Anonyme Alkoholiker (Das Blaue Buch) - Alcoholics Anonymous World Services Inc. - E-Book

Anonyme Alkoholiker (Das Blaue Buch) E-Book

Alcoholics Anonymous World Services Inc.

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ursprünglich 1939 in den USA als 'Alcoholics Anonymous' erschienen, wurde der Titel auch zum Namensgeber für die Gemeinschaft 'Anonyme Alkoholiker'.Dieser Band hat dazu beigetragen, dass jetzt weltweit über 2 Millionen sagen, dass sie AA-Mitglied sind. In vier Auflagen haben seither mehr als 30 Millionen Exemplare des 'Big Book' ihre Leser gefunden. 1963 erschien die deutsche Erstausgabe unter dem Titel 'Anonyme Alkoholiker', bekannt als 'Blaues Buch' – nach der Farbe des Einbands. Mehrere Auflagen sind inzwischen erschienen. Der Basistext auf den Seiten 1-192 blieb als Fundament der Genesung für die Anonymen Alkoholiker bis heute unverändert. Die Geschichten der 'Pioniere von AA' verbinden den Leser mit den historischen Wurzeln der AA-Gemeinschaft und zeigen zusammen mit den 2009 neu eingefügten zeitnahen deutschsprachigen Lebensgeschichten, wie Alkoholiker noch heute mithilfe des vorgeschlagenen Genesungsprogramms nüchtern werden.Diese vorliegende revidierte Auflage 2016 entspricht der aktuellen amerikanischen Ausgabe. Dies ist die einzige von 'A.A. World Services, Inc.' autorisierte E-Book-Version des Buches 'Anonyme Alkoholiker'.Das Buch "Anonyme Alkoholikre" enthält die spirituellen Prinzipien und praktischen ANleitungen, mit dneen die Selbsthilfegemeinschaft alkoholkranker Männer und Frauen seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten erfolgreich arbeitet. Die AA-Gemeinschaft ist 1935 in den Vereinigten Staaten von zwei hoffnungslosen Trinkern gegründet worden. Einer der beiden Gründer, der New Yorker Börsenmakler Bill W., hat die Erfahrungen der jungen Gemeinschaft und ihrer bis dahin etwa hundert Mitglieder 1939 aufgeschrieben und unter dem Titel "Alcoholics Anonymous" veröffentlicht.

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Seitenzahl: 582

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Anonyme

Alkoholiker

Ein Bericht über die Genesung

alkoholkranker

Männer und Frauen

Neuausgabe 2009

2. rev. Auflage 2021

Amerikanische Originalausgabe

„Alcoholics Anonymous“.

4. Ed. New York 2001

Copyright © 2009 Alcoholics Anonymous World Services, Inc.

All rights reserved. Reproduced with permission of

Alcoholics Anonymous World Services, Inc.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck mit Genehmigung

von Alcoholics Anonymous World Services, Inc.

Herausgeber: Anonyme Alkoholiker

Interessengemeinschaft e. V.

Frankfurter Allee 40, 10247 Berlin

www.anonyme-alkoholiker.de

Dies ist weltweit anerkannte AA-Literatur

AA General Service Conference, New York

Gemeinsame Dienstkonferenz im deutschsprachigen Raum

VORWORT ZU DEN

DEUTSCHEN AUSGABEN

Das Buch „Anonyme Alkoholiker“ enthält die spirituellen Prinzipien und die praktischen Anleitungen, mit denen die Selbsthilfegemeinschaft alkoholkranker Männer und Frauen seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten erfolgreich arbeitet. Die AA-Gemeinschaft wurde 1935 in den Vereinigten Staaten von zwei hoffnungslosen Trinkern gegründet. Einer der beiden Gründer, der New Yorker Börsenmakler Bill W., schrieb die Erfahrungen der jungen Gemeinschaft und ihrer bis dahin etwa hundert Mitglieder 1939 auf und veröffentlichte sie unter dem Titel „Alcoholics Anonymous“. Das Buch stieß auf Aufmerksamkeit und gab der Gemeinschaft den Namen, unter dem sie mittlerweile in mehr als hundert Ländern verbreitet ist.

Die ersten Gruppen der Anonymen Alkoholiker entstanden in Deutschland zu Anfang der Fünfzigerjahre . Die Männer und Frauen, die sich damals im Erfahrungsaustausch um Nüchternheit und Lebenserneuerung bemühten, hatten dafür als Anleitung und Hilfe zunächst nur, was Sprachkundige aus Besuchen amerikanischer AA-Meetings mitbrachten. Es gab noch keine Übersetzungen von AA-Literatur. Während kleinere Schriften bald übersetzt waren und als kopierte Handzettel in Umlauf kamen, wurde das AA-Standardwerk „Anonyme Alkoholiker“ lange Zeit vermisst.

Die amerikanischen Anonymen Alkoholiker hüten mit Respekt und Dankbarkeit dieses Buch in seiner ursprünglichen Form. „The Big Book“ – das große Buch, wie sie es nennen, ist in der Gemeinschaft weit verbreitet. Die Gruppen sorgen dafür, dass neue Mitglieder der Gemeinschaft recht bald mit dem Buch vertraut werden.

Nach dem Farbeinband der bisher erschienenen deutschsprachigen Ausgaben wird hierzulande vom „Blauen Buch“ gesprochen. Rund zehn Jahre hatten die ersten Gruppen in Deutschland auf das Buch warten müssen. Dann übersetzte Pfarrer Heinz Kappes, ein der AA-Gemeinschaft verbundener Geistlicher, das Buch. Heinz Kappes, der in einem Schlusskapitel dieses Buches zu Wort kommt, schickte damals sein Manuskript an die AA-Zentrale nach New York, von wo es in kleiner Auflage broschiert zurückkam. Es gab somit die erste bescheidene Ausgabe des „Blauen Buches“. In dieser Form wurde es später im eigenen Land noch einmal nachgedruckt.

Anfang der Siebzigerjahre überarbeitete ein Team von AA-Mitgliedern aus Deutschland, der Schweiz und aus Österreich die erste Übersetzung. Es gab die dritte Auflage des Buches, von der insgesamt 18.000 Exemplare gedruckt wurden. Diese Auflage enthielt erstmals auch, neben dem an den amerikanischen Text angelehnten Kernteil des Buches, Lebensgeschichten Anonymer Alkoholiker.

Ein Teil der Lebensgeschichten aus der dritten Auflage wurden in diese vierte Auflage übernommen. Einige andere Lebensgeschichten kamen neu hinzu. Übersetzt aus dem amerikanischen Originalbuch sind die Lebensgeschichten der AA-Gründer Bill W. und Dr. Bob sowie die Aufzeichnungen des Mannes, der sich als Dritter dem noch jungen Bündnis anschloss..

Neu übersetzt ist der Kernteil des Buches, der bis Kapitel elf reicht. Dabei wurde dem Wunsch des AA-Weltdienstbüros in New York Rechnung getragen, bei der deutschen Übersetzung dem amerikanischen Originaltext möglichst eng zu folgen, damit durch die sprachliche Übertragung nichts von den AA-Grundgedanken verloren geht oder verändert wird.

Auf dieses Vorwort folgen Einleitungen und Vorreden zu den bisher erschienenen amerikanischen Auflagen des Buches. Weil diese Vorworte gleichzeitig ein Stück Aufzeichnung von AA-Geschichte darstellen, wurden sie in dieses Buch aufgenommen. Das gilt auch für die „Meinung des Arztes“, ein auf die Vorworte folgendes Kapitel, das Dr. Silkworth als einer der frühen Freunde der Gemeinschaft schrieb.

In den Lebensgeschichten im mittleren Teil des Buches schildern Frauen und Männer aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten die Not ihrer Krankheit und den Weg, den sie mithilfe der Anonymen Alkoholiker gingen.

Die Kapitel im Anhang zu diesem Buch wurden wiederum weitgehend aus dem amerikanischen Original übernommen. Das gilt für die AA-Traditionen ebenso wie für die Abschnitte über „Spirituelle Erfahrung“ und die Ansichten, die Geistliche und Ärzte von den Anonymen Alkoholikern haben. Die im Anhang abgedruckten Anmerkungen zum Lasker-Preis stammen aus dem Originalbuch und sind ergänzt durch einen Hinweis auf den Hermann-Simon-Preis. Erweitert um Hinweise auf die Gegebenheiten im deutschsprachigen Europa ist das Kapitel „Wie man mit den Anonymen Alkoholikern in Verbindung kommt.“ Die Gedanken in den Kapiteln „Spirituelle Erfahrung“ und „Aus der Sicht von Geistlichen“ werden vertieft durch den Beitrag von Pfarrer Heinz Kappes „Gott, wie ich ihn verstehe“.

Am Schluss dieser Vorbemerkungen ist allen zu danken, die an diesem Buch mitgearbeitet haben: den Übersetzern, dem mit der Überarbeitung beauftragten Literaturteam und den Schreibern der Lebensgeschichten. In den Dank einzubeziehen sind die Pioniere der AA-Gemeinschaft, auf die das Genesungsprogramm und die erstmalige Niederschrift dieses Buches zurückgeht – und diejenigen, die sorgsam über die Unverfälschtheit der AA-Botschaft wachen. Das Erscheinen dieses Buches ist begleitet von dem Wunsch und von der Hoffnung, dass es in die Hände vieler kommt, die daraus Nutzen zu ziehen imstande sind.

Mai 1983

Anonyme Alkoholiker deutschsprachiger Länder

 

Nachtrag zur Neuausgabe 2009

Nachdem die Lebensgeschichten in der letzten amerikanischen Ausgabe 2001 angepasst wurden, entstand auch bei uns der Wunsch, neue Beiträge aufzunehmen. Ein Team zur Auswahl neuer Lebensgeschichten für das Blaue Buch bearbeitete die eingegangenen Beiträge. Die 23 alten Geschichten wurden durch 19 neue ersetzt. Zusätzlich wurden zwei bekannte amerikanische Lebensgeschichten bei den beiden vorhandenen „Pionieren der AA-Gemeinschaft“ eingefügt.

 

Nachtrag zur revidierten Auflage von 2016

und Nachdruck 2021

Das Vorwort zur vierten Auflage des amerikani­schen Originals und die Kurzfassung der Zwölf Konzepte wurden 2015 aufgenommen. Damit ent­spricht diese Auflage, bis auf die persönlichen Ge­schichten, der amerikanischen Ausgabe. Neben der Wiederherstellung des Seitenumbruchs wurden im Nach­druck 2021 kleinere redaktionelle Korrekturen vorgenommen.

Das Literaturteam hat sich um eine möglichst wort- und sinngetreue Übersetzung bemüht. Die Verwendung des Genius schließt generell weibliche wie auch intersexuelle Formulierungen mit ein. Zu berücksichtigen ist, dass der Originaltext im Jahr 1939 erstmals veröffentlicht wurde. Das Kapitel „An die Ehefrauen“ gilt in gleicher Weise für betroffene Ehemänner und in dem Kapitel „An die Arbeitgeber“ sind selbstverständlich trinkende Mitarbeiter jeden Geschlechts gemeint.

Euer Literaturteam

EINLEITUNG ZUR LETZTEN

AMERIKANISCHEN AUSGABE

Dies ist die vierte Auflage des Buches „Alcoholics Anonymous“ von 2001. Die erste Auflage erschien im April 1939 und in den darauffolgenden sechzehn Jahren kamen mehr als 300.000 Exemplare in Umlauf. Die zweite Auflage, 1955 veröffentlicht, erreichte insgesamt über 1.150.000 Exemplare. Die dritte Auflage, die im Jahr 1976 gedruckt wurde, erreichte in allen Formaten eine Auflage von rund 19.550.000.

Weil das Buch für unsere Gemeinschaft zum Grundtext geworden ist und einer so großen Zahl von Alkoholikern, Männern und Frauen, zu ihrer Genesung verholfen hat, gibt es in der Gemeinschaft keine Neigung, an diesem Text etwas Grundlegendes zu ändern. Deshalb wurde der erste Teil des Werkes, in dem das Genesungsprogramm beschrieben ist, unverändert in der Form der Überarbeitung für die zweite und dritte Ausgabe übernommen. Das Kapitel „Aus der Sicht des Arztes“ blieb so, wie es ursprünglich im Jahr 1939 von Dr. William Silkworth, dem großen medizinischen Gönner unserer Gemeinschaft, geschrieben worden ist.

Der zweiten Auflage wurden die Anhänge über die Zwölf Traditionen und die Anleitung, wie man mit der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker in Kontakt kommt, beigefügt. Die einschneidendste Änderung ge­schah in dem Teil der persönlichen Lebensgeschichten, der erweitert wurde, um das Wachstum der Gemeinschaft widerzuspiegeln. „Bills Geschichte“, „Dr. Bobs Albtraum“ und eine weitere persönliche Geschichte der ersten Ausgabe wurden beibehalten, dreißig neue Geschichten beigefügt und dieser Teil in drei Gruppen geordnet.

In der dritten Ausgabe des Buches blieb die Gruppe I (Pioniere der Anonymen Alkoholiker) unverändert. Neun der Geschichten in der zweiten Gruppe („Sie hörten rechtzeitig auf“) wurden von der zweiten Ausgabe übernommen und mit acht neuen Geschichten ergänzt. Die acht Geschichten der dritten Gruppe („Sie verloren nahezu alles“) wurden um fünf neue erweitert.

Diese vierte Auflage enthält die Zwölf Konzepte für den Weltdienst. Die drei Gruppen der persönlichen Geschichten wurden folgendermaßen geändert: Eine neue Geschichte kam zur Gruppe I hinzu und zwei, die ursprünglich in Gruppe III erschienen waren, wurden dorthin zurückversetzt; sechs Geschichten wurden herausgenommen. Sechs der Geschichten in Gruppe II sind übernommen worden, elf neue kamen hinzu und elf wurden herausgenommen. Gruppe III enthält jetzt zwölf neue Geschichten; acht wurden herausgenommen (zusätzlich zu den beiden, die wieder in Gruppe I kamen).

Alle Änderungen im „Blauen Buch“ (AA-Mitglieder in Amerika gaben dem Buch den Kosenamen „The Big Book“) hatten den gleichen Zweck: die heutige Größe der Gemeinschaft zutreffend darzustellen und mehr Alkoholiker zu erreichen. Wenn Sie ein Trinkproblem haben, so hoffen wir, dass Sie beim Lesen einer der Lebensgeschichten innehalten und denken: „Ja, so war das bei mir auch“, oder noch besser: „Ja, so habe ich mich auch gefühlt“ und vor allem: „Ja, ich glaube, dieses Programm kann auch bei mir wirken.“

VORWORT ZUR ERSTEN

AMERIKANISCHEN AUSGABE

Dies ist das Vorwort, wie es beim Erstdruck der Erstauflage im Jahr 1939 erschien.

Wir Mitglieder der Anonymen Alkoholiker sind mehr als hundert Männer und Frauen, die von einem geistigen und körperlichen Zustand Genesung gefunden haben, der hoffnungslos zu sein schien. Der Hauptzweck dieses Buches ist, anderen Alkoholikern genau zu beschreiben, wie wir genesen sind. Wir hoffen, dass diese Seiten so überzeugend sind, dass keine weiteren Beweise nötig sind. Wir meinen auch, dass jedermann durch diesen Bericht unserer Erfahrungen den Alkoholiker besser verstehen lernt. Viele Menschen begreifen nicht, dass der Alkoholiker ein sehr kranker Mensch ist. Darüber hinaus sind wir überzeugt, dass unsere Lebensmethode auch für alle anderen Menschen von Nutzen sein kann.

Es ist wichtig, dass wir anonym bleiben, denn wir sind zurzeit noch zu wenige, um mit der überwältigenden Zahl von Hilferufen fertig zu werden, die wahrscheinlich durch diese Veröffentlichung ausgelöst werden. Da wir meist im Geschäftsleben stehen oder einen freien Beruf haben, könnten viele von uns ihre Beschäftigung dann nicht mehr ausüben. Bitte verstehen Sie unsere Arbeit mit Alkoholikern als freiwillige Verpflichtung.

Wenn wir in der Öffentlichkeit schreiben oder reden, dann soll jedes Mitglied unserer Gemeinschaft seinen Familiennamen weglassen: Es soll sich stattdessen einfach als „ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker“ bezeichnen.

Wir richten auch an die Presse die sehr ernste Bitte, dass sie diesen Wunsch achtet; andernfalls entständen uns Nachteile.

Wir sind keine Organisation im üblichen Sinn dieses Wortes. Bei uns gibt es keine Mitgliedsbeiträge oder sonstige finanziellen Verpflichtungen. Die einzige Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist der ehrliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Wir sind mit keinem bestimmten Glauben, keiner Sekte oder Konfession verbunden, wir stehen aber auch in keinem Gegensatz zu irgendetwas oder zu irgendjemandem. Wir wollen einfach denen zu Hilfe kommen, die von dieser Krankheit betroffen sind.

Wir würden uns sehr freuen, von den Lesern zu hören, die durch dieses Buch zu positiven Ergebnissen gekommen sind; von besonderem Interesse sind für uns Mitteilungen von solchen, die anfingen, mit anderen Alkoholikern zu arbeiten. In solchen Fällen möchten wir uns nützlich erweisen.

Für Anfragen von wissenschaftlichen, medizinischen und religiösen Organisationen sind wir dankbar.

Anonyme Alkoholiker

VORWORT ZUR ZWEITEN

AMERIKANISCHEN AUSGABE

Die Zahlenangaben in diesem Vorwort beschreiben die Gemeinschaft, wie sie 1955 war.

Seitdem im Jahre 1939 das ursprüngliche Vorwort zu diesem Buch geschrieben worden ist, hat sich wahrhaft ein Wunder ereignet. In unserer frühesten Ausgabe sprachen wir die Hoffnung aus: „Jeder Alkoholiker, der auf Reisen ist, möge an seinem Reiseziel die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorfinden. Schon jetzt“, so fährt jener alte Text fort, „sind in anderen Gemeinden Gruppen mit zwei, drei oder fünf unserer Mitglieder entstanden.“

Seitdem wir dieses Buch zum ersten Mal in Druck gaben, sind bis zum Erscheinen der zweiten Ausgabe im Jahr 1955 sechzehn Jahre vergangen. In dieser kurzen Zeit ist die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker auf fast 6.000 Gruppen emporgeschossen; die Mitgliederzahl umfasst weit über 150.000 genesene Alkoholiker. (Zahlenangaben in diesem Vorwort beziehen sich auf den Stand, den die AA-Gemeinschaft 1955 erreicht hatte.) In jedem der Staaten der USA und in allen Provinzen Kanadas gibt es solche Gruppen. Die AA-Gemeinschaft hat blühende Zweige auf den Britischen Inseln, in den skandinavischen Ländern, in Südafrika, Südamerika, Mexiko, Alaska, Australien und Hawaii. Wenn man alles zusammenzählt, sind in etwa 50 fremden Ländern und Besitztümern der Vereinigten Staaten vielversprechende Anfänge gemacht worden. Solche Anfänge nehmen gerade jetzt in Asien Form an. Viele unserer Freunde stärken unseren Mut und sagen: Dies alles ist erst der Anfang; in ihm stecken die Vorzeichen einer bevorstehenden viel größeren Zukunft.

Der Funke, der die erste AA-Gruppe entflammen sollte, wurde im Juni 1935 in Akron, Ohio, bei einem Gespräch entzündet, das zwischen einem New Yorker Börsenmakler und einem Arzt aus Akron geführt wurde. Sechs Monate zuvor war der Börsenmakler durch eine plötzliche spirituelle Erfahrung von seiner Trunksucht befreit worden. Dies war auf ein Zusammentreffen mit einem befreundeten Alkoholiker erfolgt, der mit den Oxford-Gruppen jener Tage in Berührung gekommen war. Eine andere große Hilfe war dem Börsenmakler durch einen New Yorker Spezialarzt in der Behandlung von Alkoholikern zuteilgeworden, durch den inzwischen verstorbenen Dr. William D. Silkworth, der heute von den AA-Mitgliedern beinahe wie ein medizinischer Heiliger verehrt wird. Dr. Silkworths Bericht über jene Anfangstage unserer Gemeinschaft erscheint auf den folgenden Seiten. Von diesem Arzt hatte der Börsenmakler erfahren, dass Alkoholismus eine lebensgefährliche Krankheit ist. Obwohl er nicht alle Grundsätze der Oxfordgruppe annehmen konnte, war er doch davon überzeugt, dass eine moralische Inventur notwendig wäre, das Eingeständnis der Charakterfehler, die Wiedergutmachung an den Geschädigten, die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber und die Notwendigkeit, an Gott zu glauben und von ihm abhängig zu sein.

Vor seiner Reise nach Akron hatte sich der Börsenmakler mit vielen Alkoholikern große Mühe gegeben, weil er der Auffassung war, dass nur ein Alkoholiker einem anderen Alkoholiker helfen könnte. Der Erfolg dieser Arbeit bestand aber nur darin, dass er selbst nüchtern geblieben war. Der Börsenmakler war auf einer Geschäftsreise nach Akron gekommen. Das Geschäft war fehlgeschlagen. Und nun war bei ihm die große Furcht entstanden, dass er wieder zu trinken anfangen würde. Plötzlich wurde ihm klar, dass er, um sich selber zu retten, die Botschaft zu einem anderen Alkoholiker bringen müsste. Jener andere Alkoholiker war eben der Arzt in Akron.

Der Arzt hatte schon wiederholt spirituelle Methoden erprobt, um mit seinem Alkoholdilemma fertig zu werden. Er war damit jedoch immer wieder gescheitert. Als der Makler ihm aber die Beschreibung des Dr. Silkworth über den Alkoholismus und dessen Hoffnungslosigkeit mitteilte, entwickelte der Arzt eine Bereitschaft, die er bisher noch nie aufgebracht hatte, um das spirituelle Heilmittel für seine Krankheit zu erringen. Er wurde nüchtern und trank bis zum Augenblick seines Todes im Jahre 1950 keinen Alkohol mehr. Dies schien zu beweisen, dass ein Alkoholiker auf einen anderen eine Einwirkung ausüben konnte, wie es Nichtalkoholiker niemals fertigbrachten. Aber es zeigte auch, dass ein intensives Bemühen des einen Alkoholikers um den anderen für die dauernde Genesung lebensnotwendig war.

Von diesem Augenblick an arbeiteten die beiden Männer fieberhaft mit Alkoholikern, die in die entsprechende Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Akron kamen. Ihr allererster, ein wirklich verzweifelter Fall, konnte sofort genesen und wurde das AA-Mitglied Nummer drei. Er trank nie mehr einen Schluck Alkohol. Diese Arbeit in Akron dauerte den ganzen Sommer 1935 hindurch. Es gab auch viele Fehlschläge. Aber gelegentlich kam es doch zu einem ermutigenden Erfolg. Als der Börsenmakler im Herbst 1935 wieder nach New York zurückkehrte, war tatsächlich die erste AA-Gruppe entstanden, obwohl das um jene Zeit noch niemand so recht wahrnahm.

Eine zweite kleine Gruppe hatte sich in New York gebildet. Außerdem gab es verstreut wohnende einzelne Alkoholiker, welche die grundlegenden Ideen in Akron oder in New York erfasst hatten und nun versuchten, in anderen Städten Gruppen zu bilden. Gegen Ende 1937 war die Zahl der Mitglieder, die schon eine beträchtliche Zeit ihrer Nüchternheit erfolgreich bestanden hatten, so groß, dass die Gemeinschaft davon überzeugt war: Jetzt ist ein neues Licht in der finsteren Welt des Alkoholikers aufgegangen.

Nun war nach der Meinung der um ihre Existenz ringenden Gruppen die Zeit gekommen, dass sie ihre Botschaft und einzigartige Erfahrung der Welt zur Kenntnis brachten. Im Frühjahr des Jahres 1939 trug dieser Entschluss seine Frucht in der Veröffentlichung dieses Buches. Damals war die Mitgliederzahl auf etwa 100 Männer und Frauen gestiegen. Diese flügge gewordene Gemeinschaft, die bis dahin ohne Namen gewesen war, wurde von jetzt ab nach dem Titel ihres eigenen Buches „Anonyme Alkoholiker“ genannt. Die Zeit des Blindfliegens war zu Ende: Die Anonymen Alkoholiker traten in eine neue Phase ihrer Pionierzeit ein.

Mit dem Erscheinen des neuen Buches nahmen viele Ereignisse ihren Anfang. Der bekannte Geistliche Dr. Harry Emerson Fosdick besprach das Buch mit warmer Zustimmung. Im Herbst 1939 druckte der damalige Herausgeber der Zeitschrift „Liberty“, Fulton Oursler, in seiner Zeitschrift einen Teil daraus ab unter der Überschrift „Alkoholiker und Gott“. Das brachte eine Flut von 800 dringenden Anfragen in das kleine Büro in New York, das inzwischen eingerichtet worden war. Jede Anfrage wurde gewissenhaft beantwortet, Broschüren und Bücher wurden versandt. Mitglieder bestehender Gruppen, die als Geschäftsleute viel unterwegs waren, wurden auf diese zukünftigen Neulinge aufmerksam gemacht. Neue Gruppen entstanden. Und man entdeckte zum allgemeinen Erstaunen, dass man die Botschaft von AA ebenso durch die Post wie durch das gesprochene Wort übermitteln konnte. Ende 1939 schätzte man, dass 800 Alkoholiker auf ihrem Weg zur Genesung waren.

Im Frühjahr des Jahres 1940 gab John D. Rockefeller für viele seiner Freunde einen Empfang, zu welchem er AA-Mitglieder einlud, damit sie dort ihre Lebensgeschichte erzählten. Die Nachricht hiervon ging durch die Kabel der Welt. Wieder strömten Anfragen ein und viele Menschen gingen in die Buchläden, um das Buch „Anonyme Alkoholiker“ zu kaufen. Im März 1941 war die Mitgliederzahl auf 2.000 angewachsen. Dann schrieb Jack Alexander einen Artikel in der „Saturday Evening Post“ und gab der allgemeinen Öffentlichkeit ein so überzeugendes Bild der AA-Gemeinschaft ab,, dass uns die Hilferufe von Alkoholikern geradezu überschwemmten. Gegen Ende 1941 zählte man 8.000 Mitglieder. Nun schossen überall die AA-Gruppen wie Pilze aus dem Boden. AA war zu einer festen Einrichtung in der amerikanischen Nation geworden.

Damit trat unsere Gemeinschaft in ihre furchterregende und aufregende Periode der Entwicklungsjahre ein. Sie musste die folgende Probe bestehen: Konnte diese große Anzahl von ehemals unberechenbaren Alkoholikern sich erfolgreich treffen und zusammenarbeiten? Würde es Streitigkeiten über die Mitgliedschaft, die Leitung und das Geld geben? Würde es zu Kämpfen um Macht und Prestige kommen? Würden Spaltungen eintreten, welche die AA-Gemeinschaft wieder auseinanderrissen? Bald traten gerade diese Probleme überall und in jeder Gruppe auf. Jedoch erwuchs aus dieser Erfahrung mit ihren Sorgen und Zerreißproben die Überzeugung: Entweder müssen die Anonymen Alkoholiker eng zusammenhalten oder sie werden einzeln zugrunde gehen. Entweder mussten wir unsere Gemeinschaft zu einer Einheit zusammenschließen oder von der Bühne ab­treten.

So wie wir die Grundsätze entdeckt hatten, nach denen der einzelne Alkoholiker sein Leben gestalten konnte, so mussten wir auch jene Regeln entwickeln, nach welchen die AA-Gruppen und die AA-Gemeinschaft als Ganzes am Leben bleiben und wirkungskräftig funktionieren konnten. Man kam zu der Überzeugung, dass man keinen Alkoholiker, keinen Mann und keine Frau, aus unserer Gemeinschaft ausschließen durfte. Unsere Leiter müssten dienen, sie dürften aber nie regieren. Jede Gruppe müsste selbstständig sein. Es dürfte bei uns keine hauptberuflich tätigen Therapeuten geben. Außerdem dürfte es keine Mitglieds- und andere Pflichtbeiträge geben. Unsere Ausgaben müssten durch unsere eigenen freiwilligen Beiträge gedeckt werden. Es sollte die kleinstmögliche Organisation geben, selbst in unseren Dienstbüros. Unser Öffentlichkeitsarbeit sollte auf Anziehungskraft basieren statt auf Werbung. Es wurde die Entscheidung getroffen, dass alle Mitglieder auf der Ebene von Presse, Radio, Fernsehen und Film anonym bleiben sollten. Und wir dürften unter keinen Umständen Stellungnahmen abgeben, unseren Namen für andere Bestrebungen hergeben, Bündnisse mit ihnen eingehen oder uns in öffentliche Auseinandersetzungen verwickeln lassen.

Das war der wesentliche Inhalt der „Zwölf Traditionen“ der Anonymen Alkoholiker, die im Anhang dieses Buches ausführlich behandelt werden. Obwohl keiner dieser Grundsätze die Kraft von Vorschriften oder Gesetzen besaß, waren sie doch um 1950 weithin angenommen, dass sie von unserer Ersten Internationalen Konferenz in Cleveland bestätigt wurden. Heute ist diese bemerkenswerte Einigkeit in der AA-Gemeinschaft einer der allerwichtigsten Aktiv posten, den wir haben.

Im selben Maß, wie die inneren Schwierigkeiten unserer Reifejahre allmählich ausgebügelt wurden, nahm die Öffentlichkeit die Anonymen Alkoholiker mit einer stürmisch wachsenden Freundlichkeit an. Dafür gab es zwei Hauptgründe: die große Zahl der Genesungen und die wiedervereinigten Familien. Diese machten überall Eindruck. Von den Alkoholikern, die zu den AA kamen und einen ernsthaften Versuch damit machten, wurden 50 Prozent sofort nüchtern und blieben es auch; 25 Prozent wurden erst nach verschiedenen Rückfällen nüchtern; und von den restlichen 25 Prozent erfuhren die, die weiter bei den AA blieben, eine Besserung ihrer Krankheit. Weitere Tausende nahmen an ein paar AA-Meetings teil und lehnten das Programm zunächst ab. Aber auch von diesen kamen zahlreiche, ungefähr zwei von dreien, im Laufe der Zeit wieder zurück.

Ein weiterer Grund dafür, dass die AA-Gemeinschaft so weithin angenommen wurde, war die Hilfe unserer Freunde – Freunde aus dem Bereich der Medizin, der Religion, der Presse, zusammen mit zahllosen anderen, die unsere sachkundigen, ständigen Fürsprecher wurden. Ohne eine solche Unterstützung hätte die Gemeinschaft sich viel langsamer entwickelt. Im Anhang dieses Buches findet man manche Empfehlungen von jenen frühen medizinischen und theologischen Freunden der Anonymen Alkoholiker.

Die AA-Gemeinschaft ist keine religiöse Organisation. Auch nehmen wir keinen spezifischen medizinischen Standpunkt ein. Trotzdem arbeiten wir mit den Männern der Medizin und Religion eng zusammen.

Da der Alkoholismus jeden ohne Ansehen seiner Person befallen kann, stellen unsere Mitglieder einen genauen Querschnitt durch die Bevölkerung von Amerika dar; und derselbe Prozess geht nun auch in fernen Ländern vor sich. Nach der Religionszugehörigkeit haben wir unter uns: Katholiken, Protestanten, Juden, Hindus und – in geringer Zahl – auch Moslems und Buddhisten. Mehr als 15 Prozent unserer Mitglieder sind Frauen.

Unsere Mitgliederzahlen wachsen gegenwärtig in jedem Jahr um etwa 20 Prozent. Angesichts der Not von vielen Millionen tatsächlicher und möglicher Alkoholiker in der Welt ist unser Wirken von relativ geringem Einfluss. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir auch nie in der Lage sein, uns mit mehr als nur einem Bruchteil des gesamten Alkoholproblems in allen seinen Verzweigungen zu befassen. Ganz gewiss beanspruchen wir kein Monopol auf die eigentliche Therapie des Alkoholikers. Doch erfüllt uns die große Hoffnung, dass alle diejenigen, die bisher noch keine Lösung ihres Alkoholproblems gefunden haben, auf den Seiten dieses Buches vielleicht eine Antwort finden und dass sie sich uns auf einer breiten Straße zu einer neuen Freiheit anschließen mögen.

VORWORT ZUR DRITTEN

AMERIKANISCHEN AUSGABE

Als diese Ausgabe im März 1976 in die Druckerei ging, zählte die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker – vorsichtig geschätzt – weltweit über eine Million Mitglieder, mit über 28.000 Gruppen, die sich in mehr als 90 Ländern trafen.

Umfragen unter AA-Gruppen in den Vereinigten Staaten und in Kanada haben ergeben, dass die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker nicht nur immer mehr Menschen, sondern ein immer breiteres Spektrum erreicht. Frauen stellen jetzt mehr als ein Viertel der Mitglieder. Unter den neuen Mitgliedern liegt der Anteil der Frauen bei einem Drittel. Sieben Prozent – das ergab die Umfrage – sind unter dreißig Jahre alt, viele davon Teenager.

Die Grundsätze des AA-Programms, so scheint es, gelten für Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensarten, hat doch das Programm Genesung für Angehörige der verschiedensten Nationalitäten ge­bracht. Die Zwölf Schritte, sie sind die Zusammenfassung des Programms, können in einem Land „Doce Pasos“ heißen, aber sie zeichnen genau denselben Weg zur Genesung nach, den die frühesten Mitglieder der Anonymen Alkoholiker gingen.

Ungeachtet des großen Wachstums und der Spannweite der Gemeinschaft ist das Programm in seinem Kern einfach und persönlich. Täglich beginnt irgendwo auf der Welt Genesung damit, dass ein Alkoholiker mit einem anderen Alkoholiker spricht und Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilt.

VORWORT ZUR VIERTEN

AMERIKANISCHEN AUSGABE

Diese vierte Auflage des Buches „Anonyme Alkoholiker“ erschien zu Beginn des neuen Jahrtausends im November 2001. Seit Veröffentlichung der dritten Ausgabe 1976 hatte sich die globale Mitgliederzahl der AA ungefähr verdoppelt, auf geschätzte zwei Millionen oder mehr, mit nahezu 100.800 Gruppen, die sich in ca. 150 Ländern weltweit treffen.

Für das Wachstum der AA hat die Literatur eine bedeutende Rolle gespielt. Ein bemerkenswertes Phänomen des vergangenen Vierteljahrhunderts war dabei die explosionsartige Zunahme von Übersetzungen unserer grundlegenden Literatur in viele Sprachen und Dialekte. Von Land zu Land, in denen der Samen der AA ausgesät wurde, bildeten sich langsam Wurzeln und dann, als die Literatur verfügbar war, setzte sich das Wachstum in Riesenschritten fort. Bis jetzt ist das Buch „Anonyme Alkoholiker“ in 43 Sprachen* übersetzt worden.

*2014 waren es 72 Sprachen.

Da die Botschaft der Genesung immer mehr Menschen erreicht, berührt sie auch das Leben einer erheblich größeren Vielfalt leidender Alkoholiker. Als 1939 der Satz „Wir sind Menschen, die normalerweise keinen Umgang miteinander hätten“ (Seite 19 dieses Buches) geschrieben wurde, bezog er sich auf eine Gemeinschaft, die sich größtenteils aus Männern (und einigen wenigen Frauen) mit ähnlichem sozialem, ethnischem und wirtschaftlichem Hintergrund zusammensetzte. Wie bei so vielen Stellen im grundlegenden Text der AA, der im ersten Teil des Buches „Anonyme Alkoholiker“ steht, haben sich auch diese Worte als weitaus zukunftsweisender herausgestellt, als es sich die Gründungsmitglieder jemals hätten vorstellen können. Die Lebensgeschichten im zweiten Teil dieser Auflage bilden eine Gemeinschaft ab, deren typische Merkmale – hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft und Kultur – sich erweitert und vertieft haben und damit beispielhaft für jeden stehen, den die ersten 100 Mitglieder hoffen konnten zu erreichen.

Während unsere Literatur die Integrität der Botschaft der AA bewahrt hat, spiegeln sich die tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft als Ganzes in neuen Gewohnheiten und Praktiken innerhalb unserer Gemeinschaft wider. So können beispielsweise Mitglieder der AA, die über einen Computer verfügen, fortschrittliche Technologien nutzen, um an Online-Meetings teilzunehmen und sich so mit anderen Alkoholikern landes- oder gar weltweit austauschen. Bei jedem Meeting, egal wo dieses stattfindet, teilen die AA ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung miteinander, mit dem Ziel, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zu helfen. Von Modem zu Modem oder von Angesicht zu Angesicht sprechen die AA die Sprache des Herzens in all ihrer Kraft und Schlichtheit.

AUS DER SICHT DES ARZTES

Wir Anonymen Alkoholiker glauben, dass der Leser interessiert sein wird zu erfahren, wie die Medizin den Genesungsplan einschätzt, der in diesem Buch dargestellt wird. Ganz gewiss muss eine überzeugende Beurteilung vonseiten jener Ärzte kommen, die ihre Erfahrung mit den Leiden unserer Mitglieder gemacht und deren Rückkehr zu einem gesunden Leben beobachtet haben. Ein wohlbekannter Arzt, Direktor an einem in Amerika weithin bekannten Krankenhaus, das sich auf Alkohol- und Rauschgiftsüchtige spezialisiert, richtete an die Anonymen Alkoholiker den folgenden Brief:

„An jeden, den es betrifft:

Seit vielen Jahren habe ich mich auf die Behandlung des Alkoholismus spezialisiert.

Gegen Ende 1934 behandelte ich einen Patienten, der zwar einst ein erfolgreicher Geschäftsmann mit hoher Erwerbskraft gewesen war, aber den ich als hoffnungslos zu betrachten pflegte.

Im Verlauf seiner dritten Behandlung machte er sich gewisse Vorstellungen davon, durch welche Mittel man möglicherweise zur Genesung gelangen könnte. Es war ein Teil seiner eigenen Wiederherstellung, dass er damit begann, seine Auffassung anderen Alkoholikern mitzuteilen und ihnen einprägte, sie müssten dies genauso wieder mit anderen machen. Daraus ist das Fundament einer rapide wachsenden Gemeinschaft zwischen diesen Männern und ihren Familien geworden. Es sieht so aus, als ob dieser Mann und mehr als hundert andere wirklich genesen sind.

Ich persönlich weiß um eine große Zahl von Fällen dieser Art, bei der andere Methoden völlig versagt hatten.

Diese Tatsachen scheinen mir für die Medizin äußerst wichtig zu sein. Wegen der außerordentlichen Möglichkeiten zu einem raschen Wachsen, die in dieser Gruppe liegen, könnte sie eine neue Epoche in den Annalen des Alkoholismus bedeuten. Es könnte sehr wohl sein, dass diese Leute einen Weg zur Genesung für Tausende besitzen, die sich in der gleichen Situation befinden.

Man kann sich absolut auf all das verlassen, was sie über sich selbst aussagen.“

Ihr ergebener

William D. Silkworth, M. D

.

Der Arzt, der uns auf unsere Bitten diesen Brief gab, hatte die Freundlichkeit, seine Ansichten in einem anderen Dokument weiter auszuführen, das hier folgt. Er bestätigte in dieser Darstellung, dass wir, die unter den Qualen des Alkoholismus gelitten haben, davon überzeugt sein müssen, dass die körperliche Verfassung des Alkoholikers genauso anomal ist wie seine geistige. Wir waren damit nicht zufrieden, dass man uns sagte, wir könnten deshalb unser Trinken nicht beherrschen, weil wir uns nicht richtig an unsere Lebensverhältnisse anpassen könnten, dass wir immer auf der Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens seien oder dass wir an ausgesprochenen seelischen Defekten litten. Diese Dinge waren bis zu einem gewissen Grad – tatsächlich sogar bis zu einem beträchtlichen Grad – bei manchen von uns wahr. Wir waren aber auch davon überzeugt, dass unser Körper von der Krankheit gleichfalls betroffen war. Nach unserer Überzeugung ist jede Darstellung des Alkoholikers unvollständig, die diesen körperlichen Aspekt außer Acht lässt.

Die Theorie des Arztes, dass wir an einer Allergie gegenüber dem Alkohol leiden, interessiert uns. Da wir Laien sind, mag unsere Auffassung von der Richtigkeit dieser Theorie natürlich wenig Bedeutung haben. Als ehemalige Problemtrinker können wir aber sagen, dass diese Erklärung uns sinnvoll erscheint. Sie gibt uns für viele Dinge eine Deutung, für die wir anders keine Begründung finden können.

Obwohl unsere Lösung auf der Ebene des Spirituellen und der Uneigennützigkeit liegt, sind wir doch dafür, dass der Alkoholiker, der noch zittrig und verwirrt ist, in ein Krankenhaus aufgenommen wird. In den allermeisten Fällen ist es notwendig, dass das Gehirn eines Menschen erst wieder klar gemacht wird, bevor man sich ihm nähern kann. Die Aussichten, dass er versteht und annimmt, was wir ihm anbieten, sind dann viel größer.

Der Arzt schreibt:

Das Thema, das in diesem Buch dargestellt wird, scheint mir für die, welche unter der Alkoholsucht leiden, von allerhöchster Bedeutung zu sein.

Ich sage das nach einer vieljährigen Erfahrung als medizinischer Direktor eines der ältesten Krankenhäuser des Landes, das Alkohol- und Drogenabhängigkeit behandelt.

Ich empfand darum eine wirkliche Genugtuung, als ich gebeten wurde, einige Worte über ein Thema beizusteuern, das in so meisterhafter und eingehender Weise auf diesen Seiten behandelt wird.

Wir Ärzte haben schon seit langer Zeit erkannt, dass eine Art Moralpsychologie für die Alkoholiker von drängender Wichtigkeit war. Diese Anwendung brachte aber Schwierigkeiten mit sich, die zu überwinden weit über unser Vermögen ging. Mit unseren ultramodernen Ausrüstungen und unserer wissenschaftlichen Einstellung allem gegenüber sind wir vielleicht nicht gut genug ausgerüstet, die Mächte des Guten anzuwenden, die außerhalb erlernter Erkenntnisse liegen.

Vor vielen Jahren kam einer der maßgeblichen Mitverfasser dieses Buches in dieses Krankenhaus und in unsere Behandlung. Während der Zeit, da er hier war, gewann er einige Auffassungen, die er dann sofort praktisch zur Anwendung brachte.

Später bat er dann um die Erlaubnis, dass er hier anderen Patienten seine Geschichte erzählen durfte. Trotz einiger Bedenken haben wir unsere Zustimmung dazu gegeben. Die Fälle, die wir dann weiterverfolgt haben, waren außerordentlich interessant. Viele von ihnen waren tatsächlich erstaunlich. Für jemanden , der so lang und mühsam auf dem Gebiet des Alkoholismus gearbeitet hat, sind dies wahrhaft begeisternde Dinge: die Selbstlosigkeit dieser Männer, die wir dabei beobachten konnten, das völlige Fehlen eines eigennützigen Beweggrundes und ihr Gemeinschaftsgeist. Sie glauben an ihre Sache, mehr aber noch an jene Macht, die einen chronischen Alkoholiker von den Pforten des Todes zurückreißen kann.

Natürlich muss man einen Alkoholiker zuerst von seiner körperlichen Sucht nach dem berauschenden Getränk befreien. Das erfordert oft eine systematische Krankenhausbehandlung, ehe er von psychologischen Maßnahmen den größtmöglichen Nutzen haben kann.

Wir glauben – und wir haben dies auch vor einigen Jahren als eine Vermutung vorgetragen –, dass die Wirkung des Alkohols bei diesen chronischen Alkoholikern eine Allergie auslöst; denn die Erscheinungsform des süchtigen Verlangens ist auf diese Gruppe begrenzt und kommt beim durchschnittlichen, maßvollen Trinker nie vor. Diese allergischen Typen können niemals mehr Alkohol in irgendeiner Form ohne Gefahr zu sich nehmen. Wenn sich die Gewohnheit bei ihnen erst einmal herausgebildet hat und wenn offenbar geworden ist, dass sie nicht aufhören können, wenn sie ihr Vertrauen zu sich und den Mitmenschen verloren haben, dann häufen sich die Probleme und werden in erschreckendem Maße immer unlösbarer.

Wortreiche, aber inhaltsarme Appelle richten da selten etwas aus. Die Botschaft, die das Interesse dieser Alkoholiker wecken und wachhalten soll, muss Tiefe und Gewicht haben. Wenn sie ihr Leben erneuern wollen, müssen ihre Ideale in fast jedem Fall auf eine Macht gegründet sein, die größer ist als sie selbst.

Sollte jemand das Gefühl haben, dass wir Psychiater, die ein Krankenhaus für Alkoholiker zu leiten haben, mit einer solchen Äußerung sentimental erscheinen, dann möge er einmal eine Zeit lang mit uns vorn an der Front stehen, sich die Tragödien, die verzweifelten Frauen und die kleinen Kinder anschauen. Die Überwindung dieser Nöte sollte für ihn zum Teil seiner täglichen Arbeit werden und ihm auch in der Nacht noch seinen Schlaf rauben. Dann wird sich auch der zynischste Kritiker nicht mehr darüber wundern, dass wir diese Gemeinschaft angenommen und ermutigt haben. Langjährige Erfahrung bestärkt uns in der Ansicht, dass nichts zur Rehabilitation dieser Männer in höherem Maße beigetragen hat als die selbstlose Bewegung, die jetzt unter ihnen selbst im Wachsen begriffen ist.

Die Wirkung, die der Alkohol hervorruft, ist für Männer und Frauen der wesentliche Grund zum Trinken. Obwohl sie zugeben, dass sie sich schaden, ist die vom Alkohol beeinflusste Wahrnehmung so vage, dass nach einer gewissen Zeit Wahres von Falschem nicht mehr unterschieden werden kann. Für diese Männer und Frauen erscheint dann ihr alkoholisches Leben allein als das normale. Sie sind ruhelos, reizbar, unzufrieden, bis sie erneut das Gefühl von Erleichterung und Behaglichkeit bekommen, das sofort nach einigen Gläsern Alkohol über sie kommt – Alkohol, den sie andere Menschen völlig ungestraft zu sich nehmen sehen. Nachdem sie aber wieder, wie so viele, ihrer Gier erlegen sind – und sich die Erscheinungsform des süchtigen Verlangens abzeichnet –, gehen sie durch die bekannten Stadien einer Sauftour hindurch, aus der sie dann voller Reue wieder auftauchen mit dem festen Entschluss, nie wieder zu trinken. Das wiederholt sich nun immer und immer wieder. Und wenn ein solcher Mensch dann nicht die Erfahrung einer völligen psychischen Veränderung machen kann, besteht sehr wenig Hoffnung darauf, dass er zur Genesung kommt.

Andererseits findet sich genau derselbe Mensch, der völlig verloren zu sein schien und der so viele Probleme hatte, dass er daran verzweifelte, nach einer solchen psychischen Veränderung plötzlich ganz leicht dazu imstande, sein Verlangen nach Alkohol zu beherrschen. Dieser Vorgang wird denen seltsam erscheinen, die ihn nicht verstehen, aber die einzig erforderliche Anstrengung besteht darin, dass dieser Mensch einige einfache Regeln befolgt.

Männer haben mich mit ebenso ehrlichem wie verzweifeltem Flehen bedrängt: „Doktor, ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich besitze alles, was das Leben wertvoll macht. Ich muss mit dem Trinken aufhören, aber ich bringe es nicht fertig. Sie müssen mir helfen“ .

Wenn ein Arzt diesem Problem gegenübersteht und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich ist, wie sehr muss er da so oft seine eigene Unzulänglichkeit fühlen. Und wenn er auch alles hergibt, was er in sich hat, so ist es doch oft nicht genug. Da merkt man, dass man etwas mehr als nur die menschliche Kraft braucht, um die entscheidende psychische Veränderung zustande zu bringen. Obwohl die Gesamtsumme der Genesungen, die durch psychiatrisches Bemühen bewirkt wird, beträchtlich ist, müssen wir Ärzte doch zugeben, dass wir auf das Problem als Ganzes doch nur einen geringen Einfluss ausgeübt haben. Viele Typen von Alkoholikern sprechen auf die übliche psychologische Methode nicht an.

Ich stehe nicht auf der Seite derer, die glauben, dass der Alkoholismus ganz und gar ein Problem der verstandesmäßigen Kontrolle ist. Ich habe viele Patienten gehabt, die zum Beispiel eine ganze Reihe von Monaten an der Lösung eines bestimmten Problems oder an einem geschäftlichen Unternehmen gearbeitet hatten, das bis zu einem gewissen, ihnen günstigem Datum in Ordnung gebracht werden musste. Sie tranken etwa einen Tag vor diesem Datum ein Glas – und ihr süchtiges Verlangen trat wieder so sehr in den Vordergrund und verdrängte alle anderen Interessen, dass sie die wichtige Verabredung nicht einhalten konnten. Diese Leute tranken wirklich nicht, um zu fliehen; sie tranken, um den Suchtdruck zu überwinden, den sie mit ihrer verstandesmäßigen Kontrolle nicht beherrschen konnten.

Das süchtige Verlangen bringt Menschen in Situationen, in denen sie bereit sind, eher zu sterben, als weiterzukämpfen.

Die Einteilung der Alkoholiker in bestimmte Klassen scheint höchst schwierig zu sein und liegt im Einzelnen auch außerhalb der Absicht dieses Buches. Unter Alkoholikern gibt es natürlich die Psychopathen, die in ihrem Gefühlsleben labil sind. Dieser Typ ist uns allen bekannt. Sie schwören ständig dem Alkohol auf ewig ab und quälen sich mit Schuldgefühlen. Sie fassen viele Entschließungen, sie treffen aber nie eine Entscheidung.

Dann gibt es den Typ des Menschen, der einfach nicht zugeben will, dass er keinen Alkohol vertragen kann. Er plant immer neue Trinkmethoden. Er verändert seine Alkoholsorte oder seine Umgebung.

Dann gibt es den Typ, der immer noch meint, er könnte ohne Gefahr wieder trinken, nachdem er eine gewisse Zeit völlig frei vom Alkohol gewesen war. Und es gibt den manisch depressiven Typ, der von seinen Freunden vielleicht am wenigsten verstanden wird und über den ein ganzes Kapitel geschrieben werden könnte.

Und dann gibt es wieder jene Typen, die eigentlich in jeder Beziehung normal sind, wenn man von der Wirkung absieht, die der Alkohol auf sie ausübt. Oft sind sie fähige, intelligente und liebenswürdige Menschen.

Sie alle – und noch viele andere – haben ein einziges Symptom gemeinsam: Sie können nicht anfangen zu trinken, ohne dass sie das Phänomen des süchtigen Verlangens entwickeln. Wir haben die Vermutung ausgesprochen, dass dieses Phänomen auf eine Allergie hinweist, welche diese Leute von den anderen Menschen unterscheidet und sie zu einer gesonderten Gruppe macht. Noch nie ist diese Veranlagung durch irgendeine Behandlungsart, die mir bekannt geworden ist, auf die Dauer beseitigt worden. Als die einzige Abhilfe können wir nur zur vollkommenen Enthaltung vom Alkohol raten.

Aber diese Feststellung stürzt uns sofort in einen brodelnden Kessel der Diskussionen. Viel ist für und wider geschrieben worden. Unter den Ärzten scheint sich jedoch als die allgemeine Meinung durchgesetzt zu haben, dass der chronische Alkoholismus unheilbar ist.

Wo aber gibt es eine Lösung? Vielleicht kann ich diese Frage am besten beantworten, indem ich über eine meiner Erfahrungen berichte.

Etwa ein Jahr, bevor ich diese Erfahrung machte, wurde uns ein Mann eingeliefert, den wir wegen seines chronischen Alkoholismus behandeln sollten. Er hatte sich nur teilweise von einem Magenbluten erholt und schien überdies ein Fall von pathologischem, geistigem Verfall zu sein. Er hatte alles verloren, was das Leben lebenswert macht – und er lebte sozusagen nur noch, um zu trinken. Er gab das freimütig zu und glaubte auch selbst, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Nachdem man ihm den Alkohol entzogen hatte, fand man, dass keine dauernde Schädigung des Gehirns vorlag. Er nahm den Lebensplan auf sich, der in diesem Buch dargestellt wird. Ein Jahr später rief er mich an und kündigte seinen Besuch an. Und da hatte ich ein ganz eigenartiges Erlebnis. Ich erinnerte mich an den Namen des Mannes und erkannte auch einigermaßen seine Gesichtszüge wieder. Aber damit hörte auch alle Ähnlichkeit auf. Aus jenem zitternden, verzweifelten, nervösen Wrack war ein neuer Mensch geworden, der nur so überströmte von Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Ich sprach eine Zeit lang mit ihm. Ich konnte aber einfach in mir das Gefühl nicht mehr wachrufen, dass ich ihn früher gekannt hatte. Für mich war er ein Fremder – und als ein solcher verließ er mich auch. Eine lange Zeit ohne Alkohol lag zwischen unseren Begegnungen.

Wenn ich eine geistige Aufmunterung brauche, dann denke ich oft an einen anderen Fall, der uns von einem in New York sehr bekannten Arzt überwiesen worden war. Der Patient hatte sich seine eigene Diagnose gestellt. Weil er von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage überzeugt war, hatte er sich in einem verlassenen Schuppen versteckt und war entschlossen, dort zu sterben. Einige Leute, die nach ihm fahndeten, hatten ihn gerettet und in einem entsetzlichen Zustand zu mir gebracht. Nachdem er körperlich wieder hergestellt war, hatte er ein Gespräch mit mir, in dem er freiheraus sagte, jede Behandlung sei nur eine Kraftvergeudung, wenn ich ihm nicht die Versicherung geben könne – was noch nie jemand habe tun können –, dass er in Zukunft die Willenskraft besitzen werde, seinem Drang zum Trinken zu widerstehen.

Sein Alkoholproblem war so vielschichtig und seine Depression war so tief, dass wir fühlten, seine einzige Hoffnung läge nur noch in dem, was wir damals eine ‚moralische Psychologie‘ nannten; wir zweifelten aber daran, dass selbst dies eine Wirkung auf ihn ausüben würde.

Immerhin ließ er sich völlig von den Gedanken überzeugen, die in diesem Buch enthalten sind. Seit einer langen Reihe von Jahren hat er kein einziges Glas mehr getrunken. Dann und wann sehe ich ihn; er ist ein Mensch von so feiner Art geworden, wie man ihn immer gern sehen möchte.

So rate ich jedem Alkoholiker ernstlich, dieses Buch durchzulesen. Er mag als Spötter mit dem Lesen anfangen, vielleicht endet er mit einem Gebet.“

William D. Silkworth, M. D.

Kapitel 1

BILLS GESCHICHTE

Auch die Stadt in New England, in die wir jungen Offiziere von Plattsburg aus verlegt wurden, war vom Kriegstaumel erfasst. Wir fühlten uns geschmeichelt, wenn uns angesehene Bürger in ihre Häuser einluden und uns das Gefühl gaben, Helden zu sein. Hier spürten wir mitten im Krieg Zuneigung und Anerkennung. Es waren erhabene Momente – und manchmal waren wir auch richtig ausgelassen und fröhlich. – Endlich ging das Leben nicht mehr an mir vorbei. In diesem Drunter und Drüber entdeckte ich den Alkohol. Eindringliche Warnungen und Vorurteile meiner Familie gegen das Trinken waren vergessen. – Kurz darauf waren wir auf dem Weg nach Europa. Ich fühlte mich sehr einsam und wandte mich wieder dem Alkohol zu.

Wir landeten in England. Ich besuchte Winchester Cathedral. Ich war davon sehr beeindruckt. Als ich draußen herumschlenderte, erweckte ein Vers auf einem alten Grabstein meine Aufmerksamkeit:

„Hier liegt ein Hampshire Grenadier,

der trank zu Tod sich, ach,

mit zu viel Krügen kühlem Bier.

Gedenken folgt dem Kriegsmann nach,

ob ihn der grimm’ge Tod erschlug

durch Kugel oder Krug.“

Eine ominöse Warnung– die ich in den Wind schlug.

Mit zweiundzwanzig Jahren schon Kriegsveteran, kam ich schließlich nach Hause. Ich fühlte mich als Führernatur, denn hatten mir nicht die Männer meiner Einheit gerade das immer wieder bestätigt? Mit meinem Führungstalent wollte ich an die Spitze großer Unternehmen kommen, die ich mit sicherem Geschick leiten würde.

Ich belegte einen Abendkursus in Rechtswissenschaft und bekam eine Anstellung als Schadenssachbearbeiter in einer Versicherungsgesellschaft. Das Streben nach Erfolg hatte mich gepackt. Ich würde der Welt zeigen, wie wichtig ich war. Meine Arbeit führte mich zur Wall Street und nach und nach begann ich, mich für die Börse zu interessieren. Viele verloren Geld – aber einige wurden auch sehr reich dabei. Warum nicht auch ich? Außer mit Jura befasste ich mich jetzt auch mit Wirtschaftswissenschaften. Da ich schon auf dem Weg zum Alkoholiker war, schaffte ich beinahe meinen Jurakursus nicht. Bei einer der Abschlussprüfungen war ich so betrunken, dass ich weder denken noch schreiben konnte. Obwohl ich noch nicht ständig trank, war meine Frau beunruhigt. In langen Gesprächen versuchte ich, sie zu beruhigen, indem ich ihr erzählte, dass geniale Männer ihre besten Einfälle im Suff hatten und so zu höchsten philosophischen Erkenntnissen gekommen waren.

Als ich den Kursus in Rechtswissenschaften beendet hatte, wusste ich, dass Jura nichts für mich war. Ich war in das Mahlwerk der Wall Street geraten. Wirtschafts- und Finanzbosse waren meine Vorbilder. Aus dieser Verbindung von Suff und Spekulationen begann ich die Waffe zu schmieden, die sich eines Tages wie ein Bumerang gegen mich richten und mich kaputtmachen würde. Meine Frau und ich lebten bescheiden und sparten 1000 Dollar. Wir legten das Geld in Wertpapieren an, die damals billig und kaum gefragt waren. Meine Vermutung, dass sie eines Tages im Kurs erheblich steigen würden, bestätigte sich später. Ich konnte Maklerfreunde jedoch nicht dazu bewegen, mich loszuschicken, um einen Überblick über Fabriken und Unternehmen zu gewinnen. Aber meine Frau und ich beschlossen, es trotzdem zu tun. Nach einer von mir entwickelten Theorie verloren die meisten Leute ihr Geld an der Börse durch Unkenntnis des Marktes. Später entdeckte ich noch viele andere Gründe dafür.

Wir gaben unsere Stellungen auf – und ab ging’s auf dem Motorrad, den Beiwagen vollgestopft mit Zelt, Decken, Kleidern zum Wechseln und drei großen Handbüchern des Finanzmarktes. Unsere Freunde meinten, man sollte uns auf unseren Geisteszustand untersuchen. Vielleicht hatten sie recht. Da ich einigen Erfolg beim Spekulieren gehabt hatte, besaßen wir etwas Geld. Um unser kleines Kapital nicht angreifen zu müssen, arbeiteten wir einen Monat auf einer Farm. Für lange Zeit sollte das für mich die letzte ehrliche, körperliche Arbeit gewesen sein. Wir bereisten in einem Jahr den ganzen östlichen Teil der Vereinigten Staaten. Am Ende verschafften mir meine Berichte an die Wall Street dort eine neue Stellung und ich hatte ein hohes Spesenkonto zur Verfügung. Ein Termingeschäft brachte uns in jenem Jahr einen Gewinn von mehreren Tausend Dollar.

In den nächsten paar Jahren flogen mir Geld und Beifall nur so zu. Ich hatte es geschafft. Das Rascheln der Geldscheine brachte viele dazu, meinem Beispiel zu folgen. Der Aufschwung der späten Zwanzigerjahre nahm überschäumende Formen an. Alkohol bildete einen wichtigen Bestandteil meines Lebens. In den Jazzlokalen der Stadt wurde hitzig debattiert. Jeder warf mit Tausendern nur so um sich und fantasierte von Millionen. Sollten die Spötter ruhig spotten, mir war’s gleich. Ich machte mich zum Gastgeber von Schönwetterfreunden.

Mein Trinken nahm ernstere Formen an, ich trank fast den ganzen Tag und beinahe jeden Abend. Die Vorhaltungen meiner Freunde führten zu Streit und machten mich zum Einzelgänger. In unserer aufwendigen Wohnung gab es hässliche Szenen. Meiner Frau war ich nie richtig untreu geworden. Vor Seitensprüngen bewahrte mich die Zuneigung zu ihr und meine zeitweilig extreme Trunkenheit.

Im Jahre 1929 packte mich das Golffieber. Deshalb zogen wir aufs Land. Für meinen Ehrgeiz, den damals berühmten Golfspieler Walter Hagen zu schlagen, erwartete ich den Beifall meiner Frau. Aber der Alkohol holte mich schneller ein als ich Walter Hagen schlagen konnte. Das morgendliche Zittern begann. Beim Golfspiel war es möglich, von morgens bis abends zu trinken. Es machte mir Spaß, auf dem exklusiven Platz umherzustreifen, der in mir schon solche Ehrfurcht erweckt hatte, als ich noch ein Junge gewesen war. Meine Haut nahm die makellose Bräune der Wohlhabenden an. Mit amüsierter Skepsis beobachtete der örtliche Bankangestellte den regen Ein- und Ausgang meiner dicken Schecks.

Ganz unerwartet brach im Oktober 1929 an der New Yorker Börse die Hölle los. Nach einem dieser verteufelten Tage schwankte ich aus einer Hotelbar in ein Maklerbüro. Es war abends acht Uhr, fünf Stunden nachdem die Börse geschlossen hatte. Der automatische Kursanzeiger tickte immer noch. Ich starrte auf einen Papierstreifen mit der Notierung XYZ 32. Am Morgen waren es noch 52 gewesen. Wie so viele meiner Freunde war auch ich ruiniert. Die Zeitungen berichteten, dass Menschen von den hohen Dächern der Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Seit 10 Uhr morgens hatten meine Freunde mehrere Millionen verloren – na und? Morgen war ein neuer Tag. Beim Trinken kehrte meine alte, verbissene Entschlossenheit zu gewinnen zurück.

Am nächsten Morgen rief ich einen Freund in Montreal an. Er hatte genügend Geld übrig behalten und meinte, es wäre besser, wenn ich nach Kanada ginge. Im Frühjahr des folgenden Jahres lebten wir wieder in unserem altgewohnten Stil. Ich fühlte mich wie Napoleon nach der Rückkehr von Elba. Für mich gab es kein St. Helena. Aber bald trank ich wieder – und mein großzügiger Freund war gezwungen, mich fallen zu lassen. Diesmal waren wir endgültig pleite.

Wir zogen zu den Eltern meiner Frau. Ich fand Arbeit, die ich jedoch nach einer Schlägerei mit einem Taxifahrer verlor. Gott sei Dank konnte damals noch niemand voraussehen, dass ich fünf Jahre lang keinen festen Arbeitsplatz haben und genauso lange Zeit kaum nüchtern sein würde. Meine Frau nahm eine Stellung in einem Kaufhaus an. Wenn sie abends erschöpft nach Hause kam, fand sie mich betrunken vor. Ich wurde zum unerwünschten Herumtreiber in den Maklerbüros.

Alkohol war kein Luxus mehr, er wurde zur Notwendigkeit. Zwei bis drei Flaschen schwarzgebrannter Gin wurden zur Gewohnheit. Kleine Geschäfte brachten hin und wieder einige Hundert Dollar, sodass ich meine Schulden in den Bars und Lebensmittelgeschäften bezahlen konnte. So ging es endlos weiter. Ich wachte morgens sehr früh auf und war dabei von heftigem Zittern geschüttelt. Um überhaupt frühstücken zu können, brauchte ich erst ein Wasserglas Gin und ein halbes Dutzend Flaschen Bier. Trotzdem glaubte ich immer noch, die Situation im Griff zu haben. Es gab aber auch nüchterne Phasen, die meiner Frau wieder Hoffnung machten.

Nach und nach wurde es schlimmer. Das Haus wurde von Gläubigern übernommen, meine Schwiegermutter starb, meine Frau und mein Schwiegervater wurden krank.

Dann bot sich mir eine vielversprechende Gelegenheit, ein Geschäft zu machen. Die Aktien waren auf dem Tiefstand von 1932 – und irgendwie gelang es mir, eine Käufergruppe zu bilden. Ich sollte großzügig am Gewinn beteiligt werden. Die guten Chancen verdarb ich mir durch eine neue Sauftour.

Ich wachte auf. Das musste ein Ende haben. Ich sah ein, dass ich nicht mal mehr ein einziges Glas trinken durfte. Ich war restlos fertig. Früher hatte ich die heiligsten schriftlichen Versprechungen gemacht. Jetzt aber war meine Frau glücklich darüber, dass es mir dieses Mal ernst damit war. Es war mir ernst.

Kurz danach kam ich dennoch betrunken nach Hause. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt. Wo waren meine großen Vorsätze geblieben? Ich wusste es einfach nicht. Es war mir auch nicht bewusst geworden. Jemand hatte mir ein Glas zugeschoben – und ich hatte es ausgetrunken. War ich verrückt? Bei so viel Unüberlegtheit schien ich nicht weit davon entfernt zu sein.

Ich erneuerte meinen Vorsatz und versuchte es wieder. Nach einiger Zeit wurde das Selbstvertrauen von Überheblichkeit abgelöst. Ich konnte über die Schnapsbrennereien lachen. Jetzt wusste ich, worauf es ankam. Eines Tages betrat ich ein Café, um zu telefonieren. Plötzlich stand ich an der Bar, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Als mir der Whisky zu Kopf stieg, sagte ich mir, dass ich es das nächste Mal besser machen würde. Jetzt wollte ich mich erst einmal besser fühlen und ließ mich volllaufen.

Die Reue, den Schrecken und die Hoffnungslosigkeit am nächsten Morgen werde ich nie vergessen. Der Mut zu kämpfen war weg. Mein Hirn raste unkontrolliert und ich hatte ein schreckliches Gefühl von drohendem Unheil. Es war noch nicht Tag und ich wagte kaum, über die Straße zu gehen, aus Angst, zusammenzubrechen und von einem Lieferwagen überfahren zu werden. Eine Kneipe, die die ganze Nacht geöffnet hatte, versorgte mich mit etlichen Glas Bier. Meine verkrampften Nerven kamen schließlich zur Ruhe. Durch eine Morgenzeitung erfuhr ich, dass an der Börse wieder der Teufel los war. In mir auch. Der Börsenmarkt würde sich erholen, ich aber nicht. Das war hart. Sollte ich Schluss machen? Nein – jetzt nicht. Ich war wie benebelt. Gin würde das beheben. Zwei Flaschen und – totales Vergessen.

Körper und Geist sind wunderbare Mechanismen. Sie hielten diese Qual noch zwei Jahre aus. In meiner schrecklichen morgendlichen Verfassung vergriff ich mich an dem dünnen Portemonnaie meiner Frau. Dann stand ich wieder einmal schwankend vor einem offenen Fenster oder am Medikamentenschrank, in dem Gift war, und verfluchte mich als Schwächling. Durch Ausflüge in die Umgebung versuchten wir, dieser Situation zu entfliehen. Dann kam die Nacht, in der meine körperlichen und geistigen Qualen so höllisch waren, dass ich Angst hatte, durchs geschlossene Fenster zu springen. Irgendwie schaffte ich es, meine Matratze in ein unteres Stockwerk zu zerren, um die Gefahr zu verringern, falls ich plötzlich springen sollte. Ein Arzt kam und gab mir ein starkes Beruhigungsmittel. Am nächsten Tag nahm ich beides, Gin und Beruhigungsmittel. Diese Mischung gab mir bald den Rest. Alle fürchteten um meinen Verstand. Ich auch. Wenn ich trank, konnte ich wenig oder nichts essen. Ich hatte 40 Pfund Untergewicht.

Mein Schwager ist Arzt. Mit seiner und meiner Mutter Hilfe wurde ich in ein bekanntes Rehabilitationskrankenhaus für Alkoholiker gebracht. Durch eine sogenannte Belladonna-Behandlung wurde mein Hirn wieder klar. Hydrotherapie und leichte Gymnastik halfen viel. Doch das Beste war, dass ich einen freundlichen Arzt traf, der mir erklärte, dass ich zwar selbstsüchtig und leichtsinnig gewesen sei, aber auch ernsthaft krank, körperlich und geistig.

Es erleichterte mich irgendwie, als ich erfuhr, dass Alkoholiker einen erstaunlich geschwächten Willen haben, wenn es darum geht, gegen Alkohol zu kämpfen, obwohl dieser Wille in anderer Beziehung oft stark bleibt. Das erklärte mein unglaubliches Benehmen bei dem verzweifelten Versuch, mit dem Trinken aufzuhören. Da ich nun wusste, wie es um mich stand, keimte neue Hoffnung in mir. Drei oder vier Monate hielt diese Stimmung an. Regelmäßig ging ich in die Stadt und verdiente sogar etwas Geld. Selbsterkenntnis – das war sicherlich die Antwort.

Es war nicht die Antwort, denn der gefürchtete Tag kam, an dem ich wieder trank. Mit meiner moralischen und körperlichen Gesundheit ging es rapide bergab. Nach kurzer Zeit war ich wieder im Krankenhaus. Das war das Ende, der Vorhang fiel, so schien es mir. Meiner besorgten und verzweifelten Frau wurde mitgeteilt, dass ich innerhalb eines Jahres entweder durch Herzversagen, im Delirium tremens oder durch Gehirnerweichung enden würde. Sie müsse mich bald entweder dem Totengräber oder der Irrenanstalt überlassen.

Mir brauchte man das nicht zu sagen. Ich wusste es und begrüßte beinahe den Gedanken. Mein Stolz war aufs Tiefste verletzt. Ich, der ich so sehr von mir überzeugt war und von meiner Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden, war schließlich in die Ecke gedrängt. Nun sollte ich in die Dunkelheit fallen und mich den endlosen Reihen von Säufern anschließen. Ich dachte an meine arme Frau. Trotz allem waren wir glücklich gewesen. Was würde ich nicht alles geben, um wiedergutzumachen! Damit war es aber jetzt vorbei.

Worte können nicht die Einsamkeit und Verzweiflung wiedergeben, die ich im tiefen Morast des Selbstmitleids fand. Treibsand war um mich herum in allen Richtungen. Ich hatte mein Spiel gespielt – und verloren. Der Alkohol war mein Meister.

Zitternd verließ ich als gebrochener Mann das Krankenhaus. Furcht ernüchterte mich für kurze Zeit. Dann kam der heimtückische Irrsinn des ersten Glases – und am „Tag der Armee“ 1934 war ich wieder voll drin. Alle kamen zu der Überzeugung, dass man mich irgendwo einsperren müsste, oder ich würde elend zugrunde gehen. Wie dunkel ist es doch vor Tagesanbruch. In Wirklichkeit war das der Anfang meiner letzten Saufphase. Bald aber sollte ich in das geschleudert werden, was ich gern als die „Vierte Dimension“ des Daseins bezeichne. Ich sollte Glück, Frieden und eigene Nützlichkeit kennenlernen in einem neuen Leben, das mit fortschreitender Zeit immer schöner wird.

Und das geschah so: Gegen Ende dieses tristen Novembers saß ich in meiner Küche und trank. Mit einer gewissen Befriedigung dachte ich daran, dass genug Gin im Hause versteckt war, um mich durch die Nacht und über den nächsten Tag zu bringen. Meine Frau arbeitete. Ich überlegte, ob ich es wagen könnte, eine Flasche Gin am Kopfende unseres Bettes zu verstecken. Vor Tagesanbruch würde ich sie brauchen.

Meine Überlegungen wurden durch das Telefon unterbrochen. Mit munterer Stimme fragte ein alter Schulfreund, ob er mal rüberkommen könne. Er war nüchtern. Soweit ich mich erinnern konnte, lag es Jahre zurück, dass er in diesem Zustand nach New York gekommen war. Ich war überrascht. Gerüchten zufolge hatte man ihn wegen alkoholischen Irrsinns in eine Klinik eingewiesen. Ich fragte mich, wie er da hatte herauskommen können. Sicher würde er zu Abend essen und dann könnte ich ganz offen mit ihm trinken. Ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen dachte ich nur daran, den Geist früherer Tage heraufzubeschwören. Als Krönung einer Sauftour hatten wir einmal sogar ein Flugzeug gechartert. Sein Kommen war wie eine Oase in dieser trostlosen Wüste sinnlosen Lebens. Das war es – eine Oase! Säufer sind so.

Die Tür ging auf, er stand da, frisch rasiert und strahlend. Da war etwas in seinem Blick. Er war auf unerklärliche Weise verändert. Was war geschehen?

Ich schob ihm einen Drink zu. Er lehnte ihn ab. Enttäuscht, aber neugierig überlegte ich, was mit dem Kerl geschehen war. Er war nicht mehr er selbst.

„Komm, was soll das alles?“, fragte ich mit Nachdruck.

Er schaute mich offen an. Lächelnd sagte er einfach: „Ich habe meinen Glauben gefunden.“

Ich war bestürzt. Das war es also. Im vergangenen Sommer ein alkoholischer Spinner und jetzt ein leicht spinnender Glaubensbruder, argwöhnte ich. Er hatte diesen verklärten Blick. Ja, der alte Bursche hatte Feuer gefangen. Lass ihn schwätzen, meinen Segen hat er! Außerdem würde mein Gin länger halten als sein Predigen.

Aber es war kein Geschwätz. Mit einfachen, knappen Worten berichtete er, wie zwei Männer vor Ge­richt erschienen waren und den Richter dazu gebracht hatten, seinen Einweisungsbeschluss aufzuheben. Sie hatten von einem einfachen Glaubensgedanken und einem praktischen, zu Aktivität auffordernden Programm der Tat gesprochen. Das war vor zwei Monaten – und das Ergebnis war offensichtlich. Es funktionierte!

Er war gekommen, um seine Erfahrungen an mich weiterzugeben – wenn ich Wert darauf legte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber dennoch interessiert. Gewiss war ich interessiert. Ich musste es sein, denn ich war ohne Hoffnung.

Er sprach stundenlang. Kindheitserinnerungen tauchten in mir auf. Es war mir, als hörte ich die Stimme des Pfarrers, wenn ich an stillen Sonntagen weit draußen auf den Hügeln saß. Da war dieser Vorschlag zu einem Nüchternheitsgelübde, dem ich nie gefolgt war. Ebenso erinnerte ich mich an den gutmütigen Spott meines Großvaters über die Geistlichkeit und deren Getue; auch daran, dass er darauf beharrte, es gäbe wirklich Musik in den Sphären. Gleichzeitig aber sprach er dem Pfarrer das Recht ab, ihm vorzuschreiben, wie er den Klängen zu lauschen habe. Ich dachte an die Furchtlosigkeit, mit der mein Großvater von all diesen Dingen kurz vor seinem Tode gesprochen hatte. Bei diesen Gedanken, die aus der Vergangenheit auftauchten, hatte ich einen Kloß im Hals.

Der Kriegstag in der alten Winchester Cathedral tauchte wieder auf.

Ich hatte immer an eine Macht, größer als ich selbst, geglaubt und hatte mir oft über diese Dinge Gedanken gemacht. Ich war kein Atheist. Tatsächlich gibt es nur wenige Atheisten, denn Atheismus bedeutet blind der seltsamen Theorie zu vertrauen, dass das Universum aus dem Nichts kommt und ziellos in das Nichts rast. Die von mir anerkannten geistigen Größen aus der Chemie, der Astronomie, ja sogar die aus der Abstammungslehre sprachen von allumfassenden Gesetzen und Kräften, die am Werk waren. Trotz aller gegenteiligen Anzeichen gab es bei mir wenig Zweifel, dass eine machtvolle Absicht und Ordnung allem zugrunde lag. Wie konnte es ohne Geist und Verstand so genaue und unwandelbare Gesetze geben? Ich musste ganz einfach an einen Geist des Universums glauben, der weder Zeit noch Grenzen kennt. Bis dahin war ich mit meinen Gedanken gekommen.

Damit hörte die Gemeinsamkeit zwischen der Geistlichkeit, den Weltreligionen und mir schon auf. Wenn sie von einem Gott sprachen, der mir nahe stand, der ein Gott der Liebe, der übermenschlichen Stärke und der Wegweisung war, wurde ich verärgert – und mein Geist verschloss sich solchen Theorien.

Ich war bereit, zuzugestehen, dass Christus ein großer Mann gewesen war, in weitem Abstand gefolgt von denjenigen, die ihn für sich beanspruchten. Seine geistige Lehre hielt ich für ausgezeichnet. Für mich hatte ich das akzeptiert, was mir passte und bequem war; den Rest beachtete ich nicht.

Die Kriege, die Verbrennungen und Grausamkeiten, die durch Religionsstreitigkeiten entfacht worden waren, machten mich krank. Mir kamen ehrliche Zweifel, ob die Religionen den Menschen überhaupt Gutes gebracht hatten. Wenn ich davon ausging, was ich in Europa und danach gesehen hatte, konnte ich von göttlichem Wirken zwischen den Menschen nichts spüren. Hier noch von Brüderlichkeit zu reden, war ein grausamer Witz. Wenn es einen Teufel gab, schien er der Herr der Welt zu sein – und mich hatte er mit Sicherheit in seiner Gewalt.

Aber nun saß mein Freund vor mir und erklärte mir geradeheraus, dass Gott für ihn das getan hatte, was er selbst für sich nicht hatte tun können. Sein menschlicher Wille hatte versagt. Ärzte hatten ihn für unheilbar erklärt. Die Gesellschaft war drauf und dran, ihn einzusperren. Wie ich hatte auch er seine totale Niederlage eingestanden. Dann war er tatsächlich wieder von den Toten auferstanden, von einem Abfallhaufen in ein Leben, wie er es besser nie gekannt hatte.

Kam diese Kraft aus ihm selbst? Offensichtlich nicht. In ihm war nicht mehr Kraft gewesen als in diesem Augenblick in mir war – und da war gar keine.

Das haute mich um. Es dämmerte mir, religiöse Menschen könnten trotz allem recht haben. Hier war etwas im Menschenherzen am Werk, was Unmögliches möglich machte. In dem Moment wurde meine Vorstellung von Wundern drastisch verändert. Weg mit dem alten Hut. Hier saß mir ein Wunder am Küchentisch gegenüber und verkündete große, gute Neuigkeiten.