sohn zu den Eltern heimzukehren, sondern bei ihnen als Sieger einzutreten! Nun fuhr er nicht hin und flehte um gnädige Vergebung, sondern er erteilte sie. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie sehr ihm das zusagte und wie dankbar er Thea war, die ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte.
Kaum war er am Sonntag aus der Kirche zurück und hatte bei Thea gegessen, als er sich auch schon auf die Reise nach Karlstadt begab. Ja, er war so eifrig, daß er die ganze Nacht hindurch fuhr. Er hielt sich mit dem Gedanken wach, wie schön es sein werde, wenn er bei der Mutter angelangt sei. Niemand vermochte eine derartige Begegnung so schön zu gestalten wie seine Mutter.
Um fünf Uhr in der Frühe kam er in Karlstadt an; er ging aber nicht sofort nach Hause, sondern zuerst in den Gasthof. Über die Gesinnung seiner Mutter ihm gegenüber kamen ihm nicht die geringsten Zweifel, aber der seines Vaters war er nicht so ganz sicher. Es war durchaus nicht unmöglich, daß der Vater ihn nicht hereinlassen würde, und dem wollte er sich im Beisein des Kutschers nicht aussetzen.
Der Wirt des Gasthofs stand auf der Hausstaffel und erkannte Karl Artur sofort als alten Karlstädter. Er hatte vielleicht ein Vöglein davon pfeifen hören, daß zwischen ihm und seinen Eltern ein Zerwürfnis entstanden sei, weil der junge Pfarrer ein Mädchen aus Dalarne heiraten wolle. Darum sprach, er vorsichtig und teilnehmend mit Karl Artur; aber dieser sah so ruhig und zufrieden aus und antwortete so munter, daß der Wirt anfing zu glauben, das Gerücht von einer Uneinigkeit sei aus der Luft gegriffen.
Karl Artur verlangte ein Zimmer, wusch sich und kleidete sich sehr sorgfältig an. Als er wieder herauskam, trug er den Pastorenrock In Schweden tragen die Pfarrer den ganzen Sonntag über den Pastorenrock, den »Lutherrock«, einen langen zugeknöpften Gehrock und kleine Beffchen, über den in der Kirche der nur über den Rücken herabfallende Talar getragen wird. Anm. d. Ü., die kleinen Beffchen und den hohen schwarzen Hut. Er hatte sich in seine Amtstracht gekleidet, um der Mutter gleich zu zeigen, in welch frommer und priesterlicher Gesinnung er gekommen war.
Der Wirt fragte ihn, ob er frühstücken wolle, allein er lehnte ab, denn er wollte den glücklichen Augenblick, in welchem er und seine Mutter einander in die Arme fallen würden, nicht länger hinausschieben.
Rasch ging er durch die Straßen dem Klarelfstrande zu. In ihm war dieselbe große und freudige Erwartung wie zu jenen Zeiten, wo er als Student von Upsala in die Ferien nach Hause gekommen war.
Aber plötzlich blieb er stehen und sah so verstört aus, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Er war dem Elternhause ganz nahe gekommen und sah, daß alle Türen und Fensterläden fest verschlossen waren. Im ersten Erstaunen fiel ihm ein, der Wirt hätte am Ende seinen Eltern Nachricht gesandt, daß er gekommen sei, und sie hätten das Haus verschlossen, um ihn nicht hereinzulassen. Er wurde feuerrot vor Zorn und machte sofort kehrt, um wieder abzureisen.
Aber es dauerte nicht lange, da mußte er über sich selbst lachen. Es war ja kaum sechs Uhr, und um diese Zeit war das Haus immer fest verschlossen. Das war doch zu lächerlich von ihm! Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, die Läden seien verriegelt und die Türen verschlossen, damit er nicht herein könne! Er ging zurück zur Gartentür und nahm auf einer Gartenbank Platz, um abzuwarten, bis das Haus erwache. Jedenfalls aber konnte er nicht umhin, es für ein schlechtes Zeichen anzusehen, daß die Heimat so fest verschlossen war, als er ankam. Mit seiner Fröhlichkeit war es aus. Die große Zuversicht, die ihn die Nacht hindurch aufrechterhalten hatte, war verflogen.
Er betrachtete die schönen Blumenbeete und die gepflegte Rasenfläche. Und er betrachtete das große und schöne Haus. Und dann dachte er an sie, die über das alles herrschte und die so sehr geschätzt und gefeiert war, und er mußte sich selbst sagen: es ist unmöglich, daß sie mich um Verzeihung bittet. Es fehlte nicht viel, daß er weder sich noch Thea mehr verstehen konnte. In Korskyrka hatte er gemeint, es sei eine natürliche und selbstverständliche Sache, daß seine Mutter Reue empfinde, aber hier sah er seine Torheit ein.
Schließlich war er davon überzeugt, daß er seines Weges gehen wollte. Ja, schon stand er auf. Er hatte es eilig, von hier wegzukommen, ehe ihn irgendein Mensch gesehen hatte.
Aber als er bereits an der Gartentür stand, kam ihm der Gedanke, es sei vielleicht der allerletzte Besuch, den er in seiner Heimat mache. Wenn er jetzt gehe, dann sei es, um niemals wiederzukehren.
Er wanderte an der Hausecke vorbei und gelangte unter die großen schönen Bäume am Flußufer. Ja, hier würde er also niemals mehr lustwandeln und die herrliche Aussicht genießen! Lange betrachtete er das Ruderboot, das heraufgezogen am Strande lag. Seit er fort war, kümmerte sich wohl niemand mehr darum; aber siehe da, es war geteert und gestrichen, ganz wie damals, als er noch darin zu rudern pflegte!
Er eilte hin zu einem kleinen Gartenbeet, das er gehegt hatte, als er noch ein Kind war, und er fand auch dieses genau wie damals und mit ganz den gleichen Gemüsen bepflanzt, die er dort gezogen hatte. Und er begriff, es war die Mutter, die dies veranlaßt hatte. Sie war es, die dafür sorgte, daß das kleine Spielgärtchen erhalten blieb. Es waren mindestens fünfzehn Jahre vergangen, seit er es selbst bearbeitet hatte. Unter dem Astrachanbaum suchte er nach unreifen Äpfeln und steckte einen in die Tasche, obwohl er noch grasgrün und viel zu hart zum Hineinbeißen war. Und von den Johannis- und Stachelbeeren naschte er, obwohl sie schon alt und überreif waren.
Er wandte sich dem Wirtschaftsgebäude zu und fand einen Schuppen, in dem er immer einen kleinen Spaten, einen Rechen und eine Schiebkarre stehen gehabt hatte. Er guckte hinein. Wirklich, alle drei Gegenstände befanden sich noch am selben Platz, wo er sie verlassen hatte. Niemand hatte sie fortschaffen dürfen.
Nun war es gewiß sehr spät geworden, und er mußte sich beeilen, wenn er ungesehen wegkommen wollte. Aber immer gab es noch etwas, das er gerne zum letztenmal sehen wollte. Alles hatte einen ganz neuen Wert für ihn bekommen. Ich wußte gar nicht, wie lieb mir das alles ist, dachte er.
Zu gleicher Zeit mußte er aber über seine eigene Kindlichkeit lächeln. Es wäre ihm unlieb gewesen, wenn ihn Thea Sundler jetzt gesehen hätte, die vor ein paar Tagen die heldenmütigen Worte, mit denen er sich von Eltern und Heimat lossagte, so sehr bewundert hatte. Schließlich kam ihm der Verdacht, das, was ihn hier festhalte, sei die geheime Hoffnung, jemand könnte ihn sehen und ihn hineinlassen. Aber als er sich das klarmachte, faßte er einen raschen Entschluß und ging seines Weges.
Er war am Ende des Sandweges angelangt und stand an der Gartentür, als er in dem verschlossenen Wohnhaus ein Fenster öffnen hörte.
Nun konnte er es nicht lassen, er mußte sich umdrehen. Das Fenster des Schlafzimmers seiner Mutter war geöffnet worden, und seine Schwester Jaquette beugte sich heraus, um die frische Morgenluft einzuatmen.
Im nächsten Augenblick hatte sie ihn auch schon entdeckt, und sofort nickte sie ihm zu und winkte ihm. Und gegen seinen Willen tat er dasselbe. Er nickte und winkte wieder und deutete auf die verschlossene Haustür. Da verschwand Jaquette vom Fenster, und nach wenigen Minuten hörte er Schloß und Riegel klirren. Die Tür ging auf, die Schwester erschien auf der Schwelle und streckte ihm beide Hände entgegen.
Er schämte sich vor Thea und vor sich selbst, denn in diesem Augenblick glaubte er nicht, die Mutter werde ihn um Verzeihung bitten. Nein, er hatte in der Heimat nichts mehr verloren, aber er konnte es nicht lassen, er lief auf Jaquette zu, erfaßte ihre Hände, zog sie an sich und war herzensfroh darüber, daß sie ihm aufgemacht hatte. Unwillkürlich traten ihm die Tränen in die Augen.
Jaquette war überglücklich. Als sie ihn weinen sah, umarmte und küßte sie ihn. »Karl Artur, Karl Artur, Gott sei Dank, daß du gekommen bist!«
Er war vollständig überzeugt gewesen, man werde ihn nicht ins Haus hineinlassen. Nun überraschte ihn dieser freundliche Empfang so sehr, daß er nur stotternd fragen konnte: »Sag, Jaquette, ist die Mutter wach? Kann ich mit ihr sprechen?«
»Gewiß kannst du mit der lieben Mutter reden. Es ist ihr in den letzten Tagen besser gegangen, und heute nacht hat sie wirklich gut geschlafen.«
Sie ging vor ihm her die Treppe hinauf, und er folgte ihr etwas langsamer nach. Niemals hätte er glauben können, daß er sich so glücklich fühlen würde, wieder daheim zu sein! Er legte die Hand auf das glatte Treppengeländer, nicht um sich darauf zu stützen, sondern um es zu streicheln.
Als er die Treppe hinaufgekommen war, erwartete er nichts anderes, als daß jemand kommen und ihn davonjagen werde. Allein nichts dergleichen geschah. Da ging ihm ein Licht auf. Der Vater hatte augenscheinlich der Familie von dem großen Zerwürfnis gar nichts mitgeteilt. Nein, nein, er hatte das ja gar nicht tun können, weil die Mutter krank war!
Ja, so mußte es zusammenhängen, das war klar. Und nun ging Karl Artur mit mehr innerer Ruhe weiter.
Wie schön war es hier in den Zimmern! Dieser Ansicht war er zwar schon immer gewesen, aber doch nicht so entschieden wie heute. Die Möbel standen nicht nur so an den Wänden herum wie anderwärts. Hier innen war es angenehm und behaglich. Sie, die hier wohnte, hatte allem ihr Gepräge aufgedrückt.
Die beiden Geschwister hatten nun den Salon und das Kabinett durchschritten und waren an der Schlafzimmertür angelangt. Hier machte Jaquette ihrem Bruder ein Zeichen zu warten, während sie allein in das Schlafzimmer glitt.
Er strich sich über die Stirn und suchte sich zu erinnern, warum er hierhergekommen war. Aber er konnte an nichts anderes denken, als daß er zu Hause war und seine Mutter sehen würde.
Dann kam Jaquette wieder heraus und holte ihn. Als er seine Mutter sah, die bleich, mit verbundenem Arm und verbundener Stirn im Bette lag, war ihm das wie ein Stoß vor die Brust, und er warf sich am Bett auf die Knie. Sie stieß einen Freudenruf aus, faßte ihn mit dem gesunden Arm um den Hals, zog ihn zu sich heran in einer langen Umarmung und küßte ihn.
Sie schauten einander in die Augen und waren überglücklich. In diesem Augenblick gab es nichts, was sie trennte. Alles war vergessen.
Das hatte sich Karl Artur vorher nicht klargemacht, wie schwach und gebrechlich die Mutter jetzt war, und er konnte seine Rührung kaum beherrschen. Sehr zärtlich erkundigte er sich nach ihrem Zustand. Da war es unmöglich, daß sie nicht merkte, wie sehr er sie liebte. Aber dies war das beste Heilmittel für die Kranke, und sie zog ihn noch einmal an sich.
»Es hat gar nichts zu bedeuten. Jetzt ist alles wieder gut. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Schmerzen gewesen sind.«
Aus dieser Antwort ersah er, daß sie ihn noch genauso liebte wie früher. Ja, nun war ihm alles wiedergegeben, was er schon als verloren betrauert hatte. Das merkte er jetzt genau. Er durfte sich wieder als der Sohn dieses prächtigen Hauses fühlen. Es blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig.
Allein während er sich am glücklichsten fühlte, überkam ihn plötzlich eine seltsame Unruhe. Er hatte das nicht erreicht, weswegen er ausgezogen war. Seine Mutter hatte ihn nicht um Verzeihung gebeten, und es sah auch gar nicht so aus, als ob sie es zu tun gedächte. Eine starke Versuchung überkam ihn, sich gar nicht um eine Verzeihung zu kümmern. Aber dies war eben doch eine sehr wichtige Sache für ihn. Wenn seine Mutter einsah, daß sie ihm unrecht getan hatte, dann bekam er ja eine ganz andere Stellung hier im Hause, und die Eltern würden gezwungen sein, in der Frage seiner Heirat mit Anna Svärd nachzugeben.
Nachdem ihn die Mutter so wohl empfangen hatte, fühlte er sich außerdem ganz sicher und auch ein wenig übermütig. Es wird am besten sein, wenn ich diese Frage gleich aus der Welt schaffe, dachte er. Es ist nicht sicher, ob Mutter an einem anderen Tag ebenso mild und zärtlich sein wird.
Bis jetzt hatte er auf den Knien gelegen, nun aber stand er auf und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
Es machte ihn etwas verlegen, daß er jetzt mit seiner Mutter ins Gericht gehen sollte. Aber da kam ihm ein Einfall, der ihn ganz vergnügt machte. Er erinnerte sich an früher: wenn er oder die Schwester etwas Unrechtes getan hatte, wegen dessen die Mutter eine Bitte um Verzeihung erwartete, dann hatte sie allezeit den Übeltäter mit den Worten angeredet: »Nun, mein Kind, hast du mir nichts zu sagen?«
Um nun auf eine leichte Weise auf das heikle Thema zu kommen, runzelte Karl Artur die Stirn und erhob den Zeigefinger, lächelte aber dazu, damit die Mutter begreifen sollte, daß er lustig und scherzhaft gestimmt sei, und sagte:
»Nun, liebe Mutter, hast du mir nichts zu sagen?«
Seine Mutter schien durchaus nichts zu begreifen. Sie lag still da und schaute fragend zu ihm auf.
Die arme Schwester dagegen, die seither ganz glücklich danebengestanden und die freudige Begrüßung zwischen Mutter und Bruder mit angesehen hatte, sah nun höchst erschrocken aus und hob verstohlen die Hand, um ihn zu warnen.
Allein Karl Artur war ganz fest überzeugt, seine Mutter werde über seinen Einfall entzückt sein und ihm in demselben Tone antworten, sobald sie seine Meinung erfaßt habe. Er wollte sich nicht warnen lassen, sondern fuhr in seiner Rede fort:
»Du hast wohl bemerkt, Mutter, daß ich am Donnerstag etwas ärgerlich war, weil du den Versuch gemacht hattest, mich und meine Braut zu trennen. Ich hätte niemals gedacht, daß meine liebe Mutter so unfreundlich gegen mich sein könnte, und ich war so verstimmt, daß ich auf und davon ging mit der Absicht, dich nie wiederzusehen.«
Die Frau Oberst lag immer noch still da. Karl Artur konnte nicht die geringste Spur von Zorn oder Mißbilligung an ihr wahrnehmen.
Die Schwester dagegen wurde immer unruhiger. Sie schlich sich näher heran und kniff ihn vom Fußende des Bettes her fest in den Arm.
Er begriff wohl, was sie meinte, aber er war seiner Sache vollkommen sicher. Viel besser als Jaquette wußte er, wie die Mutter genommen werden mußte, und so fuhr er wie vorher fort:
»Ja, liebe Mutter«, sagte er, »als ich am Freitag früh den Vater verließ, versicherte ich ihm, daß ich nie wieder in diese Mauern zurückkehren würde. Aber nun bin ich doch wieder hier, und ich möchte wohl wissen, ob du, die klügste Frau in Karlstadt, verstehst, warum ich wiedergekommen bin?«
Hier machte er eine Pause. Er war überzeugt, da er nun so viel gesagt hatte, werde die Mutter von selbst fortfahren. Aber das tat sie nicht; sie schob sich nur ein wenig höher auf das Kopfkissen hinauf und hielt die Augen so beharrlich auf ihn gerichtet, daß es ihn fast peinlich berührte.
Unwillkürlich stieg der Gedanke in ihm auf, ob nicht vielleicht der Verstand seiner Mutter durch die Krankheit geschwächt worden sei. Sie konnte doch sonst halbausgesprochene Dinge verstehen; wenn sie das jetzt nicht tat, so mußte er eben weitermachen.
»Ja, Mutter, es war wirklich meine Absicht, dich niemals wiederzusehen; als ich dies aber einer Freundin mitteilte, fragte sie mich, ob nicht meine Mutter es gewesen sei, die immer verlangt habe, daß man sich für das kleinste Versehen bei ihr entschuldige. Und dann fragte sie mich weiter, ob nicht auch meine Mutter selbst …«
Weiter kam er nicht, denn Jaquette unterbrach ihn wieder. Sie schüttelte jetzt seinen Arm geradezu.
Doch in diesem Augenblick brach die Frau Oberst ihr langes Schweigen.
»Nein, Jaquette, störe ihn nicht«, sagte sie. »Laß ihn weiterreden.«
Als die Mutter das sagte, durchfuhr Karl Artur ein leiser Verdacht, ob sie am Ende doch nicht so ganz zufrieden mit ihm sei, aber er schob ihn gleich wieder weit von sich weg. Sie konnte ihn doch nicht für hart und lieblos halten, das war unmöglich. Größere Schonung konnte sie doch nicht verlangen.
Nein, die Mutter hatte Jaquette nur verbieten wollen, ihn einmal ums andere zu stören. Und jedenfalls hatte er jetzt schon zuviel gesagt, da war es am besten, er sprach sich ganz aus.
»Diese Freundin war es auch, die mich jetzt hierhergeschickt hat. Sie sagte, es sei meine Pflicht, zu meiner Mutter zu reisen, da diese ja nicht zu mir kommen könne. Erinnerst du dich, liebe Mutter, wie du damals nach Upsala gereist bist, damit ich Gelegenheit hätte, dich um Verzeihung zu bitten? Meine Freundin sagte mir, sie sei überzeugt, du werdest einsehen, daß du …!«
Nein, daß es so schwer war, mit seiner Mutter ins Gericht zu gehen! Diese Worte klebten ihm förmlich an der Zunge. Er stammelte, und er hustete, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schweigen. Da flog ein leichtes Lächeln über das Gesicht der Frau Oberst, und sie fragte, wer denn die Freundin sei, die so gute Gedanken über sie hege.
»Thea war's, Mutter.«
»War es nicht Charlotte, die meinte, ich sehne mich nach dir, um dich um Verzeihung bitten zu können?«
»Nein, nicht Charlotte war's, sondern Thea.«
»Ich bin froh, daß es nicht Charlotte war«, sagte die Frau Oberst.
Dabei schob sie sich noch etwas höher auf das Kissen hinauf und versank in Schweigen. Auch Karl Artur sagte nichts mehr. Er hatte seiner Mutter nun gesagt, was er wünschte, wenn auch nicht mit so großer Beredsamkeit, wie es notwendig gewesen wäre. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Mittlerweile betrachtete er seine Mutter. Sicherlich kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich selbst. Dem eigenen Sohne gegenüber ihr Unrecht anzuerkennen, das ging nicht so mit einem Male.
Doch nun stellte sie eine andere Frage. »Du hast deinen Pastorenrock angezogen?«
»Ich wollte dir damit zeigen, in welcher Gemütsstimmung ich gekommen bin.«
Ein neues Lächeln huschte über das Antlitz der Mutter, und Karl Artur erschrak, denn es war böse und spöttisch.
Doch plötzlich kam ihm das Gesicht hier auf den Kissen vor, als sei es in Stein gemeißelt. Die Worte, die er erwartete, kamen nicht. Angst erfaßte ihn, es könnte seiner Mutter am Ende nicht möglich sein, zu bereuen und abzubitten.
»Mutter!« rief er und legte in seine Stimme so viel Ermahnung und Erwartung, als ihm möglich war.
Da ging eine Veränderung mit der Kranken vor. Das Blut schoß ihr ins Gesicht; sie richtete sich im Bett auf, hob den gesunden Arm in die Höhe und schüttelte ihn vor seinem Gesicht.
»Nun ist es genug!« rief sie. »Gottes Geduld ist zu En–« Sie konnte nicht mehr. Das letzte Wort erstarb matt und undeutlich. Die Augäpfel drehten sich nach oben, so daß nur noch das Weiße zu sehen war, und die Hand fiel schlaff auf die Decke nieder. Jaquette rief laut um Hilfe und rannte aus dem Zimmer. Karl Artur warf sich über die Mutter. »Was ist dir? Mutter! Mutter! Aber nimm es doch nicht so schwer!« Er küßte sie auf Mund und Stirne, wie wenn er Leben in sie hineinküssen wollte.
Als er so über sie gebeugt lag, fühlte er plötzlich einen harten Griff im Nacken. Jemand hatte ihn am Rockkragen gefaßt, und als ob er ein kraftloser junger Hund wäre, wurde er von einer starken Hand zum Zimmer hinausgetragen und auf den Boden geschleudert.
Zugleich hörte er seinen Vater mit furchtbarer Stimme sagen: »Ach so, du bist wiedergekommen! Du kannst dich wohl nicht zufriedengeben, bis du sie ganz umgebracht hast!«
Als die Uhr an demselben Montagmorgen acht Uhr schlug, klingelte es bei Bürgermeisters, und die alte verständige Jungfer, die den Haushalt leitete, eilte in den Flur, um zu öffnen.
Der da draußen stand, war Karl Artur Ekenstedt; aber die Jungfer dachte bei sich, wenn sie nicht seit so vielen Jahren in Karlstadt gelebt hätte und ihr Karl Artur nicht schon als Junge und auch als erwachsener junger Mann bekannt gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war blaurot, und die schönen Augen waren so vorgequollen, daß es aussah, als wollten sie aus ihren Höhlen treten.
Da die Jungfer schon so lange bei Bürgermeisters im Dienst war und eine gewisse Erfahrung in den einschlägigen Dingen gesammelt hatte, dachte sie, der junge Ekenstedt sehe aus wie ein Mörder, und sie hätte ihn am liebsten gar nicht ins Haus hereingelassen. Da er aber doch der Sohn des Oberst Ekenstedt und der guten Frau Oberst war, blieb ihr nichts anders übrig, als ihn hereinzulassen und ihn zu bitten, Platz zu nehmen und auf den Herrn Bürgermeister zu warten. Dieser mache seinen gewohnten Morgenspaziergang, er frühstücke aber um acht, und bis dahin werde er jedenfalls zurück sein.
Wenn sie indessen schon über den Anblick des jungen Mannes erschrocken war, so wurde sie keineswegs ruhiger, als sie sah, wie er an ihr vorbeiging, ohne zu grüßen oder ein Wort zu sagen, gerade wie wenn er ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.
Sicherlich war da etwas nicht so, wie es sein sollte. Alle Kinder der Frau Oberst waren ja sonst immer höflich und freundlich. Diesem Sohn hier mußte ein großes Unglück zugestoßen sein. Er ging vom Flur geradewegs in das Zimmer des Bürgermeisters hinein, und die Jungfer sah, daß er sich in dem Schaukelstuhl niederließ. Aber er blieb nicht lange darin sitzen. Gleich darauf trat er an den Schreibtisch und begann in den Papieren des Bürgermeisters zu fingern.
Sie mußte ja in die Küche hinaus und auf die Uhr sehen, damit die Eier zum Frühstück des Bürgermeisters nicht zu hart würden, und dann mußte sie auch für den Kaffee sorgen. Aber sie mußte dabei doch immer an den jungen Ekenstedt denken. Alle Augenblicke lief sie ins Zimmer hinein, um einen Blick auf ihn zu werfen.
Jetzt wanderte er da auf und ab. Bald war er am Fenster und bald an der Tür, und die ganze Zeit redete er laut mit sich selbst.
Ist es verwunderlich, daß sie Angst bekam? Die Frau Bürgermeister war mit den Kindern bei Verwandten auf dem Lande, und die anderen Dienstboten waren beurlaubt. Die Jungfer war allein in der Wohnung, und die ganze Verantwortung lag auf ihr.
Was sollte sie nur mit dem, der da drinnen im Zimmer des Bürgermeisters herumlief und aussah, als habe er den Verstand verloren, anstellen? Wie, wenn er etwas von den wichtigen Dokumenten, die auf dem Schreibtisch lagen, vernichtete? Und doch konnte sie auch nicht ihre Arbeit im Stiche lassen, um ihn zu beaufsichtigen.
Da kam der alten verständigen Jungfer ein Gedanke, und sie fragte Karl Artur, ob er nicht ins Eßzimmer kommen und in der Wartezeit eine Tasse Kaffee zu sich nehmen wolle? Karl Artur sagte nicht nein, sondern ging sofort mit ihr. Und darüber war sie außerordentlich froh, denn solange er am Kaffeetisch saß, konnte er doch keinen Unfug anstellen.
Er setzte sich gerade auf den Platz des Bürgermeisters, und die Kaffeetasse, die die Jungfer eingeschenkt hatte, trank er in einem Zuge aus, ohne sich darum zu kümmern, daß der Kaffee kochend heiß war. Dann griff er selbst nach der Kanne, die sie auf den Tisch gestellt hatte, schenkte sich noch eine Tasse ein und trank auch diese aus. Er nahm weder Zucker noch Sahne, goß nur den brühheißen Trank in sich hinein.
Als er die zweite Tasse ausgetrunken hatte, mußte er wohl bemerkt haben, daß die Jungfer auf der anderen Seite des Tisches stand und ihn betrachtete, denn er wandte sich jetzt zu ihr und sagte:
»Sie haben sehr guten Kaffee für mich gekocht. Das ist sehr gut von Ihnen. Es ist gewiß das letztemal, daß ich überhaupt Kaffee bekomme.«
Dies sagte er überaus leise, sie konnte die Worte gerade noch verstehen. Es hatte den Anschein, als wolle er ihr ein großes Geheimnis anvertrauen.
»Ach, Sie bekommen wohl auch guten Kaffee bei der Pröpstin in Korskyrka«, erwiderte die Jungfer.
»Jawohl, den bekäme ich schon«, antwortete er, indem er dabei in ein leichtes albernes Lachen ausbrach. »Aber sehen Sie, ich komme nun nie mehr dorthin.«
Daran war nichts Sonderbares. Die jungen Geistlichen wurden ja bald dahin, bald dorthin geschickt. Die Jungfer fühlte sich etwas beruhigter. »Ich glaube, in den Pfarrhäusern, wohin Sie, Herr Magister, auch immer kommen mögen, macht man überall guten Kaffee«, sagte sie.
»Meinen Sie denn, es gäbe auch im Gefängnis guten Kaffee?« fragte er mit noch leiserer Stimme. »Dort wird es sicherlich mit Kaffee und Kuchen aus sein.«
»Aber Sie sollen doch nicht ins Gefängnis? Warum denn um alles in der Welt?«
Er wendete sich fast ganz von ihr weg. »Ich will auf diese Frage keine Antwort geben«, sagte er.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Eßtisch zu. Er strich Butter auf ein Stück Brot, legte Käse darauf und aß wie ein Ausgehungerter, biß gierig große Stücke ab und schluckte, fast ohne zu kauen. Die Jungfer fing an zu glauben, er sei nur ganz ausgehungert, sonst fehle ihm nichts. Sie ging in die Küche und holte die für den Bürgermeister bestimmten Eier. Karl Artur verschlang die beiden Eier wie nichts und griff dann aufs neue nach Brot und Butter. Und mitten unter dem eifrigen Essen fing er wieder zu sprechen an:
»Es sind heute sehr viele Tote in der Stadt unterwegs.«
Das sagte er sehr gelassen und gleichgültig, wie wenn er gesagt hätte: »Es ist schönes Wetter heute.« Aber die Jungfer konnte sich doch eines kleinen Schreckens nicht erwehren, und das mußte er gemerkt haben.
»Meinen Sie, was ich sage, sei sonderbar? Ja, es ist wohl etwas Sonderbares daran, daß ich die Toten sehe, das glaub' ich selbst auch. Soviel ich weiß, ist das früher niemals bei mir vorgekommen, nein, niemals, erst nach dem, was ich heute früh um sieben Uhr erlebt habe.«
»Ach so«, sagte die Jungfer.
»Ja, sehen Sie, da bekam ich einen schweren Herzkrampf. Ich wollte von Hause in die Stadt gehen, aber ich konnte nicht, ich mußte mich am Lattenzaun unseres Gartens festhalten. Da sah ich den Dompropst Sjöborg mit seiner Gattin daherkommen. Sie kamen ganz genauso wie gewöhnlich, wenn sie am Sonntag bei uns zu Mittag aßen. Sie wußten natürlich schon, was ich getan hatte, und sagten zu mir, ich solle hierher zum Herrn Bürgermeister gehen, meine Missetat bekennen und verlangen, daß ich gestraft werde. Ich erwiderte zwar, das sei unmöglich, aber sie bestanden eigensinnig darauf.«
Karl Artur unterbrach sich, goß sich eine neue Tasse Kaffee ein und trank sie sofort aus. Er betrachtete die Jungfer mit prüfenden Blicken, wie um zu sehen, auf welche Weise sie das aufnahm, was er ihr eben berichtet hatte.
Aber die Jungfer sagte nur ganz ruhig: »Es gibt viele Menschen, die Tote gesehen haben, deshalb brauchen Sie, Herr Magister, doch nicht …«
Man sah es Karl Artur an, wie er sich über diese Antwort freute.
»Das glaube ich sicher auch. Ich bin vollständig wie sonst, bis auf dieses einzige.«
»Ja gewiß«, sagte die Jungfer. Sie hielt es fürs beste, ihm zuzustimmen und gleichgültig auszusehen; aber sie wünschte allmählich dringend, der Bürgermeister möchte nach Hause kommen.
»Ich widersetze mich ihrem Willen nicht«, sagte Karl Artur. »Aber ich bin ja noch bei vollem Verstand, und so weiß ich, daß mich der Herr Bürgermeister nur auslachen wird. Ich habe eine schwere Schuld auf meinem Gewissen, das leugne ich nicht, aber es ist ja nichts, wofür ich festgenommen und verurteilt werden kann.«
In demselben Augenblick schloß er die Augen und bog sich zurück. Das Stück Brot, das er in der Hand hielt, fiel auf den Boden, sein Gesicht verzerrte sich, wie wenn er furchtbare Schmerzen hätte; aber der Anfall ging merkwürdig rasch vorüber.
»Es ist ein Herzkrampf«, sagte er. »Ist es nicht sonderbar; er überfällt mich, sobald ich sage, daß ich es nicht tun könne.«
Er stand vom Tisch auf und ging wieder im Zimmer auf und ab.
»Ich soll es tun«, sagte er, und jetzt hatte er vollständig vergessen, daß die Jungfer neben ihm stand und ihm zuhörte. »Ich will es tun, ich werde dem Bürgermeister sagen, daß ich etwas getan habe, wofür er mich strafen kann. Ich werde ihm sagen, ich hätte den Tod eines Menschen verursacht. Es wird mir schon etwas einfallen. Ich muß sagen, ich hätte es mit Absicht getan.«
Er trat wieder zu der Jungfer. »Denken Sie, nun ist es vorbei«, sagte er und sah ganz froh aus. »Es geht vorüber, sobald ich sage, ich wolle meine Strafe büßen. Ich bin so glücklich.«
Die alte verständige Jungfer hatte jetzt keine Angst mehr vor ihm. Tiefes Mitleid hatte sie ergriffen. Sie faßte seine Hand und streichelte sie. »Aber Sie verstehen doch wohl, Herr Magister? Sie dürfen nicht die Schuld auf sich nehmen für etwas, was Sie nicht getan haben.«
»Doch«, sagte er. »Ich weiß, das ist das richtige. Und ich will gerne sterben. Ich will meiner Mutter zeigen, daß ich sie geliebt habe, und ich werde sehr glücklich sein, wenn ich sie dort im Jenseits treffen darf, nachdem alles gesühnt ist.«
»Aber das wird nie geschehen«, sagte die Jungfer. »Ich werde mit dem Herrn Bürgermeister sprechen.«
»Nein, das werden Sie nicht tun«, versetzte Karl Artur.
»Warum sollte mich ein Richter nicht verurteilen können? Ich habe ja gemordet, obgleich ich weder Messer noch Schießwaffe benützt habe. Jaquette weiß, wie es zugegangen ist. Glauben Sie nicht, daß Härte und Lieblosigkeit gefährlicher sind als Stahl und Blei? Mein Vater weiß es auch, er kann es bezeugen. Ich kann wohl verurteilt werden, ich bin nicht unschuldig.«
Die Jungfer wurde der Antwort überhoben. Zu ihrer großen Freude hörte sie Schritte die Treppe heraufkommen.
Sie lief in den Flur hinaus und hoffte, dem Bürgermeister da noch ein warnendes Wort zuflüstern zu können; aber Karl Artur folgte ihr dicht auf den Fersen. Er hatte wohl die Absicht, sofort mit seinem Bekenntnis herauszurücken, fand aber nicht gleich die richtigen Worte.
»Ach so, du bist wieder hier«, sagte der Bürgermeister. »Es war ja auch zu traurig mit der Frau Oberst.«
Zugleich reichte er Karl Artur die Hand; doch dieser hielt seine rechte Hand hinter dem Rücken. Er richtete die Augen auf die Wand, und mit etwas zitternder, aber doch deutlicher Stimme sagte er: »Ich komme, Sie zu bitten, mich festnehmen zu lassen. Ich habe meine Mutter getötet.«
»Ach, zum Kuckuck!« rief der Bürgermeister. »Die Frau Oberst ist ja wohl gar nicht tot! Ich traf soeben den Doktor …«
Karl Artur wankte zurück. Die Jungfer glaubte, er werde fallen, und breitete die Arme aus, ihn aufzufangen. Aber er gewann doch das Gleichgewicht wieder. Dann riß er seinen Hut an sich, und ohne ein weiteres Wort stürzte er auf die Straße hinaus. Der erste Mensch, den Karl Artur erblickte, war der alte Hausarzt der Familie. Eilig lief er auf ihn zu und rief: »Wie geht es meiner Mutter?«
Der Doktor sah ihn mißbilligend an. »Gut, daß ich dich treffe, du Nichtsnutz! Daß du dich nicht unterstehst, jetzt wieder nach Hause zu kommen! Was ist denn in dich gefahren? Setzt dich hin und hältst einer Kranken eine Strafpredigt!«
Karl Artur brauchte nicht noch mehr zu hören. Mit Eilschritten lief er von dem Doktor weg, schnurstracks dem elterlichen Hause zu. Als er näher gekommen war, sah er seine verheiratete Schwester, Eva Arcker, an der Gartentür stehen.
»Eva!« rief er. »Ist es wahr? Mutter lebt?« – »Ja«, sagte sie leise. »Der Doktor meint, sie werde am Leben bleiben.«
Rasch wollte er die Tür aufreißen. Er dachte an nichts weiter, als hineinzustürmen, sich seiner Mutter zu Füßen zu werfen und sie um Erbarmen anzuflehen. Aber Eva hielt ihn zurück.
»Du darfst nicht hinein, Karl Artur. Ich stehe hier schon lange, um dich abzufassen. Es ist ein sehr schwerer Schlaganfall gewesen. Die liebe Mutter kann nicht mir dir sprechen.«
»Ich warte, solange es auch dauern mag.«
»Nicht nur der lieben Mutter wegen darfst du nicht hinein«, sagte Eva mit leicht gerunzelter Stirne, »auch des lieben Vaters wegen. Der Doktor sagte, Mutter werde nie mehr ganz gesund werden. Und nun kann Vater deinen Anblick nicht ertragen. Wir wissen nicht, was geschehen könnte, wenn du mit ihm zusammentreffen würdest. Reis zurück nach Korskyrka, das ist das Beste, was du tun kannst.«
Diese Worte seiner Schwester ärgerten Karl Artur. Er war überzeugt, daß sie sowohl des Vaters Zorn als auch die Gefahr für die Mutter, falls die Eltern ihn sähen, übertrieb.
»Du und dein Mann, ihr habt mich immer bei Vater und Mutter ausstechen wollen«, sagte er. »Ihr versteht es, einen günstigen Augenblick zu benützen. Wohl bekomm's!«
Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.
Es ist ja so bei uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn etwas zerbricht. Ja, selbst wenn es nur ein irdener Topf oder ein Porzellanteller ist, lesen wir die Scherben zusammen, legen sie aneinander und versuchen sie zusammenzukitten, um das Stück wieder ganz zu machen.
Etwas in dieser Art war es, womit Karl Artur Ekenstedt während seiner Rückreise nach Korskyrka beschäftigt war.
Jedenfalls aber tat er das nicht den ganzen Tag hindurch, denn man darf nicht vergessen, daß in der vorhergehenden Nacht kein Schlummer in seine Augen gekommen war und daß er auch infolge der vielen aufregenden Ereignisse die ganze vergangene Woche hindurch nicht genügend geschlafen hatte. Jetzt aber kam der Körper mit seiner unbeugsamen Forderung, und so schlief Karl Artur trotz der rüttelnden Postkutschen, in denen er fuhr, und trotz all dem Kaffee, den er beim Bürgermeister in sich hineingegossen hatte, während des größten Teiles des Heimwegs.
Aber während der kurzen Zeit, wo er wach war, versuchte er, Teile und Stücke von sich selbst aufzulesen, damit der Karl Artur Ekenstedt, der erst vor wenigen Stunden denselben Weg gefahren war und der drinnen in Karlstadt in viele Scherben zerschellt war, wieder ganz werden und aufs neue gebraucht werden könnte!
Der eine oder andere denkt vielleicht, es sei ja nur ein erbärmlicher irdener Topf zerbrochen, und es lohne sich kaum der Mühe, Arbeit und Kitt auf ihn zu verwenden. Aber man muß Karl Artur doch entschuldigen, wenn er selbst nicht dieser Ansicht sein konnte, sondern glaubte, es sei eine Vase aus echtem Porzellan mit kostbarer Handmalerei und reicher Vergoldung, die zu Schaden gekommen war.
Auf irgendeine Weise kam es ihm bei seiner Flickarbeit zustatten, an Schwester Eva und ihren Mann zu denken, sich über sie zu erregen und sich aller Gelegenheiten zu erinnern, bei denen sie Proben ihres Neides gezeigt und sich über die Ungerechtigkeit der Mutter beklagt hatten.
Je mehr er an den alten Groll dachte, den Eva ihm gegenüber hegte, desto überzeugter wurde er, daß sie nicht die Wahrheit gesprochen hatte. Es stand gewiß nicht so gefährlich mit der Mutter, wie Eva hatte durchblicken lassen, und daß der Vater so aufgebracht gegen ihn sein sollte, das war gewiß nur eine Finte, die Eva und Arcker sich ausgedacht hatten. Sie hofften, sie könnten diese seine letzte Dummheit – die ja auch unbegreiflich groß war – benützen, um ihn für alle Zeit von dem Elternhause fernzuhalten.
Gerade als er bei dem Schluß angekommen war, daß alles aufs beste verlaufen wäre, wenn ihn Eva nicht fortgewiesen hätte, überfiel ihn das Schlafbedürfnis, und er schlief ununterbrochen, bis die Postkutsche vor einem Wirtshause anhielt.
Ein andermal, als er wach war, dachte er an Jaquette. Gegen sie wollte er nicht ungerecht sein; sie war nicht neidisch wie Eva. Sie war liebenswürdig, und sie hatte ihn gern. Aber war sie nicht recht einfältig? Wenn sie ihn bei der wichtigen Unterredung mit der Mutter nicht gestört hätte, würde er zwar wohl ungefähr dasselbe gesagt haben, aber sicherlich auf andere Weise. Es fällt einem nicht leicht, die Worte gut zu setzen, wenn die ganze Zeit jemand hinter einem steht, der einem am Arme zieht und einem zuflüstert, man solle sich in acht nehmen.
Es war ihm von großem Nutzen, als er an Jaquette dachte und sich sagte, wie dumm und unbegabt sie sei. Aber bald schlief er auch dabei wieder ein.
Mit einem gewissen Widerstreben dachte er bisweilen auch daran, daß Thea Sundler ebenfalls ihren Teil zu seinem Unglück beigetragen hatte. Sie war ja doch seine beste Freundin. Es gab ja niemand, auf den er sich in dem Maße verlassen konnte wie auf Thea; aber sie hatte vielleicht doch nicht genügend von der Welt gesehen, um ein sicherer Ratgeber zu sein. Darin hatte sie sich jedenfalls getäuscht, wenn sie meinte, die Mutter warte darauf, ihn um Verzeihung bitten zu können. Und wenn es auch nur von der großen Wertschätzung kam, die ihm Thea zuteil werden ließ und die allein ihr das Urteil getrübt hatte, so war sie doch immerhin die Veranlassung zu einem großen Unglück gewesen. Die Mutter hätte jetzt tot und er wahnsinnig sein können. Er war ja schon gut auf dem Wege dazu.
Im übrigen mochte er nicht an den Besuch beim Bürgermeister und an die Unterredung mit der Jungfer denken. Es war ihm, als müsse er darüber aufs neue in Scherben brechen, und dann mußte ja die ganze Arbeit des Zusammensetzens wieder von vorne angefangen werden.
Und abermals, während der wachen Augenblicke, kam er auf einen neuen Gedanken. Vielleicht gerade weil er dabei ein solches Entsetzen und so großen Kummer an den Tag gelegt hatte, könnte ihm das zu einer Hilfe werden. Seine Mutter würde schon davon reden hören und dann verstehen, wie lieb er sie hatte. Sie würde gerührt werden, sie würde nach ihm schicken, und sie würden sich miteinander versöhnen.
Ja, er wollte an diesen Abschluß glauben. Jeden Tag wollte er Gott bitten, es auf diese Weise endigen zu lassen.
Wenn man sich so unehrerbietig ausdrücken darf, dann war Karl Artur wieder ganz gut zusammengekittet, als er abends gegen elf Uhr in Korskyrka eintraf. Er wunderte sich selbst darüber, daß er diese furchtbare Gemütserschütterung doch einigermaßen gut überstanden hatte. Schläfrig war er aber immer noch, und als er vor dem Tor der Propstei ausstieg und den Kutscher bezahlte, freute er sich schon darauf, sich nun in einem Bett ausstrecken und sich sattschlafen zu können.
Als er sich nach dem Seitenflügel wandte, kam indes das Mädchen mit dem Bescheid, im Eßzimmer warte ein warmes Abendessen auf ihn. Er wäre freilich am liebsten gleich zu Bett gegangen, aber das war doch sehr freundlich von der Pröpstin; sie hatte wohl gedacht, nachdem er den ganzen Tag gereist sei, könnte ihm eine richtige Mahlzeit notwendig sein, und so ging er mit dem Mädchen hinein.
Das hätte er indes doch wohl nicht getan, wenn er nicht gewußt hätte, daß sich niemand im Hause befand, der ihn über seine Reise ausfragen könnte. Die Alten waren natürlich längst zu Bett gegangen, und Charlotte war ja nicht mehr da.
Als er über den Flur ging, wäre er beinah über eine dicht neben der Tür stehende Kiste, oder was es sonst sein mochte, gefallen. »Ach, nehmen Sie sich in acht, Herr Magister!« sagte das Dienstmädchen. »Dies sind Frau Schagerströms gepackte Sachen. Wir haben den ganzen Tag über allerlei in Stroh verpackt und in Tücher eingenäht.«
Trotzdem fiel es Karl Artur nicht ein, daß Charlotte von Groß-Sjötorp hergefahren sein könnte, und noch weniger, daß sie vielleicht in der Propstei übernachte. Ganz ruhig ging er ins Eßzimmer und setzte sich zu Tisch.
Eine lange Weile blieb er ungestört und hatte also gut Zeit, sich sattzuessen. Als er aber die Hände zum Tischgebet faltete, hörte er Schritte auf der Treppe. Es waren schwere, schleppende Schritte; Karl Artur dachte, es sei die Pröpstin, die von seiner Reise hören wollte, und so konnte er nicht davonlaufen, was er freilich am liebsten getan hätte.
Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und es kam jemand herein. Ach, es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn die Pröpstin unter der Tür gestanden hätte; aber nein, es war Charlotte! Das war das schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Er war nicht umsonst fünf Jahre mit ihr verlobt gewesen – er kannte sie! Ach, welchen Auftritt würde es nun geben, wenn sie erfuhr, daß die Mutter einen Schlaganfall gehabt hatte! Sie würde ihn abkanzeln. Obgleich er furchtbar müde war, würde er sie stundenlang anhören müssen. In aller Eile beschloß er deshalb, spöttisch höflich gegen sie zu sein, was er ja in der ganzen letzten Zeit schon getan hatte. Das war immer die beste Art, sie in angemessener Entfernung von sich zu halten.
Ehe er aber etwas sagen konnte, war Charlotte schon tiefer ins Zimmer hereingekommen, und die beiden Talglichter auf dem Tische beleuchteten nun hell ihr Gesicht. Und da sah Karl Artur, daß sie ganz verweinte Augen hatte und todesblaß war. Es mußte ihr etwas Furchtbares widerfahren sein.
Das nächstliegende war für ihn, zu denken, sie fühle sich wegen ihrer Heirat tiefunglücklich. Aber andererseits sah es ihr gar nicht ähnlich, das so offen zu zeigen. Und der gewesene Bräutigam war wohl der letzte, dem sie einen Einblick in diese Sache gewährt hätte. Ach ja, ganz richtig! Vor ein paar Tagen hatte Karl Artur gehört, daß Charlottes Schwester, Frau Dr. Romelius, lebensgefährlich erkrankt sei. Nun glaubte er zu verstehen, was eingetroffen war.
Charlotte nahm einen Stuhl und setzte sich an den Eßtisch. Mit einer sonderbar harten und ausdruckslosen Stimme begann sie zu sprechen, so wie man es tut, wenn man sich vorgenommen hat, unter keinen Umständen in Tränen auszubrechen. Sie sah Karl Artur nicht an, man hätte meinen können, sie redet laut mit sich selbst.
»Vor einer Stunde ist Hauptmann Hammarberg hier gewesen«, begann sie. »Er war in Karlstadt und ist heute morgen etwas später als du von dort abgereist. Aber er fuhr mit zwei Pferden und traf viel früher hier ein. Er sagte, er sei auf der Straße an dir vorbeigefahren.«
Karl Artur rückte seinen Stuhl vom Tisch zurück. Wie ein scharfer Stich durchfuhr es ihn vom Kopf bis hinunter ins Herz.
»Als er an der Propstei vorbeifuhr, sah er die Fenster im Studierzimmer noch erleuchtet«, sprach Charlotte ebenso umständlich und eintönig weiter. »Da meinte er, der Propst sei noch nicht zu Bett gegangen. Er stieg aus, denn er konnte sich das Vergnügen nicht versagen, dem Propst zu berichten, wie sich sein Vikar heute in Karlstadt aufgeführt hat. Er erzählt solche Sachen sehr gerne.«
Stich auf Stich fuhr Karl Artur vom Kopf hinab und durchs Herz. Alles, was er den Tag hindurch zusammengelesen und zusammengekittet hatte, war wieder am Auseinanderfallen. Jetzt würde er hören, wie seine Mitmenschen seine Handlungen beurteilten.
»Wir hatten die Haustür nicht geschlossen, weil wir dich jeden Augenblick zurückerwarteten, deshalb konnte er ungestört ins Studierzimmer eintreten. Aber der Oheim war eben zu Bett gegangen, und darum traf er diesen nicht an, sondern mich. Ich saß am Schreibtisch und schrieb Briefe, denn ich hätte nicht an Schlaf denken können, ehe ich gehört hatte, wie es dir in Karlstadt ergangen war. Jetzt erfuhr ich es von Hauptmann Hammarberg, und ich glaube, es war ihm eine größere Freude, es mir berichten zu können, als dem Oheim.«
»Und du, Charlotte, hast ihm natürlich mit nicht geringerem Genuß zugehört«, fiel ihr Karl Artur ins Wort.
Charlotte machte eine leicht abwehrende Bewegung. Dieser kleine Ausfall war keiner Antwort wert. Das war nur etwas, wonach Leute greifen, die in großer Not sind, sich aber trotzdem überlegen zeigen wollen. Sie fuhr in ihrem Bericht fort:
»Hauptmann Hammarberg blieb nicht lange da. Er ging seines Weges, sobald er erzählt hatte, daß du deiner Mutter eine Strafpredigt gehalten habest und sie darauf einen schweren Schlaganfall bekommen habe. Ja, und von deinem Besuch beim Bürgermeister sprach er auch. Ach, Karl Artur, Karl Artur!«
Als Charlotte das alles gesagt hatte, war es aus mit ihrer Beherrschung. Sie drückte das Taschentuch auf die Augen und schluchzte.
Aber nun ist es ja so mit uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn jemand über uns weint. Und ebensowenig erfreut uns der Gedanke, ein anderer habe gerade vorhin einen komischen Bericht darüber gehört, wie dumm und lächerlich wir uns benommen haben. Deshalb konnte Karl Artur die Äußerung nicht unterdrücken, da Charlotte jetzt mit einem anderen verheiratet sei, brauche sie sich seinet- und seiner Familie wegen keinem großen Kummer hinzugeben.
Auch diesen Ausfall würdigte Charlotte keiner Antwort. Es war ja nur natürlich, daß er nach einem Verteidigungsmittel griff. Das war nichts, worüber sie sich zu ärgern brauchte.
Statt dessen kämpfte sie ihre Tränen nieder, um dem Ausdruck verleihen zu können, was sie ihm schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.
»Als ich das alles erfuhr, war ich zuerst entschlossen, heut abend nicht mehr mit dir darüber zu sprechen. Du wolltest am liebsten allein sein, das begriff ich. Aber da ist etwas, das ich dir ohne Aufschub sagen muß. Ich werde mich kurz fassen.«
Er zuckte die Schultern und sah ergeben und unglücklich aus. Sie saßen ja hier im selben Zimmer; er war gezwungen, sie anzuhören.
»Ach, alles miteinander ist ja meine Schuld, das mußt du wissen«, sagte Charlotte. »Ich habe ja Thea überredet – deine ganze Karlstädter Reise – ich, ich war's – du wolltest nicht, aber ich wollte – und wenn nun deine Mutter stirbt, so bin ich es und nicht du …«
Sie kam nicht weiter. Sie fühlte sich nur furchtbar unglücklich und schuldbewußt.
»Ich hätte geduldig sein sollen«, fuhr sie fort, sobald sie einigermaßen wieder Herr ihrer Gemütsbewegung und ihrer Sprache geworden war. »Ich hätte dich nicht so rasch hinschicken sollen. Du trugst noch Groll gegen deine Mutter im Herzen, du hattest ihr noch nicht verziehen. Deshalb ging es so, wie es gegangen ist. Aber ich hätte verstehen sollen, daß es so nicht gelingen konnte. Alles, alles, alles ist meine Schuld!«
Zugleich stand sie auf und ging eine Weile im Zimmer auf und ab, wobei ihre Hände ihr Taschentuch zerknüllten. Schließlich blieb sie vor Karl Artur stehen. »Das solltest du wissen, das wollte ich dir sagen. Alles miteinander ist meine Schuld.«
Er erwiderte kein Wort; er streckte nur die Hände aus und ergriff eine der ihren, die er festhielt.
»Charlotte!« sagte er nur sehr leise und mild. »Ach, wie viele Unterredungen haben wir in diesem Zimmer, an diesem Eßtisch miteinander gepflogen. Hier haben wir uns gestritten und uns gescholten, aber hier haben wir auch viele frohe Stunden verlebt. Und jetzt ist es das letztemal!«
Sie stand neben ihm und begriff nicht, was das bedeutete. Er streichelte ihre Hand und sprach freundlicher mit ihr als seit Jahren. »Du bist immer edelmütig gewesen und hast mir helfen wollen. Es gibt keinen so edlen Menschen wie dich, Charlotte.«
Vor lauter Verwunderung war sie verstummt; sie konnte ihm nicht einmal widersprechen.
»Ich habe nur immer deinen Edelmut zurückgewiesen, habe dich nicht verstehen wollen, Charlotte. Und doch kommst du heut abend zu mir und willst alles auf dich nehmen.«
»Ja, aber es ist doch auch so«, entgegnete sie.
»Nein, Charlotte, es ist nicht so. Sag nichts mehr! Meine eigene Selbstgerechtigkeit ist's, meine Härte. Du hast nur das Beste gewollt.«
Er legte den Kopf auf den Tisch und weinte. Aber er ließ ihre Hand nicht los, und sie fühlte, wie seine Tränen darauf tropften.
»Charlotte!« sagte er. »Ich komme mir wie ein Mörder vor. Für mich gibt es keine Hoffnung.«
Mit ihrer freien Hand strich ihm Charlotte übers Haar, aber sie sagte immer noch nichts.
»In Karlstadt wurde mir so weh ums Herz, Charlotte. Ich glaube, ich war wahnsinnig. Später, während der Heimfahrt, versuchte ich es von mir wegzuschieben. Aber ich verstehe, daß das nicht geht. Ich muß es auf mich nehmen.«
»Karl Artur!« sagte Charlotte. »Wie war es denn? Wie kam es? Ich habe es nur von Hauptmann Hammarberg gehört.«
Karl Artur hatte Charlotte noch niemals so sanft und mütterlich reden hören. Er konnte ihr nicht widerstehen und begann sofort mit seiner Erzählung. Und er dachte, er tue Buße, indem er nichts verschleierte, nichts entschuldigte.
»Charlotte!« sagte er schließlich. »Warum war ich so verblendet? Was war es nur, das mich verleitete?«
Darauf gab sie keine Antwort. Ihr Herz war voll Erbarmen. Sie hüllte ihn darein und milderte den Schmerz seiner Wunde. Keines von beiden dachte daran, wie seltsam es war, daß sie auf diese Weise vertraulicher miteinander redeten, als sie es jemals vorher getan hatten. Sie bewegten sich auch gar nicht. Er blieb die ganze Zeit am Tische sitzen, und sie stand über ihn gebeugt. Sie sprachen über alles, und er fragte sie, ob sie glaube, er könne auch fernerhin noch Pfarrer bleiben.
»Vor Hauptmann Hammarberg und dem, was er über dich sagen wird, brauchst du keine Angst zu haben!«
»Ich denke dabei nicht an Hauptmann Hammarberg, Charlotte, sondern ich fühle mich so ganz erbärmlich und verworfen. Niemand kann wissen, wie ich mir vorkomme.«
Charlotte wollte darauf nicht antworten, aber sie sagte: »Sprich morgen mit dem Oheim Forsius! Niemand ist so weise und fromm wie er. Und er sagt vielleicht, du passest jetzt besser zum Pfarrer als vorher.«
Das war ein guter Rat; er schenkte ihm Ruhe. Und so war es mit allem, was Charlotte sagte; es tat ihm wohl. Er fühlte keine Neigung zu Widersetzlichkeit, kein Mißtrauen.
Zum Schluß drückte er einen leichten Kuß auf ihre Hand.
»Charlotte, ich will nicht von dem reden, was einst war, aber laß mich dir das eine sagen: ich verstehe mich selbst nicht. Warum hab' ich mich von dir getrennt, Charlotte? Nein, ich will mich nicht entschuldigen, aber es ist, als würde ich getrieben, das zu tun, was ich nicht will. Warum hab' ich meine Mutter dem Tod in die Arme getrieben? Warum hab' ich dich verloren, Charlotte?«
Ein heißer Kampf spiegelte sich in Charlottes Antlitz wider. Sie ging in die dunkelste Ecke des Zimmers. Ach, sie hätte ihn über die Ursache wohl aufklären können, allein sie wollte nicht. Dies war ein heiliger Augenblick. Nichts, was nach Rache aussehen konnte, sollte ans Tageslicht kommen.
»Lieber Karl Artur, in wenigen Wochen ziehe ich von dannen«, sagte sie. »Schagerström und ich wollen meine Schwester Marie Luise nach Italien begleiten, damit sie Heilung für ihre kranke Brust findet und nicht von ihren Kinderlein wegsterben muß. Vielleicht hat deshalb alles so kommen müssen.«
Als Charlotte das gesagt, trat sie näher zu dem Manne hin, den sie geliebt hatte, und strich ihm noch einmal mit der Hand übers Haar. »Gottes Geduld hat kein Ende«, sagte sie. »Ich weiß, daß sie nie aufhört.«
Wer war sie, daß sie zu Glück und Erhöhung vor allen andern Hausiererinnen auserwählt war?
Allerdings, eines war sicher: sie war sehr gewandt im Geldverdienen und dabei überaus sparsam; nie gab sie einen Heller unnötig aus, und schlau und verschlagen war sie auch; sie konnte die Leute dazu bringen, nicht allein das zu kaufen, was sie brauchten, sondern auch das, was sie nicht brauchten. Aber trotzdem meinte sie nicht, sie habe es verdient, über alle ihre früheren Kameradinnen erhöht zu werden.
Ja, wer war sie, daß ein hochgestellter Mann die Augen auf sie geworfen hatte?
Jeden Morgen, wenn sie erwachte, sagte sie zu sich selbst: »'s ist 'n Wunder, jawoll. Ja, 'n Wunder, 'n genauso groß' Wunder wie die in der Bibel, und 's müßt' in der Kirch' verkündigt werden.«
Zugleich faltete sie die Hände und bildete sich ein, sie sitze in der Kirche. Sie sah die Leute rings um sich her, und ein Pfarrer stand auf der Kanzel. Es war ganz wie in einem gewöhnlichen Gottesdienst, nur daß der Pfarrer einen ungewöhnlichen Text gewählt hatte. Er redete von nichts als von den armen Dalmädchen, die im Lande umherwanderten und Handel trieben und die so vielen Gefahren und Beschwerlichkeiten ausgesetzt seien. Wie jemand, der genau Bescheid weiß, berichtete er, wie schlimm sie in schlechten Räumen untergebracht seien, wie gering der Verdienst sei und wie oft sie sich nicht einen Bissen Essen gönnten, nur um den armseligen Erwerb, den sie nach Hause bringen wollten, nicht noch zu schmälern. Aber jetzt sei der Pfarrer froh, seinen geliebten Zuhörern mitteilen zu können, daß Gott in seiner Gnade sich einer dieser müden Wanderinnen angenommen habe. Sie brauche nun nicht mehr in Wind und Wetter auf den Landstraßen herumzuziehen; sie werde einen Pfarrer heiraten und auf einem Pfarrhof wohnen, wo es Pferd und Kuh, Magd und Knecht gebe.
Als die Predigt so weit gediehen war, wurde es hell und licht in der Kirche. Alle freuten sich darüber, daß so ein armes Mädchen zu Ehren und Wohlstand kommen sollte. Die, die in der Nähe von Anna Svärd saßen, nickten ihr lächelnd zu.
Anna Svärd bekam rote Wangen vor Verlegenheit; aber es wurde noch schlimmer, denn jetzt wendete sich der Pfarrer auch noch direkt zu ihr hin und redete sie mit ein paar Worten an: »Wer bist denn du, Anna Svärd, daß du vor allen anderen Hausiererinnen von Dalarne ausgewählt worden bist und so hoch hinaufgestellt wirst? Es ist nicht dein eigenes Verdienst, lauter Gnade und Barmherzigkeit ist es. Bedenk es wohl und vergiß die andern nicht, die sich weiter abschinden müssen, um das nötige Geld zu Kleidern und Kost 'rauszuschlagen.«
Ja, dieser Pfarrer predigte überaus schön. Anna Svärd wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett liegengeblieben, um ihm zuzuhören. Aber als er das von den anderen Mädchen in Dalarne sagte, traten ihr die Tränen in die Augen – sie warf die Decke zurück, falls sie wirklich unter einer Decke lag und nicht nur unter einem alten Sack oder einem verbrauchten Stück von einem alten Bodenläufer, und sprang aus dem Bett. »Dummkopf!« rief sie. »Willst woll greinen und hast dir doch alles selbst z'sammeng'reimt!«
Das einzige, was sie tun konnte, um den früheren Kolleginnen zu helfen, war, daß sie sich jetzt gleich, mitten im September, auf den Heimweg machte und von den Herbstmärkten, die jetzt da und dort stattfanden, wegblieb. Das war eine Entsagung, aber sie wollte die Jahrmärkte jetzt den alten Nebenbuhlerinnen überlassen. Sie wollte denen nicht im Wege stehen, die sich niemals mit einem wirklichen Herrn verheiraten würden. Dabei dachte sie an die Ris-Karin, die wie sie selbst aus Medstuby war, und an die Annstu-Lisa sowie an viele andere, die mit diesen beiden froh sein würden, wenn sie nicht mit ihnen auf dem Jahrmarkt stand und ihnen die Kunden wegschnappte.
Wenn sie nun heimkam, ja, dann würde vielleicht kein Mensch begreifen, warum sie so verrückt gewesen war und die Jahrmärkte nicht besucht hatte. Und sie selbst würde auch nicht sagen können, woher das kam. Aber sie fühlte sich gezwungen, etwas für den lieben Gott zu tun, nachdem sie selbst so viel von ihm bekommen hatte. Dagegen lag kein Hindernis vor, daß sie sich, ehe sie Karlstadt verließ, einen neuen Vorrat von Waren anschaffte. Und ebensowenig verbot ihr irgend etwas, in jedes Haus, an dem sie vorbeikam, hineinzugehen, um von ihren Waren loszuschlagen. Wenn aber dann der Handel abgeschlossen war, sie sich auch schon den Ranzen auf den Rücken geschnallt hatte und nun mit der Hand auf der Türklinke zum Gehen bereitstand, konnte sie es nicht lassen, den Kopf nach der Stube zu drehen und von dem Wunder, das ihr widerfahren war, Zeugnis abzulegen.
»Seid jetzt halt alle mit'nander recht schön bedankt«, sagte sie. »Ich komm' jetzt nimmer, ich heirat' bald.« Wenn ihr dann die Bewohner des Hauses eiligst ein paar Worte der Anteilnahme sagten und fragten, wer denn der Mann sei, den sie bekomme, fuhr sie mit großer Feierlichkeit fort:
»'s ist 'n Wunder, jawoll, und 's müßt' in der Kirch' verkündigt werd'n. Wer ist denn d' Anna Svärd, daß ihr so 'n Glück passiert? Denkt euch, ich heirat' 'nen Pfarrer und krieg 'nen Pfarrhof mit Pferd und Kuh, Magd und Knecht.«
Sie war überzeugt, daß die Leute über sie spotteten, wenn sie gegangen war; aber daraus machte sie sich nichts. Sie mußte sich dankbar erzeigen, sonst konnte das Glück wieder von ihr genommen werden.
Einmal kam sie auf einen Hof, wo sie die Hausfrau nicht dazu bewegen konnte, etwas zu kaufen, obgleich diese eine reiche Witwe war und ihr Geld selbst verwaltete. Da fiel ihr ein, zu sagen, an diesem Tage dürfe die liebe Frau sich nicht weigern, etwas zu kaufen, denn dies sei das letztemal, daß sie mit diesem Anliegen komme. Dann schwieg sie und sah geheimnisvoll aus. Die geizige Hausfrau wurde neugierig und konnte es nicht lassen, zu fragen, warum Anna ihre Handelschaft aufgeben wolle.
Und da erzählte das schöne Dalmädchen, es sei ein großes Wunder. Ja, ein ebenso großes Wunder wie irgendeines, von dem in der Bibel zu lesen stand. Eine andere Aufklärung gab sie indes nicht, und so mußte die Hausmutter noch weitere Fragen stellen.
Anna Svärd aber kniff die Lippen zusammen und war so ganz und gar die alte Anna Svärd, daß die geizige Hausfrau sich sowohl mit einem seidenen Tuch als auch mit einem Haarkamm versehen mußte, ehe sie erfuhr, daß Gott die arme Hausiererin in ihrer Niedrigkeit angesehen habe, daß sie einen Pfarrer heiraten werde und in einem Pfarrhof wohnen würde, wo es Pferd und Kuh, Magd und Knecht gebe.
Als Anna Svärd von diesem Hofe weiterwanderte, dachte sie, dies sei ein guter Kniff gewesen und sie werde ihn noch öfter anwenden. Sie tat es dann aber doch nicht, denn sie fürchtete, es könnte ihr Unglück bringen. Man soll das Heilige nicht mißbrauchen.
Statt dessen geschah es gelegentlich, daß sie den kleinen Mädchen in den Häusern ein Bröschchen mit einem Stein aus farbigem Glas ganz ohne Bezahlung als ein Geschenk zusteckte. Noch niemals war es ihr eingefallen, etwas zu verschenken. Es war ein kleines Gegengeschenk für den lieben Gott.