Annekathrin hat Krebs - Karl Heinz Kristel - E-Book

Annekathrin hat Krebs E-Book

Karl Heinz Kristel

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Beschreibung

Gelten Humor und Lachen bei schwerer Krankheit nicht als Widerspruch? Annekathrins Geschichte gibt eine eindeutige Antwort. Sie führt vor Augen, dass ihre Frohnatur für sie und alle anderen eine Wohltat ist. Selbst in höchster Not bleibt Humor ihr treuester Weggefährte, der ihr hilft, das Leben zu meistern. Annekathrin lacht in Zeiten des Glücks, aber auch in Zeiten des Unglücks. Auch wenn die Diagnose Krebs ihr Leben, das ihres Gatten und der Töchter auf den Kopf stellt, sprachlos, hilflos und ohnmächtig macht. Mit Humor und Mut durchbricht sie die bedrückende Sprachlosigkeit. Auch als Patientin auf der Palliativstation und im Hospiz behält sie ihren Humor bei. Selbstbestimmung und Reden helfen ihr und der Familie in dieser scheinbar unkontrollierbaren Situation wieder die Kontrolle zu finden.

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Humor ist der Sonnenschein,

der durch die Risse des Lebens scheint.

Marie Ebner von Eschenbach

Buchbeschreibung

Gelten Humor und Lachen bei schwerer Krankheit nicht als Widerspruch? Annekathrins Geschichte gibt eine eindeutige Antwort. Sie führt vor Augen, dass ihre Frohnatur für sie und alle anderen eine Wohltat ist. Selbst in höchster Not bleibt Humor ihr treuester Weggefährte, der ihr hilft, das Leben zu meistern. Annekathrin lacht in Zeiten des Glücks, aber auch in Zeiten des Unglücks. Auch wenn die Diagnose Krebs ihr Leben, das ihres Gatten und der Töchter auf den Kopf stellt, sprachlos, hilflos und ohnmächtig macht. Mit Humor und Mut durchbricht sie die bedrückende Sprachlosigkeit. Auch als Patientin auf der Palliativstation und im Hospiz behält sie ihren Humor bei. Selbstbestimmung und Reden helfen ihr und der Familie in dieser scheinbar unkontrollierbaren Situation wieder die Kontrolle zu finden.

INHALTSVERZEICHNIS

1 Warum dieses Buch?

2 Nebelhafte Signale

2.1 Erst zum Hausarzt

2.2 Überweisung ins Krankenhaus

2.3 Der diagnostische Prozess

2.4 Die Angst vor der Diagnose

3 Die Diagnose

3.1 Wie sage ich`s meinen Kindern?

3.2 Krebs - ein Saboteur und Amokläufer

3.3 Psychologische Unterstützung

3.4 Die Operation

3.5 Die schlechte Nachricht überbringen

3.6 Schuldgefühle der Krebskranken

4 Chemotherapie – ja oder nein?

4.1 Anlage eines Portkatheters

4.2 Zeit für Besuche

4.3 Nebenwirkungen der Chemotherapie

5 Aufwühlende Weihnachten

6 Tumorschmerzen

6.1 Freude über das erste Enkelkind

6.2 Der übermächtige Feind

6.3 Schmerzbehandlung

6.4 Achterbahn der Gefühle

7 Palliative Sedierung

7.1 Das Wiederaufwachen

7.2 Palliative Medizin und Pflege ein Segen

7.3 Die Selbständigkeit bewahren

7.4 Kontrollierte Besuchsregelung

8 Das letzte Aufblühen

8.1 Tierbesuche auf der Palliativstation

8.2 Abschiednehmen vom geliebten Arbeitsplatz

8.3 Wünsche für die letzte Wohnung

8.4 Nochmals im Drogeriemarkt einkaufen

8.5 Verwirrtheit

8.6 Ein letztes Mal nach Hause

8.7 Humor statt Drama

9 Das Hospiz

10 Die Leere danach

10.1 Das Zuhause als Folterkammer

10.2 Ausgelaugt und müde

10.3 Broken-Heart-Syndrom

10.4 Auf die Sprünge geholfen

11 Zurück ins Leben

12 Nach vorne blicken

13 Schlussbemerkung

14 Krebs-, Palliativ- und Hospizberatung

14.1 Krebs-, Palliativ- und Hospizberatung Deutschland

Deutsche Krebshilfe

Krebsinformationsdienst

Deutsche Krebsgesellschaft

Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (Nakos)

Deutscher Palliativ- und Hospiz-Verband

Deutsche Palliativstiftung

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin

Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland

14.2 Krebs-, Palliativ-, Hospizberatung Österreich

Österreichische Krebshilfe

Hospiz und Palliative Care

14.3 Krebs-, Palliativ-, Hospizberatung Schweiz

Krebsliga Schweiz

Palliative Care

Pallifon – Telefonische Notfallberatung für Palliativpatienten

Weiterführende Literatur

1 Warum dieses Buch?

Annekathrin inspiriert ihre Mitmenschen mit überraschenden Einfällen zum Mitlachen. Ihr Wortwitz und Lachen bauen Brücken und bilden Vertrauen, sowohl im Privatleben als auch im Beruf als Palliativkrankenschwester. Im Handumdrehen knüpft sie soziale Bänder und fördert eine positive Gesprächsatmosphäre. Mit ihrem Humor entschärft sie brenzlige Situationen und transportiert Botschaften. Je nach Lage belustigt sie differenziert, indem sie zum Beispiel leise oder schallend lacht, lächelt oder kichert, schlagfertig antwortet, Faxen macht oder einen Witz erzählt. Annekathrin weiß, dass Humor und Lachen positive biochemische Prozesse anstößt, Spannungen, Ängste und Frustrationen mindert.

Jedoch widersprechen sich Humor und Lachen bei schwerer Krankheit nicht? Annekathrins biografische Geschichte gibt eine anschauliche und sonnenklare Antwort. Sie führt vor Augen, dass ihre Frohnatur für sie und alle anderen eine Wohltat ist. Auch während ihrer schweren Krankheit bleibt Humor ihr zuverlässiger Begleiter, der ihr hilft, das Leben zu meistern. Annekathrin lacht in Zeiten des Glücks, aber auch in Zeiten des Unglücks.

Annekathrin übt ihren Beruf als Palliativkrankenschwester mit vollem Einsatz und Begeisterung aus. Zusammen planen wir eine Hausrenovierung. Sie freut sich auf die bevorstehende Fernreise zu den Kapverdischen Inseln und auf die Geburt ihres ersten Enkels. Annekathrin ist voller Tatendrang, Lebenslust und Energie. Sie fühlt sich gesund, und ist doch krank. Nur weiß sie nichts davon. Eine Krankheit hat sich heimtückisch in ihren Körper geschlichen. Gut getarnt verbirgt sie ihr wahres Gesicht bis zu jenem Tag, an dem sie plötzlich, wie aus heiterem Himmel, nebelhafte Signale sendet: Schwindelattacken, Übelkeit und Brechreiz. Eine Unpässlichkeit, glaubt sie. Symptome also, die jeden Mal piesacken. Doch bei Annekathrin verschwinden diese Zeichen nicht und nehmen an Heftigkeit zu. Sie muss ins Krankenhaus. Widerwillig unterzieht sich meine Frau einer medizinischen Diagnostik. Ich bin dabei und halte ihre Hand, als der Oberarzt die Diagnose mitteilt: Krebs. Bronchialkarzinom mit einer Hirnmetastase. Ein Albtraum. Noch nie in unserem Leben haben Annekathrin und ich einen solchen Tag erlebt. Unsere kleine und heile Welt zerbricht unmittelbar vor unseren Augen. Von einem Moment auf den anderen stellt diese Diagnose ihr Leben, das ihres Gatten und das der Töchter auf den Kopf. Und was nun?

Gerade Annekathrin, die immer gesund, mit Leib und Seele für die Patienten auf der Palliativstation da war. Sie wird selbst operiert, bestrahlt, erhält eine Chemotherapie und braucht Pflege. Im Wirrwarr der Umstände und Gefühle taucht am Himmel ein leuchtender Stern auf. Das erste Enkelkind kündigt sich an. Wird sie für das Kind da sein können? Es folgt eine wechselvolle Zeit von Krise und Verzweiflung, in der aber auch Hoffnung, Mut und Trost keimen.

Annekathrin ist selbstbewusst und lässt sich so schnell nicht unterkriegen. Sie ist ein Springbrunnen von Heiterkeit. Humor ist ihr Stoßdämpfer und eine geistige Leuchtpatrone, auch wenn der Tumor und Schmerzen sie aus der Bahn werfen. Mit Humor und Mut durchbricht sie die bedrückende Sprachlosigkeit. Selbstbestimmung und Reden helfen ihr und der Familie in dieser scheinbar unkontrollierbaren Situation wieder die Kontrolle zu finden.

Die Diagnose „Krebs“ trifft jedes Jahr rund 500.000 Menschen in Deutschland. Fast die Hälfte der Bevölkerung erkrankt in ihrem Leben an Krebs. Die Betroffenen selbst, aber auch ihre Angehörigen, geraten nicht selten in einen Schockzustand und stürzen in eine Krise, der sie sich nicht gewachsen sehen, besonders bei schlechten Heilungsaussichten. Das gesamte Umfeld ist überfordert, steht der Krankheit mit ihrem Verlauf, ihren Folgen und Bedrohungen häufig hilflos und verzweifelt gegenüber. In etwa 100.000 Fällen handelt es sich bei den Erkrankten um ein Elternteil, wodurch auch Kinder mit Ängsten, Leid sowie dem Tod konfrontiert werden und Unvorstellbares durchleben und verkraften müssen. Ziele und Lebenspläne lösen sich von einem Moment auf den anderen in Luft auf.

Dieses Buch ist eine romanhafte Erzählung über die Krebserkrankung meiner Frau. Sparsame fachliche Beschreibungen in einigen Kapiteln dienen dem besseren Verständnis für Laien. Sie, liebe Leserinnen und Leser erfahren anstelle von Ratschlägen eine wahre Geschichte, durchleben gemeinsam mit mir eine wechselvolle Zeit, die von Verzweiflung, Ängsten, Unsicherheiten, Trauer und Krisen, aber auch von Humor, Hoffnung, Trost und Mut geprägt war.

Annekathrin übte ihren Beruf wahrhaftig aus Berufung auf einer Palliativstation aus. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen wirkten sich auch auf ihr Verhalten als Patientin aus. Ihr Beruf und ihre selbstbewusste und humorvolle Art ließen außergewöhnliche Situationen entstehen, die für andere Menschen in dieser Lage sehr hilfreich sein können. Nie werde ich diese für sie typischen Aussprüche vergessen: „Ein bisschen noch Witze machen und lachen, wenn es im Leben so richtig kracht, ist wie Brause auf meiner Zunge“ oder „Der Krebs raubt mir die Haare, aber nicht den Humor“. Überhaupt hielt meine Frau viel von folgendem Ausspruch Sigmund Freuds: „Im Scherz kann man alles sagen, sogar die Wahrheit.“

Dies ist ein Buch für haupt- und ehrenamtlich Tätige in der Palliativarbeit, Hospizarbeit, Trauerbegleitung und Pflege. Vor allem Familienangehörigen von Krebskranken bietet dieser Erfahrungsbericht die Möglichkeit, ihre Situation mit der in meiner Familie zu vergleichen und zu erfahren, wie wir damit umgegangen sind und wer uns wie in den jeweiligen Situationen geholfen und unterstützt hat. Annekathrin schaffte es, die Sprachlosigkeit, Hilflosigkeit und auch Ohnmacht, die vorherrschte, zu überwinden. Das half ihr, mir und den Töchtern. Ich teile mit Ihnen meine Erfahrungen, verschone Sie nicht mit der Wahrheit, zeige meinen persönlichen Weg aus der Krise auf und möchte Ihnen sagen: Haben Sie trotzdem Mut!

2 Nebelhafte Signale

Die Krankheit sendete plötzlich und unerwartet nebelhafte Signale, sozusagen aus heiterem Himmel. Die medizinischen Untersuchungen steigerten die Angst vor der Diagnose.

Es war Donnerstag, der Tag der Deutschen Einheit, im Jahr 2013. Annekathrin schwang sich elanvoll aus dem Bett, trat zwei Schritte zum Fenster und öffnete den rechten Flügel. Sie hätte noch länger schlafen können – ihren Dienst als Krankenschwester auf der Palliativstation musste sie erst abends antreten – aber dieses Temperamentsbündel hielt es im Bett nie lange aus. Umso mehr hielt sie von der Morgenstunde, die hatte für sie sprichwörtlich Gold im Munde. Mir war klar, was sie vorhatte: Gymnastik, allerdings nur mit Frische- und Sauerstoffkick. Unverzüglich legte sie sich wieder zurück ins Bett und begann, wie so oft, mit ein paar Übungen. Diese glichen einem Ritual, das ihr half, aktiv und gut gelaunt in den Tag zu starten.

„Ah, heute beginnst du mit der Rückenschaukel“, lobte ich ihre Aktivitäten. Annekathrin lag auf dem Rücken, zog die Beine zur Brust und umfasste diese mit beiden Armen. Dann wippte sie langsam vor und zurück, nach links und nach rechts. Beim Nach-Rechts-Wippen sah sie, wie ich ihr zublinzelte.

„Komm, mach auch mit, bringe deinen Kreislauf auf Trab, das setzt Glückhormone frei.“ Ich schüttelte den Kopf. Dazu wollte ich mich heute nicht aufraffen. Annekathrin absolvierte weiter ihr Gymnastikprogramm. Den Übungen im Bett folgten weitere im Stehen. Nach einer kurzen Verschnaufpause stellte sie sich auf die Waage. Beim Blick auf die Gewichtsanzeige entfuhr ihr dieser Kommentar:

„Willst du dir den Tag versauen, dann musst du auf die Waage schauen.“

Ich musste herzhaft lachen. Diese für sie typische Bemerkung forderte mich zu einer Anmerkung heraus. Spontan fiel mir der folgende Spruch ein, den ich kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte. Der lautete in etwa so:

„Willst du es noch schlimmer machen, probiere mal deine alten Kleidungssachen.“

„Du Schuft. Ich habe 56 Jahre auf dem Buckel. Kleidergröße 34, das war einmal. Heute sind halt etwas geschwungenere Kurven mein Markenzeichen. Nur waschechte Frauen haben Kurven“, giggelte sie und warf mir einen gespielt empörten Blick zu.

„Ja, du bist meine Königin der Kurven“, alberte ich schmunzelnd.

Für Annekathrin gehörte gute Laune zum Alltag. Scherzhaft bezeichnete sie Lachen als das wichtigste und beste Bauchmuskeltraining, es sei gesund und wirke heilend. „Wann immer möglich, schubse ich mein Zwerchfell lachend hin und her, damit es die Leber und Galle massiert, den Magen und Darm durchknetet, die Verdauung anregt, die Lunge durchpustet und das Gehirn mit Sauerstoff anreichert. Lachen kurbelt den Kreislauf an und macht uns attraktiver, weil mehr Blut in die Haut geflutet wird.“

Annekathrin zog sich flink den Morgenmantel über und schlüpfte in ihre Pantoletten. „Schon wieder auf dem Weg in den Garten?“, fragte ich noch.

„Du kennst mich doch.“ Sie lächelte und öffnete die Tür. Plötzlich fasste sie sich an die rechte Stirnseite.

Ich sah, wie sie die Augenlider schloss und leicht wankte. Besorgt sprang ich aus dem Bett, lief zu ihr und hielt sie fest. „Ist dir schwindlig?“.

Aber sie winkte ab: „Nur etwas schummrig vor den Augen.“ Ich sah sie skeptisch an.

„Der niedrige Blutdruck, du weißt doch. Ein doppelter Espresso, und ich bin wieder ganz die Alte“, versicherte sie.

Sie hatte Recht: Leichte Schwindelanfälle kamen bei ihr immer wieder mal vor. Irgendwie aber beunruhigte mich dieser, weswegen ich sie vorsichtshalber die Steintreppe ins Erdgeschoss hinunterbegleitete. Gestern und vorgestern schon hatte sie auch einige leichte Schwindelanfälle gehabt.

In der Küche brühte sie sich einen Espresso auf. Sie gab sich überzeugt: „Kaffee stärkt doch die Lebensgeister und ist wie ein nettes Morgenküsschen.“ Sie öffnete die Schiebetür zur Terrasse, um sich im morgendlichen Garten umzusehen.

Ich folgte ihr auf die Veranda, setzte mich mit meinem Tee auf einen Stuhl und beobachtete sie. Normalerweise huschte meine Frau immer leichtfüßig dahin. Aber wieso war sie jetzt schwerfälliger unterwegs?

„Komisch, mir ist plötzlich so, als wenn mein Kreislauf schlapp machen würde, trotz des Kaffees. Das muss am baldigen Wetterwechsel liegen.“ Sie steckte sich ihren gewohnten morgendlichen Glimmstängel an. Selten blieb es bei einer Zigarette, meistens rauchte sie zwei oder drei hintereinander. „Nicht mal die schmecken mir heute“, beschwerte sie sich, während sie durch den Garten streifte. Doch auch dafür hatte sie eine Erklärung. „Das muss am Kopfweh liegen. Die nächsten Tage wird es regnen.“ Sie sah mich an: „Kaum hat man die 50 überschritten, wird man wetterfühlig. Das hat uns doch früher nichts ausgemacht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber da wollen wir mal nicht so empfindlich sein. Jeder Tag ist ein Geschenk, auch wenn er heute ein wenig schlampig verpackt ist“, scherzte sie augenzwinkernd.

Wollte sie mich beruhigen, oder sich selbst?

Lustlos rauchte sie die Zigarette zu Ende. Die Sonne stand noch tief am Horizont. Die herbstliche Morgenstunde verhieß einen sonnigen Feiertag. Annekathrin begab sich weiter auf den Rundgang durch den Garten. Von der Seite her sah ich, wie ihre großen grünen Augen die weißen Fäden bestaunten, die sich über Grashalme, Sträucher und die jungen Obstbäume spannten. „Diese Spinnfäden sind ein Wunderwerk der Natur. An ihnen fliegen die Spinnen in die Umgebung weiter. Und an ihnen glitzern Tautropfen wie Perlen“, rief sie mir zu.

„Bewundernswert, was die Spinnen alles können“, antwortete ich.

Respektvoll und behutsam ging sie an den kunstvollen Gebilden vorüber und kehrte nach einer Weile mit mir ins Haus zurück. Nach der Morgentoilette und dem Frühstück machte sie sich daran, für das Team der Palliativstation eine „Donauwelle“ zu backen, ihre Spezialität. Der doppelte Espresso hatte ihren Kreislauf scheinbar doch stabilisiert.

Schon am Tag zuvor hatten wir beschlossen, an diesem Mittag im Restaurant zu essen. Wegen des schönen Wetters wollte Annekathrin unbedingt zu Fuß gehen. Meiner Bitte, wegen des morgendlichen Schwindels die viereinhalb Kilometer mit dem Auto zu fahren, mochte sie nicht folgen.

„Frische Luft und Bewegung halten meinen Kreislauf in Schwung“, erwiderte sie. Meine Frau sollte Recht behalten. Der Fußmarsch tat ihr gut. Von Unwohlsein keine Spur mehr.

Nach dem Essen jedoch, als ich die Rechnung beglichen hatte und wir uns auf den Rückweg machen wollten, befiel sie plötzlich wieder Schwindel. Mich besorgte dieser erneute Anfall außerordentlich. Sie lehnte es ab, ein Taxi zu bestellen, und wollte unbedingt zu Fuß zurück. „Mir geht es schon wieder gut. Kein Schwindel mehr“, beteuerte sie. Also brachen wir, als es ihr nach einigen Minuten wieder besser ging, auf.

Während wir dahinmarschierten, seufzte Annekathrin: „Bald ist es so weit. Endlich wieder Urlaub. Ich bin reif für die Insel. Schön, dass wir wieder nach Kap Verde fliegen, der Urlaub meiner Träume. Die Wärme, das Baden im Meer, die Spaziergänge am ewig langen Sandstrand. Zeit zum Relaxen. Und ich werde 14 Tage lang bedient. Kein Kochen, kein Putzen, kein Bettenmachen, keine schwerkranken Patienten.“

Annekathrin packte stets gern die Koffer oder den Rucksack für unsere Reisen. Urlaubsreisen waren für sie Inspiration, unabhängig, ob sie mit mir in ein Flugzeug, Schiff, Auto, den Zug oder in ihre Wanderstiefel stieg. Reisen machte sie glücklich. Meine Frau sagte einmal zu mir, dass sie nicht reise, um dem Leben zu entfliehen, sondern damit ihr Leben nicht entfliehe.

Ich legte meinen Arm um sie. „Du hast Urlaub und Erholung dringend nötig. Du kommst am Zahnfleisch daher.“

„Ach was“, meinte sie, „du weißt doch, mich haut so schnell nichts um.“

Urlaub auf der Insel Boa Vista auf Kap Verde im Januar 2013. Auch 2014 beabsichtigten Annekathrin und ich in dieses sonnige Inselparadies im Atlantik vor der Westküste Afrikas zu reisen.

Meine Frau löste sich aus meinem Arm, hüpfte und drehte sich ein paar Mal vor Freude wie eine Ballerina. Dann, etwas außer Atem: “Und wenn wir zurückkommen, starten die Renovierungsarbeiten im Erdgeschoss. Darauf freue ich mich auch schon. Ich mag Veränderung und Erneuerung. Die Schränke müssen geleert, die Möbel aus dem Haus geschafft werden, damit die Handwerker die neuen Bodenfliesen aufkleben, die Wände und Decken streichen können. Die alten Möbel stellen wir aber nicht mehr ins Haus. Wir sollten neue kaufen. Schließlich feiern wir nächstes Jahr unseren 35. Hochzeitstag.“

Ich war derselben Meinung und wollte antworten, kam aber nicht mehr dazu. Annekathrin blieb schlagartig stehen, griff mit der rechten Hand nach meinem Arm und krallte sich an mich. Mit der linken hielt sie sich am Gartenzaun des Nachbarn fest. Vor uns lagen die letzten 50 Meter auf dem Trottoir bis zu unserem Haus. Erschrocken stützte ich sie. Sie verdrehte ihre Augen und drohte zu Boden zu sinken. Es musste eine massive Störung des Gleichgewichts sein, sie schien sich allein nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Stammelnd äußerte sie, dass ihr furchtbar schwindlig und arg übel sei. Nach etwa einer Minute sah sie sich wieder im Stande, die letzten Schritte zurückzulegen.

Kaum hatten wir das Haus betreten, kamen Schwindel und Übelkeit zurück. Dieses Mal nicht so heftig wie eben. Sie konnte sich auf den Beinen halten und umhergehen. Was war nur mit ihr los?

„Ich lege mich jetzt nieder, dann wird es schon wieder gut. Schließlich muss ich heute Abend in den Nachtdienst“, betonte Annekathrin mit großer Entschlossenheit.

Ich schüttelte erst einmal den Kopf, bevor ich sie von ihrem Ansinnen abzubringen versuchte. „Du wärst eben beinahe zu Boden gestürzt, wenn ich dich nicht gestützt hätte. In diesem Zustand darfst du keinesfalls mit dem Auto fahren. So darfst du auch nicht in den Nachtdienst. Was du jetzt brauchst, ist ein Arzt“, erwiderte ich energisch.

„Ich kann doch meine Patienten nicht allein lassen. Und was denken meine Kollegen und Kolleginnen?“, versuchte sie abzuwiegeln.

„Ich rufe jetzt gleich auf Station an und melde dich krank. Es ist noch genug Zeit, für Ersatz zu sorgen“, versicherte ich ihr unnachgiebig.

„Also gut.“ Meine Frau erklärte sich damit einverstanden, dass ich sie auf Station krankmeldete, aber von einem Arzt wollte sie vorerst nichts wissen: „Wenn es morgen nicht besser ist, gehe ich hin. Leni kann mich fahren“.

Unsere Tochter hatte Semesterferien und war gerade bei uns zu Hause. Annekathrin stieg die Treppe hoch, legte sich im Schlafzimmer nieder, aber auch das brachte ihr keine Erleichterung. Zusätzlich zu den Schwindelattacken musste sie sich nun auch noch übergeben. Der Brechreiz plagte sie eine Weile lang. Meine Frau glaubte, möglicherweise seien die Bratwürste, die sie in der Gaststätte gegessen hatte, nicht mehr frisch gewesen. „Oder ich habe mir das Norovirus eingefangen?“

Gegen Mitternacht schlief sie ein. Die Nacht verlief ruhig. Vielleicht lag es tatsächlich an den Bratwürsten, an diese Theorie klammerten wir uns beide. Sie war immer ein Stehaufmännchen, das sich durch nichts unterkriegen ließ. Obwohl diese Hoffnung meine Unruhe nicht besänftigen konnte, sank auch ich in den Schlaf. Wenn auch einen sehr unruhigen.

2.1 Erst zum Hausarzt

„Wie geht es dir?“ Wir waren gerade aufgewacht und meine Sorgen sofort präsent. „Immer noch leicht schwindlig. Und etwas übel. Aber so schlimm wie gestern ist es nicht mehr. Wahrscheinlich piesackt mich tatsächlich so ein elendes Virus. Dagegen ist sowieso kein Kraut gewachsen. Eigentlich ist der Arztbesuch überflüssig“, meinte Annekathrin.

„Nein, nein. Leni bringt dich jetzt gleich zum Hausarzt“, entgegnete ich bestimmend.