10,99 €
Awareness meint nicht nur Achtsamkeit im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung, sondern auch ein Bewusstsein für die herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in denen Sexismus und sexualisierte Gewalt keine individuellen Einzelfälle sind. In diesem Sinne ist Awareness eine Haltung und ein Handeln, das Verantwortung übernimmt und darauf reagiert, dass Übergriffe auch in unseren alltäglichen Umfeldern stattfinden. Das Handbuch ›Antisexistische Awareness‹ richtet sich sowohl an Betroffene als auch an Unterstützer*innen. Es enthält praktische Tipps aus zehn Jahren antisexistischer Unterstützungsarbeit und ermutigt zur Bildung weiterer ›Awareness-Gruppen‹, die auf Partys, Festivals, politischen Camps, Konferenzen und dergleichen Angebote der Prävention und der Unterstützung machen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 250
Ann Wiesental lebt in Berlin und ist feministisch aktiv. Sie schreibt, hält Vorträge, veranstaltet Workshops und unterstützt Betroffene von sexualisierter Gewalt. Sie beschäftigt sich mit der Kritik der politischen Ökonomie von Marx und mit feministischem Materialismus. Von 2007 bis 2014 entwickelte und organisierte sie sechs Konferenzen zum Thema »Antisexistische Praxen«, in denen es um Unterstützungsarbeit für Betroffene von sexualisierter Gewalt ging, um Trauma, Awareness, Trans*diskriminierung, Rassismus und Sexismus, Umgang mit sexualisierter Gewalt in queeren Kontexten und Verschränkung von Diskriminierungen in Bezug auf sexualisierte Gewalt / Intersektionalität. 2007 rief sie anlässlich des Protests gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm die Antisexist Contact- and Awarenessgroup ins Leben, die Betroffene von Diskriminierung und sexualisierter Gewalt unterstützte. Ann Wiesental ist Mitgründerin des Netzwerk Care Revolution und aktiv im Feministischen Institut Hamburg.
Ann Wiesental
Antisexistische Awareness
Ein Handbuch
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Ann Wiesental:
Antisexistische Awareness
2. Auflage, März 2021
eBook UNRAST Verlag, März 2022
ISBN 978-3-95405-111-3
© UNRAST-Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung
sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter
Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Einleitung
1. Awareness, wie alles begann!
2. Awareness praktisch – die Veränderung beginnt zwischen uns
3. Aufgaben und Formen der Awareness: Partys, Festivals, Konferenzen, Polit-Camps
4. Unterstützung geben – der Erstkontakt
5. Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen
6. Intersektionalität
7. Definitionsmacht und Parteilichkeit
8. Einflüsse aus den USA – Community Accountability
9. Konsensuale Sexualität
10. Betroffen_e wollen Verschiedenes
11. Trauma
12. Knackpunkte und Stolpersteine
13. Zum Weitermachen
Anmerkungen
Antisexistische Awareness bezeichnet einen achtsamen und bewussten Umgang mit Betroffen_en von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung. Dies schließt eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen ein, denn Sexismus und sexualisierte Gewalt sind keine individuellen Einzelfälle, sondern Bestandteil und Ergebnis gesellschaftlicher Strukturen. Mit diesem Buch möchte ich die Interventionen, die das 2007 bei Unrast erschienene Buch Antisexismus_reloaded leistete, aufgreifen und fortsetzen. Ich lernte die Autor_innen bei unserer gemeinsamen Arbeit in der ›Antisexist Contact- and Awarenessgroup‹ 2007 anlässlich des Protestes gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm kennen (dazu mehr in Kapitel 1). Ihr Buch hat mir sehr geholfen und mich auf meinem persönlichen Weg und in meiner politischen Arbeit unterstützt. Ich habe großen Respekt und Anerkennung für alle, die sich für antisexistische Awareness einsetzen, die Betroffen_e sind und / oder unterstützen, die in diesen Verhältnissen ihren Platz erkämpfen und ihren Weg suchen und finden. Den Verhältnissen ist es zuzuschreiben, dass Betroffen_e immer wieder einsam sind und isoliert werden. Antisexistische Awareness hilft, die eigenen persönlichen Erfahrungen nicht zu individualisieren, sondern Solidarität, Miteinander und gemeinschaftliche Veränderungen herzustellen. Einen Dank an alle Weggefährt_innen, Feminist_innen und Aktivist_innen, von denen ich so viel lernen durfte und von deren Arbeit ich profitiert habe.
Dieses Buch richtet sich an alle, die sich für Antisexistische Praxen interessieren, die Sexismus entgegentreten wollen, die bei sexualisierter Gewalt, Grenzüberschreitung und sexistischer Diskriminierung nicht wegschauen. Es bietet praktische Tipps für Betroffen_e von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung, für Unterstützer_innen, Awareness-Gruppen und Interessierte. Antisexistische Awareness wird bereits seit Jahren erprobt, von Feminist_innen, Betroffen_en und Unterstützer_innen. Zugleich handelt es sich um ein praktisches wie theoretisches Feld, auf dem noch vieles ausprobiert, verhandelt und entwickelt wird (siehe Kapitel 1). Das Buch versteht sich sowohl als Teil dieses Verhandlungsprozesses, als auch als Leitfaden für die Praxis. Die Begriffe und Diskurse, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegen, sind sicher schwer verständlich, wenn eine nicht Einblicke in linke und feministische Bewegungen hat. Vieles wird hier vorausgesetzt, sei es Verständnisse von Herrschaft, Geschlechterkonstruktionen, Intersektionalität, aber auch von Auseinandersetzungsformen, Umgangsweisen und Solidaritätspraxen in der Linken. Ich hoffe, dass das nicht abschreckt, sondern eher neugierig macht, mehr Bücher und Texte zu lesen. Das Buch möchte dazu ermutigen, einen (Awareness-)Veränderungsprozess einzugehen, und aufzeigen, wie du und ihr praktisch damit beginnen könnt. Awareness-Gruppen haben sich für Partys, Festivals, politische Camps und Konferenzen gegründet, um hier Angebote der Unterstützung und Prävention zu schaffen. Auf diesen Erfahrungen aufbauend schlägt das Buch vor, Veränderungen zu wagen. Dieses Buch wird vielleicht aufwühlen, sicher auch Widerspruch erzeugen, doch hoffentlich auch stärken und Freude bereiten.
Ich schreibe dieses Buch als Betroffen_e von sexualisierter Gewalt, die Jahre gebraucht hat, ihre eigene Geschichte zu entdecken und Menschen und Orte zu finden, wo einer zugehört wird und es Wohlwollen und Anerkennung gibt. Ich schreibe dieses Buch als Aktivistin, die persönliche Alltagslagen seit Langem mit der strukturellen Ebene verknüpft und (Alltags-)Kämpfe auf eine gesellschaftliche Ebene hebt. Ich bin weiß-deutsch, abled und cis und ich bin mir darüber im Klarem, dass ich einen großen Teil der Machtverhältnisse und ihr Zusammenwirken vom eigenen Erleben her nie durchdringen werde. Seit Jahren unterstütze ich Betroffen_e von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung und baue Unterstützungs- und Awarenessstrukturen mit auf. Ich schreibe dieses Buch als Optimistin, denn ich glaube daran, dass Veränderung möglich ist, und ich glaube an die Revolution.
Sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung sind keine zufälligen, individuellen (Gewalt-)Taten und Handlungen, sondern verankert in den herrschaftsförmigen Geschlechterverhältnissen. Sie basieren auf diesen Machtverhältnissen und sind Ausdruck derselben. Die überwiegende Zahl der Betroffen_en sind Frauen*, Mädchen, Transgender und Inter. Jede 7. Frau hat in ihrem Leben strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt erlebt und 60% der Frauen haben in irgendeiner Weise sexuelle Belästigung erlebt.[1] Die überwiegende Zahl der gewaltausübenden oder diskriminierenden Personen sind Männer*. Deswegen verwende ich den Begriff ›die Betroffen_e‹ mit einem weiblichen Personalpronomen. Den Unterstrich setze ich vor dem ›e‹, um nicht Frauen* und Männer* gleichermaßen zu benennen, sondern Frauen* zu priorisieren und gleichzeitig Transgender und Inter sichtbar zu machen. Bei der Person, von der die sexualisierte Gewalt oder sexistische Diskriminierung ausgeht, verwende ich ein männliches Personalpronomen. Diese Schreibweise soll den Strukturen gerecht werden. Den Begriff ›Täter‹ verwende ich kaum, auch wenn ich ihn nicht ablehne. Er hat seine Berechtigung, um bezüglich der der ausgeübten Handlung innewohnenden (sexualisierten) Gewalt deutlich zu werden. Ich möchte allerdings mit dem Begriff ›gewaltausübende oder diskriminierende Person‹ stärker die Handlung in den Vordergrund stellen, anstatt nur die handelnde Person zu benennen. Ich stelle mit meiner Begriffswahl die Berücksichtigung der Strukturen des herrschaftsförmigen Geschlechterverhältnisses in den Vordergrund. Dies geht auf Kosten der Sichtbarkeit von von sexualisierter Gewalt betroffenen cis Männern, die in diesen Formulierungen unsichtbar bleiben. Das ist insbesondere insofern problematisch, als dass es für betroffene Männer* kaum Unterstützungsstrukturen gibt und der gesellschaftliche Diskurs eine Anerkennung und Stärkung männlicher* Betroffener kaum zulässt.
Ich beziehe mich auf einen feministischen Gewaltbegriff, der Gewalt nicht nur auf körperliche Gewalt beschränkt.[2] Gewalt umfasst körperliche, psychische und diskriminierende Gewalt. Sie ist immer auch vor dem Hintergrund der Herrschaftsverhältnisse zu sehen, innerhalb derer sie ausgeübt wird. Ein Schlag ins Gesicht ist unterschiedlich einzuordnen, je nachdem, wer wen aus welchem Grund schlägt. Im feministischen Diskurs über Gewalt geht es nicht darum, vermeintlich objektive Kriterien festzulegen, die definieren, wann und inwiefern eine Handlung als gewalttätig einzuordnen ist. Es soll also nicht bestimmt werden, dass beispielsweise jemanden an den Busen zu grapschen ein Übergriff ist und eine Hand auf den Hintern zu legen eine Grenzverletzung. Anstatt sich um eine vermeintliche Objektivität zu bemühen, ist es für den feministischen Diskurs zentral, dass erstens sexualisierte Gewalt alle Formen von sexuellen Handlungen und Taten, die gegen den Willen oder ohne Einwilligung einer Person ausgeübt werden, umfasst. Zweitens definieren die Betroffen_en selbst die ihnen angetane sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung und nur sie können sagen, ob etwas gegen ihren Willen stattgefunden hat (siehe auch Kapitel 7 und 12).
Der Begriff ›sexualisierte Gewalt‹ stellt in den Vordergrund, dass es sich um Gewalt handelt und diese Gewalt in sexualisierter Form ausgeübt wird. Sexuelle Handlungen werden als Mittel benutzt, um Gewalt auszuüben und Macht zu erlangen. Andere sprechen auch von ›sexueller Gewalt‹. Diese Bezeichnung stellt das Sexuelle stärker in den Vordergrund und begreift Sex nicht nur als Mittel, sondern auch als Motiv der Gewalt, wenn es zum Beispiel um das Ausleben gewaltförmiger sexueller Bedürfnisse geht. Ich wähle den Begriff ›sexualisierte Gewalt‹, um zu betonen, dass es bei diesen Handlungen darum geht, Gewalt und Macht auszuüben.
Sexualisierte Gewalt umfasst alle Formen von sexuellen Handlungen und Taten, die gegen den Willen oder ohne Einwilligung einer Person ausgeübt werden. Vergewaltigung ist eine Form von sexualisierter Gewalt, die im Laufe der Geschichte und je nach Gesetzeslage und Kontext unterschiedlich definiert wurde und wird. Ob etwas gegen den Willen der Betroffen_en stattgefunden hat, kann nur die Betroffen_e sagen. Die Betroffen_e definiert sexualisierte Gewalt. Nach diesem Gewaltbegriff muss bei sexualisierter Gewalt keine Penetration stattgefunden haben (siehe Kapitel 7). Ebenso gibt es keinen objektiven Grad der Schwere der Gewalt, der erreicht sein muss, damit die Betroffen_e von sexualisierter Gewalt sprechen kann. Auch die Absicht der gewaltausübenden Person oder die Vorsätzlichkeit der Handlung oder Tat ist nicht ausschlaggebend dafür, ob es sich um sexualisierte Gewalt handelt. Entscheidend ist, dass die Handlungen oder Taten gegen den Willen oder ohne Einwilligung der Betroffen_en ausgeübt wurden und die Betroffen_e diese als sexualisierte Gewalt erfahren hat.
›Sexistische Diskriminierung‹ oder ›Sexismus‹ bezeichnen auf das Geschlecht bezogene Diskriminierungen. Es gibt verschiedene Diskriminierungsverhältnisse. Sie basieren darauf, dass Menschen in verschiedene soziale Gruppen eingeteilt und diese hierarchisch aufeinander bezogen werden. Die eine soziale Gruppe unterdrückt die andere soziale Gruppe strukturell und beutet sie aus. Die Herstellung der sozialen Gruppen fußt im patriarchialen oder herrschaftsförmigen Geschlechterverhältnis auf der Konstruktion einer binären Geschlechterordnung, also der Einteilung der Menschen in entweder Frauen* oder Männer*. Transgender, Inter und Non-Binarys sowie andere Geschlechter kommen in dieser Binarität nicht vor. Männer* sind strukturell privilegiert und können auf Frauen* und Frauenarbeit, wie zum Beispiel die unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit (Kinderbetreuung, Kochen, Putzen, Pflegen) als Ressource und zum Machtgewinn zugreifen.
Sexistische Diskriminierung und Sexismus meinen Handlungen, die diese Strukturen aufrechterhalten und reproduzieren. Vor allem aber werden damit in diesem Buch explizite Verhaltensweisen, Handlungen und geäußerte Ansichten benannt, die die marginalisierte soziale Gruppe (Frauen*TransInter) herabsetzen, ausgrenzen, benachteiligen, beleidigen oder abwerten. Dazu zählen auch eine Feindseligkeit gegenüber der marginalisierten sozialen Position, wie es bei Frauen*-, Trans- oder Inter-Hass der Fall ist, und ebenso, Druck auf Personen auszuüben, damit sie die ihnen zugewiesene untergeordnete Rolle einnehmen oder den Geschlechternormen entsprechen.
›Cis‹ und ›trans‹ sind Begriffe aus der Chemie und bezeichnen mit ›diesseits‹ und ›jenseits‹ Formen der Anordnung bei Molekülen. Mit cis oder cisgender werden Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt (cis Mann oder cis Frau).
Cis Männer, cis als Gegensatz zu trans, sind somit Männer*, die bei Geburt als männlich klassifiziert wurden und die sich mit ihrem männlichen* Geschlecht identifizieren und als Mann* in der Gesellschaft leben und anerkannt werden.
Cis war zunächst keine Selbstbezeichnung, denn Menschen in einer gesellschaftlich privilegierten Position sehen meist keine Notwendigkeit, ihre gesellschaftliche Position zu markieren, da sie sich als Norm setzen. Sie gehen davon aus, dass ihr Geschlecht ›Frau‹ oder ›Mann‹ normal oder natürlich ist. Dieses Verständnis musste erst von Feminist_innen und Gender-Wissenschaftler_innen kritisiert und dekonstruiert werden.
Die Schreibweise mit *, also ›Frau*‹ oder ›Mann*‹, markiert, dass es sich nicht um ›natürliche‹ Geschlechtsidentitäten handelt, sondern, dass diese gesellschaftlich konstruiert sind, denn es gibt keine natürlichen Frauen oder Männer.
›Trans‹ oder ›transgender‹ meint Menschen, die nicht in dem Geschlecht leben wollen oder können, dass ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Sie wollen also, wenn sie bei der Geburt weiblich* klassifiziert wurden, nicht Frau* sein, oder wenn sie nach der Geburt männlich* klassifiziert wurden, nicht Mann* sein. Das stattdessen selbst gewählte Geschlecht oder auch die Ablehnung jeglicher geschlechtlicher Selbstidentifizierung wird von Transpersonen unterschiedlich genannt, zum Beispiel auch als Transident, Non-Binary oder Gender Fluid.
›Inter‹, im Mainstream auch ›Zwitter‹ oder ›Hermaphrodit‹, meint Menschen, die mit körperlichen Merkmalen geboren werden, die medizinisch als ›geschlechtlich uneindeutig‹ gelten. Häufig werden auch die Begriffe Intersexuell oder Intergeschlechtlich verwendet, welche jedoch auch von einigen Inter abgelehnt werden, da ihre gesellschaftliche Position keine Form der Sexualität oder des Geschlechts ist. Der Begriff ›inter‹ ist dagegen eine Selbstbezeichnung, die sich ebenso wie ›trans‹ aus der Community beziehungsweise Bewegung entwickelt hat und die die Vielfalt geschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten sichtbar machen soll.
In der 2. Frauenbewegung sprachen die Frauen* meist von Frauen*Lesben, um Lesben und lesbisches Leben sichtbar zu machen, welche die 2. Frauenbewegung zu einem großen Teil prägten. Frauen*LesbenTransInter wurde erst später in der 2. Frauenbewegung, bzw. feministischen Bewegung als Selbstbezeichnung benutzt. Diese Benennung und Sichtbarmachung musste von Transgender und Inter erst erkämpft werden, da Transgender und Inter zu Beginn der 2. Frauenbewegung noch gesellschaftlich unsichtbar waren. Erst mit der Zeit wurde von der Bewegung anerkannt, dass diese ebenfalls von den patriarchalen heteronormativen Geschlechterverhältnissen unterdrückt und diskriminiert werden.
›LGBTIQ*‹ ist ebenfalls eine in der Bewegung verwendete Bezeichnung, es wird auch von der LGBTIQ*-Bewegung gesprochen. Ähnlich wie bei ›Frauen*LesbenTransInter‹ werden bei dieser Bezeichung auch Gays (G), Bisexuelle (B) und Queers (Q) benannt. Das * macht kenntlich, dass es sich um gesellschaftliche Konstruktionen handelt und nicht um vermeintlich ›natürliche‹ Geschlechtsidentitäten und dass es eine Vielfalt von Geschlechtern gibt.
Behinderte kämpfen seit mehreren Jahrzehnten gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie eigneten sich in diesem Kontext beispielsweise das Schimpfwort ›Krüppel‹ an und begründeten damit die ›Krüppelbewegung‹. Heutzutage wird meist der Begriff ›Behindertenbewegung‹ als Selbstbezeichnung benutzt, ebenso der Begriff ›behindert‹. Um Behinderte nicht unsichtbar zu machen, wird hier deswegen von Menschen mit und ohne Behinderung gesprochen.
›Abled‹ bezeichnet die gesellschaftlich privilegierte Position von nicht behinderten Menschen. Nicht behinderte Menschen benennen in der Regel nicht ihre gesellschaftliche Position, da sie diese für ›normal‹ halten oder als ›natürlich‹ ansehen. Eine Benennung der gesellschaftlichen Position möchte dagegen die hierarchischen Strukturen sichtbar machen. Ableism bezeichnet das Diskriminierungsverhältnis, das Menschen in Behinderte und nicht Behinderte einteilt und diese Kategorien hierarchisiert.
›Schwarz‹ wird unter anderem in Anlehnung an Noah Sow großgeschrieben. Schwarz benennt eine politische Realität und ist eine Selbstbezeichnung von Schwarzen, die aus dem Widerstand gegen Rassismus entstanden ist. Schwarz meint nicht die Farbe der Haut, bzw. das phänotypische Aussehen oder die biologischen Konstruktionen und die daran anknüpfenden sozialen Zuschreibungen, sondern Schwarz ist im Herrschaftsverhältnis Rassismus eine gesellschaftliche, unterdrückte Position. Schwarz zu sein, bedeutet daher, gemeinsame Erfahrungen innerhalb einer rassistischen Gesellschaft zu machen.
Die Bezeichnung ›weiß‹ ist ebenfalls eine Konstruktion, im Gegensatz zu ›Schwarz‹ aber keine widerständige Selbstbezeichnung, daher wird dieses Adjektiv kleingeschrieben. ›Schwarz‹ ist eine Selbstdefinition von Schwarzen Menschen, weißen Menschen steht es demnach nicht zu, Menschen in Schwarze und weiße einzuteilen.
2007 gründeten wir anlässlich des Protestes gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm die ›Antisexist Contact- and Awarenessgroup‹. Wir stellten den über 15.000 Menschen, die sich in den Protestcamps rund um Heiligendamm aufhielten, ein Ansprechzelt und einen Schutzraum[3] zur Verfügung. Mit 40 Personen waren wir vor Ort, wechselten uns in Schichten ab, waren rund um die Uhr ansprechbar und unterstützten Menschen, die zu uns kamen, weil sie sexualisierte Gewalt oder sexistische Diskriminierung auf den Camps oder in der Vergangenheit oder während der Proteste erfahren hatten. Unser Angebot wurde stark genutzt, sodass es zu parallelen Unterstützungen kam. Unsere Awarenessgruppe bestand überwiegend aus weißen, abled, cis Personen, sodass wir im Fall von Verschränkungen mit Rassismus, Behinderung oder Transphobie wenig Erfahrungswissen in die Unterstützung einbringen konnten. Wir versuchten, dies transparent zu machen und gegebenenfalls an andere Personen oder Gruppen weiterzuverweisen.
Neben der Unterstützungsarbeit kümmerten wir uns auch um Öffentlichkeitsarbeit. Im Vorfeld des Camps boten wir verschiedene Info-Workshops an. Als Awarenessgruppe verteilten wir auf den Camps Flyer und kleine Broschüren, die informierten und auf uns aufmerksam machten und bereits dadurch präventiv wirkten, dass das Thema präsent war. Wir hängten an zentralen Stellen wie der Essensausgabe, an Infopunkten oder auf den Toiletten und Duschen Plakate auf. Insbesondere jene Plakate, die den Slogan »Nein heißt Nein« trugen, sorgten unter den Campenden für Gespräche und Diskussionen. Teile der Camps organisierten sich in Barrios, das heißt größere Campflächen, die von Zusammenhängen genutzt wurden, besprachen sich auf regelmäßigen Großplena mit ca. 50 bis 200 Menschen. Auch auf diesen Plena machten wir auf unser Anliegen und unsere Strukturen aufmerksam und regten einen Austausch über Sexismus und Diskriminierung an.
In unserer ›Antisexist Contact- and Awarenessgroup‹ verständigten wir uns auf den Begriff der ›Awareness‹ (Achtsamkeit / Bewusstsein), um deutlich zu machen, dass es uns nicht nur darum geht, Unterstützung zu leisten, wenn sexualisierte Gewalt oder sexistische Diskriminierung bereits stattgefunden haben. Es ging uns auch darum, miteinander Bedingungen zu schaffen, die Gewalt minimieren, sodass diese Gewalt am besten überhaupt nicht erst stattfindet. Awareness verstanden wir zum einen im Sinne von Achtsamkeit: Achte auf dich und auf andere, auf deine und ihre Grenzen und Bedürfnisse. Zum anderen bedeutete Awareness im Sinne von Bewusstsein für uns: Mach dir bewusst, dass sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung stattfinden, auch in deinem Umfeld. Setze dich daher damit auseinander, wie du dich schützen kannst, reflektiere dein eigenes Verhalten und interveniere bei sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung, wenn du sie mitbekommst. Trage so mit zu Bedingungen bei, die sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung vorbeugen.
Awareness ist eine Haltung und ein Handeln, die Verantwortung übernehmen und darauf reagieren, dass sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung stattfinden. Das betrifft die Ebene der Selbstreflexion, die Beziehungsebene und die Gesellschaftsebene: Wie kann ich auf mich selbst achten, mich empowern, mich reflektieren, meine Haltung und mein Handeln verändern? Wie gelingt es mir, andere wahrzunehmen, mir meiner gesellschaftlichen Position im Verhältnis zu derjenigen anderer bewusst zu machen, bewusst anderer Menschen Grenzen und Bedürfnisse zu achten? Wie teile ich mich mit, frage nach und handele Bedürfnisse aus? Inwieweit analysiere ich gesellschaftliche Strukturen, die sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung hervorbringen, inwieweit bin ich politisch aktiv in diesem Feld und wirke daran mit, Strukturen zu verändern und Alternativen auszuprobieren und aufzubauen?
Awareness bedeutet anzuerkennen, dass sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung stattfinden und dass diese gewalttätigen Handlungen keine Ausnahmen und Einzeltaten sind, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Struktur. Awareness bedeutet auch, darum zu wissen, dass es keine Personengruppen und Räume gibt, die per se frei von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung sind. Und es bedeutet, davon auszugehen, dass sich alle Menschen gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung engagieren und Selbstreflexion leisten, Unterstützung geben und Strukturen schaffen können, die sexualisierte Gewalt und sexistische Diskriminierung minimieren und von sexualisierter Gewalt Betroffen_e stärken, empowern und unterstützen.
Awarenessarbeit besteht aus den Bereichen Unterstützung und Prävention. Prävention beinhaltet Aufklärung, Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit. Das Verfassen von Texten, Broschüren oder Flyern, die Veröffentlichung auf Webseiten, in Büchern oder Zeitschriften, das Aufhängen von Plakaten oder Verkleben von Stickern, das Konzipieren und Durchführen von Workshops, Austauschkreisen, Veranstaltungen oder Tagungen – all das gehört zu Präventionsarbeit. Ebenso das Schaffen von Strukturen wie Ansprech- oder Unterstützungsgruppen, Anlaufstellen auf Festivals oder politischen Camps, Selbsthilfestrukturen, Beratungsstellen oder Zufluchtsorten (sogenannten Saver Spaces). Auch regelmäßige Supervisionen, Weiterbildungen und Reflexionsrunden oder -plena in den politischen Gruppen, Wohn- oder Arbeitszusammenhängen, wo mensch arbeitet und lebt, sind Teil der Prävention. All diese Mittel, Orte und Strukturen wirken auch deshalb präventiv, weil sie eine antisexistische Haltung öffentlich sichtbar machen und damit verdeutlichen: Personen, von denen sexualisierte Gewalt oder sexistische Diskriminierung ausgeht, können hier nicht unwidersprochen agieren.
Der heutigen Praxis der Awarenessarbeit liegen jahrzehntelange Erfahrungen aus und verschiedenste Formen an feministischer Arbeit und antisexistischer Praxis zugrunde. Sie hat sich über Jahrzehnte entwickelt und greift auf ein breites Praxiswissen, auf unterschiedliche Konzepte und Analysen und auf viel gelebte Erfahrung zurück.
Eine wichtige Basis für das Wissen um die Existenz und die Funktionsweise von (patriarchalen und rassistischen) Herrschaftsstrukturen sowie um die Möglichkeiten des Widerstandes, bildet der Kampf Schwarzer Frauen*. Ihr Widerstand setzte von Beginn an die individuellen Geschichten und Handlungen der einzelnen Frauen*, den kollektiven Widerstand der Schwarzen Männer* und Frauen* und die Herrschaftssysteme Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus in einen Zusammenhang. Ich finde es wichtig, hier in der Geschichte ein Stück weit zurückzugehen, um deutlich zu machen, dass individuelles Handeln stets in die Herrschaftssysteme eingewoben ist, und um aufzuzeigen, wie diese Erkenntnis historisch gewachsen ist.
In ihrem Buch Rassismus und Sexismus[4] hebt Angela Davis hervor, dass Frauen* in besonderer Weise unter der Sklaverei in Kolonien und in den USA litten, da sie von sexualisierter Gewalt und Quälereien betroffen waren, die Kolonialherren nur Frauen* in dieser Form antun konnten. Vergewaltigung war eine Waffe der Herrschenden, die der Unterdrückung diente, sie zielte darauf ab, den Widerstandswillen der Sklavinnen zu brechen und im gleichen Zug ›ihre‹ Männer* zu demoralisieren. Sklavenhalter forderten ihre Aufseher zur Vergewaltigung von Sklavinnen auf, um diese zu erniedrigen und niederzuhalten. Davis macht zugleich darauf aufmerksam, dass viele Schwarze Frauen* durch die körperliche Arbeit kräftig waren und über einen starken Willen und großes Selbstbewusstsein verfügten. So wehrten sich viele Sklavinnen gegen ihre Kolonialherren und gegen die Quälereien und die sexualisierte Gewalt. Sie wehrten sich körperlich, vergifteten ihre Herren, begingen Sabotage und schlossen sich den Gemeinschaften flüchtiger Sklaven an. Sie flohen ebenso wie die Männer* nach Norden in die Freiheit, gebrauchten Waffen und kämpften ab 1800 bewaffnet in den Aufständen der entstehenden abolitionistischen Bewegung (Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei). Frauen*, die ihr Los als Sklavinnen passiv duldeten, bildeten laut Davis eher die Ausnahme. Diese Unbeugsamkeit und die Funktion als kräftige Arbeiterin führten dazu, dass Schwarze Frauen* in ihren eigenen Familien weniger dominiert wurden als weiße Frauen*. Letztere sollten dem Bild der Frau* als nährender Mutter, sanfter Gefährtin und Haushälterin des Gatten entsprechen. Dementsprechend wurde die Rolle der Schwarzen Frauen* gesellschaftlich tabuisiert, beziehungsweise wurde Schwarzen Frauen* ihre Weiblichkeit abgesprochen, da sie der herrschenden Weiblichkeitsideologie, die insbesondere im 19. Jahrhundert propagiert wurde und sich durchzusetzen begann, nicht entsprachen
Das Sklavensystem definierte Schwarze als Eigentum. Neben ihrer Arbeitskraft waren die Kolonialherren auch an ihrer Erhaltung und an der folgenden Generation interessiert. Einige Sklavinnen wurden deswegen extra für die ›Zucht‹ bestimmt. Deborah King macht deutlich, dass sexualisierte Gewalt gegen Schwarze Frauen* nicht alleinig im Geschlechterverhältnis verortet ist, sondern als Teil rassistischer Unterdrückung und klassistischer Ausbeutung verstanden werden muss: »Unsere institutionalisierte Ausbeutung als Konkubinen, Mätressen und sexuelle Sklavinnen von weißen Männern unterscheidet unsere Erfahrung von der Erfahrung sexueller Unterdrückung von weißen Frauen, weil unsere Erfahrung nur im Zusammenhang von rassistischen und klassistischen Herrschaftsformen existieren konnte.«[5] Rassismus, Sexismus und Kapitalismus müssen hier zusammengedacht werden, denn wenn Herrschaftsverhältnisse monokausal gedacht werden, dann kann die besondere Unterdrückung von Schwarzen Frauen* nicht erfasst werden. Der weiße, bürgerliche Feminismus, der ab dem 19. Jahrhundert insbesondere um das Frauenwahlrecht kämpfte, marginalisierte Schwarze oder arme Frauen* oftmals und machte sie unsichtbar. Im 19. Jahrhundert ging die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei der Frauenwahlrechtsbewegung voraus. Die Bewegung gegen die Sklaverei war in vollem Gange, als einzelne weiße Frauen* begannen, diese zu unterstützten und sie nach und nach mit Kämpfen für Frauenrechte zu verbinden. Dennoch stand die Frauenwahlrechtsbewegung (1. Frauenbewegung) teilweise in Konkurrenz zur Schwarzen Bürgerrechtsbewegung. In den Diskussionen um das Frauenwahlrecht wurde regelmäßig behauptet, dass nur eine Gruppe das Wahlrecht gewinnen könne, entweder Schwarze oder Frauen*, d.h. Schwarze Männer* oder weiße Frauen*.
Bell Hooks schreibt dazu: »Die Identität keiner anderen Gruppe ist so sehr von der Gesellschaft verleugnet worden, wie die der schwarzen Frauen. Wir werden selten als eine Gruppe wahrgenommen, die von schwarzen Männern getrennt und unterschieden ist, oder als ein sichtbarer Teil der größeren Gruppe ›Frauen‹ in dieser Kultur. […] Wenn über schwarze Menschen geredet wird, stehen meistens schwarze Männer im Mittelpunkt; und wenn über Frauen geredet wird, stehen weiße Frauen im Mittelpunkt.«[6] Bei monokausalen Ansätzen werden all jene, die von mehreren Diskriminierungsformen, wie Rassismus, Sexismus oder Klassenunterdrückung, betroffen sind, nicht berücksichtigt. Damit werden Schwarze Frauen* sowohl in der Schwarzen Befreiungsbewegung als auch in der Frauenbefreiungsbewegung marginalisiert. Das bringt Schwarze Frauen* in die Position, innerhalb beider Bewegungen nicht alle Interessen mit der jeweiligen unterdrückten Gruppe zu teilen und nicht alle eigenen Interessen thematisiert und repräsentiert zu sehen. Deborah King: »Die Gruppen, in denen wir bei bestimmten Fragen logischerweise Verbündete finden, sind die Gruppen, in denen wir bei anderen Fragen Gegner finden können. Wir müssen uns ständig entscheiden, mit wem wir uns verbünden, welche Interessen im Vordergrund stehen sollen.«[7] King weist auf die Schwierigkeit hin, Schwarzes Frau*-Sein innerhalb struktureller Kategorien zu definieren, die von Europäern und insbesondere weißen Männern* entwickelt wurden, um ihr Weiß-Sein und ihr Geschlecht zu privilegieren. Sie entwickelt den Begriff der mehrfachen Unterdrückung und macht dabei deutlich, dass das Zusammenwirken verschiedener Herrschaftsverhältnisse nicht additiv zu denken ist, sondern als sich verstärkend verstanden werden muss. Bonnie Thornton Dill benennt als Konsequenz der mehrfachen Unterdrückung Schwarzer Frauen* die komplexe Vielfalt gesellschaftlicher Rollen, die Schwarze Frauen* innehaben. Diese seien Resultat der »Anpassungen an eine Vielzahl von Faktoren […], u.a. die harten Realitäten ihrer Umgebung, afro-amerikanische kulturelle Bilder von schwarzem Frau-Sein und die diesen teilweise gegenüberstehenden Werte und Normen der breiteren Gesellschaft.«[8]
Sklaverei, Rassentrennung, institutionelle sowie individuelle Diskriminierung sind historisch die prägenden Erfahrungen in der Sozialisierung der meisten Schwarzen Frauen*. Sie machten zum einen die Erfahrung, dass die mehrfache Unterdrückung in verschiedenen Herrschaftsverhältnissen potenzierend wirkt. Zum anderen wurde im Kampf sowohl um die Abschaffung der Sklaverei, als auch in der 1. Frauenbewegung deutlich, dass monokausale Kämpfe die Situation von von Mehrfachdiskriminierung Betroffen_en ausblenden und somit auch das Zusammenwirken der Herrschaftsverhältnisse unserer Gesellschaft nicht erfassen können.
Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt der antisexistischen Awareness sind die Debatten und Praxen der 2. Frauenbewegung. In der BRD der 70er-Jahre war die Abhängigkeit der Frauen* von Männern* größer als heute. Junge Frauen* durften meist erst ausziehen, wenn sie heirateten, denn Wohnungen wurden überwiegend nur an verheiratete Paare vermietet, da es noch den Kuppeleiparagraphen gab, durch den sich Personen strafbar machten, die an unverheiratete Paare vermieteten. Der Mief der 50er-Jahre mit seiner patriarchalen Bürgerlichkeit hing noch über dem Alltagsleben. Erst mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958 durften Ehefrauen ein eigenes Konto eröffnen und konnten über selbstverdientes Geld ohne die Einwilligung des Ehemanns verfügen. Und erst seit 1977 können sie eine Erwerbsarbeit ohne die Zustimmung des Ehemanns annehmen, davor waren sie noch gesetzlich zur Führung des Haushalts verpflichtet. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. Die (Ehe-)Wohnung zu verlassen oder gar alleine in eine andere Stadt zu ziehen und ein eigenes Leben zu beginnen, war in den 70ern noch ein großer Schritt für Frauen*. Sich aus einer gewalttätigen Ehe zu lösen und sich zu schützen, erforderte großen Mut und bedurfte der Unterstützung. Entsprechende Unterstützungsstrukturen gab es damals noch nicht, wenn die (Herkunfts-)Familie oder Bekannte und Freund_innen nicht halfen, blieben die Frauen* oftmals allein oder sie verblieben in den gewalttätigen Beziehungen.
Die ersten Frauengruppen, die sich anfänglich privat trafen und später Frauenzentren gründeten, bildeten vor diesem Hintergrund einen Lichtblick und boten eine Zuflucht. Seit Beginn der 70er trafen sich Frauen* und Lesben insbesondere in größeren Städten in Läden, um dort zu diskutieren, politisch aktiv zu sein, zu feiern und ihre Freizeit zu verbringen. Neben den ›großen‹ Themen wie dem Vietnamkrieg, die Nato-Aufrüstung und die Atomkraftwerke, erhoben sie ›das Private‹ zum Politischen. Sie erkundeten ihren Körper und ihre Sexualität, setzten sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein und wehrten sich gegen Männerdominanz und Gewalt. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Zufluchtsorte und -wohnungen und 1976 öffnete das erste autonome Frauenhaus in Westberlin. Diese autonomen, selbstorganisierten Strukturen vervielfältigten sich, in immer mehr Städten und Regionen gab es Selbsthilfegruppen und Frauen*Lesbengruppen, die gegen Männergewalt intervenierten und nach außen politisch aktiv waren. Sie schufen Beratungsangebote, Zufluchtsorte und autonome Frauenhäuser. Doch nicht nur Strukturen entstanden, sondern auch eine neue Haltung wurde entwickelt. Frauen*Lesben analysierten die Gewalt von Männern* gegen Frauen* als eine strukturelle innerhalb des Patriarchats. Das, was in der ›heilen‹ Familie und bürgerlichen Gesellschaft unter den Teppich gekehrt wurde und wird, holten sie ans Licht. Sie zeigten auf, dass es vor allem Väter und Großväter sind, die ihren Töchtern und Enkelinnen sexualisierte Gewalt antun und vor allem Ehemänner und Partner, die ihre Ehefrauen und Freund_innen vergewaltigten. Die Frauen*Lesben räumten mit dem Mythos auf, dass der Unbekannte, ›Fremde‹, Andere oder der Mann* hinter der Hecke der Gewalttäter sei. Gerade weil die bürgerlich-patriarchale Haltung in der Gesellschaft so tief verankert war, mussten die Frauen*Lesben stark dagegenhalten und sie bekamen immer wieder viel Gegenwind. Deswegen wurde die Solidarität zwischen den Frauen*Lesben, die ›Frauensolidarität‹, umso wichtiger. Aus dieser Solidarität heraus entwickelten sich Ansätze wie Parteilichkeit und Definitionsmacht (siehe Kapitel 7). Konzepte und Haltungen, die angesichts der Tatsache, dass den Ehefrauen, Töchtern und Enkelinnen, die sexualisierte Gewalt durch ihre Ehemänner, Väter oder Großväter benannten, meist nicht geglaubt wurde, notwendig waren. In der Regel glaubte weder die Gesellschaft, noch die eigene (Herkunfts-)Familie den betroffenen Frauen*. Im Rechtssystem kommt dazu noch die Unschuldsvermutung, die im Zweifel für den Angeklagten spricht. Gewalttaten, die meist ohne Zeug_innen stattfinden, hatten so kaum Möglichkeiten, bewiesen zu werden. Es ging daher darum, diesen Frauen* zur Seite zu stehen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Diese Ansätze von Frauensolidarität, Parteilichkeit und Definitionsmacht und die feministischen Praxen der Unterstützungsarbeit werden nun seit über 40 Jahren weiterentwickelt und sind nach wie vor aktuell.
1984 kam Audre Lorde für drei Monate nach Berlin, um einen Workshop zu geben. Sie stärkte die Schwarzen Feministinnen und insbesondere der politische Ausdruck mittels der Dichtkunst gewann in der Folge an Bedeutung. May Ayim und andere Schwarze Deutsche machten die von Rassismus ebenso wie durch das Patriarchat geprägte Perspektive Schwarzer Frauen* sichtbar. Sie thematisierten den Rassismus auch innerhalb der 2. Frauenbewegung und hinterfragten das vermeintliche ›Wir‹ der 2. Frauenbewegung, das die verschiedenen Lebensrealitäten und Unterdrückungserfahrungen von Frauen* nicht abbildete. Aus der Schwarzen Bewegung heraus gründeten sich Gruppen und Initiativen, wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, die sowohl einen Ort für Empowerment bieten, als auch Öffentlichkeitsarbeit leisten. Darüber hinaus gründeten sich in der 2. Frauenbewegung Initiativen wie das Internationale Frauenplenum in Westberlin (1988-1991), welches die Zusammenarbeit zwischen Frauen* verschiedener Hintergründe stärkte und dem Rassismus in der Frauenbewegung begegnete. Die Perspektive, die in einem feministischen ›Wir‹ zum Ausdruck kommt, ist nach wie vor überwiegend weiß, aus der Mittelschicht, cis und abled und es gilt noch immer, Vielfalt und intersektionale Perspektiven zu stärken. Das beinhaltet auch, das ›Wir‹ abzuschaffen oder neu zu formulieren.