ANNA. This is my dream. - ANDREA WiLK - E-Book

ANNA. This is my dream. E-Book

ANDREA WiLK

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Beschreibung

Anna liebt ihr Leben. Ihren Mann, ihre beiden Teenager und ihre beste Freundin. Ihr Job ist okay und eigentlich gibt es nichts, über dass sie sich beschweren darf. Als sie das vierte Mal 39 wird, fehlt dennoch etwas in ihrem Leben. In der Fußgängerzone trifft sie auf die 23-jährige Straßenmusikerin Grace. Gezogen von Grace‘ Stimme lässt sich Anna dazu überreden, mit ihr zu singen. Dabei entsteht eine Magie, wie Anna sie nie zuvor gespürt hat. Es beginnt eine tiefe musikalische Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Eine Verbindung, die so echt und so vertraut ist, dass Anna sich wieder erlaubt zu träumen. Gemeinsam fallen sie in die Liebe zur Musik, der Erfolg baut sich auf und alles scheint leicht und perfekt. Bis zu jenem Moment, in dem Anna die Wahrheit über Grace erfährt. Eine Wahrheit, die es unmöglich macht, dass sie den gemeinsamen Traum bis zum Ziel verfolgen.

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Für nightbirde und all die Menschen, die ihre Träume leb(t)en, weil sie früher als der Rest von uns verstehen mussten, dass das Leben endlich ist.

Have you ever dreamed of something?

Do you live your dreams?

Can you think of something

That makes you feel like this?

EINS

Alles Gute zum Neununddreißigsten.“ Es war das vierte Mal, dass Stella mir neununddreißig Minipralinen zum Geburtstag überreichte. Sie mochte den Gedanken nicht, dass eine Vier am Anfang meines Alters stand. Ich auch nicht. Und deshalb strahlte ich sie mit einem diebischen Grinsen an. In ein paar Wochen würde sie zum dritten Mal neununddreißig werden und wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir diese unbedeutende Flunkerei mindestens genauso lange durchziehen würden wie nach unserem zweiten neunundzwanzigsten Geburtstag. Erst als ich siebenunddreißig wurde, hatte niemand mehr geglaubt, dass ich in meinen späten Zwanzigern war.

Das hatte vor allem daran gelegen, dass Maja und Julian mit ihren damals zehn und sieben Jahren nicht mehr zu diesem Bild gepasst hatten.

„Und, ziehen wir heute Abend um die Häuser?“ Stella setzte sich auf meinen Schreibtisch. Erst vor drei Wochen hatte ich endlich wieder mein eigenes Büro bekommen. Fast zwei Jahre hatte es gedauert, bis ich wieder dort angekommen war, wo ich vor über sechzehn Jahren, mit sechsundzwanzig, aufgehört hatte. Es war ein kleines Büro, doch es war meins. Und nach den dreiundzwanzig Monaten, in denen ich die meiste Zeit von zu Hause oder unterwegs gearbeitet hatte, um dem Gewusel im Gemeinschaftsbüro der Berufseinsteiger zu entgehen, fühlte ich mich hier endlich angenommen. Jedoch noch immer nicht angekommen.

„Nein, ich gehe mit Phillip essen.“ Ich stupste mit dem Zeigefinger gegen ihren Oberarm. „Und das weißt du deshalb so genau, weil du seit fünfzehn Jahren an diesem Tag auf ein oder zwei meiner Kinder aufpasst.“ Ich lächelte sie an, plötzlich erfüllt von Liebe, die mir die Tränen in die Augen trieb. Ich schluckte sie hinunter, weil ich fürchtete, dass diese in letzter Zeit viel zu häufigen Gefühlsregungen Ausdruck einer viel zu frühen Menopause sein könnten.

Sie schlug sich theatralisch mit der Hand gegen die Stirn. „Ach ja, richtig. Maja und ich wollten diesen neuen Club ausprobieren.“

Ich bekam meine Emotionen wieder in den Griff und gluckste auf. „Und was ist mit Julian?“

„Ach, ich habe gestern am Kiosk am Zoo so einen Typen kennengelernt, der total coole Comics sammelt. Ich dachte, wir könnten ihn bei ihm abladen.“

Bei diesem Gedanken schüttelte es mich. „Nicht witzig.“

„Stimmt. Deswegen habe ich uns Karten für diese Show im Theater am Potsdamer Platz besorgt.“

Ich runzelte die Stirn. Das klang nicht nach einem Scherz. „Morgen ist ein Schultag und Maja schreibt eine Klassenarbeit in Deutsch. Sie hängt in dem Fach sowieso auf der Kippe und kann es sich nicht leisten, unausgeschlafen in die Schule zu gehen.“

Stellas Gesicht drückte eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Mitleid aus. „Du klingst wie eine richtige Mutter.“

„Ich bin eine richtige Mutter.“ Die letzte Silbe verschluckte ich. Aus offensichtlichen Gründen, die ich aber lieber zur Seite schob, gefiel es mir nicht, diesen Satz zu sagen.

„Ich werde darauf achten, dass die Kleinen vor zwölf im Bett liegen, und ihnen sogar noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Irgendwo finde ich bestimmt noch unsere Lieblingsausgabe von Pu, dem Bär.“ Stella hatte selbst keine Kinder. Es war nie dazu gekommen, dass sie ausreichend lange mit einem Mann zusammen gewesen war, um überhaupt darüber nachzudenken. Das lag vor allem an Stella, die ihre Freiheit mehr liebte, als ich es von anderen Menschen kannte.

Wir hatten uns in der siebten Klasse kennengelernt, hatten zusammen das Gymnasium nach der Zehnten abgebrochen und eine Ausbildung im Bereich Mediendesign am Lette Verein absolviert. Und dann hatten wir in derselben Firma angefangen, in der wir noch heute arbeiteten. Sie war inzwischen meine Vorgesetzte, denn sie hatte sich keine vierzehn Jahre Pause gegönnt. Allerdings war sie auch nicht so weit aufgestiegen, wie ich es in der Zeit vermutlich getan hätte.

Sie hatte sich mehrere Auszeiten genommen, um die Welt zu bereisen, und mehrere Beförderungen abgelehnt, weil sie zufrieden mit ihrem Job war, so, wie er war. Ich dagegen wäre die Karriereleiter Stufe für Stufe hochgestiegen, so, wie ich es jetzt tat. Sie hatte vorausgesagt, dass ich in spätestens zwei Jahren ihre Vorgesetzte wäre und in fünf Jahren den Laden führte. Ich konnte mir beides ebenfalls vorstellen, war jedoch nicht sicher, ob mir diese Vorstellung auch gefiel.

„Wo geht ihr hin?“

„Wir essen am Ku’damm und ziehen dann weiter in diese Bar auf dem Motel One am Breitscheidplatz, damit wir direkt danach aufs Zimmer gehen können.“

„Uh, fancy. Was wirst du anziehen?“

Nun grinste ich. „Das schwarze Kleid, das wir letzten Monat gekauft haben.“

„Unterwäsche?“

Mein Grinsen wurde breiter. „Keine.“

„That’s my girl.“ Sie hielt mir die Faust hin und ich boxte mit meiner dagegen. „Ich kann nicht glauben, dass ihr seit zwanzig Jahren zusammen und immer noch so glücklich und dirty seid.“

„Aber das sind wir.“ Ich dachte an Phillip und Wärme breitete sich rund um mein Herz aus. Wieder spürte ich den Impuls zu heulen. Wieder schluckte ich ihn hinunter. Und doch fühlte ich die tiefe Liebe, die uns seit so vielen Jahren verband. Die nicht abnahm, eher wuchs und uns von Tag zu Tag mehr miteinander verband. Dabei waren wir nicht einmal verheiratet, weil keiner von uns dazu je einen Grund gesehen hatte. Die Kinder trugen seinen Nachnamen und ja, irgendwann würden wir vielleicht offiziell Ja zueinander sagen, doch das würde eher aus praktischen Gründen geschehen. Unsere Verbindung brauchte keinen Trauschein.

Es klopfte an der Tür. Stella sprang vom Tisch, nahm einen Stapel leerer Papiere in die Hand und sagte, als die Tür sich öffnete und Harald, der Chef der Grafikabteilung, eintrat: „Das sollten wir uns auf jeden Fall genauer ansehen, wenn du am Montag wieder da bist.“

Ich runzelte die Stirn. Am Montag? Heute war Donnerstag und ich hatte mir den morgigen Freitag nicht freigenommen.

„Und jetzt verschwinde endlich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dass du dir ausgerechnet für deinen Geburtstag einen Zahnarzttermin hast geben lassen.“

Ich unterdrückte ein Grinsen, erwiderte aber nichts, weil ich Stellas Flunkerei nicht unterstützen wollte, ihr aber dennoch dankbar dafür war.

„Hallo, Harald.“ Ich sah zur Tür und Stella wandte sich gespielt erschrocken um.

„Harald, ich habe gar nicht mitbekommen, dass du dort stehst.“

„Und ich habe gar nicht mitbekommen, dass Anna sich den morgigen Tag freigenommen hat. Wir haben zwei Meetings, um die XM-Kampagne zu besprechen.“ Er schaffte es nicht, die ernste Miene aufrecht zu erhalten, und schloss die Tür. „Alles Liebe zum Geburtstag, Anna.“ Hinter dem Rücken zog er ein Paket hervor, kam zum Tisch und stellte es vor mich. „Ich verspreche, dass ich nicht drauf gesessen habe.“

Harald war bekennender Harry Potter Fan und brachte in fast jedem Gespräch einen Verweis auf einen der Filme unter.

Ich hob vorsichtig den Deckel und zum Vorschein kam ein Kuchen, auf dem eine Neunundzwanzig, geformt aus rotem Fondant, prangte. Schon wieder schossen mir Tränen in die Augen. Verdammt! Ich blinzelte ein paar Mal und sah dann auf. „Danke.“ Meine krächzende Stimme verriet meine übertriebene Rührung und Harald und Stella sahen mich irritiert an.

Ich verschloss die Schachtel wieder, stand unbeholfen auf, ging barfuß um den Schreibtisch und schlüpfte in meine viel zu hohen Schuhe.

„Lass dich umarmen.“ Stella war nun deutlich kleiner als ich, weil sie sich weigerte, High Heels zu tragen. Ich hatte mich auch nach über zwei Jahren nicht an den entspannteren Dresscode gewöhnt und trug noch immer die hohen Schuhe, die genau wie das Kostüm nicht mehr ganz so gut passten wie vor Majas Geburt. Früher hatte mir beides Selbstbewusstsein verliehen. Als könnten sie die Zweifel überspielen, die ich bei jeder Präsentation vor einem Kunden spürte. Heute hatten sie diesen Effekt nicht mehr im selben Ausmaß.

Meine Arbeit war nicht schlecht. Sie wurde sogar hoch gelobt und inzwischen fragten mich jüngere Kolleginnen oft, was ich zu ihren Entwürfen sagte. Doch ich wusste, dass ich nicht mit dem Herzen dabei war. Ich könnte besser sein, wenn ich mich wirklich fallen lassen würde. Doch der Gedanke daran schnürte mir den Hals zu und bis heute hatte ich noch nicht herausgefunden, was der Grund dafür war. Immerhin hatte ich mir diesen Job ausgesucht. Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst mit meinem beruflichen Leben anstellen sollte.

Ich löste mich aus der Umarmung von Stella, bevor mich der nächste Gefühlsrausch übermannte. Harald strich mir freundschaftlich über den Arm und ich ging zum Garderobenständer, um meine Jacke zu holen. Es war Anfang Mai. Am Morgen war es noch frisch, doch inzwischen zeigte das Thermometer zwanzig Grad Außentemperatur. „Dann bis Montag.“ Ich fühlte mich nicht wohl bei dem Gedanken, einen ganzen Tag freizunehmen, obwohl ich ihn nicht einmal beantragt hatte. Für einen Moment überlegte ich, Stella danach zu fragen, wie sie das angestellt hatte, doch dann beschloss ich, das Geschenk einfach anzunehmen.

„Bis Montag, Herzchen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder nein, warte, wir sehen uns ja später. Sag den beiden, sie sollen um siebzehn Uhr ausgehfein an der Tür stehen, ja? Wir kehren vorher noch bei McDonald’s ein.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und eventuell haben wir noch etwas Zeit für die neue Game Hall in den alten Arkaden.“

ZWEI

Das Büro befand sich in einem Gebäudekomplex in der Wilmersdorfer Straße, einer belebten Fußgängerzone, die von der Kantstraße gekreuzt wurde. In weniger als zehn Minuten erreichte man den Ku’damm. Ich trat hinaus und wurde von der vertrauten Geräuschkulisse umschlossen. Menschen, deren Gespräche laut und leise verwaschen an mir vorbei rauschten. Motoren- und Reifenabriebgeräusche. Von irgendwoher drang Musik, das Klingeln eines Fahrrads, das Rufen eines Straßenhändlers, der Gemüse verkaufte. Dieser Teil von Wilmersdorf spiegelte die Berliner Bevölkerung deutlich. Südländische Kinder, die am Springbrunnen spielten, osteuropäische Frauen, die mit großen Einkaufstüten Läden verließen, Teenager, die so viel Make-up im Gesicht trugen, dass ich unmöglich ihr Alter erkennen konnte. Geschäftsleute in schicken Anzügen, Familien, Punks und Greise, die sich mit ihrem Rollator durch die Massen schoben.

Das war Berlin.

Ich sog das Leben um mich herum auf. So hektisch und stressig diese Stadt war, so sehr liebte ich das Treiben. Ich ließ mich von ihm führen, vielleicht, weil ich mich selbst hin und wieder richtungslos fühlte. Hin und wieder.

Fünf Schritte lang klackerten meine Absätze über den gepflasterten Boden, doch beim sechsten hörte ich kein hartes Auftreten. Es war eher … matschig. Und bevor ich die Ursache dafür erkunden konnte, rutschte der Schuh, der damit in Kontakt gekommen war, nach vorn. Mein Absatz verhakte sich zwischen zwei Kopfpflastersteinen und Sekunden später hörte ich ein verstörend knackendes Geräusch. Gleichzeitig kämpfte ich um mein Gleichgewicht.

Ich presste die Lider zusammen und zählte bis drei, bevor ich sie vorsichtig wieder öffnete und den Blick nach unten senkte. Es war kein Kackhaufen, von dem die Spitze meines Zweihundert-Euro-Schuhs halb verborgen war. Auch nichts Erbrochenes. Es war … Ich beugte mich etwas nach unten und bildete mir ein, den Knoblauchgeruch wahrnehmen zu können, der von dem weißlichen, quarkähnlichen Haufen emporstieg.

Ich zog den Fuß vorsichtig heraus. Der Absatz baumelte, von Klebstoffresten gehalten, am Rest des Schuhs. Ich humpelte weiter, bis ich eine Bank erreichte. Dort setzte ich mich und nahm den cremefarbenen High Heel in Augenschein. Es war kein Lederschuh und ich war mir sicher, dass ich die Spuren meiner Unachtsamkeit nicht würde gänzlich verschwinden lassen können.

Ich blickte auf, suchte die Umgebung nach einem Laden ab, in dem ich ein neues Paar Schuhe bekam. Auf dem Weg nach unten hatte ich Maja geschrieben, dass ich sie von der Schule abholen würde, damit wir zusammen ein Eis essen gehen konnten. Fast war ich erleichtert, dass ich nicht zu Fuß dorthin laufen musste.

Der einzige Laden, der in Reichweite lag, war Woolworth. Notdürftig wischte ich die Paste vom Schuh und humpelte dann hinüber. Ich erntete irritierte und fast schon boshafte Blicke, als ich den Laden betrat, und bereute es sofort, nicht ein paar mehr Schritte in Kauf genommen zu haben. So schnell ich es schaffte, arbeitete ich mich zu einem Regal mit Schuhen vor. Ich fand ein Paar Ballerinas in meiner Größe und ging mit ihnen zur Kasse, um sie zu bezahlen.

Die junge Frau, die Kaugummi kauend das Etikett scannte, grinste mich an. „Willste die alten Dinger gleich hier lassen?“

Ich überlegte, fragte mich, ob ich sie je wieder tragen würde, und entschied, dass ich sie ihr geben konnte. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Marke erkannte. Als hätte mich diese Erkenntnis in ihrer Sicht auf ein anderes Level gehoben, siezte sie mich nun. „Sind Sie sicher, dass Sie die nicht reparieren lassen wollen?“

Ich winkte ab. „Sie waren mir sowieso zu klein.“

„Aber …“

Ich lächelte sie freundlich an und zwinkerte ihr zu. „Vielleicht haben wir ja die gleiche Größe.“

Als ich wieder draußen stand, die Füße in den neuen Schuhen, atmete ich auf. Endlich war ich diese Schuhe los. Nicht nur für den heutigen Tag. Nein, für immer. Natürlich hatte ich noch das ein oder andere Paar dieser Art, doch es war ein Anfang.

Ich ging leichtfüßig die Straße entlang und überquerte die Ampel, um in den südlichen Teil der Wilmersdorfer zu gelangen. Hier wurde die Musik, die ich schon beim Verlassen des Bürogebäudes gehört hatte, deutlich lauter.

Eigentlich war dies nicht mein Weg. Es machte mehr Sinn, die Kantstraße ein Stück in Richtung Westen zu laufen, doch seit die Temperaturen an der Zwanzig-Grad-Marke kratzten, hatte ich meine Route geändert, um den aufkommenden Sommer in der Stadt zu genießen.

Ehrfürchtig näherte ich mich dem Ende der Fußgängerzone. In sicherem Abstand zwischen Trinkbrunnen und Späti verlangsamte ich mein Tempo, damit ich unbemerkt ein Teil der Musik sein konnte. Nur der, der zuhörte, aber immerhin ein Teil.

Grace spielte Gitarre und sang dazu. Sie besaß eine der schönsten Stimmen, die ich je gehört hatte. Voll und warm und doch so hell wie die eines Kindes. An einem Nachmittag hatte ich ihr die volle halbe Stunde zugehört, die sie hier immer spielte, bevor ein anderer Künstler sie ablöste. Wenn ich die Münzen und Scheine überschlug, die ich in ihren Gitarrenkoffer hatte fallen lassen, konnte ich mir vom Gegenwert ein neues Paar der unbequemen High Heels kaufen. Es war das erste Mal, dass ich sie um diese Zeit hier sah.

Sie spielte Walk The Line von Johnny Cash. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, schloss die Augen und ließ die Gänsehaut von meinem Körper Besitz ergreifen. Jedes einzelne der Härchen auf meinen Armen stellte sich auf. Über meine Haut drang die Musik in mein Inneres. Nahm Besitz von mir und sog mich in eine Welt, die meiner alltäglichen Realität so fremd war. Und doch fühlte ich mich dort geborgen.

Als die letzten Töne verklangen, öffnete ich die Augen wieder und applaudierte so lautstark, dass auch andere Umstehende mit einstimmten. Ja, ich wollte nicht gesehen werden, doch Grace hatte den Applaus verdient.

Sie grinste mich mit demselben Lächeln an, das sie mir immer schenkte. Ihre breiten, rot geschminkten Lippen öffneten sich dabei und entblößten gerade weiße Zähne. Sie sah aus wie ein Star. Lange blonde Wellen fielen ihr über die Brust und den Rücken. Sie hatte strahlend blaue Augen und einen intensiven Blick voller Leben.

Ich ging zu ihr, zog einen Zwanziger aus dem Portemonnaie und entschied mich dann anders, griff nach dem Fünfziger und reichte ihn ihr, damit niemand auf die Idee kam, ihn aus dem Koffer zu fischen.

Sie grinste noch breiter. Keine Sekunde hatte ich das Gefühl, sie würde ihn nicht annehmen. Stattdessen lachte sie für einen Moment auf und sprach dann in ihr Mikro. „Danke, Anna. So viel hat noch nie jemand für eines meiner Konzerttickets bezahlt.“ Sie kannte meinen Namen seit einer Woche. Nachdem ich jeden Tag hier aufgetaucht war, hatte sie mich danach gefragt und ich fühlte mich ein bisschen größer, weil sie ihn sich gemerkt hatte.

„Es war jede Minute wert.“

Sie senkte die Augenbrauen. „Was denn, du gehst schon? Bleib noch, ich habe noch eine Viertelstunde.“

„Ich kann nicht. Meine Tochter wartet auf mich, damit wir ein Eis essen gehen können.“ Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: „Es ist mein Geburtstag.“

Grace lächelte, senkte den Blick auf ihre Gitarre und schlug eine Saite an. Dann die nächste und Sekunden später erklang ihr Gesang: „Happy birthday to you.“

Ich war so gerührt, dass ich schon wieder Tränen in mir aufsteigen fühlte. Oh, verdammt. Dieses Mal konnte ich sie nicht zurückhalten. Besonders nicht, als das Musikerpärchen, das am Rand darauf wartete, dass es den Spot übernehmen konnte, mit einstimmte. Doch ich hielt tapfer durch. Zu gefangen war ich von der Magie der drei Stimmen. Ich schloss wieder die Augen, saugte erneut die Wellen der einzelnen Töne auf, ließ mich tragen von den Räumen zwischen den Noten.

Als der letzte Ton verklungen war, schlug ich die Lider wieder auf und lächelte Grace und die anderen beiden breit an. „Danke.“

„Alles Liebe zum Geburtstag, Anna.“ Sie stand auf und umarmte mich, als würden wir uns seit Jahren kennen. Als wäre ich nicht nur eine Frau, die ihre Mutter sein könnte und die täglich hierher kam, um mit ihrer Stimme den Tag hinter sich zu lassen. Grace zuzuhören, war, wie auf einen Bahnsteig zu treten, um von einem Zug in einen anderen zu steigen. Hier konnte ich einen Moment durchatmen, bei mir sein, zurücklassen, was in den Stunden zuvor geschehen war, und mich vorbereiten auf den anderen Teil meines Lebens. Andere Frauen suchten sich diese Momente bei der Maniküre oder in der Sauna. Ich hörte einer jungen Frau Anfang zwanzig dabei zu, wie sie Welthits in etwas verwandelte, was sie ohne sie niemals gewesen wären.

„Danke“, wiederholte ich und bemerkte in diesem Moment ein großes Schild, das ich mit meinem auf das Gewohnte fokussierten Blick übersehen hatte.

Sing with me stand in großen roten Buchstaben darauf. Es war der gleiche Farbton, der ihre Lippen strahlen ließ, und ich war sicher, dass sie für Plakat und Mund denselben Stift benutzt hatte.

„Na, hast du Lust?“

Ich schwieg, war wie erstarrt und schüttelte dann den Kopf. Ich behauptete nicht, dass ich nicht singen könnte, denn das wäre eine Lüge gewesen. Stattdessen blockte ich den Vorschlag mit einem meiner üblichen Neins: „Ich habe keine Zeit.“

Sie lächelte, doch in ihren Augen bemerkte ich einen wissenden Ausdruck. Wissend und … traurig. Konnte das sein? Sofort tat mir meine Entscheidung leid. Ich wollte nicht verantwortlich dafür sein, dass Grace traurig war. Welchen Grund konnte sie dafür überhaupt haben? Vielleicht erhielt sie die Reaktion von jeder Person, die sie fragte. Vielleicht war ich nur eine von vielen.

Ich schalt mich, weil ich mich für einen Moment besonders gefühlt hatte. Dabei sahen hunderte, vielleicht tausende Menschen ihr täglich dabei zu, wie sie ihr Talent mit der Stadt teilte. Dass sie sich meinen Namen gemerkt hatte, lag vielleicht nur daran, dass ich eine ihrer zuverlässigsten Spenderinnen war.

„Wie wäre es mit morgen? Neun Uhr morgens?“

Erstaunt sah ich sie an. „Morgens?“

„Ich bin jeden Tag dreimal hier. Nur am Wochenende nicht. Da trete ich in Bars auf, wenn ich es geschafft habe, einen Gig an Land zu ziehen. Falls nicht, findest du mich auf der Friedrichsbrücke in Mitte beim Dom.“

Ich nickte, als wäre diese Information relevant für mich. Offenbar war auch mein Gehirn dieser Meinung, denn ich konnte fast hören, wie es die Information abspeicherte, damit ich später darauf zugreifen konnte. Ich lächelte noch einmal und wurde dann vom Klingeln meines Handys zurück in die Realität gerufen. „Also … vielleicht.“ Mit einem entschuldigenden, oder vielmehr erleichterten Blick auf mein Telefon winkte ich ihr zu und sagte: „Dir noch viel Spaß und viele Münzen.“

„Danke.“ Ihr Lächeln wirkte auf eine frische Art weise. „Es geht nicht um die Münzen.“ Und ich verstand ihre Worte, ihren Blick, das Zucken ihrer Mundwinkel.

Für ein paar weitere Sekunden ignorierte ich das Klingeln, wartete, bis Grace den nächsten Song anstimmte. „Ain’t no sunshine when she’s gone.“ Das Grinsen in ihrer Stimme klang mit und ich sah zu ihr, sog die erste Strophe von Bill Withers’ Song auf und vergaß für einen Moment, warum ich hatte gehen wollen. Erst als das Klingeln erneut ertönte, riss ich mich los und eilte mit viel zu schnellen Schritten davon.

DREI

Wir könnten noch ein bisschen durch die Straßen ziehen.“ Phillips Atem streifte sanft über meinen Nacken. Die Küsse, die er ihm folgen ließ, enttarnten seinen Vorschlag als leere Worte.

„Es ist so schön hier.“ Ich ließ mich in seine Arme, an seine Brust sinken. Ein helles Lounge-Sofa bot uns seit fast zwei Stunden Raum. Wir blickten auf die gelb beleuchtete Gedächtniskirche. Die Luft war zu warm für Anfang Mai, der Himmel sternenklar, was man durch den Lichtsmog Berlins nur an einzelnen funkelnden Punkten ausmachen konnte. Nicht einmal dreihundert Sterne konnte man von hier aus erfassen. „Lass uns noch ein wenig bleiben.“

Seine Lippen trafen jetzt die Kuhle an meinem Hals knapp oberhalb meines Schlüsselbeins. Ein brummendes Geräusch begleitete seinen Kuss und er biss mir sanft in die Haut.

Ich lachte kichernd auf, leicht angeschwippst von den drei Gläsern Wein, die ich über den Abend verteilt getrunken hatte.

„Weißt du, was ich an dir liebe?“ Er schmiegte seinen Kopf an meinen.

„Mh, ich denke schon. Ich bin wunderschön, fahre nicht nach rechts, wenn du links sagst. Ich spiele genauso gut Dart wie du. Ich …“

Er unterbrach mich, indem er meinen Kopf zu sich drehte und mich nun richtig küsste. „Ich liebe an dir, dass du noch nicht ein einziges Mal auf dein Handy gesehen hast, um zu kontrollieren, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist.“

Das schlechte Gewissen überkam mich. Phillip registrierte den Schatten, der damit einhergehend über mein Gesicht huschte. „Was ist?“

„Ich habe noch nicht mal an sie gedacht.“

Er lachte so schallend auf, dass das Pärchen am Nachbartisch belustigt zu uns guckte. „Genau das meine ich.“

„Du liebst mich, weil ich nicht an unsere Kinder denke?“

„Ich liebe dich, weil du deiner besten Freundin vertraust und dich voll und ganz auf mich konzentrierst.“

Ich nickte stumm, weil er recht hatte. Es war etwas Gutes, wenn ich Maja und Julian loslassen konnte. Auch wenn eine Stimme in meinem Kopf mir erklärte, dass eine gute Mutter immer an ihre Kinder dachte. Ich wusste, dass sie Unsinn redete. Und doch war sie genauso da wie die anderen. Zum Beispiel jene, die mir erklärte, dass mein Mann meine volle Aufmerksamkeit verdiente, wenn ich bei ihm war. Diese und die erste Stimme vertrugen sich nicht besonders gut.

„Hör auf zu grübeln.“

„Ich grübele nicht.“ Doch die Stimmung hatte einen Knacks bekommen. Ich lehnte mich nach vorne, nahm unsere Weingläser vom Tisch und reichte Phillip seines.

„Vielleicht nicht. Aber du lässt das schlechte Gewissen dein Vertrauen durchschütteln.“

„Du kennst mich viel zu gut.“

Wieder legte er seine Lippen an meinen Hals. Dieses Mal knapp unter mein Ohrläppchen. Das war einer der Gründe, warum ich kein Parfüm trug. Weil Phillip genau wusste, wie er mich aus meinem Gedankenkarussell holen konnte. „Nicht zu gut. Noch lange nicht gut genug.“

Ich leerte mein Glas in einem Schluck, wandte den Kopf zu ihm und grinste ihn an. „Okay, du hast gewonnen. Wir können gehen.“

Halb enttäuscht sah er mich an. „Auf einen Spaziergang über den Ku’damm?“

Nun war ich es, die auflachte, mich ihm näherte und einen Kuss auf seine Lippen hauchte. „Nein, Dreamboy, auf unser Zimmer.“

* * *

Mit Phillip zu schlafen, war nicht mehr so aufregend wie am Anfang unserer Beziehung, doch ich trauerte dieser Zeit nicht nach. Er kannte meinen Körper an manchen Stellen besser als ich. Ich wusste, wo ich ihn berühren musste, um seine Erregung zu steigern. Wir waren ein Team, so trocken dieser Begriff klang.

Die Vertrautheit, das Wissen, mich diesem Menschen gedankenlos, sorgenfrei, vollkommen hingeben zu können, war so viel mehr, als alles andere jemals sein könnte.

Wir betraten das Hotelzimmer wie frisch Verliebte, küssten uns wild und als er mir das Kleid über den Kopf zog und erkannte, dass ich nichts darunter trug, grinste er. Etwas beeindruckt. „Das hättest du mir ruhig früher erzählen können.“

Ich griff nach dem Gürtel seiner Hose und zog ihn daran an mich. „Dann wäre der Abend aber anders schön gewesen.“

„Allerdings.“ Er öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes, zog es sich über den Kopf und half mir mit der Hose. „Ich bin für einen Quickie am Anfang und eine intensiv lange zweite Runde etwas später.“

„Ganz nach meinem Geschmack.“

„Ich weiß.“ Sein Mund war wieder an meinem Schlüsselbein. Er legte die Hände an meine Oberschenkel und meine Mitte streifte seinen Schwanz, als er mich hochhob. Ein Stöhnen entfuhr mir, ich umklammerte seinen Rücken und küsste ihn.

Wir erreichten das Bett, kamen gemeinsam darauf zum Liegen und Phillip drang in mich, ohne seinen Körper von meinem zu lösen. Er stieß sanft, doch ich brauchte keinen Anfang. Nur die Mitte und das Ende. Ich griff seinen Po, bewegte selbst mein Becken und bestimmte das Tempo. Er bremste uns nach ein paar Minuten ab und ich presste ihn an mich, fuhr mit kleinen, engen Bewegungen fort, bis der Orgasmus dafür sorgte, dass ich fiel, und Phillip das Tempo wieder beschleunigte, bis auch er kam.

* * *

Er hatte sein Versprechen zweimal eingehalten. Einmal in der Whirlpool-Badewanne und ein weiteres Mal im Bett. Stella würde mir nicht glauben, wenn ich ihr davon erzählte. Phillip war drei Jahre älter als ich und viele Männer in seinem Alter schafften kaum eine einzige Runde. Doch er war sportlich, achtete auf seine Ernährung und auch sonst darauf, dass er fit war.

Jetzt lagen wir beide im Bett und wie bei den Löwen, denen wir vor Jahren überrascht beim Geschlechtsverkehr zugesehen hatten, befand er sich im Tiefschlaf und ich war hellwach. Es war jedes Mal das Gleiche.

Und wie bei jedem anderen Mal schaltete sich in diesem Moment mein Kontrollsystem ein. All die Aufgaben, die in den nächsten Tagen und Wochen anstanden, versammelten sich in meinem Kopf, um laut darüber zu debattieren, welche von ihnen in der Prioritätenliste ganz oben stand.

Nach zehn Minuten hielt ich es nicht mehr aus und ging in den zweiten Raum der Suite, die Phillip für die Nacht reserviert hatte. Dort stand ein kleiner Schreibtisch, an den ich mich mit meinem Filofax-Planer setzte. Ich nutzte noch immer ein Papiersystem, weil digitale Versionen mir zu unübersichtlich waren.

Morgen hatte ich frei. Das bedeutete, ich konnte mich um den Haushalt kümmern und hätte am Wochenende mehr Zeit für die Kinder. Julian würde in der nächsten Woche eine Präsentation zum Thema Pharaonen halten und ich hatte ihm versprochen, dass wir übten. Außerdem mussten wir Mathe üben, weil er sich weigerte, zur Nachhilfe zu gehen, und nur mit mir zusammen lernte. Am Montag würde ich der Schulkonferenz von Majas Schule beisitzen, am Mittwoch zu Julians Elternsprechtag gehen. Eigentlich war Phillip dieses Mal dran, doch er hatte ein Geschäftsessen mit einem wichtigen Klienten. Phillip war Literaturagent und betreute zahlreiche Autoren und Autorinnen.

Außerdem standen in der nächsten Woche zwei wichtige Projekte bei mir an. Für einen Moment verfluchte ich Stella, weil ich morgen wirklich gern an den Designs gearbeitet hätte. Doch sie hatte es gut gemeint und ich liebte sie für ihre Kurzschlussentscheidungen.

Morgen Nachmittag hatten die Katzen einen Termin für die nächste Impfung und ich musste den Handwerker anrufen, weil er in der letzten Woche nur die Hälfte der Arbeit erledigt hatte, für die wir ihn bezahlt hatten. Außerdem brauchten beide Kinder neue Schuhe und wir mussten endlich entscheiden, wohin wir in den Ferien verreisen wollten.

„Was tust du da?“

Ich zuckte zusammen, als Phillip seine Hand auf meine Schulter legte.

„Du weißt doch, dass ich nicht schlafen kann, wenn wir so intensiv Sex haben.“ Ich grinste ihn schief an.

„Du könntest ein Buch lesen oder eine stumpfsinnige Serie auf Netflix gucken.“

Er hatte recht. Ich war nicht auf diese Ideen gekommen. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Buch gelesen hatte, das nichts mit modernem Mediendesign zu tun hatte.

„Komm wieder ins Bett.“ Er warf einen Blick über meine Schulter auf meine volle Woche. „Manchmal glaube ich, es war ein Fehler, dass du wieder arbeiten gehst.“

Peng. Widerstand schoss in mir hoch und mit ihm stand ich auf. „Was soll das denn heißen?“

„Es soll heißen, dass du schon vorher einen Vollzeitjob hattest und dir vor zwei Jahren einen zweiten dazu genommen hast.“

Ich schluckte, weil sich seine Worte wahr anfühlten, und ließ den Zorn aufflammen, weil ich das nicht vor ihm zugeben wollte. „Na und? Ich mache all diese Sachen gern.“

Er warf noch einmal einen Blick in meinen Kalender. „Du backst gern fünf Kuchen für den Basar in Majas Schule.“

Ich presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern.

Phillip lächelte liebevoll. „Anna, du hasst es, zu backen.“

„Aber ich bin gut darin.“

„Ja, das bist du, aber jedes Mal fluchst du und ich habe dich seit Majas erstem Geburtstag dabei noch nicht ein einziges Mal lächeln sehen.“

„Können wir jetzt einfach wieder ins Bett gehen?“ Ich schlug den Planer geräuschvoll zu und stampfte durch das Zimmer zurück in den Schlafraum.

Phillip folgte mir nicht. Er ging ins Bad, vermutlich pinkeln und kam nach ein paar Minuten zu mir. In der Hand hielt er eine aus Klopapier gedrehte Blume.

Ich war zunächst gerührt und spürte dann ein Kichern in mir hochsteigen. „Bitte sag mir nicht, dass du die gebastelt hast, als mehr als nur Pipi deinen Körper verlassen hat.“

Er sah mich stirnrunzelnd an, verstand und lachte dann schallend auf. Als er sich beruhigt hatte, flüsterte er: „You’ll never know.“ Er löschte das Licht, kuschelte sich an mich und küsste meine Schulter. „Gute Nacht, Traumfrau. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, Dreamboy.“

Wir schwiegen und Phillip begann leise zu schnarchen, als er den Schalter in seinem Gehirn umlegte, der ihn von Wachzustand zu Schlaf wechseln ließ. Doch ich wusste, dass er noch immer aufnahmefähig war, und sagte: „Lass uns am Wochenende nach Mitte fahren. Zu der Brücke hinter dem Dom.“

„Was willst du denn an der Brücke am Dom?“

Ich zögerte, war kurz davor, ihm zu sagen, weshalb es mich dorthin zog, bewahrte das Geheimnis dann aber für mich. „Ich habe einfach Lust auf die Gegend.“

„Okay.“ Er küsste mich erneut, zog mich fester an sich und Sekunden später hatte sich sein Atem beruhigt. Dieses Mal schnarchte er nicht und mit dem Ausblick, Grace am Wochenende zu sehen und ihrer Stimme zu lauschen, fiel auch von mir der Druck meines restlichen Lebens und ich konnte endlich einschlafen.

VIER

Die Kinder hatten keine Lust auf einen Stadtbummel mit ihren Eltern, doch ich hatte darauf bestanden und eine meiner Geburtstagswochenkarten gespielt. Davon hatte jeder von uns drei. In der Woche, in der wir Geburtstag hatten, durften wir drei Herzenswünsche äußern. Ich spielte sie selten aus und auch in diesem Jahr war es der einzige Wunsch, auf den ich bestehen musste. Ja, musste. Ich wollte so dringend zu der Brücke, zu Grace, und ich wollte, dass die Kinder dabei waren. Ich wusste selbst nicht, warum. Doch ich wäre nicht allein hingefahren.

Wir waren nach dem Mittagessen am Sonntag losgezogen, hatten neben dem Nikolaiviertel geparkt und waren an der Spree entlang zum Berliner Schloss gelaufen. Ich hatte bei einer Petition gegen den Wiederaufbau gestimmt, musste aber zugeben, dass die Gegend durch das Gebäude und die Veränderungen am Spreeufer gewonnen hatte.

Wir überquerten die B2, betraten den Lustgarten und passierten den Dom. Ich beobachtete Maja und Julian, die trotz ihres anfänglichen Widerstandes in diesem alten, von Touristen übervölkerten Teil der Stadt ankamen. Für sie und auch für uns war das Gewusel um uns herum so normal, dass wir es kaum bemerkten. Uns zumindest nicht daran störten und jede Straße, jede Wiese, die mehr als fünf Meter von einer Hauptstraße entfernt lag, als Ruhepol wahrnahmen.

Umso eindrücklicher war das Fehlen des Autolärms auf der Friedrichsbrücke, die über die Spree führte. Doch in mir bebte es. Ich hörte Grace' Stimme schon von Weitem und verlangsamte meine Schritte, als wir am Kolonnadenhof entlang auf sie zuliefen.

Plötzlich war ich unsicher, ob es richtig gewesen war, hierherzukommen. Mit Phillip und den Kindern. Vielleicht würde Grace mich erkennen und dann würden die drei wissen wollen, woher ich sie kannte, und aus irgendeinem Grund wollte ich das nicht. Ich wollte nicht, dass sie von ihr wussten.

„Wow, sie hat eine tolle Stimme.“ Es war Maja, die nun schneller lief. „Ich will ihr zuhören.“

Sie und Julian waren mit Straßenmusik aufgewachsen. Schon immer hatten wir innegehalten, zugehört, applaudiert, gespendet. Viele Male hatten wir fünf oder mehr Songs gehört. Wir folgten unzähligen Künstlern auf Instagram, die wir auf diese Weise entdeckt hatten.

Und auch dieses Mal, als wären sie wieder fünf und sieben Jahre alt, setzten sie sich auf den steinernen Weg und lauschten Grace’ Stimme. Sie bemerkte die beiden, lächelte sie an und dann schweifte ihr Blick zu mir. Ich stand hinter Phillip und bedeutete ihr, dass ich nicht wollte, dass sie mich begrüßte. Sie runzelte die Stirn, nickte aber unmerklich.

Ich entspannte mich und setzte mich zu den Kindern auf den Boden. Phillip zog seine Geldbörse hervor, legte einen Zehner in Grace’ Koffer und kam dann ebenfalls zu uns. Er hockte neben mir. „Maja hat recht. Sie ist wahnsinnig gut.“

Ich nickte nur, während er den QR-Code auf dem Schild neben dem Koffer scannte und den blauen Folgen-Button auf Instagram klickte.

Wir blieben für zwanzig Minuten. In der Zwischenzeit hatte sich ein weiterer Musiker etwa zwanzig Meter entfernt eingerichtet. Zwischen ihm und Grace vollführte ein Mensch in einem Pandabär-Kostüm Kunststücke.

Hunderte Leute liefen an uns vorbei. Viele warfen Münzen in den Koffer, manche blieben für ein oder zwei Stücke stehen. Grace bedankte sich immer wieder bei den Menschen. Und als sie den letzten Song ankündigte, warf sie einen flüchtigen Blick zu mir. Es war unwahrscheinlich, dass jemand anderes außer mir das Zucken ihres Mundwinkels wahrnahm. Ein vorsichtiges Kribbeln stieg in mir empor. Und dann stimmte sie den Song an, mit dem sie mich an meinem Geburtstag verabschiedet hatte.

„Ain’t no sunshine when she’s gone.“

„Ah, ich liebe dieses Lied.“ Phillip lächelte warm und ich liebte ihn ein bisschen mehr. Hatte gleichzeitig ein noch schlechteres Gewissen, weil ich ihm nicht erzählte, was in mir vorging. Doch was hätte es genutzt? Er hatte es selbst gesagt. Zu meinem privaten Vollzeitjob hatte ich mir einen beruflichen gepackt. Es war kein Platz für etwas anderes. Schon gar nicht für Träume, die ich schon vor Jahrzehnten aufgegeben hatte.

FÜNF

Es dauerte sechs Tage, ehe ich Grace das nächste Mal sah. Gehört hatte ich sie am Montag, doch ich war zu feige gewesen, zu ihr zu gehen. Nein, nicht feige. Es war nicht Angst, die mich davon abhielt, sondern die Erkenntnis, dass ich mich nur selbst runterziehen würde, wenn ich ihr immer wieder beim Singen zuhörte. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag hatte es geregnet und am Freitag hatte ich vergessen, dass ich einen Umweg hatte gehen wollen, wenn die Sonne wieder schien.

Zu spät erkannte ich, dass sie zurück war, versuchte, mich unbemerkt an den anderen Menschen vorbeizuschieben. Doch sie sah mich.

„Hey, Anna.“ Sie sprach meinen Namen englisch aus, unterbrach dafür ihren Gesang und schlug weiter die Saiten auf ihrer Gitarre an. Die Leute klatschten im Takt und Grace bedeutete ihnen, weiterzumachen. „It’s so good to see you.“

Ich erstarrte und sah zu ihr. Ein warmes, breites Lächeln lag auf ihren Lippen. „Remember your words?“

Und ob ich mich erinnerte. Ich sah mich bereits selbst von außen, wie ich entschuldigend auf die Uhr sah und mich davonstahl. Doch dann erkannte ich das Lied. Ihre Stimme war zu leicht dafür. Dachte ich. Denn als sie die ersten Worte sang, bewegte mich diese so, dass ich mir die tiefe Stimme von Tracy Chapman nicht länger zu den Lyrics vorstellen konnte.

Beeindruckt sah ich zu ihr. Wie oft hatte ich dieses Lied gesungen. Unter der Dusche, im Auto, in der Schule auf Partys.

„C’mon, Anna. You promised.“ Sie grinste mich an und sang weiter: „Give me one reason to stay here.“ Mir wurde die Ironie bewusst, denn sie gab mir einen Grund zu bleiben.

Meine Füße bewegten sich, bevor ich die Entscheidung getroffen hatte, mein Versprechen einzulösen. Grace jubelte und rief in das Mikro: „Einen großen Applaus für Anna.“

Die Leute klatschten schneller, als stiege ein Superstar auf die Bühne. Es hätte mich einschüchtern sollen. Wie in so vielen anderen Momenten hätte dieser meine Selbstzweifel an die Oberfläche spülen müssen. Doch das Gegenteil geschah. Meine Schritte wurden sicherer und als Grace zur Seite trat, damit ich mich neben sie stellen konnte, fühlte ich mich geerdet und angekommen. Da war kein Lampenfieber, keine Reue.

Sie sah strahlend zu mir, vielleicht, weil sie das Feuer in meinen Augen erkannte, nickte mir fragend zu und meine Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Ich wartete auf den nächsten Einsatz und wiederholte dann die zwei ersten Zeilen des Songs, die sie zuvor gesungen hatte. Das Klatschen, das wieder eingesetzt hatte, verklang. Das Lächeln auf Grace' Lippen wurde breiter.

Ich wiederholte die Zeilen, so wie sie es getan hatte, und sie stimmte mit ein. Meine Stimme war so tief wie die von Tracy. Doch wenn ich wollte, konnte ich auch in die Höhen gehen. Aber in diesem Lied wollte ich es nicht.

Ein explosionsartiges Kribbeln erfasste meinen gesamten Körper, meine Beine bewegten sich im Takt der Musik, meine rechte Hand hob sich, Mittelfinger und Daumen schnipsten im Takt, den die Menschen um uns jetzt mit ihrem Klatschen wieder aufgenommen hatten.

„Baby I got your number“, sang ich und ließ Raum, damit Grace die folgende Zeile ergänzen konnte.

Der Song näherte sich seinem Ende viel zu schnell und als die letzte Zeile verklungen war, begann Grace ein weiteres Mal die ersten Zeilen und ließ den Song dann nahtlos übergehen in das Chapman-Lied, das noch immer ab und an im Radio gespielt wurde. Ich schloss die Augen, wiegte mich in der Schwingung, die die Gitarrensaiten in die Fußgängerzone ausstrahlten, und sang die erste Zeile von Fast Car. Es war unglaublich. Ich fühlte mich zu Hause und in einer Fremde, die mich all meine Energie kostete, nur, um sie mir zehnfach zurückzugeben. Als öffnete sich etwas in mir, verband ich mich mehr und mehr mit der Musik.

Grace stimmte mit ein. Unsere Stimmen fanden eine Harmonie, von der ich nicht wusste, wie sie in diesen wenigen Minuten hatte entstehen können. Doch ich ließ mich fallen, weil sich schon sehr lange nichts mehr so angefühlt hatte. Weil ich schon so lange nicht mehr hier gewesen war. So nah bei diesem Teil meines Herzens.

* * *

Nach drei Songs musste Grace ihren Platz räumen. Ich half ihr dabei, den Verstärker zu entkabeln und alles zusammenzupacken.

„Ihr wart spitze.“ Ein junger Mann trat zu uns. Auch er hatte einen Gitarrenkoffer in der Hand.

„Danke, Tom.“ Grace lächelte ihn freundlich an.

„Wie lange singst du schon, Anna?“ Er sprach meinen Namen englisch aus, weil Grace es getan hatte, und ich korrigierte ihn nicht. Es gefiel mir.

„Mein ganzes Leben, schätze ich.“

„Nein, ich meine vor Publikum.“

Ich zuckte mit den Schultern, weil es auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort gab.

„Lass deine Fans nicht warten.“ Grace deutete auf zwei junge Frauen, die kichernd zu uns herüber zeigten.

Ich musterte Tom. Er war sicher nicht älter als Grace, hatte lange Dreadlocks und tiefblaue Augen. Er war nicht mein Typ, aber ich verstand, was die Mädchen an ihm fanden.

„Trinken wir noch einen Kaffee?“ Grace schulterte ihre Tasche und trug Gitarre und Verstärker jeweils in einer Hand.

Ich war kurz davor, ja zu sagen, doch so frei, wie ich mich in den vergangenen Minuten gefühlt hatte, war ich nicht. „Ein andermal.“

Sie sah mich skeptisch an. „Ich vertraue deinen Versprechen nicht.“

„Heute habe ich gesungen, oder?“

„Ja, weil ich dich dazu gezwungen habe.“ Da lag etwas in ihrem Blick, das ich nicht ganz deuten konnte. Entrüstung? Genervtheit?

„Stimmt.“

„Warum wolltest du nicht? Deine Stimme ist der Wahnsinn. Du klingst, als hättest du dein gesamtes Leben über auf der Bühne gestanden.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich klinge, als hätte ich als Teenager in zwei mittelklassigen Bands gesungen und bis zur Geburt meines ersten Kindes alle vier Monate einen Auftritt auf einer Hochzeit gehabt.“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch, das ist es.“ Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Ich hatte andere Pläne, als Musik zu machen.“ Der Stich in meiner Magengegend enttarnte mich vor mir selbst als Lügnerin. So war es nicht gewesen. Der fehlende Erfolg hatte mein Umfeld dazu gebracht, es mir auszureden. Und ich hatte ihm geglaubt, weil ich nicht an mich geglaubt hatte.

Grace blieb stehen, stellte ihr Equipment auf den Boden und legte ihre Hände an meine Wangen. „Was auch immer das für Pläne waren. Sie haben dich hierher gebracht.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Du wärst nicht hier, wenn du diesen Plänen nicht gefolgt wärst.“

Ich war verwirrt. Wenn ich ehrlich war, hatte ich damit gerechnet, dass sie mir vorwarf, ich hätte damals meinen Träumen folgen sollen. Zumindest war es das, was ich mir vorwarf.

„Anna, wir hätten uns nicht getroffen, wenn du nicht um die Ecke arbeiten würdest.“

„Was? Woher weißt du das?“

Sie grinste. „Na, weil du jeden Tag hier bist. Es könnte natürlich auch sein, dass du hier in der Nähe wohnst, aber dafür bist du zu oft zu sehr zurechtgemacht. Am Sonntag auf der Brücke hast du ganz anders ausgesehen.“ Sie musterte meinen Kopf. „Ohne das ganze Make-up und die strenge Frisur.“

Ohne mein Zutun fuhr meine rechte Hand zu meinem Hinterkopf und löste die Spange, die meine Haare seit heute Morgen daran hinderte, ständig über mein Gesicht zu fliegen. Lange blonde wellige Strähnen fielen mir über die Brust.

„Das ist schon viel besser.“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und schwieg so lange, bis ich glaubte, das Gespräch beenden zu müssen, weil niemand etwas sagte. Doch Grace schien die verstrichene Zeit nicht zu bemerken. Sie legte einen Finger an die Lippen. „Ich habe am Wochenende einen Gig in einer kleinen Bar in Friedrichshain. Warum kommst du nicht mit?“

Ich hob beide Augenbrauen. „Mitkommen?“

„Ja, wir könnten zusammen auf der Bühne stehen. Die Leute haben uns geliebt. Ist es nicht unfassbar, welche Harmonien wir zustande gebracht haben?“

Ich hob die Hände, als könnte ich damit abwehren, was sie gerade gesagt hatte. „Moment, Moment, Moment. Ja, die Harmonien waren toll, aber ich kann unmöglich mit dir in einer Bar auftreten.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht so spontan sein kann mit zwei Kindern.“ Das war gelogen. Ich hätte ohne Weiteres zusagen können. Doch dann hätte ich den Kindern und ihrem Vater erzählen müssen, was ich tat, und das wollte ich nicht. So dumm das klang, ich wollte die letzten zwanzig Minuten mit niemandem außer Grace teilen.

Sie nickte wieder mit diesem wissenden Blick, der mich irritierte.

„Also, ich werde jetzt gehen.“ Ich wagte ein Lächeln und spürte, wie es wuchs und mich innerlich strahlen ließ. „Ich danke dir. Es war …“

„Magisch?“

Ich verzog den Mund.

„Ach, komm schon, Anna. Du weißt, dass ich recht habe.“

„Es war unfassbar genial.“

„Okay, das auch.“ Grace lachte laut auf und umarmte mich dann. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Hände auf ihren Rücken legte.

„Es war mir eine ganz besondere Ehre, heute mit dir singen zu dürfen. Deine Stimme hat mich abgeholt und …“ Sie lächelte mit leicht gehobenem Kinn. „Und für mich war es magisch. Lass uns das bald wieder machen, ja? Ich suche Songs raus, die zu deiner Stimme passen und die vielleicht einen höheren Counterpart dabeihaben.“

Wieder suchte ich nach einer Ausrede, wollte mich aus der Verpflichtung herauswinden, doch stattdessen hörte ich mich sagen: „Gern.“

Grace grinste breit und liebevoll. „Anna, ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

Ich lachte unsicher auf. Was erwartete sie von mir? Standen wir kurz davor, eine Band zu gründen? Ich konnte ein bisschen Schlagzeug und etwas mehr Klavier spielen, doch das reichte nicht, um … Moment. Stopp. Was tat mein Gehirn da? Ich wollte in keine Band. Ich wollte nach Hause, zu meinem Mann und meinen Kindern. Zu Maja, die das Wochenende bei einer Freundin verbringen würde und die ich deshalb nur für ein paar Minuten sehen konnte. Und zu Julian, der mir etwas zeigen wollte, was er mit seinem Kumpel am Computer programmiert hatte. Ich verstand nichts davon, aber ich sah es mir trotzdem an, denn es war ihm wichtig.

Und natürlich zu Phillip.

„Anna?“

„Was? Ja, sicher.“ Ich war so zerstreut, dass ich ihre Frage längst vergessen hatte. „Du, ich muss jetzt wirklich los. Meine Familie wartet.“

„Sicher. Ich will dich nicht aufhalten. Wir sehen uns am Montag.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und wir verabschiedeten uns. Sekunden später war ich verschwunden, unwissend, wovor genau ich weglief.

SECHS

Nein, ich habe sie genau hierhin gelegt. Er hat sie geklaut. Er nimmt sich immer meine, wenn er seine nicht findet.“ Ich hatte Majas Gebrüll schon aus dem Treppenhaus gehört und kurz überlegt, ob ich wieder umkehren sollte. Der Höhenflug, der mich nach Hause getragen hatte, war beendet und ich landete in meinem echten Leben.

Ich schloss leise die Tür auf, weil es nicht fair war, Phillip mit dem Gezanke der Kinder allein zu lassen. Stella sagte immer, sie wären alt genug, ihre Streitigkeit ohne uns auszutragen. Sie sagte das seit zehn Jahren. Und ich erklärte ihr seit zehn Jahren, dass ich dann vermutlich keine Kinder mehr hätte.

Ich zog die Schuhe von den Füßen, während Julian seine Schwester anschrie: „Du spinnst doch. Vermutlich hast du sie bei deinem Boyfriend vergessen.“ Er machte üble Kussgeräusche und fiel damit zurück in die Rolle eines Achtjährigen.

„So ein Unsinn.“

Ich hängte meine Tasche an den Haken. Phillip hatte mich gehört und kam mit einem resignierten Gesichtsausdruck in den Flur. „Endlich bist du da.“ Er ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken und schloss die Arme um mich. „Ich habe dich noch nie so sehr vermisst.“

Ich kicherte und flüsterte: „Wollen wir einfach verschwinden?“

„Möchtest du weiterhin Mutter sein?“

Ich zögerte und er lachte auf.

„Von den beiden?“

„Ja, von den beiden.“

Er löste sich von mir, betrachtete mich und runzelte dann die Stirn. „Betrügst du mich?“ Ein schiefes Grinsen begleitete seine Worte, weshalb ich sie eigentlich nicht hätte ernst nehmen dürfen, doch ich fühlte mich ertappt. Dabei hatte ich ihm noch nichts verschwiegen. In diesem Moment aber wusste ich, dass ich es tun würde.

„Was meinst du?“ Ich erwiderte sein schiefes Lächeln und fühlte mich unendlich mies. Dabei wusste ich selbst nicht, warum ich ihm nicht von meinem Nachmittag erzählen wollte. Warum ich meine Bekanntschaft mit Grace nicht auf der Brücke offenbart hatte.

Phillip drehte mich einen viertel Kreis herum, bis ich vor dem Spiegel stand. Er legte einen Finger an meine Wange, auf der ein roter Kussmund prangte. „Das meine ich.“

„Das ist … das war …“

„Stella, nehme ich an.“ Er lachte auf, runzelte dann aber die Stirn und sah alarmiert in Richtung Wohnzimmer. „Warum ist es so ruhig?“

Erschrocken eilten wir beide den Flur entlang und stießen wie gegen eine Wand. Auf dem Sofa saßen Maja und Julian nebeneinander, beide Kopfhörer in den Ohren, beide mit den Füßen wippend.

„Das ist doch nicht euer Ernst.“ Phillip ging auf sie zu und ich lehnte mich lachend in den Türrahmen. Vergessen waren die roten Lippen. Na ja, zumindest ein bisschen. Er zog beiden Kindern je einen Kopfhörer aus den Ohren und sah sie irritiert an.

„Hey, Papa, was soll das?“ Beide griffen nach seinen Händen, doch er entzog sie ihrer Reichweite.

„Eine halbe Stunde lang muss ich mir euer Gebrüll anhören und jetzt sitzt ihr hier in Eintracht, als wäre nichts gewesen?“

„Sei froh, dass Maja ihre Kopfhörer unter dem Tisch gefunden hat, sonst würden wir noch immer brüllen.“ Julian stand auf, nahm Phillip seinen Kopfhörer aus der Hand und schlurfte in sein Zimmer.

---ENDE DER LESEPROBE---