Anna - Ein ländliches Liebesgedicht - Gerhart Hauptmann - E-Book

Anna - Ein ländliches Liebesgedicht E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann erzählt in diesem Werk nicht nur eine berührende Geschichte über junge Liebe, sondern auch über Verlust, Fehler, und Familie. Der junge Luz besucht nach langer Zeit seine Tante und seinen Onkel auf dem Land. Hier macht er die Bekanntschaft von Anna Wendland – Luz verliebt sich auf den ersten Blick in die hübsche und stolze junge Frau. Doch ist seine Auserwählte wirklich, was sie vorgibt zu sein? Luz ringt mit seinen Gefühlen, und auch seine Verwandten bekommen es immer wieder mit den Geistern der Vergangenheit zu tun. Werden alle am Ende ihr Glück finden?-

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Gerhart Hauptmann

Anna - Ein ländliches Liebesgedicht

 

Saga

Anna - Ein ländliches Liebesgedicht

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1921, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726956405

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Erster Gesang

Luz, du bist es? Du bist’s. So sei mir doch herzlich willkommen. Ein so lieber Besuch, und so ganz unerwartet: wie herrlich! Wie wird Julie sich freun, die Gute! Erst heute beim Frühstück sprach sie lange von dir und dachte vergangener Zeiten. Ach! Du bist ja verändert, mein Junge, komm her, lass dich anschaun! Keine Spur von dem Stoppelhopser, dem Landwirt von einstmals, ist noch sichtbar. Anstatt langer Stiefeln mit faltigen Schäften, trägt er Schuhe mit silbernen Schnallen! And welche Kravatte! Welcher gewaltige Filz! And seh einer die riesige Krempe! Dieses scheint ja ein wahrhafter Spross aus Kalabriens Bergland, Kalabreser genannt: oder sage mir, bin ich im Irrtum? Lange nämlich ist’s her, dass ich solcherlei Hüten begegnet, auch wohl selber sie trug. Da lachst du! Wir sind hier verbauert! Nein, ich leugne das nicht. Was sollt’ es auch helfen? So ist es. Stille steht hier die Welt: nun komm, und mach ihr Bewegung! — Also lebhaft begrüsste am Satter der Onkel den Neffen, herzlich lachend, sowohl aus unverhohlener Freude, als auch, weil ihn die eigene Rede besonders ergötzte.

And so traten ins freundliche Gutshaus der Mann und der Jüngling: der Betagte, trotzdem, noch rüstig und dieser mehr Knabe noch, dem das Safrangelock herabfiel bis fast auf die Schulter. Küsse wurden getauscht, wie es üblich ist unter Verwandten.

„Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen”, begann jetzt der Kömmling, und so hielt es mich nicht zu Hause mehr, wo ich auf Urlaub war, bei Vater und Mutter. — Natürlich, sie lassen euch grüssen! — Sehnsucht packte mich an. Sie packte mich unwiderstehlich: wandern musst’ ich, euch wiederzusehn und das Haus und das Dörfchen, wo ich Jahre verbracht: ein Befliss’ner des löblichen Landbaus. Nun, da bin ich. Famos! Aber hoffentlich komm ich gelegen!?

Luz! Mein Junge! Bist du’s? Seh einer den schweigsamen Wicht an! schreibt kein Wort und erscheint miteins, wie gestampft aus der Erde. Jahrelang wusste man nicht, ob der Schlingel wohl noch in der Welt ist. Nun, willkommen, du Strick. Wie geht’s dir? Was machen die Eltern? Also Tante, die laut und mit kräftigen Schritten hereintrat aus der dunklen Kanzlei in das sonnendurchflutete Zimmer: sie versetzte dem Luz einen Kuss, dass die Locken ihm flogen.

Ach, wie schön es hier ist, wie alles mich wieder entzückt hat! sagte der Neffe gerührt, nachdem der Sturm der Begrüssung endlich sich etwas gelegt und er selber wieder zu Wort kam. Warum lebt wohl der Mensch zusammengepfercht in den Städten? Ich beklage mich nicht, denn vieles schenkte die Stadt mir. Doch der Lärm auf den Strassen! Der Staub, und der Mangel an Grünem, steinerne Würfel getürmt, aneinander gereiht ohne Lücke, Höhl’ an Höhle gehöhlt im Innern, mit Schlupfloch und Lichtloch. Menschen hausen darin, Troglodyten, betriebsam und rastlos. Das, wie gesagt, ist die Stadt. So seh ich sie wenigstens manchmal, wenn mich Pfiffe der Lokomotiven, der Schrei der Fabriken, und was alles den Städter sonst noch bestürmt, überreizt hat. — Hier dagegen ist nichts von alledem, hier ist es dörflich. Höchstens quaket der Frosch und schnattern die Gänse im Dorfteich. Das tut wohl. Äberhaupt, wie wundervoll war dieser Morgen. Um punkt drei brach ich auf, heut Nacht, von der Schwelle der Eltern, bald erschien dann das Licht und leuchtete über das Erdreich: aber einsam im Glanz, erschien es, verlassen von Menschen, wie erstarrt in Magie, mir fremd, wie ein fremder Planet fast. Doch bald wachte es auf. Mit jeglichem Schritt, den ich vordrang, tönte lauter die Luft vom Gesange unzähliger Lerchen, bis, noch schläfrig, aufrauschte die Saat von dem Hauche der Frühe. Ich durchquerte den Wald, da wechselten Rehe, da hört’ ich Tauben gurren und hörte die köstliche Stimme des Kuckucks. Bald erschien dann der Mensch, im Feld hie und da an der Arbeit. Dort, mit stämmiger Kraft die Sense gebrauchend, im Kleefeld „machte Futter” die Magd. So ist ja der technische Ausdruck. Später kam ein Sespann und so fort, bis die Arbeit im Feld stand. Doch, was red’ ich so viel, das Geschilderte scheint ja alltäglich. Nun, mir war dieses alles so neu und so herrlich, als hätt’ ich nie dergleichen gesehn, vor dem Antritt der heutigen Wandrung, selig bin ich noch jetzt und im mind’sten nicht müde. Ich könnte mit Vergnügen den Weg ein zweites Mal machen von vorn an.

Luz, nun seh’ einer an! Zu Fusse von Hause bis hierher bist du, Tausendsassa, marschiert, wo fünf Stunden die Bahn fährt? sprach der Onkel, erwärmt und erfreut durch des Jünglings Erzählung, und erzählte nun selbst aus der Chronik des Dorfs und des Gutshofs dies und das, was geschah, seit der Neffe die Gegend verlassen. — Diesen aber indes betrachtete schweigend die Tante, und ein schmerzlicher Zug veränderte plötzlich ihr Antlitz. Doch so flüchtig auch glitt die Verdüstrung über der Sutsfrau ausgeprägtes Gesicht, nicht entging es dem Gatten, er blickte auf sie hin voller Güte, mit heimlich bekümmertem Anteil. Auch der Jüngling begriff und erkannte im Stillen, was vorging. —

Kaum das vierzigste Jahr lag hinter Frau Julie, während Bis zum sechzigsten schon gediehen war Gustav, ihr Satte. Kinderlos war ihr Glück: zehn Jahre lang harrend, wie Hanna und Elkana und so anflehend den Herrgott im Himmel um den Erben, erschien auch ihnen der Tag der Erhörung. Julie genas eines Sohns. Man nannte ihn Erwin. Ansäglich war die Freude, das Slück, die mit jenem vom Himmel herabkam. Seit des Knäbleins Geburt ward gleichsam ein Festhaus das Gutshaus. Keine Klage, nur Dank stieg dazumal täglich zu Gott auf, mit der Bitte vermählt, das Kleinod, den Sohn, zu behüten. Und er tat es, der Unerforschliche, wie sie ihn nannten, liess erstehen ein Kind unter seligem Staunen der Eltern, einen Knaben, so gütig, als schön, so unschuldigen Herzens, als auch tiefen Gemüts und an Reichtum des Geistes ein Wunder. Und man fragte sich oft, wie kommt in die niedrige Hütte dieser Glanz, wie verirrt in die Fremde, aus himmlischen Welten? — Nun, es kehrte zurück im vierzehnten Jahre des Lebens Erwin, schwand wiederum und verliess die vernichteten Eltern. Und sie lebten nur noch wie im Dämmer verhangener Zimmer, ob’s den meisten auch schien, sie lebten wie andere Menschen auch, mit Speise und Trank, und sich freuend behaglich des Daseins. Nein, sie freuten sich nicht, sie zählten die Tage, die Stunden, dankbar, wie es der Knecht mit den Furchen tut, die er geackert, weil mit jeder ein Werk des mühsamen Frones getan ist, näher rücket die Zeit, wo das Joch von dem Nacken des Stiers fällt. —

Nun, mein Junge, du hast einen Magen, so denk ich, und Hunger, sprach Frau Julie, stand auf und warf auf die Tafel das Strickzeug. Keineswegs übereilt, vollkommen gefasst, aber dennoch in der Seele bewegt entwich sie, sich nicht zu verraten.

Sie war fort. Und es schwieg eine Weile der Satte und sprach dann: Armes Julchen! Sie denkt, du wirst das ja unschwer begreifen, unsres Lieblings, den ja der himmlische Vater zurücknahm. Heiter sitzest du hier, sein Gespiele einst, frisch und voll Hoffnung, bald nun völlig ein Mann: unser Erwin schlummert im Grabe. Nun, dies drängt sich ihr auf. Ihr Sedanke ist: lebte heut Erwin, stünde er da neben die in dem nämlichen Alter und auch so frisch und blühend, wie du, und da krampft sich das Herz ihr zusammen.

Doch nun muss ich aufs Feld zu den Rübenarbeitern, mein Guter, fuhr der Landmann dann fort, und der Ernst des Berufes befiel ihn. Du musst essen! sonst wohl: ich schlüge dir vor, Luz, begleit’ mich, inspiziere mit mir dein treulos verlassnes Berufsfeld. Lorbeer hättest du zwar von diesem vielleicht nicht geerntet, aber um desto grössre Kartoffeln, gewiss, nach dem Sprichwort. Und er lachte vergnügt und freute sich laut seines Einfalls. Weiter sagte er dann: Wie schade, dein früheres Zimmer, wo dein Kasten noch hängt mit dem ausgestopften Geflügel — nochmals lachte er auf — bald hätten wir’s freilich gebraten!... ja, es ist nicht mehr frei, dein Zimmerchen. Ansre Elevin hat es inne. Weil doch es mit dir, dem Eleven, so missriet — denn du übtest Verrat, gesteh’s, an dem heiligen Landbau! — wandten Julchen und ich uns dem weiblichen Teile der Welt zu. Aber freilich auch da … nun still, der Erfolg wird es lehren. Du verstehst mich nicht falsch: sie ist redlich im Grunde, nur etwas eigenwillig und Julie hat mit ihr oft ihre Mühe .

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Zweiter Gesang

Rosen nannte das Dorf sich, in welchem der Herr Oberamtmann Sustav Schwarzkopp ein Sut sich erworben, nachdem vor zwei Erwins Tod ging voraus! — die Pacht des Dominiums ablief, Jahren — die er inne gehabt und von wo auch sein Titel noch stammte. Zu erneuern die Pacht und weiter die Lasten so grosser Mühen auf sich zu nehmen, wie eine Domäne sie auflegt, dies lag nicht mehr im Sinne des Manns, dem der Hingang des Sohnes jeden Anreiz genommen, Besitz und Vermögen zu mehren, und so trat er zurück und heraus aus dem Kreise der grossen Ökonomen des Lands und bezog das bescheidene Gütchen: es entstand seinem Tor gegenüber das einfache Wohnbaus. Eben war das Gelände, auf welchem es stand, unter Bäumen, während diesseits der Strasse der Gutshof ein weniges anstieg.

Als Herr Schwarzkopp den Jüngling verlassen, und Luz nun allein war, schritt er sinnend umher in den freundlich durchsonnten Gemächern und es stiegen ihm auf alle Freuden und Leiden der Lehrzeit.

Dieses Zimmer, in dem er stand, war die Seele des Hauses. Hier nun stand das Klavier und ein Bild hing darüber, das Christum zeigte, über das Meer hinwandelnd mit trockenem Fusse, Petro reichend die Hand, ihn rettend, der ungläubig einsank. „Ihr Kleingläubigen”, sprach der Herr, wie man deutlich erkannte. Auch den Leuten im Schiff galt der Vorwurf. Sie schrieen in Seenot. Auf dies Bild, wusste Luz, hielt Frau Julie täglich gerichtet ihren hoffenden Blick und erholte sich gläubige Stärkung. Selten spielte sie noch das Klavier, denn die lärmigen Schläge seiner Töne zertrennten die grauen Gewebe der Trauer und den dämmernden Duft, in den ihre Seele gehüllt war: Julie sah überdies den Tummelplatz weltlichen Rausches in der Klaviatur und fast graute ihr vor der Berührung, ja, sie hasste beinah die Tasten, als wären’s Dämonen, auf Verführung bedacht und Zerstörung der ewigen Hoffnung. Nein, sie war auf der Hut, und man sollte sie nicht überlisten um das Kleinod des Schmerzes, das, ängstlich und neidisch gehütet, allen irdischen Guts Hochheiligstes war ihrem Herzen! noch auch gar um den Tag und die Stunde der Auferstehung, jene Stunde, von der sie wusste, die Stimme des Heilands werde liebreich sie rufen, um vor dem erstrahlenden Throne ihr den Sohn in die Arme zu legen mit freundlichen Worten. Dies und ähnliches ging durch die Seele des sinnenden Jünglings. Danach ruhte sein Blick auf der Orgel, die nah’, an der Wand, stand. Drüber hing ein bekränztes Bildnis, das Abbild von Erwin, wie als lockiges Kind er, ganz Liebreiz und Geist, in die Welt sah. Hier war Juliens Altar. Es stiegen hier täglich Gebete in Chorälen sowohl, als auch Bachschen Kantaten zu Gott auf. Um das Bild war in Perlen gestickt, im Ovale des Rahmens, „Dein, Herr Jesu!” zu lesen. Nichts weiter, als eben die Worte: „Dein, Herr Jesu!” Es gab, mit diesen drei Worten die Mutter das gewaltsam entrissne Kind nun freiwillig dem Heiland, so, als wollte sie sagen: Nimm hin, er gebührt dir, für mich war dieser Engel zu rein, nur du allein bist seiner würdig.

Dies und mancherlei sonst erwog bei sich selber Luz Holtmann, doch nicht trüb, sondern froh, denn er war bei dem Schmerz zu Besuch nur. Er durchblickte das Leid und er fühlte das Web der Verwandten, doch nur so, dass es ihn betraf und bewegte als Schönheit. Damals, als es ihm noch obgelegen, die Lücke zu füllen gleichsam, welche der Tod durch den Hingang des Vetters gerissen, dies war sicher der Plan des Ehepaars, das ihn ins Haus nabm!. Damals also verdüsterte arg sein schwerer Beruf ihn, denn, wie sollte ihm wohl die Erinnerung an den Verstorbnen zu besiegen gelingen? Es wollen schon, war ihm unmöglich! —

Es erschien nun Pauline, die Magd, das Brett voller Speisen, tischte auf und begrüsste den Hausgenossen von ehmals, und vertraulichen Tons erwiderte dieser dem Mädchen. Dann erschien Frau Julie wieder, nach ihrer Gewohnheit grossen, eiligen Schritts: sie führte ein Kind in die Stube. Doch es machte sich frei der Wildfang, ein Mädchen von sieben Jahren war es, recht hübsch, der Abkömmling einfacher Leute, angenommen an Kindesstatt und auch wieder an Luzens. Thea hiess das Geschöpf, Luz kannte sie, seit sie ins Haus kam. Thea, Thea, so sagte die Tante, du sollst nicht so wild sein! Doch, unbändig vor Freude, bedeckte mit Küssen der Pflegling Luzens Wange und Mund, und es schien, dass sie ihn in Besitz nahm. Eigentum nimmt man so in Besitz, das man lange entbehrt hat. Fast beklommen erduldete Luz diesen stürmischen Zudrang. Endlich ward er befreit und Thea entfernt, und die Tante blieb alleine zurück, und indessen der Neffe den Hunger stillte, sass sie daneben und plauderte über dem Strickstrumpf. —

Irrtum würde es sein, zu vermeinen, das Wesen Frau Juliens sei in weichlichem Gram, schmerzseliger Schwäche zerflossen: männlich schien sie vielmehr, sprach laut und mit kräftigem Ausdruck. Tätig war sie und herb, meist ungeduldig, ja, ruhlos, unter rauhem Gewand die wehrlose Seele verbergend. Zwar sie hatte die Welt mit eisernem Willen verworfen, ihre Klugheit indes, ihre Wissbegier, ihre Talente: es war immer noch nicht gelungen, sie ganz zu erdrosseln. Freilich hatte zu lachen fast ganz verlernt diese Gutsfrau: tat sie’s dennoch einmal, so klang es verstimmt, ja, verletzend. — Nun sei aber das Haus ganz voll, bemerkte die Tante, denn die Schwiegermama sei da, die alte Frau Schwarzkopp, diese brauche viel Pflege, sie sei doch nun weit über achtzig. Leider sei nun auch Just wieder hier, denn er habe die Stellung eingebüsst wiederum. Es sei immer das leidige Übel, das, wie stets, ihn auch jetzt um den Posten gebracht. Und sie seufzte. Just war Juliens jüngerer Bruder, der sich als Verwalter kleiner Güter durchs Leben geschlagen, doch oftmals entgleist war. Denn es packte den Mann zuweilen der Dämon der Trunksucht. War das Anglück geschehn, so fand der Betroffene meistens bei der Schwester und bei dem Schwager Asyl, der ihn manchmal, wie ein totes Stück Holz aufhob von der Strasse und mitnahm. Wie gesagt, er ist hier, wiederholte die Tante, und was nun weiter mit ihm geschehn soll, das weiss allein wohl der Himmel. Nicht der Jüngste ist Just, der Sesündeste auch nicht. Wer kann es denn nach dem, was geschehn, überhaupt mit dem Bruder noch wagen? Auf die Wirtschaftselevin kam plötzlich die Frau Oberamtmann, kurz auflachend und hart, es klang fast, wie schmerzlich belustigt: Beinah haben wir hier eine Besserungsanstalt! so etwas gleichsam, wie ein Asyl für schwankende Existenzen. Nun, es ist nicht so schlimm, unterbrach sie sich, Anna verträgt sich mit der neuen Gewalt nicht, daheim, der Stiefmutter im Hause, und es sind wohl auch sonst noch Flecken an ihr zu behandeln, Schönheitsflecken, nicht mehr: ich hoffe, sie werden herausgehn. —

Luz war wieder allein. Es erschollen die Rufe des Kuckucks in das lichte Gemach, durch angelweit offene Fenster unaufhörlich, und Luz, der sie zählte, erhielt ein Jahrhundert Lebenszeit als Geschenk: wahrhaftig, es war nicht zu viel ihm. Zweige streckte herein ein blühender Obstbaum. Er brauste ganz von Bienen und andren Insekten und duftete köstlich. Seltsam, wie es mich traf, was ist mir doch diese Elevin? dass mir stockte das Herz, als ihr Name, Anna, genannt ward? Ich war immer ein Narr, und mein Leben lang werd’ ich ein Narr sein. Also dachte der junge Mensch bei sich selber und blickte über Garten und Strasse hinüber durchs offene Hoftor: linker Hand lag das Haus mit den Wohnungen für das Sesinde. Hinten schlossen die Scheuern den Hof mit gewaltiger Durchfahrt, hoch genug, den getürmten mit Sarben beladenen Wagen unbehindert hindurch zu lassen, herein in die Wirtschaft. Jeder Stein und jeglicher Winkel des ganzen Bereiches war dem Jüngling bekannt, in Ställen, auf Treppen, auf Böden war der einst’ge Eleve zu Hause und wär’s im Stockfinstern. Täglich hatte er ja den Kreis seiner Pflichten durchlaufen, in zwei Jahren, auf diesem Gebiete, von drei Uhr des Morgens bis zur sinkenden Nacht, wo er dann, wie ein Stein, in sein Bett sank. O wie wohl war ihm beute zu Mute, verglichen mit damals — heut, wo nichts ihn mehr band, als Erinnerung, an diesen Frontreis. Träge ruhte das Vieh und wiederkäuend im Dunghof, Schwalben streiften es fast mit den Flügeln im Flug, und es lärmten Spatzen auf der Amfriedung und plumpten fortwährend herunter in den goldigen Mist, um wer weiss welches Futter zu suchen. Gänse lagen nicht weit von der Pumpe und nah’ einer Pfütze, mittagsträg, wie das Vieh, ja, es fassen nicht minder die Hühner schläfrig gesellt auf der Tür des Kuhstalls und nur ihrer wen’ge schritten pickend umher, wie versonnen und nicht bei der Sache. Menschen zeigten sich nicht, denn alles war fort, auf dem Felde .

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Dritter Gesang

Da indessen geschah’s… was geschah wohl? Ein Nichts! Und doch hebet den Liebesgesang, ihr Musen, mit süssem Getön an! (Üingtes: Ob ein Mädchen auch nur, den obern Torweg durchschreitend, ganz gemächlich erscheint und hernieder zum unteren Hof steigt: hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an! Anna ist es, die neue Elevin. Wer sollte es sonst sein? Was sie trägt, im gehenkelten Korb, ist vom Standort des Spähers nicht zu sehn, doch es blinket der Korb so, als sei er aus Golde. Und Luz fühlt einen Stich, einen stechenden Schmerz unterm Herzen. — Hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den Liebesgesang an! — Tiefer bohrt sich der Schmerz, anstatt sich zu mildern, ein Schrecken tritt hinzu, wie wenn jemand mit jäher Gewissheit erkennet, dass ein tückischer Schuss ihn im Marke des Lebens versehrt hat. Hebt den Liebesgesang, ihr Musen, den bittren Gesang an.

Jung, apollinisch gelockt, und niemals ein schlesischer Landwirt bist du geresen, mein Luz: viei eher verwandt jenem Gotte nenn’ ich, Lieber, dich dreist, der als Hirt sich verdang bei Admetos. Obenhin nur gesehn, allerdings, Luz, bot deine Abkunft nicht den mindesten Zug des Äbernatürlichen, denn du kameft wie andere Kinder zur Welt, und nicht einmal am Sonntag, nur vielleicht etwas schneller: kaum dass deine ehrsame Mutter eine Webe empfand, und schon war sie des Knäbleins genesen. Leto hiess sie indes keinesweges, sie hiess nur Frau Hanna, ebensowenig war Delos, mein göttlicher Freund, dein Geburtsort, sondern Salzborn, ein Dorf, so genannt nach dem köstlichen Heilquell. Dort besass dein Herr Vater das stattliche Wirtshaus zum Greifen, dessen freundlichem Dach es zu danken ist, dass deine Wiege nicht vom Sturme geschaukelt, von Regen und Schlossen nicht nass ward. Woher kam dir nun also der göttliche Funke ins Innre? Aus dem Griessbrei gewiss nicht, mit dem man dich löblich gepäppelt, eher schon aus den Zitzen der Amme, die selber mit Branntwein jedesmal sich gesäugt, wie man sagt, eh sie dir ihre Brust gab, —denn es war ein stets trunkner Silen, wie es heisst, ihr Geliebter —. Ernst gesprochen, dir gaben die Weihen die Nymphen des Brunnquells, der von bärtigen Schöpfern aus dröhnendem Schachte geschöpft ward. Von glückseligen Spielen erhitzt der glückseligsten Jugend trankst du täglich die Flut des sternstaubdurchfunkelten Salzborns. Und du spürtest sogleich, nach gesättigtem Durst, und zum Spiele stürmend, dass sich dein Fuss erlöst und beflügelt vom Grund hob. Denn der göttliche Born, an die dorische Halle gefüget, er war eins mit der Flut des kastalischen Quells am Parnassos: dies verriet so die dorische Säule, am Quellrand entsprungen, es verrieten’s die griechischen Laute der lieblichen Nymphen, die auf strömendem Pfad, durch die heimlichen Tiefen der Erde, ihn besuchten und gern bewohnten und Luzen, den Knaben, mit nektarischem Nass und ambrosischem Anhauch verzückten.