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Beschreibung

Systematische Angriffe auf die Geschlechtergerechtigkeit verschärfen sich weltweit und sind in einigen EU-Staaten bereits Teil des Regierungshandelns. Als Infragestellung basaler Menschenrechte und zumeist rechtspopulistisch bzw. fundamentalistisch motiviert gefährden sie die Demokratie. Aus internationaler und interdisziplinärer Perspektive analysieren die Beiträger*innen des Bandes Anti-Genderismus als strategisches Mittel der Emotionalisierung, Mobilisierung und Vernetzung innerhalb des rechten Spektrums und einer im Entstehen begriffenen religiösen Rechten. Mit besonderem Fokus auf die Situation einiger ostmitteleuropäischer Staaten und unter Einbezug von Erfahrungen aus dem LGBTIQ*-Aktivismus erörtern sie, wie dieser Entwicklung konstruktiv-widerständig zu begegnen ist.

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Sonja A. Strube (PD Dr.), geb. 1968, ist Privatdozentin für Praktische und Biblische Theologie und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft« an der Universität Osnabrück.

Rita Perintfalvi (MMag. Dr.), geb. 1973, ist Post-Doc-Universitätsassistentin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens- Universität Graz. Sie ist im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Genderforschung und im interdisziplinären Forschungsprojekt »(Re)learning to be human: Anti-Gender-Attacken im Horizont des religösen Fundamentalismus und Rechtspopulismus in Europa von heute« tätig.

Raphaela Hemet (M.A.), geb. 1992, ist Religionswissenschaftlerin und lebt in Graz. Sie promoviert über die Sagengestalt Perchta und deren Rezeption unter religionswissenschaftlicher Perspektive.

Miriam Metze (M.A.), geb. 1987, ist Doktorandin im Fach Philosophie an der Universität Wien und studierte Philosophie, Skandinavistik und Judaistik. Sie arbeitet zu einer Relektüre der aristotelischen Metaphysik bei Martin Heidegger.

Cicek Sahbaz (M.A.), geb. 1986, ist Doktorandin im Fach Advanced Theological Studies an der Universität Wien und forscht zu den zeitphilosophischen Aspekten des politischen Widerstands.

Sonja A. Strube, Rita Perintfalvi, Raphaela Hemet, Miriam Metze, Cicek Sahbaz (Hg.)

Anti-Genderismus in Europa

Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung - Vernetzung - Transformation

Gefördert durch das Elisabeth-List-Fellowship-Programm für Geschlechterforschung der Universität Graz in Kooperation mit der Koordinationsstelle für Geschlechterstudien und Gleichstellung der Universität Graz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Sonja A. Strube, Rita Perintfalvi, Raphaela Hemet, Miriam Metze, Cicek Sahbaz (Hg.)

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5315-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5315-5 EPUB-ISBN 978-3-7328-5315-1https://doi.org/10.14361/9783839453155

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Anti-Genderismus in Europa – Zur Einführung

Dynamiken der Vernetzung, Emotionalisierung, Mobilisierung

Autorität und (Un-)Gleichheit

Die ›natürliche‹ Geschlechterdifferenz als pseudo-demokratisches Stereotyp im aktuellen Rechtspopulismus

Oliver Hidalgo

Anti-Gender-Diskurse – vom ›gesunden Menschenverstand‹ zur ›Politik mit der Angst‹

Stefanie Mayer

Anti-Genderismus als rechtsintellektuelle Strategie und als Symptom-Konglomerat Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit

Sonja Angelika Strube

Reclaiming Hegemonic Masculinity in the Context of Populism

Approaches to Overcoming It

Erzsébet Barát

Anti-Genderismus in Zeiten der Corona-Krise

Immunologischer Schutz einer Abstammungsgemeinschaft im Namen des Lebens?

Cicek Sahbaz

Volk – Heimat – Brauchtum

Inszenierungen österreichischer Folklore innerhalb rechtspopulistischer Narrative

Raphaela Hemet

Anti-Genderismus in Ost-Mitteleuropa – Analysen und Berichte

Xenophobia and Power Politics: The Hungarian Far Right

András Bozóki/Sarah Cueva

Homophobie und antiwestliche Diskurse

LGBT im Brennpunkt der Identitätskonstruktion der serbischen Nation

Nicole Navratil

Erfundene Invasion

Auseinandersetzungen um Gender und LGBTIQ in Politik, Kirche und Gesellschaft in Polen

Elżbieta Adamiak

Gender und LGTBQ: Unbekannte Begriffe als Machtinstrumente in Polen

Bożena Chołuj

Anti-Genderismus in Kroatien – Kontextbezogene Besonderheiten

Jadranka Rebeka Anić

Der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit als ein Kampf um Demokratie

Anti-Genderismus in Ungarn im Kontext einer »Sakralisierung der Politik«

Rita Perintfalvi

Angriffe gegen die Institutionen der Wissenschaft und ihre Instrumentalisierung im illiberalen Regime

Eine Anregung zum Überdenken der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft und ihre Perspektiven

Andrea Pető

Jüdische Gemeinschaften im Kontext des ungarischen Rechtspopulismus und Ethnonationalismus

Einblicke in die politische Instrumentalisierung des Glaubens von rechts außen

Larissza Hrotkó

Fokus: Anti-Genderismus im Schnittfeld von Religion und Politik

Konservative Netzwerke über Konfessionsgrenzen hinweg

Die »konservative Ökumene« des World Congress ofFamilies

Kristina Stoeckl

Die Kontinuität des Frauenbildes in römischen Dokumenten

Ein dogmatisches close reading

Gunda Werner

Katholische Genderkritik im Gegenwind des kritischen Anspruchs menschenrechtlicher Diskurse

Gerhard Marschütz

Der Kampf um die biblischen Fundamente

Ein Dialog von Rita Perintfalvi und Irmtraud Fischer

Perspektiven für Öffnungen und Transformationsprozesse

Scham-Wut-Spiralen

Zur Instrumentalisierung von Emotionen im Rahmen des Populismus

Katharina Scherke

Wi(e)der-stand – Zur Frage nach Kritik und Widerstand aus philosophischer Sicht

Miriam Metze

Rettungsinseln in »LGBT-freien Zonen«

Pastorale und politische Strategien gegen Homo- und Transphobie im Nationalpopulismus

Michael Brinkschröder

Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit aus religiöser Perspektive

Das Potenzial religiös-feministischen Online-Aktivismus

Irene Klissenbauer

Autor*innenverzeichnis

Anti-Genderismus in Europa – Zur Einführung

Seit Beginn der 2000er Jahre erfahren antifeministische, gegen Geschlechtergerechtigkeit und Antidiskriminierung gerichtete Agitationen eine immer größere Verbreitung, sowohl innerhalb der politischen Rechten als auch innerhalb bestimmter christlicher Strömungen – ein Phänomen, für das Sabine Hark und Paula-Irene Villa 2015 den Begriff Anti-Genderismus prägten, der durch das gleichnamige Buch des transcript Verlags bekannt wurde. Das Umsichgreifen rechtspopulistischer Einstellungen und Politiken, die – derzeit insbesondere in einigen Ländern Ostmitteleuropas – auf die Umwandlung menschenrechtsbasierter Demokratien in illiberale bzw. völkisch-identitär geschlossene Gesellschaftsformen zielen, geht maßgeblich mit aggressiven Attacken auf sexuelle Minderheiten, emanzipatorisch-menschenrechtsorientierte Bewegungen sowie wissenschaftliche Gender Studies einher. Anti-Genderismus fungiert als symbolisches Bindeglied (»symbolic glue«; vgl. Kováts/Põim 2015) innerhalb des rechten Spektrums ebenso wie als deren strategisches Mittel der ›Selbstverharmlosung‹, milieu-übergreifenden Vernetzung und Emotionalisierung im Kontext einer »Politik mit der Angst« (vgl. Mayer in diesem Band). Er ist zentrales Thema virtuell agierender antifeministischer Maskulinisten bzw. ›Männerrechtsbewegungen‹ ebenso wie einer im Entstehen begriffenen europäischen Religiösen Rechten. Er greift gerade auch in seinen politisch rechtspopulistischen Spielarten auf bestimmte religiöse Denk- und Argumentationsfiguren zurück, um mittels dieser einen autoritären Absolutheitsanspruch für sich zu begründen. All dies vollzieht sich – mal mehr, mal weniger offensichtlich – in vielen sich bislang demokratisch und liberal verstehenden Gesellschaften Europas und prägt derzeit das Regierungshandeln etwa der EU-Staaten Polen und Ungarn.

Der vorliegende Band Anti-Genderismus in Europa bearbeitet die vielfältigen Aspekte des Anti-Genderismus daher interdisziplinär und in internationaler Perspektive im Schnittfeld von Vorurteils-, Rechtspopulismus- und Fundamentalismusforschung. Sein Fokus richtet sich verstärkt – aber nicht ausschließlich – auf die besonders zugespitzte politische Situation in einigen ostmitteleuropäischen Staaten. Entstehen konnte der Band als Teil des Forschungsprojekts Widerstand erforderlich? – Identitäts- und Geschlechterkämpfe im Horizont von Rechtspopulismus und christlichem Fundamentalismus in Europa heute des Elisabeth-List-Fellowship-Programms für Geschlechterforschung an der Universität Graz, flankiert von einem gleichnamigen Symposion. Coronabedingt entstand der Tagungsband jedoch nicht, wie ursprünglich geplant, nach der Durchführung des für den 25.-27. März 2020 geplanten Symposions, sondern zeitlich parallel zur Planung der in den Oktober 2020 verschobenen, nun digitalen Konferenz. Buch wie Symposion folgen einem Spannungsbogen, der länderübergreifende Analysen antigenderistischer Vernetzung, Emotionalisierung und Mobilisierung im Schnittfeld von Religion und Politik mit vielfältigen Beobachtungen und Berichten verknüpft, die einen vertieften Einblick in die speziellen Problemlagen verschiedener Länder Ost-Mitteleuropas (Ungarn, Polen, Serbien, Kroatien) geben, um schließlich Perspektiven für Öffnungen und Ansatzpunkte für gesellschaftliche Transformationsprozesse aufzuzeigen.1

Dynamiken der Vernetzung, Emotionalisierung, Mobilisierung

Die Vehemenz, mit der der Anti-Gender-Aktivismus das Aktionsfeld rechtsradikaler und rechtsextremer Strömungen seit geraumer Zeit besetzt, nimmt Oliver Hidalgo zum Anlass, dessen grundlegende Relevanz als »letzte Bastion« ›natürlicher‹ Differenz für ein auf Ungleichheit angelegtes Denken zu reflektieren und dabei auch das geschickte Changieren rechtspopulistischer Akteur*innen darzustellen, durch das diese den Anschein des Demokratischen wahren wollen. Stefanie Mayer analysiert in ihrem Beitrag mittels des rechtspopulistische Dynamiken veranschaulichenden strategischen Vierecks die diskursimmanenten Gründe für die zentrale Bedeutung der Anti-Gender-Diskurse innerhalb des rechten Spektrums. Während die Naturalisierung des Sozialen als basale Gemeinsamkeit und direktes Scharnier in Richtung eines ›gesunden Menschenverstands‹ und eines ›common sense‹ in weiten Teilen der Bevölkerung fungiere, ermögliche die Konstruktion verschiedener miteinander verschränkter Antagonismen, Bedrohungsgefühle zu erzeugen, um eine ›Politik mit der Angst‹ zu betreiben. Den Blick auf rechtsintellektuelle Strategien der ›Selbstverharmlosung‹ und des milieu-übergreifenden Vernetzens vertieft Sonja Angelika Strube, die – auf der Basis des sozialpsychologischen Modells zum Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung – Anti-Genderismus in Hinblick auf die von ihm entfesselten enormen emotionalen Dynamiken als geschickt arrangiertes, breitenwirksames Vorurteilskonglomerat analysiert. Erzsébet Barát interpretiert die jüngsten Ereignisse in der ungarischen Politik als Manifestationen einer Rhetorik von Angst und vermutet in der antigenderistischen Rhetorik das Potenzial feministischer Politiken. Im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe begreift sie die mit einer bestimmten Idee von Männlichkeit einhergehende Stigmatisierung von ›Genderideologie‹ als leeren Signifikanten, schlägt jedoch wegweisende Korrekturen für Mouffes Konzept von agonistischer Hegemonie vor, die ein Abgehen von einem hegemonialen Politikmodell nahelegen. Am Beispiel antigenderistischer Rhetorik des Schutzes von Familie und Gemeinwesen, die vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie von epidemiologischem Vokabular, pathologisierender Terminologie, Reinheitsinteressen und Heilversprechen durchzogen wird, geht Cicek Sahbaz der Frage nach, inwiefern der Versuch, das Phantasma einer einheitlichen, reinen und identitären Gemeinschaft durch ein Immunisierungsprinzip lebendig zu halten, nicht tatsächlich einer Opferung der Möglichkeit von Gemeinschaft gleichkommt. Raphaela Hemet stellt in ihrem Beitrag Überlegungen zur rechtspopulistischen Instrumentalisierung von Folklore an u.a. anhand ausgewählter Beispiele der Rekurrenz auf die österreichische Folklore durch die Freiheitliche Partei Österreichs. Zentral sind dabei die Begriffe ›Volk‹ und ›Heimat‹ sowie die Fragen nach deren Konstruktion und Emotionalisierung innerhalb rechtspopulistischer Diskurse, deren Verbindung zum Meta-Narrativ der ›Wir‹-Gruppe und weiterer Narrative wie dem der ›guten alten Zeit‹.

Anti-Genderismus in Ost-Mitteleuropa – Analysen und Berichte

András Bozóki und Sarah Cueva identifizieren das aktuell vorherrschende politische System Ungarns unter Viktor Orbán als »hybrid regime«, einer Mischung aus ursprünglich demokratischen Inhalten sowie autokratischen Elementen, die mit Orbáns Fidesz-Partei Eingang in die ungarische Regierung gefunden haben. Dabei zeigen die Autor*innen gängige rechtsextreme Tendenzen wie Xenophobie, Nationalismus und Fundamentalismus in Handlungen und Inhalten der Parteien Fidesz und Jobbik auf und zeichnen damit zugleich die einzelnen Entwicklungsschritte in Richtung eines politischen Autoritarismus in Ungarn nach. Nicole Navratil beleuchtet die Bedeutung von Homophobie und mit ihr verwobenen antiwestlichen Diskursen als Mittel nationaler Identitätskonstruktionen durch Abgrenzung in einem Land, das sich im Wartemodus des EU-Beitritts befindet. Minderheitenrechte, die anzuerkennen Voraussetzung für den EU-Beitritt ist, können von ihren Gegner*innen leicht als ›unserbisch‹ delegitimiert werden. Was Navratil für die serbisch-orthodoxe Kirche in Serbien beschreibt, dass diese nämlich als Garantin nationaler Identität fungiere, zeigen Adamiak und Chołuj ähnlich für die römisch-katholische Kirche in Polen auf. Elżbieta Adamiak analysiert (unter Rekurs auf Paternotte/Kuhar 2018) die »ideologische Matrix« des Anti-Gender-Diskurses in Polen, der nahezu gleichlautend in PiS-Regierung, katholischer Kirche und weiten Teilen der Gesellschaft nicht nur LGBTIQ*2-Positionen als westlich-neomarxistischer Import und ›Ideologie‹ deutet, sondern auch LGBTIQ*-Personen rhetorisch de-humanisiert. Da die ideologische Matrix des Anti-Genderismus rational-argumentative und diskursive Auseinandersetzungen kaum zulasse, sei der Weg über künstlerisch-performative Provokationen und Auseinandersetzungen, insbesondere mit religiöser Symbolik erfolgversprechender. Unter anderem die Unbekanntheit der Begriffe Gender und LGBTIQ* und die geringe Verbreitung sachlicher polnischsprachiger Informationen zu diesen Themen ermöglichen, so Bożena Chołuj, deren Gebrauch als Machtinstrumente in Polen. Als Feindbilder können beide gegeneinander ausgetauscht oder auch miteinander verbunden werden, nicht zuletzt, um Bedrohungsgefühle zu potenzieren. Frauen- wie Menschenrechtsorganisationen müssten hart um den Erhalt der wenigen erreichten Rechte kämpfen, doch nimmt Chołuj einen differenzierter werdenden Geschlechterdiskurs wahr, in dem die »kritische[n] Stimmen […] hörbarer denn je« seien. Für Kroatien, 2013 der EU beigetreten, beobachtet Rebeka Jadranka Anić bereits seit 2008 – anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung von Diskriminierung – den Beginn einer »Angstmacherei vor einer sogenannten Gender-Ideologie«. Eine zentrale Rolle als Identitätsmarker spiele auch hier die römisch-katholische Kirche, die in Kroatien kollektivistisch ausgeprägt sei und das Zweite Vatikanische Konzil kaum rezipiert habe. Als Hauptakteur*innen des Anti-Gender-Aktivismus in Kroatien macht Anić kleine Gruppen neurechts orientierter Rückkehrer*innen aus, die vor allem mittels virtuellen Vortäuschens von Masse (Astroturfing) politischen und kirchenpolitischen Einfluss ausüben.

Rita Perintfalvi zeigt am Beispiel Ungarns auf, wie die Anti-Gender-Debatte in Ost-Mitteleuropa mit dem systematischen Abbau des demokratischen Rechtsstaates Hand in Hand geht, sodass umgekehrt der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit gleichzeitig zu einem Kampf um die Demokratie wird. Der Aufsatz analysiert die Zusammenhänge von Religion und Rechtspopulismus in Ungarn und erklärt als deren Folge, was die politische Fusion von Nationalismus und Christentum in diesem Kontext bedeutet. Indem Viktor Orbán die Rolle eines ›messianischen Führertyps‹ annimmt, zugleich aber die Kirchen ihrer Freiheiten beraubt, »wird die Politik sakralisiert und die Religion dementsprechend entsakralisiert« (Gábor 2019). Larissza Hrotkó skizziert die derzeit durch die ungarische Regierung forcierte Manipulation der kollektiven Erinnerung durch verfälschende Geschichtsschreibung und einer dementsprechenden Gestaltung öffentlicher Denkmäler, durch die das antisemitische, autoritäre und nationalistische Horthy-Regime (1920-1944) idealisiert und Ungarn pauschal jeder Mitverantwortung für die Verbrechen gegen ungarische Juden enthoben werde. Während antisemitische Ressentiments stärker werden und die Konstruktion eines Gegensatzes von ›Jüdischem‹ und ›Ungarischem‹ den ungarischen Ethnonationalismus und Rechtspopulismus prägen, werden gleichzeitig nicht nur die Kirchen in die moralische Rechtfertigung autoritärer Politik eingebunden, sondern auch die ungarisch-jüdische Neo-Orthodoxie (als eine von mehreren jüdischen Gruppen/Strömungen in Ungarn) zur Aufrechterhaltung eines sauberen Images instrumentalisiert. Andrea Pető schildert in ihrem Beitrag zum einen persönliche und personenbezogene Bedrohungslagen, denen Genderforscher*innen in Ungarn aktuell ausgesetzt sind, zum anderen analysiert sie die Methoden, mit denen illiberale Staaten akademisch anerkannte Wissenschaftler*innen und Institutionen der Wissenschaft, insbesondere im Bereich der Sozialwissenschaften, verdrängen, indem sie mit staatstreuen Personen besetzte Parallelstrukturen installieren.

Die Zusammenschau der einzelnen Länderporträts lässt Parallelen erkennen, die zum einen das Ringen um eine klar von anderen abgegrenzte nationale Identität betreffen, zum anderen die jeweils zentrale Rolle dominanter Kirchen innerhalb dieses Ringens. Ersichtlich werden des weiteren die durch rechtsorientierte politische Kräfte vollzogene »Sakralisierung des Politischen« (vgl. Perintfalvi in diesem Band) sowie internationale Vernetzungen unter christlichen Anti-Gender-Aktivist*innen. Als Garanten antigenderistischer Inhalte fungieren immer wieder Hirtenworte, insbesondere römisch-katholischer Bischöfe, sowie das 2003 vom Päpstlichen Rat für die Familie unter Federführung von Alfonso Kardinal López Trujillo herausgegebene Lexikon Familie: Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fragen (2007)3.

Fokus: Anti-Genderismus im Schnittfeld von Religion und Politik

Mit dem World Congress of Families (WCF) stellt Kristina Stoeckl einen Hauptakteur der transnationalen Lobby-Arbeit christlich motivierter Anti-Gender-Aktivist*innen vor, dessen Wurzeln in den USA liegen, der jedoch bereits in seiner Gründungsphase in den 1990er Jahren den Schulterschluss mit der Russischen Orthodoxen Kirche anbahnte und in einer Art »konservativer Ökumene« neben den großen römisch-katholischen, evangelikalen und orthodoxen Playern zahlreiche weitere Gruppen vereint. Da speziell die vatikanischen Interventionen der 1990er Jahre im Kontext der UN-Bevölkerungskonferenz 1994 in Kairo und der UN-Frauenkonferenz 1995 in Beijing sowie verschiedene vatikanische Dokumente eine wesentliche argumentative Basis christlich konnotierten Anti-Gender-Aktivismus darstellen, widmen sich zwei Beiträge speziell diesem Themenbereich. Gunda Werner analysiert im Umfeld der genannten UN-Konferenzen entstandene lehramtliche Texte der Zeitspanne 1988-2019 zur Würde der Frau mittels eines Close Readings und deckt ihnen inhärente Marginalisierungsstrategien ebenso auf wie ihre selbstreferenziell bleibenden, dem 19. Jahrhundert verhafteten und dadurch aktuellen Erkenntnissen gegenüber hermetisch verschlossenen Argumentationsfiguren. Gerhard Marschütz analysiert, in welchen Formen sich aktuelle vatikanische Dokumente, insbesondere das Schreiben der Bildungskongregation Als Mann und Frau schuf er sie von 2019, dem selbst eingeforderten hörenden und nachdenkenden Dialog verschließen, indem sie sich selbstreferenziell allein auf wissenschaftlich unzuverlässige Quellen (Lexikon der Familie, Schriften Gabriele Kubys) beziehen, welche zentrale Aussagen Judith Butlers missinterpretieren. Theologisch zeuge diese Haltung vom Fortbestehen eines neuscholastisch verkürzten Naturrechtsdenkens, das hinter die Einsichten des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückfalle, wodurch die römisch-katholische Kirche weiterhin »vom kritischen Anspruch menschenrechtlicher Diskurse« herausgefordert bleibe.

Um weitere Missinterpretationen von Texten geht es im folgenden dialogischen Beitrag von Rita Perintfalvi und Irmtraud Fischer. In diesem gibt Rita Perintfalvi zunächst eine Einführung in die Argumentationslinien rechter Ideologien, die sich auf biblische Texte beziehen. Darauf antwortet Irmtraud Fischer anschließend aus Perspektive der alttestamentlichen Exegese, indem sie zentrale, in der antigenderistischen Bibeldeutung ›beliebte‹ Texte aus den Büchern Genesis und Levitikus (Erstes bzw. Drittes Buch Mose) kritisch reflektiert sowie dem antigenderistischen Argument, die Bibel bezeuge eine durchgehende und eindeutige Ablehnung von Homosexualität und Transgender, einige die gleichgeschlechtliche Liebe positiv wahrnehmende Bibeltexte gegenüberstellt.

Perspektiven für Öffnungen und Transformationsprozesse

Katharina Scherke stellt auf der Grundlage emotionssoziologischer Konzepte die Wirkweise von Scham-Wut-Spiralen dar, die von Rechtspopulist*innen gerade auch im Kontext antigenderistischer Agitation bewusst bedient, verstärkt, oft sogar erst erzeugt werden, um diese starken Emotionen politisch zu instrumentalisieren. Einen Ausweg aus dem Scham-Wut-Mechanismus böte allein das Eingeständnis der Scham, das wiederum das Aushalten-Können dieses Gefühls sowie ein entsprechendes Selbstbewusstsein voraussetze. Als Gegenstrategien gegen rechtspopulistische und antigenderistische Rhetoriken böten sich demgegenüber Diskurse, die das Eingestehen von Scham ermöglichen, an. Miriam Metze geht dann der Frage nach, was wir unter Widerstand und Kritik eigentlich verstehen. Ausgehend von der These, dass in den Begriffen des Widerstandes und der Kritik bereits Lösungs- und Transformationspotenziale impliziert sind, bemüht sie sich um ein Verständnis von widerständig-kritischem Denken, das nicht auf ein bloßes ›Gegen-Denken‹ hinausläuft, sondern, im Gegenteil, die Instanz des Gegenübers als sein maßgebliches Moment aufgreift. In der Auseinandersetzung mit Hannah Arendts frühen Überlegungen zur Urteilskraft umreißt sie das traditionell schwierige Verhältnis zwischen Philosophie und politischem Denken und plädiert für eine Erneuerung des Wahrheitsbegriffs unter Einbeziehung der Ebene der Alterität. Vor dem Hintergrund der die Situation vieler LGBTIQ*-Personen in ostmitteleuropäischen Ländern prägenden Kooperationen zwischen (katholischer) Kirche und nationalpopulistischer Regierung skizziert Michael Brinkschröder zunächst konkrete Schritte zum Aufbau einer nährenden, das Selbstwertgefühl stabilisierenden Spiritualität, die Solidarität ermöglicht. In einem weiteren Schritt analysiert er neoliberale Bedingungsfaktoren nationalpopulistischer Politikstile, um vor diesem Hintergrund Auswege aus dem konstruierten Antagonismus von Familie und LGBTIQ*-Community aufzuzeigen. Das Potenzial feministisch-theologischen Aktivismus im virtuellen Raum steht im Zentrum des Beitrags von Irene Klissenbauer. Nachdem die Einsicht, dass Geschlechtergerechtigkeit eine zentrale Dimension der Menschenrechte ist, zunächst mühsam errungen werden musste, inzwischen jedoch seit Jahrzehnten auf internationaler Ebene thematisiert wird, treten religiös-fundamentalistische Akteur*innen als Stimmungsmacher*innen gegen Geschlechtergerechtigkeit auf. Gleichwohl sind, wie Klissenbauer aufzeigt, Religion und Religiosität nicht per se mit rückwärtsgewandten Ehe-, Familien- und Weltbildern verbunden, sondern in allen großen Religionen finden und verbinden sich ebenso auch emanzipations- und menschenrechtsorientierte Strömungen und Verfechter*innen von Geschlechtergerechtigkeit. Am Beispiel des Blogs Feminism & Religion stellt Klissenbauer feministisch-theologischen Online-Aktivismus und dessen Potenzial für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Praxis vor, auch als Impulse für religiös-theologische und gesellschaftliche Transformationsprozesse.

Dank

Last but not least haben wir zu danken. Wir freuen uns, mit unserer Publikation durch Titel und Verlag an die begriffsprägende Veröffentlichung von Sabine Hark und Paula-Irene Villa im Jahr 2015 anknüpfen zu dürfen. Die Aufnahme unseres Projekts in das Elisabeth-List-Fellowship-Programm für Geschlechterforschung der Universität Graz machte unsere gesamte Arbeit als Projektteam sowie das Symposion und die Buchveröffentlichung finanziell überhaupt erst möglich.

In diesem Zusammenhang danken wir der Sonderbeauftragten des Rektorats für Gleichstellung hinsichtlich Gender und Diversität, Ao. Universitätsprofessorin Dr.in Renate Dworczak, sowie dem Rektorat der Universität Graz und seinem Rektor Ao. Universitätsprofessor Dr. Martin Polaschek. Die Koordinationsstelle für Geschlechterstudien und Gleichstellung der Universität Graz unterstützte uns in vielen Zusammenhängen mit Rat und Tat; herzlich danken wir deren Leiterin Dr.in Barbara Hey sowie Dr.in phil. Lisa Scheer für die gute Zusammenarbeit. Weitere Unterstützung erfuhren wir durch die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Graz; wir danken insbesondere der Leiterin des Instituts für Alttestamentliche Bibelwissenschaft, Universitätsprofessorin Dr.in Dr.in h. c. Irmtraud Fischer, der Leiterin des Instituts für Religionswissenschaft, Universitätsprofessorin Dr.in Ulrike Bechmann sowie dem Dekan Universitätsprofessor Dr. Christoph Heil. Dem transcript Verlag und unserer dortigen Projektmanagerin Julia Wieczorek danken wir für die Begleitung des Buchprojekts und die Aufnahme in das Open-Access-Programm der Edition Politik. Und natürlich haben wir den Autor*innen zu danken, ohne deren Arbeit und Expertise dieser Band nicht hätte entstehen können.

Sonja Angelika Strube, Osnabrück

Rita Perintfalvi, Graz/Budapest

Raphaela Hemet, Graz

Miriam Metze, Wien

Cicek Sahbaz, Wien

Literatur

Gábor, György (2019): »Szekularizálódó vallás, szakralizálódó politika«, in: Élet és irodalom vom 18.4.2019, online unter: https://www.es.hu/cikk/2019-04-18/gabor-gyorgy/szekularizalodo-vallas-szakralizalodo-politika.html (vom 7.9.2020).

Kováts, Eszter/Põim, Maari (Hg.) (2015): »Gender as Symbolic Glue. The Position and Role of Conservative and Far Right Parties in the Anti-Gender Mobilizations in Europe«, Budapest: FEPS – Foundation for European Progressive Studies in Cooperation with the Friedrich-Ebert-Stiftung, online unter: https://library.fes.de/pdf-files/bueros/budapest/11382.pdf (vom 2.6.2020).

Lexikon Familie (2007): Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fragen, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh.

Martel, Frédéric (2019): Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan, Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Paternotte, David/Kuhar, Roman (2018): »Gender Ideology« in movement: Introduction, in: Kuhar, Roman/Paternotte, David (Hg.), Anti-Gender Campaigns in Europe. Mobilizing against Equality, New York: Rowman & Littlefeld, S. 1-22.

1Für die Richtigkeit der Inhalte und Zitationen sind, trotz sorgfältigen Gegenlesens durch die Herausgeberinnen, die Autor*innen verantwortlich.

2Zur Verwendung geschlechtergerechter Schreibweisen: Als Herausgeber*innen haben wir unseren Autor*innen freigestellt, welche Formen geschlechtergerechter Schreibweisen sie wählen. Daher variieren diese in den Artikeln. Insbesondere haben die Autor*innen sich zumeist für die in ihrem Land jeweils gängige Variante von LGBT/I/Q/* entschieden.

3Der Soziologe und Journalist Frédéric Martel stellt in seinem Buch Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan (2019) die These auf, dass Homophobie, LGBTIQ*-Feindlichkeit und Anti-Gender-Aktivismus einerseits sowie sexuelles Fehlverhalten bei gleichzeitig bestehenden, extrem rigiden Moralvorstellungen innerhalb von Klerus und Kurie andererseits in einem Bedingungsgefüge zueinander stünden, und deckte in diesem Kontext zahlreiche Fälle von Doppelleben, Promiskuität und sexueller Übergriffigkeit auf; u.a. erhebt er Vorwürfe gegen den Herausgeber des Lexikons Familie, Kardinal Trujillo (Martel 2019: 349-361). Der von Martels Untersuchungen aufgeworfenen Frage, in welchem systemischen Zusammenhang extrem rigide Moralvorstellungen einer Institution oder Gruppe und ihr Anti-Genderismus mit Doppelleben stehen und wie solche Zusammenhänge konstruktiv aufzubrechen sind, wird im Rahmen weiterer Forschungen zum Themenbereich nachzugehen sein.

Dynamiken der Vernetzung, Emotionalisierung, Mobilisierung

Autorität und (Un-)GleichheitDie ›natürliche‹ Geschlechterdifferenz als pseudo-demokratisches Stereotyp im aktuellen Rechtspopulismus

Oliver Hidalgo

1.Einleitende Bemerkungen

Dass rechtsradikale Akteure und Strömungen unabhängig von ihrer populistischen, extremistischen oder terroristischen Ausrichtung zumeist auch einer ›Anti-Gender-Agenda‹ frönen, ist seit Längerem dokumentiert (z.B. Kemper 2011; Lang 2015; Hennig 2018). Und doch hat die Vehemenz, mit der sich Rechtsradikale, Anti-Feministen und Anti-Genderisten inszenieren und wechselseitig ein konstantes Forum bieten (vgl. Leber 2020), mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das schlichtweg besorgniserregend ist. Viele rechtsextremistische Attentäter der letzten Jahre, Anders Breivik nicht anders als Stephan Balliet und Tobias Rathjen, die Mehrfachmörder von Halle und Hanau, oder auch Brenton Tarrant und Patrick Wood Crusius, die in Christchurch und El Paso vor allem Muslime bzw. Menschen mexikanischer Herkunft töteten, stellten in ihren Äußerungen und Pamphleten neben rassistischen, antisemitischen, islamophoben und verschwörungstheoretischen Überzeugungen ebenso eine krankhaft anmutende Misogynie und Frauenverachtung zur Schau. In den Stellungnahmen und Programmatiken rechtsradikaler Parteien und Bewegungen gehören antifeministische Entgleisungen mittlerweile überdies zur Tagesordnung. Woraus aber speist sich solcher Hass und entstehen derart krude Feindbilder? Und warum herrscht innerhalb des rechtsradikalen Diskurses über alle sonstigen Divergenzen hinweg gerade in der Bekämpfung und Diffamierung des Feminismus und ›Genderismus‹ weitgehend Einigkeit?

Dass die mit dem Begriff des ›Genderismus‹ assoziierte Geschlechterforschung, die neben der Gleichstellung von Männern und Frauen auch der Anerkennung sexueller Diversität Vorschub leistet, dermaßen ins Fadenkreuz von Rechtspopulist*innen und Rechtsextremist*innen geraten konnte, hat allem Anschein nach nur oberflächlich mit dem parallel stattfindenden ›Othering‹ von Feminist*innen, Gender-Forscher*innen und Migrant*innen zu tun. Mit anderen Worten, das vordergründige Symptom sollte an dieser Stelle nicht mit den dahinterstehenden, komplexeren Zusammenhängen und Korrelationen verwechselt werden. Stattdessen ist zu erhellen, warum die Genderfrage rechte Ideologien unterschiedlicher Couleur nicht weniger als in ihren Grundfesten erschüttert. Umso mehr verdient sie es, ins Zentrum der eigentlichen (sozialpsychologischen) Ursachenforschung gerückt zu werden.

Auf diesem Weg in Erinnerung zu rufen ist der Essay Unterscheiden und Herrschen von Sabine Hark und Paula-Irene Villa (2017), in dem die Autorinnen Sexismus, Rassismus und Heteronormativität als eng miteinander verwobene Denkmuster entlarven, die sich erst im Verbund zu einer geschlossen ›rechtsradikalen‹ Auffassung des Politischen ergänzen. Hieran anknüpfend will der vorliegende Beitrag die Behandlung der Geschlechter- und Genderfrage aus der internen Perspektive des Rechtsradikalismus heraus als eine Art ›Sündenfall‹ rekonstruieren, der die Infragestellung und gegebenenfalls intellektuelle wie rechtliche Auflösung weiterer traditioneller Hierarchien nach sich zieht. Der daraus abzuleitende Fokus auf eine Autoritätsvorstellung, die sich zwischen Hierarchie und Gleichheit ansiedelt, ist hier umso relevanter, als dadurch eine paradoxe Beziehung innerhalb der Demokratie selbst ins Visier gerät. Für das Verständnis des populistischen Zweigs der Anti-Gender-Agenda, der sich durch seinen formalen Respekt gegenüber demokratischen Institutionen von extremistischen und terroristischen Ablegern abhebt, dabei aber gleichwohl nur eine ›pseudodemokratische‹ Attitüde an den Tag legt, dient dieser Fokus als tauglicher Schlüssel.

2.Der ›linke‹ Egalitarismus als übergreifendes Feindbild rechtsradikaler Einstellungen und die Besonderheit des ›kleinen Unterschieds‹

Den Ausgangspunkt unserer theoriegeleiteten Überlegungen bildet in der Folge die grundsätzliche Unterscheidung, die einst Norberto Bobbio (1994) zwischen rechten und linken politischen Ideologien auf Basis seiner jahrelangen Sichtung und Analyse einschlägiger Zeitungs- und Zeitschriftenartikel tätigte. Demnach sei die Haltung zum Ideal der Gleichheit ausschlaggebend für die Ausbildung einer politisch ›rechten‹ oder ›linken‹ Gesinnung, argumentiere die politische Linke in ihrer Tendenz doch stets egalitaristisch, während das rechte Lager umgekehrt bevorzugt antiegalitaristische Positionen vertrete. Idealtypisch wirkt sich dies dahingehend aus, dass sich ›Linke‹ vor allem für sozialen Ausgleich, die Stärkung der Rechte von Minderheiten sowie für all das einsetzen, was (noch) bestehende Ungleichbehandlungen von Menschen und Bürger*innen verringert oder zur Gänze abbaut, wohingegen ›Rechte‹ anhand vorhandener Unterschiede hinsichtlich der ›Natur‹, Herkunft, kulturellen Identität oder Leistungsfähigkeit von Menschen für gewöhnlich ableiten, dass sich solche Ungleichheiten auch in einer divergenten Auf- und Zuteilung von Rechten und Vorteilen niederschlagen sollen (ebd.: 77ff.).1

›Rechtes‹ Denken steht und fällt insofern mit der Vorstellung der Existenz unaufhebbarer Differenzen zwischen den Menschen, welche die einschlägigen Exponenten und Akteur*innen etwa an den Kriterien der Ethnie, Kultur und Nationalität, aber auch des Geschlechts, Alters oder des ökonomischen Status festmachen. ›Linkes‹ Denken bezieht solche vorhandenen Unterschiede zwar ebenfalls in die eigenen Überlegungen mit ein, will sie jedoch – etwa mithilfe von Quotenregelungen, einer Politik der Umverteilung u. ä. – so weit wie möglich abbauen und sie eben nicht als Rechtfertigung für divergente soziale Rollenmuster oder gar faktische Diskriminierungen gelten lassen. Das heißt, in wesentlichen Fragen der Wirtschafts-, Sozial- oder Familienpolitik sowie insbesondere in der Einwanderungs-, Migrations- und Flüchtlingspolitik messen ›Linke‹ im Normalfall dem entscheidende Bedeutung zu, was Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Kultur, Sprache oder ihren sonstigen Identitätsmerkmalen eher ›gleich‹ statt ›ungleich‹ macht. Hingegen heben ›Rechte‹ nahezu spiegelbildlich das ›Unterschiedliche‹ gegenüber dem ›Gemeinsamen‹ im Vergleich zu den Angehörigen der ansässigen Mehrheitsgesellschaft hervor, wenn es darum geht, Rechte und Leistungen an Zuwanderer, Flüchtlinge, Asylbewerber*innen und/oder andere Minderheiten einzuräumen.

Zwei Aspekte, die im derzeitigen Kontext noch keine große Rolle spielen, im Verlauf der Argumentation aber wichtig werden, sind an dieser Stelle zumindest kurz zu erwähnen. Zum einen betrifft dies den Umstand, dass sich ›rechte‹ und ›linke‹ Positionen durchaus vermischen können, wenn parallel Gleiches und Ungleiches unterstrichen wird. Dies wäre z.B. der Fall, wenn eine ›rechte‹ Position den (angeblich) unaufhebbaren Unterschied zwischen Christ*innen und Muslim*innen daran festmachen will, dass patriarchalisch orientierte Migrant*innen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern als unfähig eingestuft werden, die (linke) Position einer emanzipatorischen Egalität zwischen Frauen und Männern zu goutieren. Auch in der Ideologie des ›Ethnopluralismus‹ (vgl. de Benoist 2011), wonach sich in ethnisch-kultureller Hinsicht homogen gedachte ›Völker‹ auf ›gleicher‹ Ebene feindlich und mit inkommensurablen Wertvorstellungen gegenüberstehen (was eine multikulturell ausgerichtete Integrationspolitik von vornherein zum Scheitern verurteilt), amalgamiert sich offenkundig ›rechtes‹ mit ›linkem‹ Gedankengut.2 Zum anderen zeigt sich anhand des Kriteriums von Bobbio (1994: 83ff.), dass sich die politische Auseinandersetzung zwischen ›Rechts‹ und ›Links‹ über Ausmaß und Grenzen von Gleichheit und Ungleichheit entweder in einer demokratischen (d.h. gewaltlosen, nach rechtsstaatlichen Regeln ablaufenden und mit Respekt vor der Freiheit der anderen ausgestatteten) Weise abspielt oder aber in einer extremistischen Version, die eine solche Kanalisierung des politischen Kampfes nicht einhält. Die Kontroverse der ›Linken‹ und ›Rechten‹ kann also zwar im Rahmen der Demokratie stattfinden, letzteren gegebenenfalls aber auch sprengen.

Doch kehren wir nach diesem Intermezzo zur Ausgangsüberlegung zurück, nämlich, dass eine ›rechte‹ Grundgesinnung auf einem als unauflöslich angenommenen Unterschied förmlich aufsattelt. In dieser Hinsicht ist schwerlich zu übersehen, dass aktuell in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung die meisten althergebrachten ›Ungleichheiten‹, aus denen sich ›rechte‹ Einstellungen und Ideologien seit jeher gespeist haben, an Bedeutung einbüßen. Wo jemand geboren und aufgewachsen ist, welche Muttersprache er oder sie hat, welche lokalen kulturellen Prägungen wirksam sind, ist in der heutigen mobilen Ära der digitalisierten Kommunikation, in der die klassischen Grenzen von Zeit und Raum ständig obsoleter werden, nüchtern betrachtet immer weniger relevant. Mögen die genannten Punkte subjektiv für die eigene Identität nach wie vor zentral sein, so entscheiden sie intersubjektiv doch nicht mehr auf eine Weise über sozialen Erfolg und Misserfolg, wie dies – wenigstens gefühlt – in früheren Phasen der Menschheitsgeschichte der Fall war, im Gegenteil: Nach der vielzitierten Studie von Goodhart (2017) ist es diesbezüglich mittlerweile auschlaggebend geworden, sich von seinen sozialen ›Wurzeln‹ lösen und dem kosmopolitischen, polyglotten Trend der Gegenwart anpassen zu können.3 Und obwohl die diesbezügliche Unterscheidung zwischen den ›Somewheres‹ und den ›Anywheres‹4 sicherlich zu holzschnittartig ist, um die komplexen Hintergründe des Aufschwungs rechtsradikaler Bewegungen in Europa in den letzten Jahrzehnten plausibel zu machen, leuchtet immerhin ein, warum traditionell ›rechte‹, anti-egalitaristische und anti-universale Überzeugungen dadurch in die Defensive geraten. Hinzu kommt, dass sich die Existenz eines Kriteriums, entlang dem sich rechte Ideologien häufig genug konstituiert und entzündet haben, nämlich die »Rasse«, wenigstens von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus erledigt hat. Dass die vorhandenen genetischen und phänotypischen Unterschiede zwischen den Menschen viel zu klein sind, um sie nach Rassengruppen einzuteilen, steht biologisch inzwischen außer Zweifel.5 Und selbst wenn diese Erkenntnis von rechtsradikaler Seite nach wie vor geleugnet wird bzw. sich eine kulturalistische Wende des Rassismus abzeichnet (Balibar 2007), von der vorhin im Zusammenhang mit dem ›Ethnopluralismus‹ bereits die Rede war, ist dennoch evident, dass das ›rechte‹ Pochen auf die natürliche Ungleichheit der Menschen durch weltweit angelegte molekularbiologische und populationsgenetische Studien an Überzeugungskraft verloren hat.

Im Vergleich dazu ist der biologische Unterschied der Geschlechter eine der wenigen Kategorien (wenn nicht sogar die einzige), auf die sich ›rechte‹ Ideologien trotz der soeben kursorisch skizzierten Entwicklungen in den Bereichen von Wissenschaft, Technik, Geographie und Kultur relativ ungestört und zumindest in der Binnenperspektive überzeugend berufen können. Zwar hat es bekanntlich auch schon Versuche gegeben, nicht nur die sozialen Geschlechterrollen (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) als sozial konstruiert darzustellen,6 gleichwohl ist die ›natürliche‹ Differenz zwischen Mann und Frau wenigstens einem populären (Vor-)Urteil nach unverändert intakt und sogar genetisch evident nachweisbar. Es kann daher kaum überraschen, wenn sich Anhänger*innen von ›rechten‹ Doktrinen und Programmen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verstärkt auf die scheinbar so unmissverständliche biologische Geschlechterdifferenz konzentrierten. Von diesem intellektuellen Ankerpunkt aus ließ sich nicht weniger als die ›rechte‹ Position der ›Ungleichheit‹ im Ganzen aufrechterhalten, konnte doch den ›Linken‹, die im Sinne ihres egalitären Ideals Diskriminierungen wegen Herkunft und Abstammung ebenso bekämpften wie Benachteiligungen wegen der geschlechtlichen Identität, vorgeworfen werden, es mit der ›Gleichmacherei‹ zu übertreiben und gar keinen Sinn für die Unaufhebbarkeit von Unterschieden zwischen den Menschen ausgebildet zu haben. Wenn daher seit Längerem moniert wird, dass Rassismus und Antifeminismus letztlich derselben ›rechten‹ Denkungsart entspringen (Dietze 2017), weshalb ›linke‹ Identitätspolitik umgekehrt im Normalfall antirassistische und feministische Perspektiven miteinander vereint (Hidalgo 2019 und 2020a), dann liegt dies in erster Linie daran, dass Anti-Gender-Kampagnen als genereller Ausdruck der ›rechten‹ Abwehrstellung gegen die Gleichheit als solche verstanden werden können und müssen (Kuhar/Paternotte 2017). In der Arena des ›Geschlechterkampfes‹ vermochte es die ›rechte‹ Gesinnung dem eigenen Selbstverständnis nach, argumentatives Terrain zu kompensieren, das anderenorts wie geschildert gegenüber den ›Linken‹ in gesellschaftspolitischer Hinsicht ›verloren‹ gegangen war. Die Dringlichkeit, welche die Geschlechterfrage sowie das Insistieren auf ihre binären Codierung für die programmatisch eigentlich unter Druck geratene politische ›Rechte‹ in der jüngeren Vergangenheit entfaltete – zumindest in einigen groben Zügen sollte sie nunmehr umrissen sein.

3.Autorität und ›natürliche‹ (Un-)Gleichheit: Die Geschlechterdifferenz als Identitätsmarkierung des heutigen Rechtspopulismus

Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2 angestrengten Überlegungen leuchtet es unmittelbar ein, warum die Genderforschung zielsicher zum erklärten Feindbild von rechtsradikalen und rechtspopulistischen Akteur*innen avancieren konnte. Indem der Begriff ›Gender‹ für eine nicht-natürliche, d.h. post-essentialistische Fassung von Geschlecht und Sexualität steht (Hark/Villa 2015: 6), werden jene Kategorien durch die entsprechende Forschungsrichtung sowie die damit engmaschig verknüpfte politische Agenda nicht mehr als zuvorderst naturwissenschaftlich zu erklärendes biologisches Phänomen veranschlagt, sondern in erster Linie als soziokulturell bedingt. Damit richten sich Genderstudien prinzipiell gegen jede wissenschaftliche und/oder politische Auffassung, die aus dem biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern ebenso vorgezeichnete, im Zweifelsfall hierarchisch strukturierte gesellschaftliche Rollenbilder ableiten wollen. Etwas salopp kann man daraus folgern, dass die Gender Studies performativ exakt das verinnerlicht haben, was den diskursiven Kerngehalt des (linken) Gleichheitsideals überhaupt ausmacht: Da menschliche Individuen und ihre Identitäten grundsätzlich durch ihre Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, d.h. mithin durch ihre ›Ungleichheit‹ gekennzeichnet sind,7 haftet der Idee der Gleichheit – wie vor allem Cornelius Castoriadis (2006) unterstrichen hat – a priori etwas ›Imaginäres‹ an. Wie es ideengeschichtlich bereits Alexis de Tocqueville (1987: 270) pointierte, ist die Gleichheit daher als eine Art Einbildung zu verstehen, die alle real existierenden physischen, psychischen und charakterlichen Divergenzen zwischen den Menschen nivelliert, indem sie ihnen innerhalb ihres staatlich und gesellschaftlich organisierten Zusammenlebens schlicht keine politische, rechtliche und bisweilen nicht einmal eine soziale Relevanz zubilligt. Der Tocqueville-Interpret Marcel Gauchet (1990: 180) hob darum überzeugend hervor, dass die (soziale Organisation der) Gleichheit unbedingt an den individuellen und kollektiven »Willen« gebunden ist, die phänotypischen Hindernisse respektive ›Ungleichheiten‹ der Natur zu überwinden, »ungeachtet der oberflächlichen Merkmale, ja sogar in striktem Gegensatz zu den offenkundigen Begebenheiten«. Angesichts dessen lässt sich die oben mit Bobbio rekapitulierte politische Auseinandersetzung zwischen ›Rechten‹ und ›Linken‹ ebenso als Uneinigkeit darüber verstehen, welchen ›natürlichen‹ Unterschieden zwischen den Menschen auch soziokulturelle (oder sogar rechtliche) Bedeutung erwachsen soll und welchen nicht.

Innerhalb dieser Konstellation ist nun der Blickwinkel des ›Genderismus‹ als prototypisch für eine ›linke‹ politische Positionierung anzusehen, die das soziale Zusammenleben nicht von naturgegebenen Unveränderlichkeiten geprägt annimmt, sondern als offenen Raum begreift, in dem sich geschlechtliche und soziale Identitäten frei und unabhängig von biologisch determinierten Mustern herausbilden (sollen). So wie demnach der biologische Geschlechterunterschied in idealtypischer Weise das fundamental antiegalitäre, autoritäre politische Denken der ›Rechten‹ anleitet, so impliziert der Gender-Fokus auf das sozial konstruierte Geschlecht eine Perspektive, die das egalitäre, antiautoritäre Prinzip intellektuell gewissermaßen auf die Spitze treibt und dabei anscheinend bestehende ›natürliche‹ Grenzen der Gleichheit aushebelt.

Dass sich ›Rechte‹ und ›Linke‹ deswegen bevorzugt an der Frage von sex und gender entzweien und sich von der jeweiligen Sichtweise des anderen oftmals immens provoziert fühlen, liegt auf der Hand. Vor allem aber wird daran nur umso deutlicher, warum gerade die Genderkategorie von ›rechter‹ Seite als Bedrohung wahrgenommen wird: Mit ihr artikuliert und manifestiert sich nicht weniger als eine Haltung, die dem ›Lebenselixier‹ der ›Rechten‹ – der natürlichen Ungleichheit – den von dieser Seite postulierten legitimatorischen Gehalt generell abspricht. Dadurch unterstellt der ›Genderismus‹ potenziell auch alle anderen gesellschaftlichen Fragen, für welche ›natürliche‹ Unterschiede relevant sein könnten (wie etwa in der Migrationspolitik), dem Zugriff des Gleichheitsideals. Mit anderen Worten, wenn diese anscheinend so offenkundige Bastion der Autorität und Ungleichheit erst einmal gefallen ist, ist kaum mehr auszumachen, von welchem alternativen archimedischen Punkt aus der antiegalitäre ›Wille‹ von ›rechts‹ noch überzeugend zu justieren wäre, auch weil die biologische Geschlechterdifferenz vonseiten der Naturwissenschaft derzeit noch am ehesten Unterstützung erfährt (z.B. Kutschera 2016).

Schon aufgrund der nach wie vor virulenten politischen Auseinandersetzung zwischen ›Rechts‹ und ›Links‹, die von manchen Beobachtern zu Unrecht in die Fußnoten der Geschichte verabschiedet wurde, beziehen ›rechte‹ Strömungen heute ein gravierendes Maß ihrer (kollektiven) Identität aus dem strikten Festhalten an Geschlechterdifferenzen und -hierarchien.8 Für den Rechtspopulismus – hier verstanden als politisch ›rechte‹ Agenda der Ungleichheit, die die Verfahren und Institutionen der Demokratie formal respektiert und versucht, die eigenen Ziele auf ›demokratischem‹ Wege durchzusetzen – ist jene ›Anti-Gender-Identität‹ jedoch noch aus einem zusätzlichen Grund besonders attraktiv: Gemeint ist der Umstand, dass Demokratien für sich genommen bereits eindeutig dem ›linken‹ Ideal der Gleichheit verpflichtet sind.9 Für Rechtspopulist*innen verlangt dies, ihre Forcierung der Ungleichheit auf eine signifikant gemäßigtere und mit den egalitären Imperativen der Demokratie zumindest bis zu einem gewissen Grad abgeglicheneren Weise voranzutreiben als dies etwa für Rechtsextremisten oder Rechtsterroristen gelten würde. Das Beharren auf den biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern (und den hieraus gegebenenfalls resultierenden gesellschafts- und familienpolitischen Forderungen) ist in diesem Zusammenhang zweifelsohne nachvollziehbarer mit den gewandelten, nicht-natürlichen, verfahrensorientierten Autoritätsvorstellungen des demokratischen Rechtsstaates in Einklang zu bringen, als dies etwa für rassistisch motivierte gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit der Fall wäre, wie sie in rechtsextremistischen Kreisen gemeinhin anzutreffen ist. Auch aus diesem (strategischen) Grund, weil sich im Hinblick auf die Geschlechterfrage (ihrem Anschein nach demokratieaffine) kulturkonservative und rechtspopulistische Positionen oft kaum voneinander unterscheiden lassen, ist die Kritik am ›Genderismus‹ zur Domäne ›rechtsautoritären‹ Denkens schlechthin mutiert.

Hinzu kommt ein nicht unwesentliches Detail in der üblichen Programmatik des Rechtspopulismus, dem in der öffentlichen und wissenschaftlichen Reflexion oftmals nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Rede ist hier von der inneren Paradoxie des Rechtspopulismus, die eigene, autoritär-antiegalitäre Ideologie durch Entfesselung der egalitären, tendenziell anti-autoritären Prinzipien der Demokratie – die Berufung auf die Stimme des ›gemeinen‹ Volkes, die Kultivierung eines Elite-Volk-Gegensatzes, die Instrumentalisierung des Majoritätsprinzips gegenüber rechtsstaatlich eingezogenen Grenzen demokratischer Verfügungsgewalt etc. – durchsetzen zu wollen. Dies führt nicht nur dazu, dass sich rechtspopulistische Agitatoren vom Schlage Donald Trumps, Silvio Berlusconis, Victor Orbàns oder Andrej Babiš, die zumeist selbst zur (ökonomischen) Elite eines Landes zählen und obendrein mit vergleichsweise autoritären Einstellungen aufwarten, mit objektiv überschaubarem Erfolg als ›Männer aus dem Volk‹ ausgeben, sondern dass Rechtspopulisten zudem in der Regel nach ideologischen Mitteln Ausschau halten (müssen), um ihrer Programmatik ein höheres Maß an Kohärenz und Konsistenz zu verleihen. Die Geschlechterfrage bietet sich in dieser Hinsicht an, weil die rechtspopulistisch motivierte (pseudoegalitäre) ›Entfesselung‹ des ›Volkswillens‹ in der Berufung auf die ›natürliche‹ Hierarchie zwischen Mann und Frau die zugeschriebene Autorität der ›Natur‹ für sich zu nutzen vermag, um insgesamt mit einer vordergründig ›ausgewogenen‹ Agenda aufzuwarten. Was Rechtspopulist*innen durch das Insistieren auf stereotypische Geschlechterhierarchien tun, ist somit, sich in einer Art Doppelbewegung auf der einen Seite als authentische und glaubwürdige Repräsentant*innen des demokratischen ›Gleichheitsideals‹ zu inszenieren, um auf der anderen Seite die ›natürlichen‹ Grenzen solcher Gleichheit (wie im Übrigen auch der Demokratie) parallel zu lancieren. Die ›rechte‹ Überzeugung einer allgemeinen Ungleichheit wird entlang des Katalysators (oder auch des Lackmustests) der Geschlechterdifferenz folglich einigermaßen plausibel innerhalb des Rahmens der Demokratie verortet.

4.Fazit

Wenn es stimmt, dass – mit Jan-Werner Müller (2016) – das eigentliche Merkmal des Populismus in der antipluralistischen Grundnote liegt, mit der seine Protagonist*innen die (kulturell-ethnische, nationale oder soziale) Homogenität ›des‹ Volkes beschwören, dann lässt sich der radikale Kampf, den rechtspopulistische und rechtsextremistische Bewegungen gegen den in den letzten Jahren erreichten Ausbau der Rechte von Frauen und Homosexuellen sowie die Infragestellung von binären Geschlechteridentitäten führen, unschwer als frappierender Ausdruck hiervon interpretieren. Und wenn die gleichen rechtspopulistischen und -extremen Agenten und Agenden dabei oftmals Unterstützung von religiös-fundamentalistischen Radikalen erfahren, die auf ihre Weise im Namen einer ›natürlichen‹, ›gottgewollten‹ Geschlechterhierarchie gegen die genannten antiautoritären Liberalisierungsschübe der Gesellschaft opponieren, dann handelt es sich keineswegs um eine primär strategische Partnerschaft. Stattdessen ist das vormodern anmutende, auf einer natürlich-religiösen Ordnung fußende antifeministische Geschlechter- und Familienbild de facto eine Gemeinsamkeit, die religiös-autoritäre Fundamentalisten mit Rechtsradikalen verschiedener Couleur über alle ansonsten bestehenden Grenzen hinweg miteinander teilen (vgl. Paternotte 2015; Kuhar/Paternotte 2017; Hennig 2018; Hidalgo 2020b).

Dass sich rechtspopulistische Politiker*innen und Parteien aktuell zunehmend auf religiöse Traditionsbestände und Werte berufen (vgl. Marzouki et al. 2016; Brubaker 2017; Hennig/Weiberg-Salzmann, 2020) – und das, obwohl die meisten einschlägigen Gruppierungen eigentlich säkular ausgerichtet sind – hat somit nicht allein mit dem evidenten Bemühen zu tun, zur Rechtfertigung einer rigoros restriktiven Migrations- und Einwanderungspolitik das Narrativ des angeblich unauflösbaren Gegensatzes zwischen Orient und Okzident, ›christlichem Abendland‹ und ›muslimischem Morgenland‹ von Neuem heraufzubeschwören. Vor dem Hintergrund der im vorliegenden Beitrag angestrengten theoretischen Überlegungen sollte vielmehr plausibel geworden sein, warum eine hierarchisch-autoritäre Geschlechterordnung im Normalfall einen integralen Bestandteil rechtspopulistischer Programme bildet, zu deren Legitimierung sich die Bedienung bei den wenigstens teilweise stark antifeministisch imprägnierten religiösen Traditionsbeständen nahezu anbietet (Minkenberg 2018).

Die davon angeregte, empirisch vielfach zu beobachtende Überschneidung zwischen ultrakonservativ-religiösen und rechtspopulistischen bzw. -radikalen Sichtweisen mag dabei zwar auch manchen merkwürdigen Schulterschluss hervorbringen, etwa wenn Rechtspopulist*innen Kritik an Muslimen wegen deren angeblich religiös begründeter (und dadurch vermeintlich kaum abzulegender) Frauenfeindlichkeit üben. Unter dem Strich aber ändert die sporadische Instrumentalisierung der Frauenemanzipation durch rechtspopulistische, fremdenfeindliche Akteure im Dienst rassistisch-islamfeindlicher Ausgrenzungspolitiken (Hark/Villa 2017) nichts an der Wahrnehmung, dass Antifeminismus und Antigenderismus in der Regel mit rechtspopulistischen und rechtsradikalen Auffassungen konform gehen. Dass vor allem die rechtspopulistischen Strömungen durch ein Changieren zwischen der Autorität der ›Natur‹ und Konzessionen an die egalitären Postulate der ›Kultur‹ die Nähe zu demokratischen Wertvorstellungen formal wahren, ist dabei kein Grund zur Beruhigung, im Gegenteil: Die Inanspruchnahme der Demokratie durch den Rechtspopulismus droht dadurch umso durchschlagender zu gelingen.

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1Ideengeschichtlich erkennt Bobbio folglich im Diskurs über die Ungleichheit (1755) das programmatische Manifest ›linken‹ Denkens, weil Rousseau dort von der natürlichen Gleichheit aller Menschen ausgehe, um im Gegenzug alle sozialen Ungleichheiten und Hierarchien als künstliche, kulturell ausgebildete und ihrem Grund nach illegitime Produkte des politischen Zusammenlebens zu kritisieren. Den Antipoden und Ahnherrn aller ›rechten‹ politischen Ideologien vermutet Bobbio hingegen in Nietzsche, der in seinem Werk gerade umgekehrt die Nivellierung der Unterschiede zwischen Herren- und Sklavenmenschen als eigentliche Korruption der Gesellschaft begreift.

2Zu dieser neuen Art des ›ethnopluralistischen‹ Rassismus, der zumindest vordergründig ohne die Einteilung von überlegenen und unterlegenen ›Rassen‹ auskommt, siehe auch Spektorowski 2003.

3Dass gerade der rechtskonservative Rückbezug auf diese ›Wurzeln‹ in einer Zeit zunimmt, in der die Bedeutung der kulturellen ›Heimat‹ als solche in Frage gestellt ist (vgl. Bettini 2018), ist bei näherem Hinsehen weit weniger paradox, als es zunächst vielleicht wirkt. Vielmehr sollte auf der Hand liegen, dass die infolge globaler Migrationsbewegungen wachsende Beobachtbarkeit von Alterität zum Nachdenken über die ›eigene‹ Identität sowie zu einem kulturkonservativen ›Backlash‹ animiert (ebd.: 12). Ausführlich dazu Norris/Inglehart 2019.

4Mithilfe dieses Begriffspaares differenziert Goodhart zwischen den ›Irgendwo-Menschen‹, die aufgrund ihrer lokalen oder regionalen Orientierung in der Regel weniger gebildet und finanziell schlechter ausgestattet sind (und Zuwanderer deshalb häufig als Bedrohung für die eigenen Identitäten und Besitzstände perzipieren), und den hochgebildeten ›Überall-Menschen‹, die sich durch Mobilität, Flexibilität, höhere Einkommen sowie ihre generelle Offenheit für Veränderungen auszeichnen, was sie weniger anfällig für rechtspopulistische Botschaften macht.

5Hierzu etwa Lewontin et al. 1988 und Cavalli-Sforza/Cavalli-Sforza 1996. Siehe auch die Jenaer Erklärung. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft (2019).

6Hierfür sei nach wie vor an die bahnbrechende Neuformulierung des (Post-)Feminismus erinnert, die Judith Butler in Gender Trouble (1990) geleistet hat.

7Folgerichtig besteht die rechtliche ›Identitätsfeststellung‹ eines Individuums eben darin, mithilfe registrierter ›Personalien‹ dessen Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit zu bekräftigen.

8Zur theoretischen Unterfütterung ließe sich an dieser Stelle zusätzlich auf die Social Identity Theory (Tajfel 1982; Tajfel/Turner 1986) rekurrieren, wonach eine positive Unterscheidung der eigenen sozialen Gruppenidentität im Normalfall immer auf der Abgrenzung von einer relevanten, negativ konnotierten Out-Group beruht. Die Identitäten von ›Rechten‹ und ›Linken‹ würden sich demnach wechselseitig voraussetzen.

9Ideengeschichtlich hierzu z.B. Hidalgo 2014: Kap. 3.1.

Anti-Gender-Diskurse – vom ›gesunden Menschenverstand‹ zur ›Politik mit der Angst‹

Stefanie Mayer

1.Ausgangspunkte

Die Bedeutung von heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und patriarchalen Geschlechterverhältnissen sowie von vergeschlechtlichten Sprachbildern, Diskursen und Symbolen für den weltweiten Aufstieg autoritär-populistischer, rechter und rechtsextremer Parteien, Bewegungen und Politiker*innen wurde in den letzten Jahren in der (sozialwissenschaftlichen) Geschlechterforschung breit aufgegriffen.1 In diesem Rahmen werden eine Reihe von auf den ersten Blick widersprüchlichen, tatsächlich aber eng miteinander verschränkten Phänomenen diskutiert: Rassistische Abwehr und ethnisierter Ausschluss legitimieren sich heute nicht zuletzt durch die Instrumentalisierung (sexualisierter) Übergriffe bzw. von Sexismus und Homophobie seitens migrantischer Anderer, wodurch im Umkehrschluss europäische Gesellschaften als im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse und Sexualitäten gleichberechtigt und liberal konstruiert werden (Dietze 2019; Hark/Villa 2017). In weiterer Folge dient die vermeintlich bereits erreichte Emanzipation auch der Abwehr aktueller feministischer Forderungen – damit entpuppen sich die rassistisch aufgeladene Betonung von Frauenrechten und die neue Virulenz antifeministischer, homo- und transphober Positionen in rechter Propaganda als zwei Seiten ein und derselben Medaille (Fassin 2020; Graff/Kapur/Walters 2019; Hennig 2018; McEwen 2018). Der neue Antifeminismus fokussiert auf die Abwehr des Begriffs Gender und der damit verbundenen De-Naturalisierung und Ent-Essentialisierung von Geschlecht als – seines eigentlichen Sinns weitestgehend entleertes – Symbol für die Ablehnung gesellschaftlicher Liberalisierungstendenzen insgesamt (Sauer 2017). Der vorliegende Beitrag fragt nach diskursimmanenten Gründen für die stark gestiegene Bedeutung von Anti-Gender-Diskursen für rechtspopulistische Strategien in den letzten zehn bis 15 Jahren. Warum wurde diese spezifische Artikulation antifeministischer, antiqueerer und homophober Positionen, die noch zur Jahrtausendwende kaum über fundamentalistisch-katholische Kreise hinaus bekannt war, zu einem zentralen Kampffeld rechter, autoritärer und rechtsextremer politischer Akteur*innen?

Empirisch basieren meine Überlegungen auf Analysen von publizierten und öffentlich zugänglichen Texten österreichischer Autor*innen und Gruppierungen2; die transnationale Vernetzung im aktuellen Antifeminismus3 führt allerdings dazu, dass global sehr ähnliche diskursive Muster bedient werden. Konzeptuell bilden Analysen der Bildung neuer rechter politisch-religiöser Allianzen im Rahmen von Anti-Gender-Mobilisierungen den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Anja Henning (2018) hat in diesem Zusammenhang besonders auf verbindende Ideologie-Elemente hingewiesen, darunter die Essentialisierung von Zweigeschlechtlichkeit und patriarchalen Geschlechterverhältnissen sowie von heteronormativen Sexualitätsregimen. Auf dieser Basis gebildete assoziative Ketten erlauben unterschiedliche thematische Anknüpfungspunkte für verschiedene Akteur*innen mit ihren je partikularen Anliegen. Gender lässt sich in diesem Sinn in Anlehnung an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Laclau/Mouffe 2014) als »leerer Signifikant« verstehen, der ein fast unbegrenztes ›Wuchern‹ von Anti-Gender-Diskursen in thematischer Hinsicht erlaubt (Mayer/Sauer 2017). Dieser neue Antifeminismus bietet sich aber auch als »Scharnierdiskurs« (Lang 2015) in einem übertragenen Sinn an. Er erlaubt nicht nur ein gemeinsames Agieren von ideologisch unterschiedlich positionierten Akteur*innen, sondern bildet auch ein ›Scharnier‹, das Alltagswissen und Alltagserfahrungen, den sogenannten ›gesunden Menschenverstand‹, mit Elementen rechter und rechtsextremer Ideologien verschränkt.

2.Antifeminismus als rechtspopulistischer Diskurs

Mit Sebastian Reinfeldt verstehe ich Rechtspopulismus als spezifische politische Strategie, die »eine politische Formation mit Teilen der Bevölkerung verbindet« (Reinfeldt 2000: 46). Rechtspopulismus ist damit weder eine ausgeprägte politische Ideologie, noch ein bloßer politischer Stil, sondern vielmehr ein spezifisches Weltbild, das Politik – themenunabhängig – in Freund-Feind-Schemata erfasst (vgl. dazu auch Cas Muddes Definition von Rechtspopulismus als »dünner Ideologie«; Mudde 2004, 544 im Anschluss an Freeden 1998). Diese Schemata können mit unterschiedlichen ideologischen Versatzstücken gefüllt werden, weisen aber besondere Affinität zu rechtsextremen Ideologien und deren manichäischen Weltbildern auf, während sie pluralistischen Vorstellungen schon auf struktureller Ebene widersprechen.

Veranschaulichen lässt sich die rechtspopulistische Dynamik in Form eines Vierecks (siehe Grafik 1). Auf der linken Seite stehen dabei das rechtspopulistische »Wir« (die In-Group, also die rechtspopulistische Führungsperson, die jeweilige Gruppierung und ihre Anhänger*innenschaft) sowie die Adressat*innen des Diskurses, also jene Teile der Bevölkerung, zu denen eine Verbindung hergestellt werden soll; neben dem ›Volk‹ des traditionellen Rechtspopulismus, lassen sich hier auch andere Adressierungen (z.B. als ›echte Österreicher‹ oder ›unsere Familien‹) kategorisieren. Wesentlich ist: Die Verbindung, die Rechtspopulist*innen zu ihren Adressat*innen reklamieren, ist keine repräsentative Beziehung, keine Vertretung spezifischer Interessen, sondern eine identitäre, die die Einheit von Volk und Führung proklamiert.4 Reinfeldt (2000: 132ff) bezeichnet diese diskursiv konstruierte Position der Adressat*innen als »Nicht-Die-Da« – in scharfem Kontrast zu den »Die-Da«, die (auf der oberen rechten Seite des Vierecks) die Position der vermeintlichen oder tatsächlichen Eliten markieren. Diese Eliten arbeiten in der rechtspopulistischen Vorstellungswelt unmittelbar gegen die Interessen des ›Volkes‹ und vertreten stattdessen jene der »Nicht-Wir« – jener Anderen, die als unmittelbare Konkurrenz und Bedrohung der Adressat*innen wahrgenommen werden. Eliten und Andere werden ebenso unmittelbar und identitär verbunden wie umgekehrt die rechtspopulistische Führungsfigur mit dem von ihr vertretenen Volk.5 Die ›Besetzung‹ der vier Positionen, die konkreten Anrufungen und Feindbilder, variieren je nach Thema und Kontext, doch die Diskursstruktur bleibt unberührt.

Grafik 1

2.1›Wir‹ und ›die Anderen‹ – zur Struktur antifeministischer Diskurse

Wie wird diese grundlegende Struktur rechtspopulistischer Diskurse nun in Anti-Gender-Diskursen gefüllt? Beispielhaft lässt sich das am vom FPÖ-Bildungsinstitut herausgegebenen Handbuch freiheitlicher Politik (2013)6 zeigen. Im Kapitel »Gleichberechtigung statt ideologischer Geschlechtsumwandlung« wird gleich im ersten Satz die Position des ›Wir‹ geklärt: »Die Einführung von ›Gender Mainstreaming‹ als Leitprinzip von Politik und Gesellschaft wird von uns Freiheitlichen abgelehnt.« (FPÖ Bildungsinstitut 2013: 135) In den folgenden Sätzen zeigt sich, wer ›Die-Da‹ sind: die EU mit dem Vertrag von Amsterdam, die dafür verantwortlich ist, dass »›Gender Mainstreaming‹ […] im ›Top-Down-Prinzip‹ durchgepeitscht werden« soll (ebd.). Ziel sei dabei nicht etwa die Gleichstellung der Geschlechter, sondern »schlussendlich die Zerstörung der Identitäten – sowohl in gesamtgesellschaftlicher, kultureller Hinsicht als auch auf individuell-geschlechtlicher Ebene« (ebd.: 136). Folglich sind auch die Zerstörung der Familie und des heterosexuellen Zusammenlebens Ziele von Gender Mainstreaming. Konkretisiert werde dieses Bedrohungsszenario in geschlechtssensibler Kindergartenpädagogik, die nicht nur Mädchen zu kämpferischem Verhalten animieren, sondern – schlimmer – Buben das spielerische Einnehmen weiblicher Rollen erlauben solle. Die Rolle der ›Nicht-Wir‹ übernehmen im vorliegenden Fall zunächst »›IdeologInnen‹ der Gender-Theorie«, die behaupten, »dass man zu Mann und Frau erst gemacht wird« (ebd.: 135). Weiter heißt es, sie seien die ideologischen Nachfahr*innen der »Marxisten-Leninisten«, die sich ebenfalls die Schaffung des »›Neuen Menschen‹ […] auf die Fahnen geheftet hatten« (ebd.: 136). Damit nicht genug, hat sich diese linke Ideologie auch noch mit dem »ausschließlich am Profit orientierten globalen Kapitalismus verbündet« (ebd.: 136).7 Veranschaulichen lassen sich die hier beispielhaft herausgearbeiteten diskursiv konstruierten Positionen anhand des oben diskutierten rechtspopulistischen Vierecks (Grafik 2).

Grafik 2

Die rechtspopulistische Diskursstruktur erfüllt zumindest drei wesentliche Funktionen: Erstens erlaubt sie die schon angesprochene Konstruktion eines identitär verstandenen Vertretungsanspruchs gegenüber dem angesprochenen Kollektiv. Versprochen wird nicht die Vertretung bestimmter Interessen, sondern eine (Re-)Kreation der Welt, in der ›Die-Da‹ verschwunden und die ›Nicht-Wir‹ dementsprechend machtlos sind, sodass Sprecher*innen und Adressat*innen eine (wieder) stabile Welt bewohnen, die Eindeutigkeit und Gewissheit nicht zuletzt in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, Sexualität und familiäre Beziehungen verspricht. In diesem Sinne fungiert der Kampf gegen Gender als »symbolic glue« (Kováts/Põim 2015), der Teile der Bevölkerung mit rechten (partei-)politischen Formationen zusammenschweißt.

Zweitens erreicht die Verdoppelung des Feindbildes eine existentielle Dramatisierung jedes beliebigen Themas, da alltägliche (reale oder fiktive) Konkurrenzsituationen, Verunsicherungen oder Bedrohungen stets (auch) auf die böse Absicht der Eliten zurückzuführen sind. So erklärt sich die Nähe zum verschwörungsmythischen Denken. Die Kopplung von Eliten und Anderen in der Feindbildkonstruktion schafft übermächtige Gegner*innen und legitimiert so die eigene Aggression und den Angriff auf Minderheiten. Paradigmatisch lässt sich diese Umkehr von Machtverhältnissen am Beispiel der Ablehnung von Gesetzen gegen Diskriminierung aufzeigen. So hält etwa die europäische Vernetzung Agenda Europa (für Informationen zu diesem Netzwerk siehe Datta 2018) in einem umfassenden Strategiepapier mit Bezug auf Frauenquoten in Aufsichtsräten fest:

»Rather than eliminating discrimination, ›anti-discrimination laws‹ institutionalize it […]. Policies such as gender quotas are revelatory of the fact that ›anti-discrimination‹ […] does the exact opposite of what it pretends to do, it undercuts personal and economic freedom, and it uses benign rhetoric to conceal a truly totalitarian outlook on society.« (Agenda Europe 2018: 104)

Schon das Verbot von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung gilt aus antifeministischer Perspektive als tatsächliche Benachteiligung. Wenn etwa Vermieter*innen sich nicht weigern dürfen, an gleichgeschlechtliche Paare zu vermieten, entspreche dies einer Einschränkung der Glaubensfreiheit. Die Freiheit, Andere zu diskriminieren, wird so zu einem zu schützenden Recht (ebd.: 103ff).

Drittens lässt das doppelte Feindbild große Flexibilität zu und erlaubt Strategien »kalkulierter Ambivalenz« (Engel/Wodak 2013), also bewusster Doppeldeutigkeit, die unterschiedliche Personen(-gruppen) ansprechen und damit die innere Inhomogenität der Adressat*innen verschleiern sowie gegen Kritik immunisieren sollen. Beispielhaft lässt sich hier nochmals auf den Anti-Anti-Diskriminierungsdiskurs von Agenda Europa verweisen. Wiewohl hier der Diskriminierung von LGBTIQ+-Personen das Wort geredet wird, richtet sich die explizit geäußerte Kritik gegen die nationale und supranationale Gesetzgebung und lässt sich so bei Bedarf als bloße Meinungsäußerung im Rahmen demokratischer Prozesse darstellen.

Mit Reinfeldts Perspektive wird schon durch den Blick auf die Struktur von Anti-Gender-Diskursen die zentrale Rolle von Affekten und assoziativen Koppelungen sichtbar. Dies wird nochmals deutlicher, wenn wir uns einigen ausgewählten inhaltlichen Mustern zuwenden.

2.2Basale Gemeinsamkeiten – die Naturalisierung des Sozialen

Als zentrale gemeinsame inhaltliche Grundlage des neuen Antifeminismus, die religiöse und politische Akteur*innen verbindet, lässt sich die Essentialisierung von Geschlechterverhältnissen und Sexualitäten verstehen, die als ›natürliche‹, ›biologische‹, daher schlicht so-seiende Tatsachen verstanden werden (Hennig 2018). Verstehen lässt sich diese inhaltliche Konvergenz zum einen aus einer Tendenz zur Säkularisierung ursprünglich religiöser Begründungszusammenhänge (Paternotte 2015), in denen ›natürliche‹ und ›göttliche Ordnung‹ gleichbedeutend als Chiffre für eine unhinterfragbare, in diesem Sinne ›selbstverständliche‹, ahistorische soziale Ordnung eingesetzt werden. Unterstützt wird dies auf pragmatischer Ebene durch die Tendenz religiöser Akteur*innen in säkularen Gesellschaften auf die Kraft der ›Natur‹ als breitenwirksame Legitimationsquelle zu setzen (Kuhar 2015). Diese Tendenz trifft in antifeministischen Allianzen auf die Naturalisierung sozialer Verhältnisse und insbesondere sozialer Ungleichheit als Basisideologie des Rechtsextremismus (Schiedel 2007). Geschlecht erweist sich hier insofern als besonders, als dass im Unterschied zu z.B. offen biologistischen Rassismen die Behauptung eines biologisch determinierten Geschlechterdualismus auf breite Zustimmung trifft. Als Beispiel lässt sich eine Behauptung der Organisation Kirche in Not anführen: »Die Naturwissenschaften ziehen aus ihren Forschungsergebnissen eine Schlussfolgerung, die sich mit dem christlichen Menschenbild deckt; Mann und Frau ergänzen einander.« (Kirche in Not 2016) Auch über den Kreis religiöser und politischer Akteur*innen hinaus knüpft diese heteronormative Essentialisierung von Geschlecht an Alltagserfahrungen und Alltagswissen der Adressat*innen des Diskurses an, an den ›gesunden Menschenverstand‹, dem die Einteilung der Menschheit in ›Männer‹ und ›Frauen‹ ganz selbstverständlich und damit verbundene Anrufungen und Anforderungen ›nur natürlich‹ erscheinen. Dieses direkte Anknüpfen an den ›common sense‹ gilt als zentraler Bestandteil rechtspopulistischer Kommunikationsstrategien (Geden 2006: 21; Mudde 2010: 1175). Das genannte Beispiel verweist zudem auf weitere zentrale antifeministische Topoi, wie etwa die Intellektuellen- und Theoriefeindlichkeit, die sich nicht zuletzt in den häufigen Angriffen auf die Gender Studies zeigt.

Bei einem näheren Blick erweisen sich mehrere Facetten des Begriffs ›Natur‹ als relevant. Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität werden durch rhetorische Bezüge auf die Naturwissenschaften – allen voran die Biologie8 – nicht nur als unumstößliche Tatsachen positioniert, sondern auch normativ aufgeladen. Aufbauend auf der Dichotomie von menschengemachter ›Kultur‹ und außerhalb menschlichen Einflusses angesiedelter ›Natur‹ werden patriarchale Geschlechterverhältnisse und heteronormative, auf Fortpflanzung ausgerichtete Sexualität zu ahistorischen, schlicht gegebenen Größen. Die hetero-patriarchale Familie als Lebensform wird zur einzig ›natürlichen‹ und damit zur einzig normativ akzeptablen Lebensweise. Die ›Natur‹ lässt so soziale Verhältnisse als überzeitliche, unveränderliche Tatsachen erscheinen, die aber gleichzeitig mit Rückgriff auf die oben beschriebene doppelte Feindbildkonstruktion als in höchstem Maß bedroht erscheinen. Eliten und mit diesen verbündete Feminist*innen, LGBTIQ+-Personen u.a. negieren das Unhinterfragbare, verstoßen gegen die ›natürliche Ordnung‹ und stellen damit den Legitimationszusammenhang ›Natur‹ selbst, also die Begründung gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse durch außergesellschaftliche ›Tatsachen‹ insgesamt, in Frage. Hier liegt einer der Gründe für die Unversöhnlichkeit und Aggressivität, mit der antifeministische Positionen vertreten werden: Die Verteidigung der einen normativ richtigen Lebensweise lässt keinen Raum für Kompromisse. Die Abweichung darf nicht existieren, weil sie per definitionem nicht existieren kann. Deutlich wird diese normative Aufladung des Natur-Begriffs nicht zuletzt in der diskursiven Konstruktion der Anderen, also all jener, die von der hetero-patriarchalen Lebens- und Familienform abweichen. Ihre Leben erscheinen als »un-« oder »widernatürlich«, als Fehler, die im besten Fall in die gesellschaftliche Unsichtbarkeit gedrängt, im schlechteren Fall ausgemerzt werden sollen. Als Beispiel kann nochmals die bereits zitierte Broschüre von Kirche in Not angeführt werden. Der Begriff Homophobie wird hier als Erfindung der »Genderisten« gebrandmarkt, die diesen »gerne als Totschlag-Argument gegen Andersdenkende ein[setzen], die praktizierte Homosexualität nicht als natürliche Form menschlicher Geschlechtlichkeit anerkennen« (Kirche in Not 2016). Neben der normativen Kraft der ›Natur‹ zeigt das Zitat auch die Strategie der Opfer-Täter*innen-Umkehr, die den Wunsch nach Negation homosexuellen Begehrens rhetorisch als Abwehr eines »Totschlag-Arguments« verbrämt.

2.3Politik mit der Angst – von der Familie zum Volk

Im aktuellen Antifeminismus spielt der diskursive Knotenpunkt ›Familie‹ eine entscheidende Rolle. Ob die angeblich durch Gender Mainstreaming-Strategien angestrebte »Schaffung des geschlechtslosen Menschen« (so etwa der Untertitel von Rosenkranz 2008), sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von Frauen (so fordert etwa Agenda Europa nicht nur ein Totalverbot von Abtreibungen, sondern auch von Verhütungsmitteln aller Art, Agenda Europe 2018: 55ff), das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare oder die (im Sinne völliger Verfügungsgewalt über Kinder und deren Erziehung gedachte) Elternrechte bedrohende Sexualpädagogik der Vielfalt (Initiative wertvolle Sexualerziehung o.J.) – in allen Fällen läuft die Argumentation auf eine schwerwiegende Bedrohung ›natürlicher‹ Familien hinaus. Im Sinne der oben erläuterten Legitimation qua ›Natur‹ gilt jede Infragestellung der normativen ›Selbstverständlichkeit‹ hetero-patriarchaler Verhältnisse als einzig legitimer Familienform als Angriff.

An den ›common sense‹ kann dabei in mehrfacher Hinsicht angeknüpft werden: Erstens