Anne Frank - Matthias Heyl - E-Book

Anne Frank E-Book

Matthias Heyl

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Anne Franks Tagebuch steht für sich als Dokument des Holocaust. Ihre Aufzeichnungen werden deshalb hier nicht nacherzählt. Diese Monographie beschreibt vielmehr ihre Lebensgeschichte im Kreis ihrer Familie und Freunde unter den Bedingungen von Judenverfolgung, Emigration und Versteck. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Matthias Heyl

Anne Frank

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Anne Franks Tagebuch steht für sich als Dokument des Holocaust. Ihre Aufzeichnungen werden deshalb hier nicht nacherzählt. Diese Monographie beschreibt vielmehr ihre Lebensgeschichte im Kreis ihrer Familie und Freunde unter den Bedingungen von Judenverfolgung, Emigration und Versteck.

 

Über Matthias Heyl

Inhaltsübersicht

BerühmtDeutschland, Frankfurt, AachenZuflucht AmsterdamLeben unter deutscher BesatzungUntertauchenIm HinterhausDie VerhaftungWesterborkAuschwitz, Bergen-BelsenDas Tagebuch der Anne FrankZeittafelZeugnisseBibliographieAusgaben des «Tagebuchs»Biographien und biographische SkizzenAutobiographien und Biographien von ZeitzeugenMonographienAufsätzeHilfsmittel und NachschlagewerkeChronikenGedenkbücherKünstlerische BearbeitungenMedien – FilmeVideos der Anne Frank Stichting, AmsterdamNachtrag zur Bibliographie 2015NamenregisterErläuterungen zu den Anmerkungen

Berühmt

Du weißt längst, dass es mein liebster Wunsch ist, dass ich einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin werden werde. Ob ich diese Größen-(Wahnsinn!) Neigungen je zur Ausführung bringen werden kann, das wird sich noch herausstellen müssen, aber Themen habe ich bis jetzt schon noch. Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch betitelt «Das Hinterhaus» herausgeben, ob das gelingt, bleibt auch noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können. (11. Mai 1944)[1] Anne Frank, die diese Zeilen im Mai 1944, knapp ein Jahr vor Kriegsende, in ihr Tagebuch schrieb, hat den Krieg nicht überlebt, und sie hat ihr Buch über das Hinterhaus nicht herausbringen können. Sie hat die Anteilnahme, ja: den Weltruhm, den ihre Aufzeichnungen ihr eintragen sollten, nicht erlebt. Zwölf Wochen später, am Freitag, dem 4. August 1944, fand das Leben im Hinterhaus ein Ende, und es ist einem glücklichen Umstand und dem beherzten Eingreifen von Miep Gies zu verdanken, dass wenigstens ihr Tagebuch den Krieg überdauert hat.

Für Anne Frank war dieses Tagebuch Vertraute, Zuflucht und Möglichkeit, sich auszuprobieren. Sie dankte Gott dafür, dass er mir bei meiner Geburt schon eine Möglichkeit mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also um auszudrücken, alles was in mir ist[2]. Das Tagebuch nannte sie mein Anfang und mein Ende[3]. Als nach einem Einbruch Stimmen im Versteck laut wurden, man solle Annes Tagebuch verbrennen, schrieb Anne mein Tagebuch nicht, mein Tagebuch nur zusammen mit mir![4] Schreiben war ihr Lebensinhalt geworden.[5] Auch Annes Schwester Margot hat Tagebuch geführt, wie wir einer Eintragung Annes vom 28. September 1942 entnehmen können.[6] Diese Aufzeichnungen sind bis heute verschollen.

Anne Franks in niederländischer Sprache abgefasste Tagebücher sind in mehr als sechzig weitere Sprachen übersetzt und weltweit in über 25 Millionen Exemplaren verbreitet worden. Zwei Stiftungen und zahlreiche Schulen und Straßen in aller Welt tragen ihren Namen. Ihr Tagebuch ist – in den Worten ihres Vaters, Otto Frank – «eben ein document humain, es ist etwas Menschliches, was die Menschen berührt, ganz gleichgültig, in welchem Land sie leben»[7].

Anne Frank ist für viele die «Personifizierung von Millionen anonymer Opfer der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs»[8] geworden, wie Dineke Stam bemerkt, und in den Worten des amerikanischen Literaturwissenschaftlers James E. Young erscheint das Anne-Frank-Haus wie ein «den Zugang erleichterndes Fenster zum Holocaust»[9]. Der Historiker Frank van Vree nennt das Bild der Anne Frank in den Niederlanden eine «Ikone der Unschuld»[10], und die amerikanische Journalistin Judith Miller sieht in ihr sogar «Hollands inoffizielle Schutzheilige»[11]. Diese um Anne Frank entstandene «Sphäre der Heiligkeit» hat es, wie Stam anmerkt, lange erschwert, sich wirklich ernsthaft mit ihr als Person und – ihrem eigenen Anspruch nach – als Schriftstellerin auseinanderusetzen.[12] Dieses Buch bemüht sich, dem Mädchen, der jungen Frau und der Schriftstellerin Anne Frank gerecht zu werden.

Deutschland, Frankfurt, Aachen

Annes Eltern stammten aus gutbürgerlichen, deutsch-jüdischen Familien. Otto Heinrich Frank kam am 12. Mai 1889 in Frankfurt a.M. als zweites von vier Kindern des Bankdirektors Michael Frank und seiner Frau Alice, geb. Stern, zur Welt. Ottos Vater war 1879 aus Landau in die Mainmetropole gezogen und hatte 1885 das «Bankgeschäft» gegründet, das seinen Namen trug. Im selben Jahr heiratete er dort Alice Betty Stern, deren Familie bereits seit Anfang des 16. Jahrhunderts in der Stadt ansässig war.[13] Die Geschäfte florierten, und Michael Frank erwarb Beteiligungen an anderen Unternehmen, die er mit Gewinn verkaufte. 1902 ließ sich die Familie, die dem wohlhabenden Bürgertum angehörte, im noblen Frankfurter Westend nieder.

Juden zählten seit dem 12. Jahrhundert zur Einwohnerschaft Frankfurts. Noch bis 1811 war ihnen nur die Ansiedlung im Ghetto der Stadt erlaubt, wo auch Annes Urgroßeltern aufgewachsen waren – in der «Judengasse», dem Zentrum der damals größten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Von Juden, die etwas werden wollten, erwartete man noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, dass sie zum Christentum konvertierten. Ludwig Börne etwa ließ sich 1818 taufen, nachdem er 1815 aus dem Frankfurter Polizeidienst entlassen worden war, weil Juden keine öffentlichen Ämter bekleiden durften. 1855 taufte die Stadt – manchmal gingen Stigmatisierung und Anerkennung seltsame Verbindungen ein – den «Judenmarkt» im früheren Ghetto nach dem inzwischen weithin anerkannten Sohn der Stadt «Börneplatz», und noch einmal dreißig Jahre später wurde die ehemalige «Judengasse» in «Börnestraße» umbenannt.[14] Die bürgerliche Emanzipation im 19. Jahrhundert beförderte das Wachstum der jüdischen Gemeinde, die zwischen 1808 und 1867 von 3200 auf 8238 Mitglieder anwuchs. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts zählte sie fast 22000 Mitglieder, und 1933 waren etwa 28000 Frankfurter Mitglieder der jüdischen Gemeinde der Mainmetropole.[15]

Die Familie Frank gehörte der bedeutenden liberalen Frankfurter jüdischen Gemeinde an, deren Gottesdienste in deutscher Sprache stattfanden und mit Predigt, Chören und Orgelspiel an den Protestantismus erinnerten.[16] Antisemitismus hatte Anne Franks Vater in seiner Jugend nicht wahrgenommen, wie er später dem Journalisten Ernst Schnabel berichtete: Antisemiten – «sicherlich gab es welche, aber ich habe keinen getroffen»[17]. 1977 allerdings gestand Otto Frank mit Blick auf ein Foto, das ihn im Kreis seiner Freunde aus Kindertagen zeigte, einer Bekannten gegenüber ein: «alle, außer dem einen, da rechts, sind Nazis geworden»[18].

Otto Frank und seine drei Geschwister verlebten eine mehr oder minder sorglose Kindheit und Jugend, über die Anne später in ihr Tagebuch schreiben sollte, er habe ein richtiges Reiches-Söhnchen-Leben geführt, jede Woche Partys, Bälle, Feste, schöne Mädchen, Walzer tanzen, Diners, viele Zimmer usw.[19] Er besuchte das humanistische Lessing-Gymnasium, lernte dort Latein, Altgriechisch und Französisch und legte im Jahre 1908 – als einziger jüdischer Schüler seines Jahrgangs – die Reifeprüfung ab.[20] «Schon während der Schulzeit» erinnerte sich Otto Frank zehn Jahre nach dem Abitur, sei er wegen seiner «Neigung zu Reisen ins Ausland aufgezogen» worden. Dass er dieser Neigung folgen konnte, spricht für den Wohlstand der Familie Frank und den elterlichen Rückhalt, den Otto Frank genoss, weil Reisen bildet – wenn man es sich leisten kann. Und das konnten damals die wenigsten. Eine «Erholungsreise nach Spanien» während der Osterferien war damals durchaus ungewöhnlich.[21]

Neunzehnjährig immatrikulierte sich Otto Frank an der Heidelberger Universität für das Studium der Kunstgeschichte.[22] Die Franks waren Bildungsbürger, und Otto interessierte sich besonders für Literatur, Architektur und Musik, die er später auch seinen Töchtern nahe zu bringen versuchte.[23] Nach nur einem Semester brach Otto Frank jedoch sein Studium ab, um im New Yorker Warenhaus Macy’s, das der Familie seines amerikanischen Studienfreundes Charles Webster Straus gehörte, ein Praktikum zu absolvieren.[24] Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine Weltreise entfernt. Die Schiffspassage zwischen den Kontinenten dauerte in der Regel mindestens eine gute Woche. In New York angekommen, arbeitete Otto Frank tagsüber bei Macy’s, abends erkundete er das Nachtleben[25] der Stadt, die bekanntlich niemals schläft. Gelegentlich besuchte er seine Familie daheim. Im Herbst 1909 musste er jedoch dauerhaft nach Frankfurt zurückkehren, um seiner Mutter bei der Leitung des Familienunternehmens zur Seite zu stehen, da sein Vater überraschend gestorben war. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fuhr Otto Frank mehrfach zu Besuchen nach New York.[26] Ob er sich eine Zukunft in Amerika vorgestellt hatte? 1918 jedenfalls schrieb er in einem Feldpostbrief an seine alte Schule: «Die Absicht, dauernd im Ausland zu bleiben, hatte ich nie.»[27] Otto Frank war zugleich weit gereist und weltgewandt, überzeugter Frankfurter (eine leichte Dialekteinfärbung blieb ihm lebenslang erhalten) und deutscher Patriot. 1915 wurde er – wie über 100000 andere jüdische Männer zwischen 1914 und 1918 – zum aktiven Dienst in der deutschen Armee einberufen und diente in einem Artillerieregiment an der Westfront, wo er – anders als etwa 400000 Engländer, 200000 Franzosen und 450000 deutsche Soldaten – die Schlacht an der Somme überlebte.[28] «In Deutschland in eine assimilierte Familie hineingeboren, die seit Jahrhunderten in jenem Land gelebt hatte», fühlte Otto Frank sich «sehr deutsch»[29], als bewusster Jude und «irgendwie» auch «ganz bewusst Deutscher», wie er später bekannte.[30] Wie in den patriotischen jüdischen Familien üblich, standen alle drei Söhne der Familie als Frontsoldaten im Einsatz, Otto Franks Mutter Alice und seine Schwester Helene leisteten freiwillig Dienst in einem Armeehospital des Roten Kreuzes, und ein guter Teil des Familienvermögens floss in den Kauf von Kriegsanleihen. Zweimal wurde Otto Frank befördert, und das Ende des Kriegs erlebte er als Leutnant. Durch die Zeichnung der Kriegsanleihen, die fortschreitende Inflation und die nach dem verlorenen Krieg eingeführten Devisenbeschränkungen schmolzen Familienvermögen und Firmenkapital der Franks erheblich dahin. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Herbert und Helenes Mann Erich Elias versuchte Otto Frank das Blatt zu wenden. Der Versuch zu retten, was zu retten war, führte Otto Frank 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, in das neue Zentrum des europäischen Devisenhandels, nach Amsterdam. Dort gründete er die Bank «M. Frank en Zonen», deren Prokurist der Niederländer Johannes Kleiman wurde. Nach schwierigen und wenig erfolgreichen Geschäftsjahren wurde die Amsterdamer Dependance 1929 wieder aufgelöst.[31]

Am 16. Januar 1924 lernte Otto Frank Edith Holländer an deren 24. Geburtstag – man nimmt an, während einer Besprechung in der Frankfurter Bank – kennen.[32] Edith stammte aus einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie in Aachen. Ihr Großvater hatte mit einem Schrotthandel und der Gründung einiger Metallfabriken die Basis für den Wohlstand der Familie gelegt.[33] Annes Mutter war die Jüngste von vier Kindern und wuchs unter äußerst günstigen Umständen auf. Sie besuchte die evangelische Victoria-Schule bis zur mittleren Reife 1916. Ihre Tochter Anne sollte später in ihrem Tagebuch im Vergleich zur Familie ihres Vaters notieren: Mutter war nicht so reich, aber doch auch ganz ordentlich, und daher können wir mit offenem Mund den Geschichten von Verlobungen mit 250 Menschen, privaten Bällen und Diners lauschen.[34] In Edith Holländers Familie hielt sich das Gerücht, dass sich die Heirat für Otto Frank «ausgezahlt» habe, weil ihre ansehnliche Mitgift es ihm ermöglichte, «langjährige Schulden abzubauen».[35]

Edith galt als eher schüchtern und zurückhaltend, und vielleicht fühlte sie sich besonders durch die Selbstsicherheit, das gewandte Auftreten und die Fürsorglichkeit ihres elf Jahre älteren Verehrers angezogen. Etwas über ein Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen heiratete Otto Frank an seinem 36. Geburtstag die Fünfundzwanzigjährige in der Aachener Synagoge, und die Flitterwochen verbrachte das Ehepaar in Italien.

Neun Monate später, am 16. Februar 1926, brachte Edith Frank ihre Tochter Margot Betty in Frankfurt zur Welt. Anfangs wohnte die Familie in Otto Franks noblem Elternhaus in der Jordanstraße, das sie sich mit Ottos Mutter Alice, seiner Schwester Helene, deren Mann Erich Elias und deren Söhnen Stephan und Bernhard («Buddy») teilten. Im Sommer 1927 bezog die dreiköpfige Familie dann eine eigene Wohnung in der ersten und zweiten Etage einer Doppelhaushälfte im Marbachweg 307. Das Haus teilte sie sich mit der Familie des Hauseigentümers. Die Bewohner dieses Neubaugebiets waren überwiegend Beamte, Lehrer und Angestellte. Margot erfuhr die intensive Zuwendung ihrer stolzen Eltern und der Haushälterin Kati Stilgenbauer, die mit den Franks unter einem Dach wohnte und in die Familie aufgenommen war.

Im vierten Ehejahr brachte Edith am 12. Juni 1929 ihr zweites Kind in der Klinik des Vaterländischen Frauenvereins in Frankfurt zur Welt, das 54 Zentimeter maß und mehr als vier Kilo wog. Die Geburt war nicht einfach gewesen, hatte das Kind doch zu wenig Sauerstoff bekommen. Auch die Namensgebung verlief nicht ohne Komplikationen: Der «Säugling Frank» war von einem voreiligen Verwaltungsangestellten schon als «männliches Kind» eingetragen worden, als der stolze Vater den Namen des Kindes in die Geburtsurkunde aufnehmen lassen wollte: Annelies Marie oder kurz: Anne Frank.[36]

Anne wurde in eine unruhige Zeit hineingeboren. Kurz nach ihrer Geburt sorgte der Börsencrash des «Schwarzen Freitags» für neue Turbulenzen, und das «Bankgeschäft Michael Frank», das überwiegend im Auslandsgeschäft und internationalen Wertpapierhandel tätig war, musste Umsatzeinbußen von 90 Prozent hinnehmen.[37]

Im März 1931 zog die vierköpfige Familie in eine kleinere Parterre-Wohnung in der Ganghoferstraße 24 im Frankfurter «Dichterviertel». Dort lebten vor allem Selbständige, Ärzte, Anwälte und Architekten.

Den Sommer 1932 hatte das kleine Bankhaus nur mit der finanziellen Unterstützung eines Cousins überstanden.[38] Von den Geschicken der Firma, deren Direktor Otto Frank war, waren nicht nur er, seine Frau und die beiden Töchter abhängig, sondern auch seine Mutter und seine Geschwister. Ein Ende der prekären Lage war nicht absehbar.

Die Franks waren nicht nur für damalige Verhältnisse eine moderne und ungewöhnliche Familie, in der die Töchter den vollen Respekt ihrer Eltern erfuhren. Margot war ein eher zurückhaltendes, wohlerzogenes und fast scheues Kind, Anne quirliger, herausfordernder, anspruchsvoller und eigenwilliger – in den Worten ihrer Frankfurter Großmutter Alice Frank ein echtes «Frauenzimmerchen»[39]. Die Kinder bildeten für Otto und Edith Frank eindeutig den Mittelpunkt ihres Lebens. Für Otto war seine Familie zugleich eine Zuflucht angesichts der beruflichen Sorgen.[40] Margot und Anne verlebten eine beschützte Kindheit in einer für die Erwachsenen sorgenvollen Zeit. Die Beziehungen sowohl zur Frankfurter Familie Otto Franks als auch zu Ediths Aachener Verwandten waren eng. Oft besuchte Edith mit ihren Töchtern «Oma Holländer» und ihre Brüder Julius und Walter, die beide kinderlos waren und Margot und Anne mit besonderer Zuneigung begegneten. In Frankfurt war das Haus von «Omi» Alice Frank einer der Treffpunkte der Familie.

1932 wurde Margot in eine reformpädagogisch inspirierte Grundschule eingeschult. Unter Margots 42 Klassenkameradinnen waren vier weitere jüdische Mädchen. Zweimal die Woche besuchte die gute und fleißige Schülerin auf Betreiben ihrer Mutter außerdem den jüdischen Religionsunterricht.

Die Weimarer Republik hatte damals ihren Rückhalt in der Bevölkerung schon weitgehend verloren, die Nazis hatten einen Teil der Unzufriedenen mit ihren antisemitischen und populistischen Losungen gewonnen. Das Kindermädchen Kati Stilgenbauer erinnerte sich später an eine Szene aus dem Jahr 1929: Die Waschfrau hatte von Straßenkrawallen gesprochen, die «Braunen» hätten sich wieder geprügelt und randaliert. Beim Mittagessen fragte Kati Otto Frank, wer diese «Braunen» seien. Otto Frank habe «gelacht und versucht, einen Scherz zu machen, und wenn es auch kein richtiges Lachen und kein richtiger Scherz war, er hat es trotzdem versucht». Edith Frank aber «schaute vom Teller auf» und sagte düster: «Wir werden sie noch kennen lernen, Kati.»[41]

Otto Frank verfolgte die Ereignisse mit wachsender Sorge. Bereits 1932 begannen er und Edith, über eine Auswanderung aus Deutschland nachzudenken, nachdem er antisemitische Losungen skandierenden SA-Trupps auf der Straße begegnet war.[42] Aber: «wie kann man einen Lebensunterhalt verdienen, wenn man weggeht und mehr oder weniger alles aufgibt?»[43]

«Lasst uns doch einmal sehen, was der Mann kann», war, wie sich Otto Frank später erinnerte, der Kommentar eines Bekannten, in dessen Haus sie die Rundfunkübertragung der Feiern aus Anlass der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 verfolgt hatten; er selber wusste darauf keine Antwort, und seine Frau «war wie erstarrt»[44]. Weil er wissen wollte, woran er war, mutete er sich Hitlers «Mein Kampf» zu – und das war keine beruhigende Lektüre.[45]

Unruhige Zeiten waren es auch für die Frankfurter Juden, die nun wiederholt Opfer tätlicher Angriffe wurden.[46] Bereits am 11. März 1933 hatten die Nazis den Frankfurter Oberbürgermeister, der jüdischer Herkunft war, aus dem Amt und der Stadt vertrieben[47]; am Tag darauf errangen die Nazis in der wegen ihrer Weltoffenheit gepriesenen Mainmetropole bei den Kommunalwahlen 47,9 Prozent der Stimmen und wurden mit Abstand zur stärksten Fraktion im Römer – die absolute Mehrheit der zu vergebenden Sitze verfehlten sie nur um ein Mandat. Die Sozialdemokraten folgten abgeschlagen mit 19,1 Prozent, und das katholische «Zentrum» (11,4 %) löste die Kommunisten (9,7 %) vom dritten Rang ab.[48] Bereits am nächsten Tag wehte am Frankfurter Rathaus die Hakenkreuzfahne.[49]

Am 30. März 1933 wandte sich der Vorstand der Frankfurter jüdischen Gemeinde an die Mitglieder. Noch einmal beschwor man die Geschichte der Frankfurter Juden, die zum Gedeihen ihrer Heimatstadt so vieles beigetragen hatten. Am Ende stand ein Appell an das Durchhaltevermögen: «Verzagt nicht! Schließt die Reihen! Kein ehrenhafter Jude darf in dieser Zeit fahnenflüchtig werden.»[50]

Nichts kann uns die tausendjährige Verbundenheit mit unserer deutschen Heimat rauben, keine Not und Gefahr kann uns dem von unseren Vätern ererbten Glauben abspenstig machen.

Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt, April 1933

Schon vor dem von den Nazis organisierten «Abwehr-Boykott» waren Frankfurter Unternehmen jüdischer Eigentümer boykottiert worden – nun weiteten die Nazis ihre Maßnahmen sogar gegen Geschäfte nichtjüdischer Eigentümer aus, die jüdische Angestellte beschäftigten. Allein von März bis Oktober 1933 mussten 536 «jüdische» Unternehmen schließen.

Frankfurt eilte der reichsweiten Entwicklung voraus: Noch ehe in Berlin entsprechende Verordnungen und Gesetze auf den Weg gebracht wurden, entließ der nationalsozialistische Oberbürgermeister die jüdischen Angestellten der Stadt.[51]

Gerade waren die Franks «infolge der veränderten wirtschaftlichen Lage» zurück in Ottos Elternhaus gezogen[52], nun suchten sie nach einer Zuflucht. Otto Franks Kontakte in die USA und in die Niederlande ließen mehrere Möglichkeiten offen. Die englische Sprache beherrschte er gut, nicht zuletzt dank seiner New-York-Aufenthalte; Edith Frank hatte in der Schule Französisch und Englisch gelernt. Andere aus der Familie waren bereits früher ins Ausland gegangen – Ottos Schwester Helene lebte seit 1930 mit ihrer Familie in der Schweiz, wo ihr Mann Erich Elias für die Kölner Opekta-Werke, die Geliermittel für die Marmeladenherstellung produzierten, die Schweizer Zweigstelle aufbaute. Ein Cousin lebte in Paris und Großcousine Milly in London … Wohin also? Ottos Schwager schlug vor, Otto solle sich um die Position des niederländischen Repräsentanten der Opekta bewerben. Otto Frank willigte ein. Da die finanziellen Reserven der Familie gehörig abgeschmolzen waren, kam ein Leben im Exil, das zumindest eine Weile vom Ersparten finanziert werden könnte, nicht in Frage. Ohne sich und seine Familie selber ernähren zu können, bestand kaum Aussicht auf ein Visum in den meisten Zufluchtsländern. Eine erste Welle von etwa 26000 Juden hatte Deutschland bereits im Juni 1933 verlassen – 37000 weitere sollten ihnen bis Ende des Jahres folgen –, als sich Otto nach Amsterdam aufmachte, um seine neue berufliche Existenz vorzubereiten, die es ihm ermöglichen sollte, schnell Frau und Kinder nachzuholen. Edith, Margot und Anne Frank zogen derweil nach Aachen zu Ediths Familie. Durch die Aufnahme bei den vertrauten Verwandten, die sie nach Kräften verwöhnt haben dürften, wurde der Abschied von der gewohnten Umgebung, von Angehörigen und Freunden etwas leichter.

Während Margot bescheiden und genügsam war, galt Anne bereits als ein kleiner Quirl, der die ganze Aufmerksamkeit seiner Umwelt einforderte. Sie war überhaupt nicht schüchtern, sondern sehr selbstbewusst und zuweilen keck. Überliefert ist ein Ausspruch der Viereinhalbjährigen, die für ihre Großmutter in einer voll besetzten Straßenbahn einen Sitzplatz sichern wollte: «Kann jemand für die alte Dame aufstehen?»[53] Rosa Holländer ertrug derlei Eskapaden ihrer jüngsten Enkelin mit großer Gelassenheit. Vielleicht mischte sich auch ein bisschen Stolz über das Temperament der Enkelin hinein, das ganz anders ausgefallen war als ihr eigenes, das ihrer Tochter Edith und ihrer Enkelin Margot. Anne war beredt, wo die anderen Zurückhaltung zeigten, und ihr Hang zu einer gewissen Egozentrik und Altklugheit wurde durch ihren Charme aufgewogen, mit dem sie die Verwandtschaft um den Finger wickelte.

Allmählich verließen auch die anderen Franks die Mainmetropole – Ottos Bruder Herbert hatte sich bereits 1932 in Frankreich niedergelassen. «Omi» Alice Frank folgte ihrer Tochter Helene im Oktober 1933 nach Basel, und Ottos älterer Bruder Robert ging nach England. Die Stadt wurde ärmer, ohne es zu merken.

Zuflucht Amsterdam

Der Eintrag im Melderegister der Stadt Amsterdam vom 16. August 1933 lautet schlicht und ergreifend: «Frank, Otto Heinrich, zugezogen aus Frankfurt am Main».[54] Edith Frank wurde gleich mit eingetragen. Otto Frank wohnte anfangs zur Untermiete. Er war nicht der Leiter einer niederländischen Filiale der Opekta geworden, sondern musste die «Nederlandsche Opekta Maatschappij NV» in eigener Regie aufbauen, die im September 1933 ins Handelsregister eingetragen wurde. Das zur Unternehmensgründung nötige Kapital von 15000 Gulden lieh er sich bei seinem Schwager Erich Elias. Otto Frank sollte das Geliermittel Pektin auf eigenes Risiko verkaufen dürfen, allerdings nur an Endverbraucher, also im Wesentlichen an Hausfrauen, um eine Konkurrenz mit der Utrechter Firma Pomosin zu vermeiden, die über ältere Rechte auf dem niederländischen Markt verfügte und Konservenfabriken und Marmeladenhersteller belieferte. Das Frankfurter Bankhaus Michael Frank stellte seine Tätigkeit dann offiziell zum 31. Januar 1934 ein.

Am 5. Dezember 1933 bezogen Otto und Edith Frank die zweite Etage eines Hauses am Merwedeplein 37, und zwei Tage später wurden auch ihre noch in Aachen verbliebenen Töchter dort registriert. Das Haus lag in der «Rivierenbuurt», dem «Flussviertel», einem Neubaugebiet im Süden Amsterdams. Dort standen Reihen für die zwanziger und dreißiger Jahre typischer dunkelroter, fast bräunlicher Backsteinhäuser – ein modernes, noch gesichtsloses Umfeld. Die rückwärtigen Balkone boten einen Blick auf die Gärten und die Rückseite der Häuser in der nächsten Reihe. Schmale Treppen führten – wie in den älteren Amsterdamer Häusern – in die oberen Etagen. Die Straßen waren, verglichen mit denen der älteren Amsterdamer Stadtteile, verhältnismäßig breit, und der anfangs sandige Merwedeplein bot nach seiner Begrünung einen großzügigen Eindruck und einen idealen Treffpunkt für die Kinder des Viertels. Auf den Straßen herrschte dank der in das Wohngebiet integrierten Läden, Cafés, Bäckereien und Schulen ein reges Treiben. Nach und nach zogen immer mehr jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in dieses Neubaugebiet. In dem ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft waren von den etwa 50000 Juden, die Deutschland verlassen hatten, ca. 4000 in die Niederlande gekommen.[55] Zwischen 1934 und Mitte 1938 kamen fast 25000 weitere jüdische Flüchtlinge, obwohl die Hürden für die Einwanderung von niederländischer Seite immer höher gesetzt wurden.[56] Letztlich waren etwa ein Drittel der ca. 50000 Bewohner der Rivierenbuurt Juden. Die Straßenbahnlinie in den Süden der Stadt hieß unter einigen alteingesessenen Amsterdamern – durchaus mit einem antisemitischen Unterton – «Orient Express», und die niederländischen Schaffner, die bei Ausrufen der Station Amsterdam-Zuid die fehlerhafte Aussprache der Flüchtlinge imitierten, gehörten noch «zu den Gutmütigsten jener, die hinter ihrer Abneigung gegenüber dem deutschen Akzent ihren Widerwillen gegenüber den Fremden verbargen»[57].

Bis zu meinem 4. Jahr wohnte ich in Frankfurt, dann ist mein Vater Otto […] nach Holland, um eine Stellung zu suchen, das war im Juni [1933]. Er fand etwas, und seine Frau Edith Frank-Holländer ging im September auch nach Holland. Margot und ich gingen nach Aachen, wo unsere Großmutter Rosa Holländer-Stern wohnte. Margot ist im Dezember nach Holland, und ich im Februar, wo ich als Geburtstagsgeschenk bei Margot auf den Tisch gesetzt wurde.

Anne Frank, TGB, S. 222 (a)

Die neue Wohnung der Franks war nach Ediths Einschätzung «ähnlich der in der Ganghofer Straße, nur viel kleiner»[58]. Aber es war ein Zuhause, aus dem man auf die Straße treten konnte, ohne SA-Männern zu begegnen, die antisemitische Losungen brüllten. Da sie die Wohnung einzurichten hatten und allerlei Formalitäten zu bewältigen waren, erschien es den Eltern Frank vorerst besser, ihre Töchter bei der Großmutter und den Onkeln zu lassen – dort waren die beiden gut aufgehoben.

Margot kam Ende Dezember 1933 aus Aachen nach Amsterdam, da sie rechtzeitig zum Ende der Weihnachtsferien in die nahe gelegene Grundschule in der Jekerstraat eingeschult werden sollte. Der schüchternen Margot fiel die Eingewöhnung in der neuen Umgebung anfangs sichtlich schwer, die fremde Sprache trug dazu bei. Beflissen, wissbegierig und ehrgeizig, gehörte Margot jedoch bald zu den Klassenbesten. Anne musste noch etwas warten, bis sie nachgeholt wurde. Wann genau und wie sie nach Amsterdam kam, ist ungewiss. Sie erinnerte sich in ihrem Tagebuch, ihrer Schwester Margot zum Geburtstag im Februar 1934 auf den Gabentisch gesetzt worden zu sein[59]; wahrscheinlich brachten ihre Onkel sie zu diesem Anlass mit dem Auto nach Amsterdam.

Edith Frank versuchte, die Kontakte nach Deutschland nicht abreißen zu lassen. Im März 1934 schrieb sie nach Frankfurt: «Seit Dezember haben wir eine kleine Wohnung in Amsterdam. Margot kam Weihnachten und Anne jetzt. Beide sind vergnügt, Anne ein kleiner Komiker.»[60]

Nach zwei Monaten endlich war ein Platz für Anne im Kindergarten der Montessori-Schule in der Nierstraat frei, unweit von Margots Grundschule. Anne brauchte mit ihrem Freiheitsdrang eine Umgebung, die ihren Neigungen und ihrem Temperament den nötigen Raum ließ. Für Margot zogen die Eltern eine herkömmliche Schule vor, auf der es auf jeden Fall deutlich liberaler zuging als auf den Regelschulen in Deutschland, zumal unter den Nazis. Edith Frank schrieb mit spürbarer Erleichterung an die Frankfurter Freunde: «Margot geht gern zur Schule und Anne mit großer Freude zum Kindergarten […].»[61] Dort schloss Anne Freundschaft mit Hannah («Hanneli») Goslar. Als Hannah Anne im Kindergarten entdeckte (sie waren einander schon einmal kurz in einem Lebensmittelgeschäft in Begleitung ihrer Mütter begegnet), flogen sie sich in die Arme, und Frau Goslar «konnte beruhigt nach Hause gehen», denn Hannah hatte ihre «Schüchternheit abgelegt» und gleichzeitig ihre «Mutter vergessen».[62]

Auch die Familie Goslar stammte aus Deutschland. Hannahs Vater Hans Goslar war von 1919 bis zu seiner politisch motivierten Beurlaubung im Jahre 1932 Leiter der Pressestelle des Preußischen Staatsministeriums gewesen und hatte aus seiner Gegnerschaft zu den Nazis nie einen Hehl gemacht.[63] Die Hoffnung des Sozialdemokraten, dass der preußische Ministerpräsident Braun «mit Polizei und Reichsbanner gegen Adolf Hitler bzw. von Papen kämpfen werde», hatte sich nicht erfüllt.[64]