Anton und Gerda - Hans Fallada - E-Book

Anton und Gerda E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Falladas Frühwerk – »Menschen? Hungrige Hirne, mit Schleckerei gefüttert, schlaff gemacht.« Der mittellose Dichter Anton Färber ist bei Freunden auf dem Land untergekommen. Aus einer plötzlichen Laune heraus, begibt es er sich auf eine Wanderung ans Meer. Und er (oder der Autor?) erinnert sich zurück an sein Elternhaus. Das experimentelle Frühwerk Falladas, das zwischen langen Monologen, knappen Dialogen und rätselhaften Geschehnissen changiert und schwer zu erarbeiten ist. Man weiß nie genau, ob das, was passiert, real ist, ob es vielleicht mal passiert ist oder ob es nur den Wünschen Färbers (Falladas?) entspringt. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 338

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Hans Fallada

Anton und Gerda

Hans Fallada

Anton und Gerda

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1923 (297 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962813-50-5

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch

Wa­rum müs­sen Hun­de nach­mit­tags bel­len?

Spa­zier­wan­deln. An­fang

3 – Spa­zier­wan­deln. (Fort­ge­setzt)

Schwer. Schwer

Fort­set­zung

Mu­lus in je­dem Be­lang

Trau­tes Heim – Glück all­eim

Voll­kom­men un­ver­ständ­lich

Der zu Schlei­fen­de

Kot­zen

Tra­ra! Tra­ra!

Selt­sam un­ver­ständ­li­ches Ge­spräch

Den­kens Be­ginn

Heim­gang in der Frü­he

Hor­che auf, Klei­ner …

Der Träu­mer legt sich von der Herz­sei­te auf die rech­te

Ab­ge­tan im Un­rat­win­kel

Fie­ber­tag

Ab­fuhr

Klei­nes Ge­wit­ter

Mut­ter und Sohn

On­kel Otto

Der Traum

Angst

Im Gar­ten

Schau­kel und Ko­kot­te

Der Gum­mi

Gar­ten im Mond­schein

Eine Wol­ken­wand vorm Mon­de

Zwei­tes Buch – Auf­takt

Heim­kunft

Wie­der­se­hen

Letz­ter Rund­gang

Klein­mäd­chen­ge­schich­te

Die Zei­tung

Ho­tel­hal­le

Wir­bel

Abend

Dis­kor­de

Nacht

Re­frain

Noch Nacht, bald Däm­mern

Mor­gen

Mit­tag … doch bald Däm­me­rung

Drit­tes Buch – Im War­te­saal

Erin­ne­rung

Wind, Wel­len, Nacht er­zählt

Frem­de Stadt

Lo­kal

Be­geg­nun­gen

Irre … wo Ziel?

Angst

Ge­sang von Wind und Wel­len, Ge­sang der Nacht

Er­wa­chen

Wie wer­de?

Nacht­wan­de­rung

Nacht­ver­gnü­gung

Schlaf­saal

Hal­be Hei­mat

Fort, nur zu ihr …

Marsch

Das Sand­far­be­ne

War­te­saal

Vier­tes Buch – Mo­tiv

Hier­hin – dort­hin

Damp­fer Möwe

Däm­me­rungs­we­ge …

Halb­wach

Das an­de­re Ge­sicht

Die Glücks- und Un­glücks­ta­ge

Mor­gen am Meer

Strand, Sand, Son­ne

Ver­hal­ten

Tage … Näch­te …

Va­ria­tio­nen über ein The­ma

Zwei Brie­fe

Zwei Geg­ner

Ent­span­nung

Mah­nung …

Freun­din?

Fein­din …?

Vor dem Brief

Brief – Kat­ze – Brief

In­ter­mez­zo …

Noch ein­mal der Strand …

Und das Meer …

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Hans Fal­la­da bei Null Pa­pier

Je­der stirbt für sich al­lein

Der Trin­ker

Wer ein­mal aus dem Blech­napf frisst

Ein Mann will nach oben

Klei­ner Mann – was nun?

Der ei­ser­ne Gu­stav

Bau­ern, Bon­zen und Bom­ben

Wolf un­ter Wöl­fen

An­ton und Ger­da

Der Alp­druck

und wei­te­re …

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Erstes Buch

Warum müssen Hunde nachmittags bellen?

Der mit­tel­lo­se, etwa drei­ßig­jäh­ri­ge Dich­ter An­ton Fär­ber, der bei Freun­den auf dem Lan­de leb­te, hat­te sich so­eben zum Nach­mit­tags­schlaf auf sein Bett ge­legt, als das jau­len­de Lär­men der Hof­hun­de ihn mit ei­ner Ver­wün­schung hoch­fah­ren ließ. Kurz­sich­tig – das Glas lag ne­ben ihm auf dem Stuh­le – blin­zel­te er zum Fens­ter, pfiff ei­ni­ge Male gel­lend und ließ den Kopf wie­der zwi­schen die Kis­sen fal­len, mit ei­nem Au­fat­men in der plötz­lich stark rau­schen­den Stil­le. Die Au­gen­li­der glit­ten kühl her­ab, der Mund öff­ne­te sich ein we­nig, die Glie­der ruh­ten tiefer in den Pols­tern, und sacht ver­schwim­men­de Bil­der flos­sen im Hirn –, als das Jau­len neu ein­setz­te und Fär­ber voll­wach auf­fuhr.

»Auf dem Lan­de kom­men die Tie­re vor den Men­schen, also, da sich das Vieh­zeug, scheint’s, nicht be­ru­hi­gen will, geh ich ein we­nig spa­zie­ren?

Ans Meer?

Ans Meer!«

Spazierwandeln. Anfang

An der Gar­ten­pfor­te zö­ger­te er, öff­ne­te sie, trat ein, und zwi­schen Ge­mü­se­bee­ten hin­durch ging er den über­ras­ten Gang ab­wärts, bis da­hin, wo er sich im Ge­wu­cher von Ha­seln, Schnee­ball­strauch,1 Ho­lun­der und an­derm Wild­ge­wächs ver­lor. Hier setz­te er sich auf eine Bank und sann vor sich. Sei­ne Hand tas­te­te spie­lend nach man­chem Zweig, riss ihn ab, ent­blät­ter­te ihn. Er kau­te dar­auf. Dann wa­ren rote Bee­ren da, und er freu­te sich an ih­nen. Sei­ne Stirn run­zel­te sich un­wil­lig. »Ich muss ge­hen«, mur­mel­te er und gab sich einen Ruck. Aber er war so müde. Er lehn­te sich zu­rück, ein bit­te­rer Ge­schmack zog im Mun­de her­um. Noch mehr Zwei­ge, noch mehr Blät­ter, noch mehr Ge­käu. Was soll­te das? Die rei­ne Spie­le­rei.

»Nein, ich muss ge­hen.«

Dann war ihm, als kläff­ten die Hun­de wie­der, aber so fern, so fern …

Dann …

Und nun ging er wirk­lich.

Eine Pflan­zen­art aus der Gat­tung der Schnee­bäl­le (Vi­bur­num) in der Fa­mi­lie der Mo­schus­kraut­ge­wäch­se. In Eu­ra­si­en weit ver­brei­tet und wird als Zier­ge­hölz ver­wen­det.  <<<

3 – Spazierwandeln. (Fortgesetzt)

Seit die letz­ten Ho­cken ein­ge­fah­ren sind, ist die Land­schaft weit ge­wor­den, aus­ge­räumt. Die ver­streu­ten Höfe lie­gen end­los von­ein­an­der ent­fernt, je­der in sei­nem wind­be­weg­ten Baum­horst von ei­ner Ei­gen­schicht durch­sonn­ter Luft um­ge­ben, und der dunkle Wald­streif am Ho­ri­zont wird durch die Land­wei­te der ge­schäl­ten Fel­der und die Wol­ken­bal­lun­gen über den Wip­feln nied­rig und wel­ten­fern ge­macht.

»Vi­el­leicht wird es schon dun­keln, wenn ich an den Strand kom­me. Am Rand der Dü­nen auf der Kö­nig-Lear-Hei­de will ich lie­gen«, be­schloss Fär­ber, der rasch quer­feld­ein ging.

Kein Mensch be­geg­ne­te ihm. Der Wind blies ihm das be­ru­higt tie­fe Sum­men vie­ler Dresch­ma­schi­nen bald nah, bald fern ins Ohr, er hat­te den klei­nen Hund­sär­ger ver­ges­sen und pfiff mun­ter vor sich hin. Nun war der Wel­len­schlag zu hö­ren, al­lein, dann ver­mischt mit dem Brau­sen der Baum­kro­nen, dann die­ses wie­der für sich, und nun ging er schon auf der schma­len Wald­schnei­se.

Als er auf die Hei­de trat, die mit Wa­chol­der und Kie­fern­ku­scheln über schar­fem Gras und hol­zi­gem Erika­kraut be­stan­den war, tat Fär­ber et­was Selt­sa­mes, et­was, das er noch nie ge­tan, das er noch nie zu tun ge­dacht hat­te, und nun schi­en es ihm das Selbst­ver­ständ­lichs­te von der Welt.

Zu­erst wand­te er sich land­ein, dort­hin, wo er den Freun­des­hof ver­mu­te­te, ver­beug­te sich drei­mal und sag­te ein ers­tes, ein zwei­tes, das drit­te Mal: »Ade der­wei­len.«

Nun zu der Son­ne, halb­links über den Dü­nen­kup­pen, ge­wandt tat er glei­ches, sprach: »Hin­fü­ro nicht mehr.«

Doch dem blas­sen Mond im Blau knicks­te er rasch und schnip­pisch zu: »Nun gra­de! Nun grad doch! Nun gra­de!«

Und tief sa­laam­te er das hör-, doch nicht sicht­ba­re Meer an, in­dem er rie­seln­den Kling­sand über die rech­te Schul­ter warf: »Sei güns­tig, Grü­nes. Schläfre ein, Wech­seln­des. Und noch ein­mal. Aber das vier­te ge­gen die Hexe zählt nicht …«

Schwer. Schwer

»Ich bin wohl al­bern ge­wor­den!«

Fär­ber warf sich stöh­nend her­um, blin­zel­te kurz­sich­tig, fuhr fort im …

Fortsetzung

Im Er­he­ben aus der Beu­gung des letz­ten Gru­ßes stand er eine Wei­le, nicht den­kend, nein, nur wie war­tend, und die er­war­te­te In­tui­ti­on kam: er ging rasch auf einen Wa­chol­der zu, beug­te sich, scharr­te ein we­nig Sand von den Wur­zeln, hob ein lei­ne­nes Beu­tel­chen aus der Erde und hiel­t’s, ohne es zu be­trach­ten, in der hoh­len Hand.

Kam auf die Düne, sah das Meer, dem die Son­ne nä­her sank, warf sich auf den Rücken, und nun, um­weht vom Wind, an­ge­tan vom Bran­den, Zi­schen, Stein­mah­len der Wel­len, ge­peitscht das Blut von man­chem Mö­wen­schrei, leg­te er das Säck­chen auf die Stirn.

Zu­erst war’s kühl, dann lie­fen war­me Schläng­lein in die Schlä­fen, um das Haupt, sie ver­kno­te­ten sich zum Kran­ze, ver­kürz­ten sich zu schä­delspren­gen­dem Kne­bel – ihm war, als wür­fe er sich hoch, brül­le die­sen ra­sen­den, un­er­träg­li­chen Schmerz mit äu­ßers­tem Wil­len aufs Meer; doch nun schi­en ihm Zu­rück­sin­ken rich­tig, Er­schlaf­fen, Aus­brei­ten des Lei­bes … Die Wel­len tru­gen kei­nen Schaum mehr, eine end­lo­se tief­blaue Dü­nung, in der er trieb, ein Er­trun­ke­ner, Salz auf den Lip­pen, die Au­gen wie ei­ner Pflan­ze Po­ren auf­ge­tan, at­mend … trieb, trieb in der Dü­nung … ein­mal noch würg­te Ekel, schmeck­te bit­ter … und im Hirn des Er­trun­ke­nen wacht ein Traum auf, regt sich wie ein Kind im Schlaf, wacht auf ein Traum …

Mulus in jedem Belang

Auf dem Hof des Pen­nals pro­me­nie­ren mit Toni die drei an­de­ren von der münd­li­chen Prü­fung Be­frei­ten. Sie spä­hen zu den Fens­tern em­por, hor­chen, wie­der­ho­len noch ein­mal die glei­chen Be­den­ken: »Schiff­mann wird schwer vor den Wind kom­men.«

»Ich glau­be nicht ein­mal. Aber Matz hat eine Pie­ke auf Tüm­mel, und will solch Aas et­was fin­den, dann …«

»Mat­ze ist Spiel.«

»Je­doch erst der köst­li­che Knor­pel­hahn …«

Tö­rich­tes Ge­schwätz, auf­ge­plus­ter­tes Zeug. Ein rei­nes Gar­nichts! Stand­punk­te von Acht­zehn­jäh­ri­gen? Sie kön­nen nicht Wei­zen und Ha­fer un­ter­schei­den, wis­sen kaum, was ein Wal­lach ist, aber sie re­den in ih­rer Schü­ler­spra­che herr­lich über die Au­ßen­sei­te der Leh­rer und dün­ken sich welter­fah­ren, weil sie die Vers­ma­ße Hora­zi­scher Oden aus­wen­dig lern­ten. Men­schen? Hung­ri­ge Hir­ne, mit Schle­cke­rei ge­füt­tert, schlaff ge­macht.

Hoff­mann mein­te: »Wir sind durch. Lasst also heu­te end­lich dies Pen­näl­er­ge­schwa­fel. Sagt lie­ber, wer kneipt in der Uni­on mit? Es wer­den Stu­den­ten dort sein.«

»Ich.«

»Und fes­te! Ich!«

»Und ich!«

»Also wir vier sämt­lich. Sagt aber den an­de­ren nichts, ich will sel­ber se­hen … Alle Sau­ban­de braucht nicht ge­ra­de da­bei zu sein …«

Eine Tür krach­te, auf der Trep­pe jag­ten Schrit­te, ein­zel­ne, mehr, Ge­has­te … die Köp­fe fuh­ren her­um … und in ih­ren Kreis saus­te ein lan­ger Be­brill­ter mit dem Schrei: »Alle durch!«

Die Her­de folg­te, man schrie, lach­te, rote Müt­zen wir­bel­ten in der Luft, Hän­de wur­den ge­schüt­telt, ei­ner trock­ne­te sich die Stirn, ein an­de­rer: »Au wei, das hat noch gut ge­gan­gen!«

Un­ter­des ab­seits ver­han­del­ten Toni und Arne: »Ehren­wort! Ich hab ihm ver­spro­chen, in der Uni­on …«

»Im­mer­hin. Aber um elf tref­fen wir uns am Hop­fen­markt. Ich habe einen großen Zug vor. End­lich …«

»Aber das kos­tet Geld?«

»Mei­ne Sa­che, Klein­chen. Ich zei­ge dir Ro­stock bei Nacht, wie …«

»Ge­schenkt! Ge­schenkt! Also um elf.«

»Beim großen Zeus, ich wer­de pünkt­lich sein.«

Trautes Heim – Glück alleim

Abendes­sen bei Ober­leh­rer Fär­ber. Herr Ober­leh­rer nebst Gat­tin. Der ein­zi­ge Sohn: Toni.

Gat­tin: Und du willst wirk­lich heu­te Nacht noch fort, To­nerl? Kannst du das nicht bei Tage?

An­ton: Aus­ge­schlos­sen, Mut­ti. Und üb­ri­gens ist sie­ben Uhr abends noch nicht Nacht.

Ober­leh­rer: Lass ihn doch, Alt­chen. Heu­te als Mu­lus! Sum­ma cum lau­de!! Pri­mus om­ni­um! Jun­ge, dass ich die Freu­de er­le­ben durf­te! Komm, gib mir einen Män­ner­kuss!

An­ton: Ger­ne, Papa.

Gat­tin: Bit­te, ich auch, To­nerl. – Ich glau­be, du musst wirk­lich bald an­fan­gen, dich zu ra­sie­ren.

An­ton: Das hat noch Zeit, Mut­ti.

Ober­leh­rer: Was wer­det ihr sin­gen, heut abend? Denk an mei­nen Leib­kan­tus, lass ihn stei­gen:

Komm mit aufs Forum …! Ahnst du voll Won­ne, Was uns am Pip­pus­bo­gen winkt, Wäh­rend die Son­ne Lo­dernd ver­sinkt? … Ve­nus, die Fee, um …

Gat­tin: Aber, Mann, was soll der Jun­ge …

Ober­leh­rer: Lass, Alt­chen, lass. Der Jun­ge ist nun doch fast er­wach­sen, be­zieht die Uni­ver­si­tät. Da kön­nen wir ihn nicht mehr vor je­dem rau­en Wort be­hü­ten. Aber die rech­ten Grund­sät­ze hat er mit­be­kom­men auf den Weg.

Gat­tin: Blei­be rein, Jun­ge.

Ober­leh­rer: Und fromm.

Gat­tin: Lie­be gu­ter Jun­ge, bleib, der du bist.

Ober­leh­rer: Und wenn dich die bö­sen Bu­ben …

An­ton: Weiß schon. – Also denn, lie­be Alt­chen …

Gat­tin: Komm nicht so spät wie­der, To­nerl!

Vollkommen unverständlich

Vor­platz bei Ober­leh­rers, kaum von ei­ner Spar­lam­pe er­hellt. An­ton kommt aus sei­nem Zim­mer, lässt die Tür of­fen: Abend­däm­merung mischt sich mit dem Fun­zel­licht. Er sucht am Gar­de­ro­ben­stän­der.

An­ton: Mar­tha! Mar­tha! Mein Man­tel!

Mäd­chen: Kommt schon. Nur ein Bü­gel­strich.

An­ton: Dal­li, dal­li, Hol­des­te!

Mäd­chen: Hier! Gott, wie pa­tent Sie aus­schau­en, jun­ger Herr! Man könn­te sich wirk­lich …

An­ton: Nun?

Mäd­chen: Oh, nichts!

An­ton: Doch et­was. Und?

Mäd­chen: Neinn­ein.

An­ton: Ich weiß ja doch, was Sie …

Mäd­chen: Wenn Sie wis­sen, ist’s ja gut.

*

An­ton: Mar­tha?

Mäd­chen: Ja?

An­ton: Wol­len Sie mir einen Ge­fal­len tun?

Mäd­chen: Und wel­chen?

An­ton: Nein, Sie müs­sen vor­her Ja sa­gen.

Mäd­chen: Das tue ich nicht. Sa­gen Sie erst …

An­ton: Sie erst: Ja.

Mäd­chen: Und so was will acht­zehn Jahr sein!

An­ton: Und ob! Wa­rum etwa nicht?

Mäd­chen: Pas­sen Sie lie­ber auf, dass Sie heut nacht nicht in den Au­to­ma­ten­schlitz fal­len!

An­ton: Sie sind mir über­haupt viel zu dumm!

Mäd­chen: Dumm und doof ver­trägt sich gut.

*

Mäd­chen: Wo ge­hen Sie denn heu­te Abend über­haupt hin?

An­ton: Ro­stock be­se­hen bei Nacht, wie es weint und wie es lacht!

Mäd­chen: Na denn man los! Ver­ges­sen Sie nur den Schnul­ler nicht.

An­ton: Mar­tha!

Mäd­chen: Du ent­schwan­dest.

Sie schließt die Tür. Es ist fast ganz dun­kel. An­ton im Ge­hen: Völ­lig rät­sel­haf­tes Ge­schöpf!

Der zu Schleifende

Kneip­zim­mer in der Uni­on­braue­rei. Hecht. Bier. Viel Bier. Alle mehr oder we­ni­ger an­ge­säu­selt, mit Stür­mern auf dem Kopf, Fuch­sen­bän­dern um die Brust. Ein paar Stu­den­ten kei­lend un­ter den Muli.

Cho­rus:

Ahnst du voll Won­ne, Was uns am Pip­pus­bo­gen winkt, Wäh­rend die Son­ne Lo­dernd ver­sinkt?

Prä­si­de: Schö­ner Can­tus ex! Ein Schmol­lis den fi­de­len Sän­gern und der Haus­ka­pel­le!

Tüm­mel: Kom­me dir einen Hal­ben, Fär­ber.

An­ton: Ehrt mich un­ge­mein, zie­he nach.

*

Por­zig: Ein Hal­ber dei­ner Jung­fern­schaft, Fär­ber.

An­ton: Ich bit­te …

Stu­di­ker: Fuchs hält das Maul und zieht einen Gan­zen nach!

Bur­la­ge: Auf dei­ne Jung­fern­schaft, Toni!

An­ton: Aaa­ber …

Stu­di­ker: Fuchs hält das Maul und zieht einen Gan­zen nach!

*

Kon­ski: Auf dei­ne Keusch­heit, Jo­sa­phat! Ja, dich mein ich, Fär­ber!

An­ton: Ehrt mich un­ge­mein, zie­he nach.

Brül­len­des Ge­wie­her.

Stu­di­ker: Fuchs zieht einen Gan­zen nach.

An­ton: Ihr könnt mir alle …

Muss hin­aus­stür­zen. Brül­len­des Ge­läch­ter.

Stu­di­ker: Den ver­fluch­ten Stre­ber schlei­fen wir schon. Der soll heu­te noch Mo­ses und die …

Kotzen

Stadt­hof. Nacht. We­nig Licht­schein aus Fens­tern, Re­gen si­ckert. An­ton, in eine Ecke zwi­schen mo­dern­de Holz­plan­ken ge­drückt, presst, bricht, fühlt kal­ten Schweiß, zit­tert. Er denkt: »Seich­te Hech­te, ver­damm­te! Was das für Sinn hat, dies Zeug in sich rein­zumölen! Auf Kom­man­do, in Mas­sen?! Neinn­ein, wenn das stu­den­ti­sche Frei­heit ist, dan­ke! Mut­ti hat­te recht, mich zu war­nen. Nie wie­der!«

Er macht ein paar Schrit­te ge­gen die Tür, bleibt wie­der ste­hen. »Und doch – alle rüh­men dies. Frei­heit, schran­ken­lo­ser Le­bens­ge­nuss sagt man wohl. Ach! Das Ge­nie­ßen scheint schwe­rer zu sein als die Ar­beit in je­ner mei­ner Kam­mer dort hin­ten, die Stirn über das Buch ge­neigt. Welch Glück – kaum däm­mer­te es –, die Vor­hän­ge zu schlie­ßen, die gan­ze Welt aus­zu­sper­ren und al­lein zu sein mit den Bü­chern, rein­li­chem Pa­pier und ei­ner gu­ten Fe­der, mit der man end­lo­se Rei­hen un­ter­ein­an­der set­zen konn­te. Wel­che Freu­de, mit bren­nen­den Au­gen, ko­chen­den Schlä­fen ins Bett zu ge­hen. Wel­che Ein­schlaf­träu­me von Ar­beit, von Er­folg, von Ruhm gar. Ah, herr­lich leicht wäre das Le­ben, brauch­te man nur zu ar­bei­ten. Man muss mit an­de­ren re­den, laut sein, sich ge­gen sie be­haup­ten und viel­leicht gar – sich ver­lie­ben.«

Der Ma­gen krampf­te sich von neu­em hoch. Ein ekel­haft bitt­rer Ge­schmack stand ihm im Mun­de; er beug­te sich wie­der vor, glitt halb hin, in­des es tröst­lich in ihm dach­te: »Das ist nur phy­sisch. Mein Kopf ist klar. Ich den­ke fol­ge­recht. Weiß ich nicht wohl, dass ich Arne um elf tref­fen woll­te? Nun gut – ge­hen wir an den Le­bens­ge­nuss. Und dann – nie wie­der! – Gu­ten Abend auch, ihr …!«

Trara! Trara!

Er sah sie.

Eine Spie­le­ri­sche hin­ter der The­ke, ein stump­fes jun­ges Pro­fil, zu­fah­rend auf einen Pin­scher, der blafft, tie­fes La­chen, wie ver­hal­te­nes, Schul­tern in Sei­de, eine zu­grei­fen­de ge­spreiz­te Hand, und da sie schlich­tend die Flech­ten streicht, blit­zen Stei­ne dort zwi­schen dem bläu­lich glän­zen­den Schwarz, blit­zen, fun­keln, und ein blas­ses Ge­sicht …

Schwei­ge doch! O so schwei­ge doch! Ver­lie­ben eine Angst? Sich-Ver­lie­ren Pein? Dies war von An­fang und be­steht für sich, all dein Le­ben reicht nicht an die­se Ges­te ei­ner ge­spreiz­ten Hand, die jung ist …

Arne be­stellt ge­läu­fig, und: »Für den Klei­nen eine Prä­rie­aus­ter, die Ban­de hat ihn mir schon dun ge­macht. Er ver­trägt nichts.«

»Ist das wahr, mein Herr?«

Ihm schi­en es, als kom­me al­les dar­auf an, in die­ser Mi­nu­te ih­ren Blick zu be­ste­hen, und er trank sich ein in die schma­len grü­nen Rin­ge, die, nun sah er’s, lei­se be­wegt um die schwar­ze Pu­pil­le lie­fen. Ein­zu­drin­gen mein­te er, tief, tiefer, das Ge­se­he­ne ver­schwimmt, nun geht er durch ein glas­kla­res grü­nes Was­ser, das wie Luft ist, das jede Pore der Haut strei­chelt, auf dem Mee­res­grund ist er, wan­delnd Er­trun­ke­ner, mär­chen­haft frei –, als blitz­schnell zwei Li­der fal­len, so nah, dass ein Wind­zug ihn zu strei­fen scheint.

Sie lacht. »Aber Au­gen kann er ma­chen, Ihr Freund!«

Und Arne: »Gott! Das lüt­te Ge­mü­se!«

Seltsam unverständliches Gespräch

Spä­ter hört er dem Ge­spräch der bei­den zu. Sie sitzt leicht vor­ge­beugt, die schwar­ze Sei­de bauscht ein we­nig vor der Brust, ein Stroh­halm tanzt zwi­schen ih­ren Fin­gern, sie fragt: »Wie ge­fällt Ih­nen mein Pin­scher?«

»Er scheint echt zu sein.«

»Und ob! Fünf­hun­dert Mark.«

»Bit­te, was gar nichts sagt.«

»Se­hen Sie ihm ins Maul: der Gau­men ist völ­lig schwarz.«

Arne prüft, gibt sich be­siegt. »Dann frei­lich!« Und: »Wo­her ha­ben Sie ihn?«

»Von ei­nem Herrn, ei­nem Gast­wirt.«

»Das ist gut. Ich dach­te schon, es wäre ein Da­men­hund, und Sie wis­sen …«

»Nun?«

»Da­men­hund. Man kennt das, wo­für sol­che Tie­re ge­hal­ten wer­den.«

»Nein, das wäre mein Tod. So et­was ekelt mich an.«

»Da­rum frag­te ich, wo­her Sie ihn hät­ten. Ich dach­te, er hät­te üble An­ge­wohn­hei­ten.«

»Neinn­ein! Lisa, höre bloß, der Herr meint …!«

Und Arne, zum Freund ge­wandt, doch die an­de­ren hor­chen dar­auf: »Ich kann­te eine Kell­ne­rin, die es sich für drei Mark von ei­ner Ul­mer Dog­ge ma­chen ließ.« Und nach ei­ner Pau­se: »Du ver­stehst doch?«

Ges­te. Die Mäd­chen krei­schen, eine ruft: »Sone Ka­mel­len! Zahl­te die Dog­ge den Ta­ler?«

»Un­sinn! Die Zuschau­er! Das Tier war wie …«

Ger­da: »Na, ich dan­ke!«

Und Lisa: »Aber das geht doch nicht!«

»Wie­so: geht nicht?«

»Aber je­der sieht ein … Wie soll denn das funk­tio­nie­ren? Wie den­ken Sie sich denn das?«

»Gar nicht. Hab’s ge­se­hen und da­mit bas­ta!«

Und ganz plötz­lich greift sie nach An­tons Hand, hebt sie sacht, lässt sie fal­len, streicht ein­mal, zwei­mal dar­über. »Nun – und Sie? Glau­ben Sie, was Ihr Freund er­zählt?«

»Ver­zei­hung, wie? Ich habe wirk­lich nicht ver­stan­den …«

Er ver­stummt, sieht sie an, und ein klei­nes, za­ges Lä­cheln run­zelt um sei­ne Au­gen. Ein we­nig ver­zie­hen sich sei­ne Lip­pen, und dann ist ihm, als habe sie ver­stan­den, die­ses: »Re­den wir im­mer­hin … Das zählt nicht.«

Als ihm Arne auf die Schul­ter schlägt. »Der und ver­stan­den! Die­se Hei­de­knos­pe! Wis­sen Sie, wie er bei uns auf dem Pen­nal …«, ver­bes­sernd: »Uni­ver­si­tät heißt? Jo­sa­phat! Wa­rum? Keusch wie Jo­seph und lieb­reich wie das Tal Jo­sa­phat.«

Sie hebt die Brau­en, schiebt die Un­ter­lip­pe vor. »Wie dumm das ist! Aber Jo wer­de ich ihn nen­nen, Jo passt zu ihm. Lisa! Lisa! Sekt! Wir wol­len Brü­der­schaft trin­ken.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Was macht das! Ich feie­re heu­te Ge­burts­tag, du bist mein Gast!«

Lisa lacht. »Schon wie­der Ge­burts­tag, Ger­da? Wie lan­ge ist’s her, dass du mit dem dunklen …«

»Nicht dumm sein, Lisa. Ist Jo nicht lieb? Komm, trin­ke, klei­ner Jo!«

»Und ich?« fragt Arne.

»Wün­schen Sie noch einen Schwe­den­punsch?«

»Dann kann ich wohl ge­hen.«

»Nie­mand hält Sie.«

»Eine ei­gen­tüm­li­che Be­die­nung! Ich wer­de den Wirt …«

»So ist es recht, mein Herr! Weil ich Ihren Freund net­ter fin­de, aber, was wol­len Sie, Sie lie­gen mir ein­mal nicht …«

»Schon gut! Ge­schenkt! Also noch einen Punsch.«

»Bit­te schön.«

»Üb­ri­gens habe ich Sie neu­lich mit dem dunklen Herrn ge­se­hen.«

»So?«

»Ja, auf der Stein­stra­ße. Und ich wund­re mich über Ihren Ge­schmack.«

»Steht Ih­nen frei.«

»Er sah bru­tal aus.«

»Mög­lich.«

»Aber man weiß schon, wäh­le­risch …«

»Zum Bei­spiel Sie? Nein, mein Lie­ber. Nie!«

Und plötz­lich beugt sich An­ton vor; sein Ge­sicht nahe dem ih­ren, fast in ih­ren Mund fragt er lei­se und be­bend: »Wie denn müss­te man sein, Ih­nen zu ge­fal­len?«

Sie ist stumm, sieht ihn an, ein sanf­tes Rot steigt in ihre Wan­gen; sie wen­det ihre zwei­feln­den und feuch­ten Au­gen von ihm, blickt zur Erde. Noch mehr Stil­le, und dann: »Ich weiß nicht … nein … ich habe ver­ges­sen …«

Ein Über­maß von Freu­de glüht in ihm. Er lä­chelt ver­wirrt, streicht sich über die Stirn … Ihre Hand in der sei­nen spricht er: »Dies ist Le­ben, nicht?«

*

»Seht doch das Lütt­je!«

Denkens Beginn

Ver­ging Zeit?

Vi­el­leicht. Arne war streit­süch­tig ge­we­sen, dann la­chend ge­räusch­voll, er hat­te Zo­ten ge­ris­sen, Kom­pli­men­te gedrech­selt, nun mus­ter­te er mür­risch trü­be die bei­den, schwieg.

Doch An­ton lern­te sich an­ders ken­nen, fühl­te Er­wa­chen, ein nie er­leb­tes. Zar­tes feu­ri­ges Rie­seln lief durch den Leib, sei­ne Hän­de er­neu­ten sich, und tas­te­ten sie, fühl­ten die Fin­ger wirk­lich. So stark drang durch die Haut An­sturm in­ten­sivs­ten Le­bens, dass er einen Au­gen­blick die Au­gen schloss, um nicht ganz an die Fül­le ver­lo­ren­zu­ge­hen. Wie ein Schmerz war es, ein hei­ßer Schmerz, ein gu­ter, dass er den Mund ver­zog.

»Lä­chelst du, Jo?«

»Nein. Nicht. Aber ich muss dar­an den­ken, dass ich es im Grun­de im­mer ge­wusst habe. Es lag in mir, Kern in der Nuss, und nun … ja, im­mer habe ich es ge­wusst, schon ganz früh …«

»Was ist es, das du ge­wusst hast?«

»So war es. Sieh, da­heim hör­te ich nur von Pf­licht, von Ar­beit, Fröm­mig­keit. Nicht an­ders wa­ren die El­tern. Sonst nichts. Gar nichts. Man war sie. Wur­de wie sie. War’s an­ders mög­lich? Den­ken war nie not, al­les Er­leb­te Be­weis, dass stets die El­tern recht hat­ten. Und mit ih­nen ich Folg­sa­mer. Sieg­te ich mit mei­nem Fleiß über die Fau­len, zeig­te nicht das schon, wie sehr sie recht hat­ten? Al­les Ab­wei­chen trug sei­ne Stra­fe in sich, und nur Schein war der Tri­umph des Be­trü­gers, denn dem un­ent­deck­ten selbst wur­de als mil­des­te Stra­fe das Be­wusst­sein, Sün­der zu hei­ßen, ver­setzt.«

Ins Lee­re ge­spro­chen, zö­gernd, su­chend, mit za­ger Stim­me: angst­vol­le Nich­tig­kei­ten, un­wich­ti­ge, an­ge­glüht doch schon von dem Glanz des un­ge­heu­ren Son­nen­auf­gangs, der al­les, al­les sicht­bar ma­chen wird. Jetzt noch: schreck­lich sicht­bar. Eine Er­hel­lung, die er­schüt­tert, blin­zeln lässt. Wo ist der gute Däm­mer­win­kel, da du haus­test, Nacht­tier Bür­ger? Tas­test in zu viel Licht nun, stol­perst, suchst, tas­test …

Fin­ger, schma­le, kläg­li­che Kna­ben­fin­ger, de­ren mit­tels­ter von Schreib­ar­beit kno­tig ver­dickt ist, Fin­ger tup­fen lei­se über die Mes­sing­plat­te, als woll­ten sie dies Gel­be schme­cken. Nun hebt er den Blick, steil im Licht steht sein Ge­sicht, eine Sträh­ne schlägt zärt­li­chen Bo­gen über die Stirn zum sin­nen­den Auge, fei­ne Hän­de kramp­fen sich – und wie ein Schluch­zen aus Glück schwing­t’s in der Stim­me des Ru­fers: »Und zu den­ken, bei­na­he wär man sein gan­zes Le­ben zu sol­chem Be­tru­ge ver­dammt! Ohne es zu wis­sen. Man hät­te mit­ge­macht, von Treue und Stolz und Ar­beit ge­re­det und Pf­licht – und die Elen­den und die an­de­ren ver­ach­tet … Nun kann man wohl nie­mand mehr ver­ach­ten?«

Er zwei­fel­te, hob die Ach­sel, und sei­nen Blick in dem ih­ren, be­gann er plötz­lich zu lä­cheln, rat­los. Der Bür­ger such­te den Win­kel; rasch warf er den Kopf zu­rück, sprang auf. »Aber was küm­mert uns das? Komm, die Mu­sik spielt, wir tan­zen …«

Sie glitt um die The­ke, ging ihm ent­ge­gen und stau­nend sah er, wie klein sie war, ein Jun­ge, zart, doch mit Schul­tern, mit Hüf­ten, die … O nein, nicht den­ken, nicht über­le­gen, nur nicht zer­glie­dern … Aber du fühlst wohl, wie ihr Gang dich ver­wirrt, die­ser strei­fen­de, sach­te, der ein we­nig breit ist; nicht wahr doch? Ein we­nig breit?

»Ach, wie dumm! Ein Wal­zer!«

»Wa­rum? Ist Wal­zer nicht schön?«

»O du! Wo hast du Tan­zen ge­lernt? Nein, so: ei­nes, zweie, drei …«

Durch die Sei­de stieg die Küh­le ih­rer schmieg­sa­men Schul­ter, eine Küh­le, von weit­her selt­sam er­neu­ert durch ru­hen­de Wär­me – er zog die Hand zu­rück, tau­mel­te, stand. »Es geht nicht.«

»Nein, tan­zen kannst du nicht. Aber was macht es? Ich brin­ge dir’s schon bei.«

»Du willst?« Doch ganz ent­täuscht: »Aber nein, es geht doch nicht.«

»Wa­rum nicht? Was soll­te nicht ge­hen?«

»Nein. Du denkst doch dar­an, dass ich arm bin?«

Kur­zes Be­sin­nen, weg­wer­fend: »Oh, auch ich habe nie Geld.«

»Aber …« Er sah sie fas­sungs­los an. »Wer wie du …«

»Ver­steh doch! Frie­ren und hun­gern tu ich nicht, aber oft be­geh­re ich toll et­was: einen Putz, ir­gend­ei­nen Ring …« Ihr Blick ver­flat­tert, fällt. »Und …«

»Und …«

»Und es gibt nichts, das ich dann nicht täte.«

»Das sagt man so.«

»Sei still, du ver­stehst nichts da­von, sollst es nie ver­ste­hen, nie! Aber wo lebt denn ihr? Wo­her kommst denn du, dass du nicht ein­mal dies weißt? Wir wuss­ten’s schon als Kin­der, und der Ap­fel beim Bru­der, die Pup­pe der Schwes­ter wur­den lie­ber ver­nich­tet als ge­gönnt.«

»Wie du ge­lit­ten hast! Man muss sehr gut sein zu dir.«

»Sei es. Ver­such’s. Sei es.«

»Durch­dacht muss es wer­den, all das. Auf der Fi­scher­bas­ti­on wer­de ich mor­gen sit­zen; über mir Wind in Bäu­men, un­ten das ge­rauh­te Band der War­now, wer­de ich dar­an den­ken …«

»An was, Lie­ber?«

»An al­les. An die Welt und dich. – Hast du nie Angst?«

»O ich kann böse sein.«

»Siehst du, auch dich ha­ben sie ge­straft mit falschem Den­ken. Denn das muss falsch sein. Ich glau­be nun, nie­mand ist böse. All das ist Lüge.

Aber ich habe es ge­wusst, ganz drun­ten in mir hat’s ge­wusst und ge­war­tet und nun brach’s her­vor, als ich dich … Sieh, das ist so ge­we­sen: wenn ich ar­bei­te­te und die Zie­le sah und den Ehr­geiz fühl­te und Wach­sen des Wis­sens, dann war ich am fro­he­s­ten, wenn ich die Vor­hän­ge schlie­ßen konn­te, das Gas summ­te lei­se, und kaum je, dass ein flie­gen­der Ruf mich streif­te.«

Lis­tig: »Aber das war es, da steck­te der Be­trug, und in mir hat’s ihn ge­ahnt: die Welt war drau­ßen. Um mich Bü­cher – oh, es muss noch an­de­re Bü­cher ge­ben, und ich wer­de sie fin­den! –, Mö­bel, de­ren Häss­lich­keit ich nun erst sehe, Spruch­bän­der, die mich im­mer an­lo­gen, Nip­pes, ver­stei­ner­te Ge­wor­den­heit –: aber die Welt war drau­ßen.«

Und mit frei­er Ge­bär­de – als wür­fe er sich ei­ner Son­ne zu, er­glänz­te fei­er­lich sein Ge­sicht –: »Wa­rum wäre denn der Flie­der gar so schön? Wa­rum wäre die Welt ein­mal weiß und blau, ein­mal gol­den und grün? Wa­rum kramp­fen Rei­hen von ge­reim­ten Wor­ten mein Herz wun­der­bar schmerz­voll zu­sam­men? Und warum ist es froh im tiefs­ten Grun­de, da es dich sieht und nun bis an al­les Ende weiß, dass es ein Lä­cheln wie dei­nes auf der Welt gibt?«

»Dan­ke, Liebs­ter.«

»Oh, ich ahne es erst, wel­cher Dumpf­heit ich ent­kam. Noch zie­hen die Ne­bel, und wenn ich erst die Son­ne sehe … Ich wer­de sie se­hen!«

Und Arne. »Sie muss bald auf­ge­hen. Ich den­ke, es ist Zeit für uns.«

Er­nüch­tert: »Ja, na­tür­lich. Wir sind wohl die letz­ten. Adieu, Ger­da.«

Ihre Hän­de san­ken in­ein­an­der. Ihre Au­gen.

»War­tet, Bu­ben, ich kom­me mit euch. Ihr bringt mich nach Haus.«

*

(Nach­hall: »War­tet, Bu­ben!«)

Heimgang in der Frühe

Dunkle Stra­ßen. Kal­ter Wind vom Meer.

Dem Jun­gen ist’s, als müs­se er auf­hor­chen, als wür­de er dann über dem end­lo­sen Stur­mes­sau­sen die hel­len und wil­den Rufe der Mö­wen vom Mee­re her hö­ren, die ewig das Ge­fühl end­lo­ses­ter Ein­sam­keit in die See­le des Hor­chers schrei­en. Ihn frös­telt, ein we­nig tau­melt er, aber schon glitt eine war­me Hand in sei­ne, hielt ihn, eine Stim­me frag­te: »Mein Jun­ge ist trau­rig?«

»Oh …«

»Soll es nicht sein. Bin ich doch da.«

»Frei­lich, du bist da.«

Und heiß, in­nen: »Aber bald wird sie wie­der fort sein. Mor­gen schon! Mor­gen? Heu­te noch! Schon be­ginnt es zu däm­mern, die Um­ris­se des Krö­pe­li­ner Tors tre­ten aus der Nacht, so we­nig Schrit­te noch und der neue wol­ki­ge Tag wird mit Re­gen­schau­ern und Sturm die froh­hel­len Kon­tu­ren die­ser Nacht vage ma­chen …«

Ein we­nig zö­ger­te er, dann rühr­te sich sei­ne Hand in der ih­ren, und die­se Be­we­gung schi­en sei­nen Wün­schen Hoff­nung, sei­nen Ent­schlüs­sen Feu­er ge­ge­ben zu ha­ben. Wa­rum denn soll­te man ver­zich­ten? Heim­keh­ren wie ein Odys­seus etwa, dem al­lein vom Lock­lied der Si­re­nen Strick­ma­le an Arm und Bein blie­ben? Ins Was­ser hin­ein! Vor­wärts schnel­len dich dei­ne Schwimm­stö­ße, und nun am Stran­de beugst du Nack­ter die Knie vor den nie ge­ahn­ten Köst­lich­kei­ten die­ser. »Ster­ben? Aber bei ih­nen ster­ben! Nicht wie­der heim­keh­ren müs­sen in das Grau, dort ar­bei­ten, Pf­lich­ten er­fül­len und dort, dort, dort im Sump­fe ster­ben müs­sen! Nein, hei­te­re Salz­luft der er­schwom­me­nen In­sel, hei­te­res Ge­sträuch, hei­te­re Son­ne, hei­te­res La­chen und …«

Und er sieht das Heim, Den­kens Aus- und Ein­gang bis heut; die Sonn­tag­vor­mit­tag-Son­ne liegt im ge­zirk­ten, ge­zier­ten Gärt­chen, der Va­ter schlurft auf Pan­tof­feln – »Du könn­test eben mal das Ex­er­zi­ti­um der Ober­se­kun­da durch­sehn, An­ton. Mer­ke die Feh­ler mit Blei­stift an.« –, das Früh­stück­sei liegt im Wat­te­korb – »schön wachs­weich ist es noch, mein To­nerl« –, und das ist der Sonn­tag und mor­gen ist Pen­ne und in drei Wo­chen ist Pen­ne und Uni­ver­si­tät ist Pen­ne und Be­ruf ist Pen­ne und Hei­ra­ten ist Pen­ne und Kin­der-Auf­bör­nen ist Pen­ne und … ist Pen­ne und … ist Pen­ne …

»Aber doch! Sie sind zu klug ge­we­sen, arg­lis­tig und klug. Wer bin ich denn? Ein Ju­ni­or von sieb­zehn mit herr­li­chen Pro­spek­ten, durch vä­ter­li­ches Ein­kom­men zu ver­wirk­li­chen. Denn ich selbst, ich wer­de in zehn Jah­ren noch kaum ge­nug Geld ver­die­nen, sie ein­mal wö­chent­lich in der Bar zu be­su­chen. In zehn Jah­ren? Zehn Jah­re war­ten!?! Oh, wo bin ich in kur­z­em so klug ge­wor­den zu wis­sen, eine zehn­jäh­ri­ge Ver­lob­ten­treue sei in kei­nem Be­lang so rüh­rend schön und ge­fühl­voll, wie jene rüh­men? Son­dern ein Ge­schäft, bei dem bei­de Tei­le be­tro­gen wer­den! Nein, sol­len wir le­ben, ge­mein­sam, für ein­an­der, so heu­te oder nie!«

Er fand eine Kar­te in sei­ner Hand, um­tas­te­te sie me­cha­nisch, steck­te sie in die Ta­sche und griff wie­der nach den Fin­gern je­ner, rast­los wei­ter­den­kend: »Heu­te? Wer bin ich denn, was hat man mich denn ler­nen las­sen, dass ich le­ben könn­te au­ßer ih­ren Um­kop­pe­lun­gen? Sieh doch, sieh: gleich acht­zehn und so hilf­los, dass ich nicht einen Tag ohne El­tern zu le­ben hät­te. Doch mit herr­li­chem, kost­ba­rem Wis­sen im Kopf! Das ha­ben sie sehr gut ge­macht, die sie uns ge­ra­de so­viel und ge­ra­de das ler­nen las­sen, was in ih­ren Hän­den Gel­tung hat, aber nicht einen Schritt drau­ßen. Also eine Ver­schwö­rung ist das, eine große, über die gan­ze Welt er­streck­te, die schlecht heißt, was sich zu ih­rem Zei­chen nicht be­kennt, aber vor­gibt, Ge­sin­nun­gen je­der Art zu ach­ten, auf dass sie die Wöl­fe er­ken­ne … So ist das also?«

Er schluck­te ein paar­mal, ihn schwin­del­te, zu vie­le Ge­dan­ken dräng­ten, er ver­lor den Fa­den, doch nun war es schon eine Hel­le über den gan­zen Ho­ri­zont, selt­sam an­ders se­hen in ihr Sprü­che und Ta­ten von Leh­rer, Pas­tor, von El­tern aus … Als ob man sie has­sen müs­se …

Er ließ Ger­das Hand fal­len, streif­te ihre Schul­ter, blieb ste­hen, neig­te sich vor, und ihr Ge­sicht hin­ter der ge­äder­ten Haut des Schlei­ers ah­nend in ei­ner fah­len Wei­ße, die ihre Tö­nung von dem Zie­hen­den, Ja­gen­den dort oben ent­nom­men zu ha­ben schi­en, – ihr Ge­sicht nahe dem sei­nen, sprach er rasch, angst­voll ver­flie­gend: »Ent­we­der jetzt oder nie! Ge­fun­den und ver­lo­ren! Wer wäre ich! Ich habe nun be­grif­fen. Und nie, nie will ich mehr ver­ach­ten. Ent­we­der jetzt oder nie! Jetzt kann nie sein, also muss nie jetzt sein. Du bist das Schöns­te, das Ab­son­der­lichs­te, das Wei­ßes­te, was je … Ha­ben wir denn mit­ein­an­der ge­spro­chen? Wo­her ken­nen wir denn uns – etwa? Ist es nur der Blick ge­we­sen, die­ser eine Blick, in des­sen Be­ginn du noch lä­chel­test, wäh­rend sich dei­ne Pu­pil­len wei­te­ten, wei­te­ten? Ja, viel­leicht war es nur der Blick. Lebe wohl, sei tau­send­mal be­dankt, lebe wohl …«

Ihm war, als grif­fen Hän­de zu, als tön­ten Rufe, eine atem­rau­ben­de Stil­le fiel ein, we­ni­ge klei­ne, kla­gen­de Schreie, und um die Ecke, um noch eine … Nun nur noch der Klang der ei­ge­nen Schrit­te, und auf der Bank des Wall­bergs hockt er, die Hän­de vorm Ge­sicht, die spär­li­chen Schul­tern be­ben, und et­was spricht in ihm: »Aber was ist denn das? Ich wei­ne ja! Das darf doch nicht sein … Nicht?«

Horche auf, Kleiner …

Hor­che auf, Klei­ner. Hor­che auf mich!

Der Wind geht in den kah­len Bäu­men, Rie­sel­re­gen tropft lei­se, in der Fer­ne schlägt eine Uhr – und nichts kann trüb­se­li­ger sein als die­se gleich­gül­ti­ge Mah­nung, dass auch die Stun­de der Trau­er vor­über­ge­hen wird und du bald wie­der zu spre­chen, zu ar­bei­ten, zu lä­cheln hast und dass Lö­wen­zahn blü­hen wird und Weiß­dorn.

Wie eine Qual ist’s ihm, sei­ne Schmer­zen dem stach­li­gen Ge­sper­re sol­cher Zwei­ge gleich ge­gen die Brust zu drücken, doch ahnt er, dass sie sein wer­den wie der wei­ße Saft je­ner an­de­ren Blü­ten, der gar zu rasch in ein häss­li­ches Braun sich ver­färbt.

Lie­bes ei­gen­wil­li­ges Ge­sicht. Klei­ne Fin­ger, schma­le, stol­ze. Und du Gang, der du ein we­nig breit bist und so haf­tend, wie Kat­zen in der Son­ne ge­hen. Lie­bes ei­gen­wil­li­ges Ge­sicht.

»Wenn man ster­ben könn­te! Ster­ben müss­te so gut sein, hier, zwi­schen den ent­färb­ten Blät­tern, de­ren dump­fer Ge­ruch an die Früh­lings­au­fer­ste­hung er­in­nert. Aber nicht ein­mal das kann man. Denn ir­gend­wie ist es ge­setzt zwi­schen dir und mir, dass wir da wa­ren, uns zu grü­ßen und von­ein­an­der zu ge­hen mit dem Wis­sen, die­se sei bis ans Ende zu tra­gen – die­se Lie­be …«

Er horch­te dem zum ers­ten Male durch­fühl­ten Wort nach, die Mie­ne ver­son­nen; doch nun schlug eine Verzweif­lung auf, die Hän­de ball­ten sich. »Nein! Nein!«

Und da fand er sie, fand die klei­ne Kar­te mit ei­nem Na­men, der ihn stut­zen mach­te, denn an­ders lau­te­te er wie Ger­da, aber: »Bah, ich habe sie doch von ihr!«

Er liest die Adres­se, macht zwei, macht drei Schrit­te, und schon ist er fort.

*

Hor­che auf mich, Klei­ner!

Wind geht in kah­lem Ge­äst. Rie­sel­re­gen tropft lei­se.

Der Träumer legt sich von der Herzseite auf die rechte

Der Wind streicht über die Dü­nen, spielt im Strand­ha­fer und im Haar des Träu­mers, geht wei­ter zu den Kie­fern­ku­scheln, de­ren Zwei­ge zu­rück­wo­gen, – kommt, spielt, geht – und er­füllt ist der Him­mel von der Me­lo­die des Mee­res.

Über das blei­che Ge­sicht huscht ein Zu­cken. Er rührt sich im Schlaf, legt sich von der Herz- auf die rech­te Sei­te. Nun ist es, als wol­le er er­wa­chen, sei­ne Lip­pen re­gen sich, und die Wor­te, wel­che nicht laut wer­den, hei­ßen so: »Nicht dies. Nein, so war es nicht. Heim­gang, Er­mat­ten, Zwei­feln und das Schlimms­te: das Ungläu­big­wer­den an ihr … das Ungläu…«

*

Der Mond ist fort, hin­ter Wol­ken. Es ist ganz dun­kel.

Sprach je­mand?

Ent­glei­te, zö­gern­der Schat­ten, dem Lei­be des Träu­mers, gehe ans Ufer!

*

Auf dem Mee­res­grund wan­dert ei­ner, leis leuch­tend durch­strei­fen ihn Fi­sche, lang­sam ru­dern­der Bla­sen­tang glei­tet durch sei­ne Hän­de.

Ist er ver­irrt? Sucht er? Schick­sa­le? Sind die­se un­ge­heu­ren Tang­wäl­der über­füllt von un­ge­stal­te­ten Träu­men, ver­säum­ten Le­ben?

Wen sieht er doch?

Er lä­chelt, er spricht, klagt an – ach, er weint! Schon ist er wie­der fort, er ent­glei­tet, er ist hier, dort, zehn sin­d’s, hun­dert, tau­send … Wie sie strei­ten! Sie kämp­fen, man­che fal­len, an­de­re ei­len her­bei, sie um­schlin­gen sich, sie schei­nen ein Lied zu sin­gen –: sie sind fort.

Nein, ei­ner schleicht noch durch Tang und Gras, du siehst ihn kaum. Ist er ver­irrt? Sucht er? Er lä­chelt, er klagt an – ach, er weint!

Ein Was­ser­trop­fen. Ein Dich­ter, der ver­säum­tes Le­ben träumt …

*

Wind weht, Strand­ha­fer ra­schelt, über die Hand ei­nes Träu­men­den läuft klin­gen­der Sand.

Abgetan im Unratwinkel

»Dies ist der Weg, und dies ist das Tor. Was schlug die Uhr? Vier? Ah, zu wird das Haus sein, erst um sie­ben geht’s auf, und wie soll denn ich, am hel­lich­ten Tag, zu ihr ge­hen, die nur ein Bar­mä­del …«

Ein An­prall war es, ein Schlag ins Ge­sicht, ein ra­sen­der Schmerz. Sei­ne gan­ze Ver­gan­gen­heit steht in ihm, sei­ne Ge­wor­den­heit steht auf … jene mein­te das Bei­sei­te­wort der El­tern, jene ihr Ach­sel­zu­cken, der Druck mit der Schul­ter, der fort­schob … jene auch man­ches Pen­nä­ler­wort, in der La­tri­ne auf­ge­schnappt … ihr Bu­sen wird lüs­tern ent­blö­ßt, ihre Wan­ge be­gei­fert vom zo­ti­gen Wort …

»Ger­da, lie­be, lie­be Ger­da, warum hast du das ge­tan!

O Traum von Bü­chern, fried­li­chen Zim­mern, in de­nen bei kla­rem Som­mer­wind wei­ße Gar­di­nen we­hen – Traum von Kin­dern, um mei­ne Knie tan­zend – Traum von je­ner Frau, die blond, blau­äu­gig, schlank, mich grüßt mit ih­rem schöns­ten Lä­cheln!«

Nun auf die feuch­te Erde ge­wor­fen, das Haupt ge­gen eine Baum­wur­zel ge­lehnt – nun, in dem Dunst des Ab­fall­win­kels, den ei­sig nas­sen Vor­früh­lings­re­gen auf Lip­pen und Wan­gen – nun, Bit­ter­keit im Her­zen ge­gen sie und eine wil­de An­kla­ge auf der Zun­ge ge­gen sie, klei­ne, hol­de Traum­zer­stö­re­rin – nun sah er eine an­de­re Zu­kunft vor sich, eine dunkle, fahl Wet­ter­schein er­hell­te: kaum brach das Licht der Bar durch ab­ge­stan­de­nen Rauch, pel­zig die Zun­ge vom Schnaps des vo­ri­gen tags, doch dei­ne Liebs­te hin­ter der The­ke führt mit je­dem, den’s ge­lüs­tet, zo­ten­des Ge­spräch.

Und er warf den Kopf zu­rück, ganz preis gab er sich Re­gen, Wind und Ver­der­ben, hin­ter sei­nen Li­dern ent­stand Bild um Bild des Ge­ahn­ten, und je we­ni­ger er wuss­te, was es ei­gent­lich war, das so schreck­lich sein soll­te, umso fürch­ter­li­cher schi­en es.

Das ist der Schmerz, er blu­tet, er tropft; schreit er gleich tief da drin­nen, auch im Kör­per tanzt er und reißt, wirft den Jun­gen­leib um­her und sein Ah und Oh ent­steigt bla­sig dem Lao­ko­ons­mun­de.

Denn das ist es, dass er nicht tren­nen kann: ihre Schan­de ist sei­ne Schan­de … aber Schan­de … Schan­de …! Der so sorg­sam Be­hü­te­te ahnt in die­sem Win­kel schon die viel bitt­rer bei­zen­de Ver­ach­tung der auf­rech­ten Wand­ler. »Und die wer­de ich nie er­tra­gen kön­nen!«

»Und warum soll­te ich es? Steh auf, geh heim: nichts ist ge­sche­hen. Nicht ein­mal dei­nen Na­men weiß sie, dei­ne Woh­nung nicht. Es ist, als sei es nie ge­we­sen. (Und Arne kann man mor­gen früh ver­stän­di­gen, dass er nichts sagt.)«

*

Er steht auf. Er zit­tert am gan­zen Lei­be. Er flüs­tert: »Und ich bin es doch ge­we­sen, der vor we­ni­gen Stun­den erst sag­te, man kön­ne nicht schlecht sein? Was bin ich nun? Wie ge­mein? Freue mich, dass sie mei­nen Na­men nicht weiß, sie, die nichts von mir woll­te, die mir mei­nen Wein be­zahl­te?«

Schüt­telnd: »Nein, so geht es nicht. An­ders müss­te man … Aber wie denn ent­schei­den? Hat man’s nicht im Blut? Denn un­be­rührt von al­lem saß Arne da­bei und konn­te so­gar mit ihr strei­ten …«

Plötz­lich lä­chelt er. Ihr klei­nes, wie ge­tusch­tes, zärt­li­ches Bild war ihm von neu­em er­schie­nen und Zwei­fel Tor­heit ge­wor­den. »Was ist denn? Lie­be ich denn nicht?«

»Aber sie hat ge­lacht zu Ar­nes Zo­ten! Und wenn! Be­wie­se das et­was? Ja schon. Aber je­den­falls: nun gehe ich zu ihr. Kei­ne Eile, kei­ne Eile, denn wenn es sein soll, soll es sein, und wenn es nicht sein soll – so soll es doch sein!«

Fiebertag

Längst schlug die Uhr fünf. Lich­ter wur­de die Nacht.

Schon er­kennt er, ver­ne­belt noch, die schnörk­li­gen Hoch­gie­bel der al­ten Häu­ser mit ih­ren La­de­lu­ken, am Wall.

Nicht nur sie. Eine klei­ne hol­de Ge­stalt streicht ihm ent­ge­gen – sein Herz stockt: »Nein, nein, wie soll­te sie es sein?« –, eine Hand fasst ihn, und aus dem Stimm­klang ahnt er das fro­he Lä­cheln hin­term Schlei­er­hauch, als sie ihn grüßt: »Siehst du, da bist du!« Und: »Du muss­test ja kom­men.«

»Frei­lich, ich woll­te wäh­len, über­le­gen, doch dann merk­te ich, dass al­les längst be­schlos­sen.«

(»Aber das sage ich dir nicht, dass ich dich ver­riet. Selbst dir nicht!«)

»Nun aber hin­auf mit dir! Wie kalt dei­ne Hän­de sind und wie feucht!«

(»Ja – doch! Ein­mal wer­de ich dir auch das sa­gen kön­nen … einst.«)

»So, und nun hier die Stu­fen. Wart einen Au­gen­blick, schlie­ße das Haus nur noch zu. – Hier sind wir.«

Der Schal­ter knackt, Licht flammt auf, und in ih­rem Auf­schrei – »Gott, wie siehst du aus!« – er­blickt er vor sich einen Jun­gen, blut­lee­ren Ge­sich­tes, Haa­re wild in der Stirn, mit flam­men­dem Mund wie ein Wun­driss, ge­beu­tel­ten Klei­dern, feuch­ten, ver­dreck­ten, und dem ir­ren­den Blick ei­nes Zweif­lers.

Ja, auch er zwei­felt, wen­det sich ab, zwei­felt mit dem Mund, irrt mit den Au­gen, wen­det sich ab.

Da be­greift der Acht­zehn­jäh­ri­ge, dass er in die­sen re­gen­ge­stri­che­nen, wind­durch­s­aus­ten Nacht­stun­den noch an­de­re Wege ging wie die lehm­feuch­ten des Walls, bit­te­re Wege, be­greift’s, dass die grad­li­ni­gen amö­nen Wie­sen­pfa­de pas­siert sind, dass nun die He­cken und Knicks kom­men, die so stach­lig sind, un­über­sicht­lich, eng.

War es dies, das ihn mur­meln mach­te: »Ver­ur­teilt vor der Schuld und ver­dammt ohne Be­ru­fung …?«

Sie stand ne­ben ihm, sah das Wei­cher­wer­den des Ge­sichts – schon zuck­te die Lip­pe –, und sie ahn­te viel­leicht, dun­kel und trü­be, das Zer­ren der al­ten Ban­de, das Er­wa­chen ei­ner Stall­mü­dig­keit, das Erin­nern an wel­che El­tern, aber weich­hän­dig spielt sie die Sträh­nen aus der Stirn, schmei­chelt die Fal­ten fort, ruft: »Was schaust du dich an? Wirst dich doch ken­nen. Dort hin­ein und ins Bett. Ei­nen Tee koch ich dir …«

Im Zim­mer stand er, sah um sich, at­me­te auf. »Al­lein! Sie hat mich nicht er­ra­ten!«

*

Wun­der­sam strei­chelt die glat­te Küh­le der La­ken die er­hitz­ten Glie­der, sei­dig schmiegt sich das Kis­sen in den Na­cken, die Li­der sin­ken zu, und nur die Nase noch schnup­pert nach ei­nem Ge­misch von Düf­ten, das sie zu un­ter­schei­den be­ginnt, aber des­sen Be­stand­tei­le sie nicht be­stim­men kann. Klei­ne Bil­der blü­hen hin­ter den ge­schlos­se­nen Li­dern auf: ein ova­ler Ring in lila Far­be, bläu­li­che Flämm­chen za­cken von ihm, dann ein tief­blau­er Ball mit weiß­gol­de­nem Rand, dann – und er reißt die Au­gen auf, fal­tet die Hän­de, als ihm ein­fällt, dass es viel­leicht sinn­los ist, das Abend­ge­bet zu spre­chen, da sich doch al­les so ver­än­der­te. Aber auch das muss erst durch­dacht wer­den, er wird das Ge­bet so lan­ge zu­rück­stel­len und auch ge­ra­de hier, ob es nicht hier ge­schmack­los ist?

»Aber nein, gra­de hier …« und stei­gen­den Trotz in sich und das Be­wusst­sein, wie kin­disch doch sol­cher Trotz, be­tet er – ge­gen die an­de­ren, ge­gen die El­tern und auch ge­gen ihn, den Gott – sein Va­terun­ser, at­met ein paar­mal rasch, schluckt, fühlt das Be­dürf­nis, laut zu sa­gen: »Al­les egal!«, und bläst wie­der in die Kis­sen.

Als die Tür auf­geht und er hell­wach tas­ten­den Schrit­ten lauscht.

»Jo?«

»Ja?«

»Ich habe dir dei­nen Tee ge­bracht. Aber al­les Licht ist aus. Ja, hät­test du nur we­nigs­tens die Nacht­lam­pe an­ge­las­sen. Wie soll man denn …«

Ganz lei­se und zag: »Ver­zeih nur.«

Das Licht glüht sanft, sie sagt: »O du Dum­mer du, wie soll ich denn im Dun­kel mein Bett fin­den?«

»Ich dach­te … dein Bett …«

»Ja, mein Bett … wie …?«

»O ver­zeih nur …«

»Da schaust du. Wo steht es wohl, mein Bett?«