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Religiöse Fragen kompetent beantwortet Die wissenschaftliche Theologie muss heute scheinbar einfache, alltägliche religiöse Fragen schlüssig beantworten können, die jedoch zahlreiche Vorannahmen und Implikationen in sich tragen. Dietrich Korsch möchte diese Kompetenz stärken und richtet sich in diesem Band unter anderem an Studierende der Theologie, die auf das Examen zugehen und sich um die Integration der theologischen Einzelfächer bemühen.
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Seitenzahl: 481
Dietrich Korsch
Antwort auf Grundfragen christlichen Glaubens
Dogmatik als integrative Disziplin
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die elementare Fragen zur christlichen Religion stellen und Antworten suchen, die sie gedanklich und geistlich befriedigen. Es wendet sich zudem an solche Menschen, die von Berufs wegen Antworten des christlichen Glaubens geben müssen und geben wollen, die aber ebenfalls selbst von den Fragen bewegt werden, mit denen sie umzugehen haben. Es macht ein Kennzeichen unserer Gegenwart aus, daß die beiden Personengruppen nicht streng geschieden sind. Auch diejenigen, die Antworten formulieren sollen, werden ihre Fragen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht immer zufriedenstellend gelöst finden. Und diejenigen, die Antworten suchen, wollen wissen, auf welchen Wegen und mit welchen Gründen man denn zu ihnen kommen kann. Das kommunikative Spiel von Frage und Antwort ist im Christentum seit alters religiös angebracht und bewährt sich besonders in unserer Gegenwart. Denn es zeichnet das Christentum als eine Religion aus, die auf eigene Überzeugung zielt und die auch die Mittel bereitstellt, selbst zu ihr zu finden. Als Weg zu dieser Überzeugungsbildung kommt das Gegenüber von Fragenden und Antwortenden – mit wechselnden Rollen – ernsthaft in Betracht. Denn diese Struktur der Wechselrede muß darauf setzen, daß sich das letzthin Überzeugende von selbst einstellt – weder gibt es schlechthin autoritative Antworten noch völlig unbeantwortbare Fragen.
Für Theologinnen und Theologen verdichtet sich das Verhältnis von Fragen und Antworten vor allem am Ende des Studiums und in der Phase der kirchlichen Ausbildung oder des Referendariats. Denn dann, wenn es darum geht, für sich selbst (und vor einer Prüfungskommission) Auskunft zu geben über die religiöse Leistungsfähigkeit des Gelernten, kommt es darauf an, die eigenen religiösen Fragen als Indikatoren für den Studienerfolg ernst zu nehmen. Die Menge des Stoffes wurde und wird ja nicht um seiner selbst willen, sondern zum Zwecke der Verwendung in Kommunikationssituationen gelernt. Und wer sich diese Fragen nicht vor dem Examen stellt, dem werden sie spätestens im Vikariat oder im Referendariat als praktische Anforderung an theologische und religiöse Kompetenz begegnen.
|VI|Darum liegt der Schwerpunkt des Buches auf der paradigmatischen und experimentellen Suche nach tragfähigen Antworten auf scheinbar ganz einfache Fragen. Daß solche einfachen Fragen freilich zum Teil ganz erhebliche Anstrengung verlangen, kann nicht verborgen bleiben. Der gedankliche Aufwand ist jedoch nötig, wenn man sich nicht mit oberflächlichen Auskünften zufrieden geben will; es zeigt sich überdies, daß das eigene Denken in Dingen der Religion keineswegs von den elementaren religiöses Fragen abführt und im einzelnen auch dann in jedem Schritt nachvollziehbar ist, wenn man nicht über ein bereits abgeschlossenes oder auf das Examen zuführendes theologisches Studium verfügt.
Weil die Antworten auf einfache Fragen heute nicht ohne das Bedenken von Voraussetzungen gegeben werden können, führen die beiden ersten Paragraphen dieses Buches in die gegenwärtige Lage des theologischen Denkens ein – und damit auch in die Situation, die die Hintergründe der nun einmal so gestellten Fragen bestimmt. Die Lektüre dieser Paragraphen ist für alle Leserinnen und Leser unabdingbar, die sich selbst in die Lage versetzen wollen, produktive eigene Antworten auf unerwartete und hier nicht erörterte Fragen geben zu wollen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, unmittelbar auf diejenigen Paragraphen zuzugreifen, die sich mit den einfachen Fragen selbst beschäftigen. Und es könnte dann auch geschehen, daß sich von den Antwortversuchen her ein Interesse an den historischen und theologischen Voraussetzungen entwickelt, von denen eingangs die Rede ist.
Die Argumentationen in diesem Buch gehen zurück auf Lehrveranstaltungen, die sich als „Integrationsmodul Systematische Theologie“ der Ordnung theologischer Wissensbestände in praktischer Absicht widmeten. Sie stellen gedankliche Strukturen im Rückblick auf historische und systematische Stationen der Theologie vor, die die eigene Urteilsbildung anleiten wollen, sind also nicht als unmittelbar anwendbare Rezepte zu verstehen. Diese kann es schon deshalb nicht geben, weil die Situation der Fragenden stets individuell bestimmt ist und eine eigene Aufmerksamkeit verdient. Die hier zur Darstellung kommenden Modelle gehen aber, wie man bemerken wird, auf eine zusammenhängende Sicht des Christentums zurück, die den Menschen als von Gott angesprochenes und in die Gottesgemeinschaft eingeladenes Wesen versteht. In dem Maße, wie dieser Hintergrund angeeignet wird, läßt sich das Gefälle der einzelnen Argumentationen immer leichter nachvollziehen und als Basis eigener Antwortversuche gebrauchen.
|VII|Frau Pfarrerin Dr. Insa Rohrschneider, Herr Studienreferendar Dr. des. Jens Trusheim, Frau Pfarrerin Jennifer Vahl und Herr stud. theol. André Flimm haben große Teile des Textes vorab gelesen und mir wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben. Ebenso danke ich den Mitgliedern des Hans-von-Soden-Instituts für theologische Forschung sowie Herrn stud. theol. Stefan Michels für aufschlußreiche Rückmeldungen.
Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken Falk Wagners (1939–1998). Der Münchner und Wiener Theologe, den wir als Gesprächspartner und Kritiker vermissen, hat in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder eine Umstellung der Theologie auf Lebensfragen gefordert und wohl auch selbst im Sinn gehabt. Ob das, was hier aufgeschrieben ist, seinen Beifall gefunden hätte, ist mir keineswegs sicher. Daß es sich aber auch seinem Impuls verdankt, dessen bin ich gewiß. Darum soll es an ihn erinnern.
Für ihre Mithilfe bei den Korrekturen danke ich Frau Katharina Opalka von der Universität Bonn und Herrn Sebastian Schmidt von der Universität Köln.
Kassel, im Juni 2015 Dietrich Korsch
Wozu braucht man Dogmatik? Als Examensfach hat die Dogmatik einen schweren Stand. Im Unterschied zu den historischen Fächern, also der Exegese und der Kirchengeschichte, ist Dogmatik schwer zu lernen. Studierende begegnen in der Vorbereitung aufs Examen verschiedene Dogmatiken, deren Verhältnis zueinander weitgehend ungeklärt bleibt; man entscheidet sich, weil manche Prüfungsordnungen so etwas verlangen, für eine „Hausdogmatik“, in der Regel aus Gründen wie Umfang, Empfehlung früherer Examensjahrgänge, subjektivem Geschmack. Daß man bei der Lektüre einer Dogmatik unter diesen Vorgaben eine theologische Klärung eigener religiöser Fragen erfährt, dürfte zu den Ausnahmen gehören. Auch das steigert das Interesse an der Dogmatik nicht gerade.
Dieser insgesamt mißlichen Lage widerspricht, daß man Dogmatik sozusagen immer benötigt, wenn es überhaupt um religiöse Sachverhalte geht. Sobald man sich die elementaren Vorstellungen des eigenen Glaubens klar machen möchte, kommt man um eine Ordnung und Gewichtung historischer Wissensbestände nicht herum. Was es mit der Auferstehung Jesu auf sich hat, darauf kann kein Zitat von Bibelstellen befriedigende Auskunft geben. Erst recht braucht man Dogmatik in der Kommunikation in Gemeinde und Schule. Denn die Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Gemeindeglieder wollen – zu Recht – wissen, was es mit dem christlichen Glauben auf sich hat; so, daß man mit ihm leben kann. Deshalb müssen Lehrerinnen und Lehrer, Pfarrer und Pfarrerinnen Antwort geben können auf die scheinbar einfachen Fragen, die an das Christentum gestellt werden, sei es aus Gründen des Kennenlernens, sei es aus Gründen der Vertiefung eigener Zugehörigkeit. Denn bei diesen einfachen Fragen geht es um das Ganze des Glaubens, und wer so gefragt wird, kann sich nicht durch historische Auskünfte aus Bibel und Kirchengeschichte aus der Affäre ziehen. Er oder sie muß vielmehr so Stellung nehmen können, daß die Antwort dem Niveau der gegenwärtigen Formulierung des Problems standhält, wie ungeschickt diese auch immer gefaßt sein mag.
Eine Antwort kann nur dann beide, die fragenden ebenso wie die Auskunft gebenden Menschen, zufriedenstellen, wenn sie auch |2|persönlich zu überzeugen vermag. Insofern ist die Klärung im eigenen theologischen Bewußtsein derjenigen, die von Berufs wegen mit der Religion umgehen, unerläßlich; nur was mich selbst überzeugt, kann ich anderen überzeugend vortragen. Es könnte sein, daß dieses Zutrauen zu einer ebenso authentischen wie sachgemäßen und zeitentsprechenden religiösen Kommunikation im Studium zu wenig ausgebildet wird. Dann ist es aber ganz besonders nötig, eine entsprechende Kompetenz in der theologischen Argumentation zu erwerben. Eine Kompetenz, die es nicht nur versteht, auf dem professionellen Niveau theologischer Wissenschaft zu argumentieren, sondern deren zentrale Einsichten auch gegenüber scheinbar schlichten Fragen auf der Ebene des Alltagsbewußtseins verständlich zur Geltung zu bringen. Das ist deshalb grundsätzlich möglich, weil das Interesse an Aufklärung und Selbstaufklärung beiden, den Fragenden wie den Antwortenden, gemeinsam ist.
Darum sind die Erörterungen dieses Buches auch nicht nur für professionelle Theologinnen und Theologen in Kirche, Schule und anderswo gedacht, sondern für alle Christenmenschen, die über die gedankliche Form ihres Glaubens Auskunft suchen. Die Auskünfte werden diejenigen am meisten befriedigen, die – im Bewußtsein, daß der Glaube aufgrund seiner Lebensbedeutung auch Aufmerksamkeit und Einsatz verlangt – dazu bereit sind, sich auf einen gedanklichen Weg mitnehmen zu lassen, der ihnen auf alle Fälle eine Aufklärung ihrer eigenen Gegenwart und des christlichen Lebens in ihr verspricht.
Theologische Argumentationsfähigkeit wächst durch die Erprobung der Fähigkeit, auf einfache Fragen gehaltvoll zu antworten. Dieses Ziel läßt sich in drei Schritten erreichen.
Erstens geht es darum, die gestellten Fragen zu verstehen. So einfach und scheinbar unmittelbar die Fragen daherkommen, zumal wenn sie sich eingespielten Grundstellungen des aktuellen Alltagsbewußtseins verdanken, so sehr werden sie doch vor Hintergründen formuliert, die von allgemeinen und überindividuellen Voraussetzungen gespeist werden, wie individuell und lebensgeschichtlich abgetönt sie auch immer klingen mögen. Insofern geht es darum, diese Hintergründe zu kennen und zugleich die individuelle Bezugnahme auf sie zu verstehen, in der jene Grundannahmen als Lebensvergewisserungen in Anspruch genommen werden. Die scheinbar einfachen Fragen deuten ihrerseits auf Irritationen im Bewußtsein der Lebensführung. Insofern wird das Bewußtsein, aus dem heraus sich derartige Fragen stellen, in diesem Buch als religiöses Bewußtsein bezeichnet – als ein Bewußtsein also, |3|das sich nicht über irgendwelche Gehalte definiert, sondern über das Bestreben, nach Lebensvergewisserung zu suchen. In dieser Absicht aber können sich nicht nur diejenigen wiederfinden, die für sich die christliche Religion praktizieren. Religiöses Bewußtsein reicht, so beschrieben, über die Affirmation von religiösen Vorstellungen hinaus.
Zweitens muß es darum gehen, die für die Antwort nötigen Wissensbestände zu vergegenwärtigen. Wenn die auf den ersten Blick naiven Fragen leitend sind, dann kann sich die Bereitstellung von Kenntnissen historischer Art, sei es aus der Bibel oder aus der Kirchen- und Theologiegeschichte, ebenso wenig wie die Erinnerung an dogmatische Gedankenformationen der Logik der theologischen Fächer überlassen. Es muß vielmehr darum gehen, ein argumentatives Potential in den Blick zu bekommen, mit dem man auf ganz unterschiedliche Vorgaben in der jeweiligen Frage zu reagieren imstande ist. Das macht einen kreativen Umgang mit den Beständen der Tradition nötig. Eben diese Aktualisierungen aber widersprechen der Tradition auch gar nicht, ist die Tradition doch ihrerseits schon aus genau solchen Situationen der Rechenschaftsablage erwachsen.
Drittens ist der Aufgabe zu genügen, modellhafte Antworten zu formulieren. Es kann sich hier aus zwei Gründen nur um Modelle solchen Antwortens handeln. Einmal läßt sich die konkrete Situation, aus der eine einfache Frage erwächst, nicht auf eine allgemeine Ebene bringen; stets ist im kommunikativen Entstehen solcher Fragen ein Potential von aktueller Lebensdeutung enthalten, das andere Fragen verschwiegen mit sich führt. Diese zu erfassen, gehört zur Kunst individueller theologischer Rede und ist mit der Fähigkeit zur Seelsorge eng verschwistert. Sodann kann natürlich auch in den hier vorgetragenen Mustern der Argumentation die individuelle Perspektive des Autors nicht vermieden werden. Zweifellos läßt sich hinsichtlich der Analyse des gegenwärtigen religiösen Bewußtseins eine gewisse Übereinstimmung erzielen, nicht zuletzt darum, weil wir alle in irgendeiner Weise daran teilhaben. Es ist aber immer auch möglich und in jedem Einzelfall geradezu nötig, sich für eine spezifische Grundoption zu entscheiden, der die jeweilige Argumentation in der Antwort folgen soll. Von ausgebildeten Theologen im Lehramt oder Pfarramt darf man nur erwarten, daß sie wissen, was sie tun, wenn sie die Wahl der einen oder anderen theologischen Argumentationslinie vornehmen.
Dieses Buch kann naturgemäß nicht die historischen Wissensbestände aus Exegese, Kirchen- und Theologiegeschichte bereitstellen. Für Theologiestudierende sind diese Gegenstand ihres |4|wissenschaftlichen Studiums, auf das sie in der Integrationsphase vor dem Examen zurückgreifen können. Die bereits in Kirche und Schule Tätigen werden sich an die Kenntnisse aus ihrem Studium erinnern und diese, wo nötig, auffrischen. Dazu sind vor allem die klassischen Lexika der evangelischen Theologie geeignet, insbesondere die „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG – in dritter und vierter Auflage) sowie die „Theologische Realenzyklopädie“ (TRE); beide sind in vielen Bibliotheken und zum Teil auch über das Internet zugänglich. Hinweise auf Quellen und Literatur werden für alle, die sich näher über die vorgetragenen Sachverhalte und Argumentationen informieren wollen, im Anhang gegeben.
Dagegen ist es die ausgesprochene Absicht dieses Bandes, paradigmatische Verknüpfungen vorzustellen und zu erproben, mit denen auf die scheinbar einfachen Fragen reagiert werden kann. Dafür ist es erforderlich, sich der gegenwärtigen Lage der dogmatischen Theologie auf dem Hintergrund ihrer modernen Geschichte zu vergewissern. Das verhindert ein allzu rasches Zugreifen auf formelhaft in der Luft liegende argumentative Versatzstücke, die sich in der Regel bereits eines trivialen Codes binnenkirchlicher Sprache bedienen. Es wird sich zeigen, daß sich in der Abfolge der Antworten auf die – auch hier: unvermeidlich systematisierten – Fragen ein Geflecht von Argumentationen aufbaut, das es erlaubt, auch andere Verknüpfungen herzustellen oder Sprünge vorzunehmen, ohne die sachliche Logik zu verlassen. Das Register im Anhang des Buches gibt einen Einblick in diese Art von Verknüpfung.
Daraus ergibt sich mein Rat für den Umgang mit diesem Buch. Es sollen erstens die vorgestellten Argumentationen – im Blick auf die in Gebrauch genommenen theologischen Kategorien – kritisch überprüft werden. Es ist stets möglich, auch andere theologische Gesichtspunkte mit ins Spiel zu bringen, die die vorgelegten Gedanken erweitern oder korrigieren. Die positionelle Vielfalt, von der die Antworten Gebrauch machen, soll auch auf sie selbst angewandt werden. Zweitens empfiehlt es sich, die als Leitfiguren verwendeten Fragen selbst noch einmal zu variieren. Was ergibt sich für die Schlüssigkeit einer Antwort, wenn man die Akzente der Frage, ja bereits deren Formulierung, verändert? Mit den verschiedenen lebensgeschichtlichen Kontexten, denen die Fragen entstammen, ist ja die Wahrscheinlichkeit einer jeweils anders getönten Artikulation von selbst gegeben. Schließlich sei empfohlen, das hier geübte Verfahren auch für andere, weitere Fragen zu erproben – derer gibt es ja die Fülle, auch wenn viele wieder mit den Themen |5|zu tun haben werden, die hier zur Sprache kamen. Solche Erprobung läßt sich gut in einer Gruppe von Kollegen und Kolleginnen im Beruf oder im Studium inszenieren; die Vielfalt der Kenntnisse, die ins Spiel kommen, wächst, und über die Optionen zur Verknüpfung zu einer Argumentation kann und muß man sich verständigen. Nach meiner Erfahrung ist das die Grundlage interessanter und erfreulicher theologischer Fortbildung.
Wer sich in der evangelischen Dogmatik orientieren möchte, sieht sich in der Moderne vor die Tatsache gestellt, daß es unterschiedliche, ja zum Teil ausgesprochenermaßen gegensätzliche dogmatische Konzeptionen gibt. Deren Verhältnis zueinander erschließt sich dem ersten Blick nicht leicht. Sie scheinen jeweils mit gewissen Vorannahmen zu arbeiten, die bestimmten religiösen oder zeitgeschichtlichen Interessen entsprechen, ohne diese immer auszuweisen. Über den Eindruck einer theologischen Beliebigkeit der dogmatischen Entwürfe kommt man nur hinaus, wenn es gelingt, die historische Logik zu entschlüsseln, die in ihrer Abfolge und Zuordnung liegt. Unter historischer Logik wird hier der Sachverhalt verstanden, daß sich Theologien immer auf ein explizites oder implizites Verständnis ihrer Zeit beziehen, auf das hin sie die christliche Botschaft gedanklich einstellen und ausgelegen. Folgt man diesen historischen Zugängen, dann reduziert sich die vermeintliche Vielfalt auf einige wenige, gut nachvollziehbare Wendepunkte der modernen Geschichte, die das evangelische Christentum herausfordern. Es läßt sich überdies erkennen, daß die Darstellung und Auslegung der christlichen Botschaft stets einen kritischen Kommentar zur jeweils aktuellen gesellschaftlichen Situation darstellt.
Die erste große Herausforderung, vor die das evangelische Christentum in der Moderne gestellt wurde, datiert auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit dem Übergang von der europäischen Aufklärung zur französischen Revolution und ihren Folgen. Immanuel Kant (1724–1804) hatte ausgesprochen und theoretisch begründet, daß man nicht länger aus den Gegebenheiten der natürlichen Welt auf Gott schließen darf, also auch nicht etwa umgekehrt die Gegebenheiten der Welt als Resultate von Gottes Willen ausgeben kann. In Kants Auffassung spricht sich die Beschränkung unseres erkennenden Bewußtseins auf die erscheinende Welt aus, also die Grundannahme, mit der die moderne Naturwissenschaft arbeitet. Gott ist nicht in der Weise die Ursache der Welt insgesamt und im einzelnen, wie wir mit dem Verhältnis von Ursache und Wirkung in der wissenschaftlichen |8|Forschung arbeiten. Zugleich aber, und das ist noch wichtiger, steckt in Kants erkenntnistheoretischer Begrenzung die Aufforderung, Gott nicht in der Welt der Erscheinungen, sondern in unserem eigenen Bewußtsein zu suchen. An uns selbst, nicht über die Gegebenheiten der äußeren Welt, erschließt sich die Transzendenz Gottes. Denn auch wir selbst bestimmen unser Verhalten nicht nach Gesetzen der natürlichen Welt, sondern nach den inneren, moralischen Gründen unserer Vernunft.
Friedrich Schleiermacher (1768–1834) hat als erster mit aller Konsequenz die Folgerungen aus dieser Umstellung Kants gezogen. Er hat in seiner Dogmatik „Der christliche Glaube“ (2. Auflage 1830/31) die Transzendenz Gottes am menschlichen Bewußtsein selbst aufgewiesen: Gott ist der Grund der menschlichen Freiheit, von der jeder Mensch in seinem endlichen Leben Gebrauch macht. Damit gehört Gott so nah zum Menschen wie nichts, was ein Teil der Welt ist; darum begleitet Gott den Menschen aber auch in allem seinem Umgang mit der Welt und den anderen Menschen. Über Jesus von Nazareth ist diese Bestimmung Gottes ohne jede Einschränkung klar geworden, und durch den Geist Jesu wirkt sie sich auch in unserem Leben aus. An Jesus selbst lernen wir es, uns in unserer Freiheit ganz auf Gott zu verlassen. So versteht Schleiermacher die durch Jesus von Nazareth in die Welt gekommene Erlösung.
Das moderne Weltbewußtsein und das moderne Freiheitsbewußtsein gewinnen auf diese Weise einen mit dem christlichen Glauben zu vereinbarenden Stand; zugleich stellt der Glaube eine Voraussetzung dar, auf die man mit weltlich-wissenschaftlichen Argumenten nicht zurückschließen kann, von der aber Gebrauch gemacht werden muß, wenn das moderne Bewußtsein auf Dauer frei bleiben, sich also nicht an Gegebenheiten der Welt in ihrem wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß verlieren will. Unter den von Kant formulierten Bedingungen nimmt Schleiermacher eine Darstellung und Auslegung der christlichen Botschaft vor, die zugleich die eigene Gegenwart kritisch kommentiert.
Hinter diese Wendung, die den christlichen Glauben in der modernen Welt auszeichnet, kommt man nicht mehr zurück, weil sich die Grundlagen, die dafür ausschlaggebend waren, nicht verändert haben. Alle Versuche der Restauration eines vorneuzeitlichen Bewußtseins würden auf eine Beschränkung der Freiheit hinauslaufen. Sie würden Gott zu einem Stück der Welt machen, das man eigenen Zwecken unterwerfen kann. Und gegenüber dem modernen Freiheitsbewußtsein |9|könnte sich eine so verstandene christliche Religion nur durch Zwang durchsetzen wollen.
In der Nachfolge Schleiermachers hat man das 19. Jahrhundert hindurch daran gearbeitet, die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit der Fluchtlinie des christlichen Glaubens parallel zu halten. Gegen Ende des Jahrhunderts bemühte sich Albrecht Ritschl (1822–1889) noch einmal um den konsistenten Aufbau einer solchen Parallele, indem er den religiösen Gedanken des Reiches Gottes zugleich als sittlichen Zentralgedanken entfaltete.
Was geschieht aber, wenn das moderne Bewußtsein mit seinen Ansprüchen auf Gestaltung von Welt und Gesellschaft die religiöse Voraussetzung, den eigenen Grund der Freiheit, nicht mehr wahrnimmt oder respektiert? Das ist das latente Problem in Schleiermachers Dogmatik, das sich fast einhundert Jahre später gezeigt hat.
Der 1. Weltkrieg hat – als der enorme und brutale Bruch in der Kultur der Moderne, den er vollzog – die Hoffnungen darauf, daß sich Moderne und Christentum synchron gestalten lassen, widerlegt. Die mit ihm verbundenen Veränderungen im geistigen und politischen Leben Europas stellen die zweite große Herausforderung der Dogmatik in der Moderne dar; und auch darauf hat sich die evangelische Theologie eingelassen. An die Stelle der allgemeinen Bewußtseins-Transzendenz bei Schleiermacher tritt die spezifisch religiöse Transzendenz des Wortes Gottes in der dialektischen Theologie, namentlich bei Karl Barth (1886–1968); und diese äußert sich in einem methodisch neuartigen Gebrauch der religiösen Sprache, mit deren Hilfe diese religiöse Transzendenz eröffnet werden soll. Der dialektisch-theologische Typ von Transzendenz ist insofern keineswegs ein Rückfall in vorkantische Zeiten. Denn er unterscheidet genau zwischen dem unmöglich gewordenen Gedanken Gottes als Ursache der Welt und Gott als reinem Ursprung, wie er im christlichen Glauben gefaßt wird. Die Abgrenzung vom Gedanken der Ursache wird seitens der dialektischen Theologie Barths in der scharfen Negation jeder „natürlichen Theologie“ vorgenommen, und in die rechnet er auch noch die Theologie Schleiermachers ein, für die das Verhältnis von Gott und humanem Bewußtsein überhaupt leitend ist. Im Unterschied zu diesem – von Barth durchaus schematisch gefaßten – Typus von Theologie, der mit dem Vorhandensein Gottes und folglich einem strukturellen Vorliegen der religiösen Beziehung zu Gott rechnet, wird der Gedanke von Gott als Ursprung mit dem Ausdruck „Wort Gottes“ ausgelegt – und das in zwei Hinsichten. Einmal ist der Charakter des faktischen Geschehens |10|des Wortes zu unterstreichen; das Wort Gottes ist Anrede, sein Inhalt setzt das Gesprochensein voraus. Diese den Menschen bestimmende Anrede ist nach der Logik der dialektischen Theologie als „Offenbarung“ zu verstehen. Sodann ist im Wort Gottes die Göttlichkeit des Ursprungs zu unterstreichen. Wenn Gott selbst sein Wort redet und wenn nur durch diese Rede eine Beziehung zu Gott zustande kommt, dann wird darin der Mensch als von Gott getrennter Sünder erkannt und muß vor diesem Wort vergehen. Weil aber das von Gott gesprochene Wort ursprüngliches Wort Gottes bleibt, folgt aus der „Negation des Menschen“ die Begründung des Menschen, der in eine von ihm selbst nicht negierbare Beziehung zu Gott versetzt wird. Das ist die dialektisch-theologische Deutung des reformatorischen Verhältnisses von Gesetz und Evangelium.
Die dialektische Theologie des Wortes Gottes bei Barth verdankt ihre Entstehung ebenfalls der theologisch wahrgenommenen Geschichte, gerade indem sie sich einer historischen Einordnung ihrer konstitutiven Momente zu widersetzen versucht. Die Allianz von krisenhaftem und kriegstreiberischem Bürgertum mit der christlichen Religion im 20. Jahrhundert macht es für Barth nötig, das Ursprungsgeschehen der göttlichen Bestimmung des Menschenlebens als eigenständigen Vorgang zu akzentuieren, der auch den Erschütterungen der Geschichte standhält. Weil es sich so verhält, hat die Theologie Barths auch ein Widerstandspotential gegen den Nationalsozialismus besessen.
Allerdings ist in dieser sehr gut nachvollziehbaren Wendung, mit der die Theologie die moderne Geschichte kommentiert, zugleich ein verschwiegenes Problem enthalten. Damit nämlich die deutliche Bestimmung durch Gott als Ursprung zur Geltung kommt, war es nötig, die implizite historische Vermittlung durch die Krisen und Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unausgesprochen zu lassen. Die Geschichte, zu der doch diese Theologie ihren Kommentar gab, blieb der Konzeption des Wortes Gottes eigentümlich fremd. Genau das änderte sich mit der dritten Wendung, die die evangelische Theologie in der Moderne nahm. In ihr wird die Transzendenz nicht im Bewußtsein, auch nicht im Wort Gottes gesucht, sondern über die Geschichte vermittelt. Damit wird die Geschichte vom Darstellungsmedium der Religion zu ihrem konstitutiven Grund.
Wie in den beiden anderen Fällen, so gab auch hier die historische Situation den Anstoß. Es handelte sich um die Phase der deutschen Geschichte, in der es um die Konsequenz der demokratischen |11|Gestaltung der Nachkriegsgegenwart in Deutschland ging. Dazu war die Frage nach Sinn und Ziel dieser Geschichte in theologischer Deutung zu stellen. Zu einem konstruktiven Umgang mit dieser Aufgabe war die in der Krise konzipierte und in ihr kritisch wirksame Theologie des Wortes Gottes nicht geeignet. Die neue Theologie der Geschichte setzte sich ihrerseits nicht einfach in einen Gegensatz weder zur Transzendenz im Bewußtsein noch zur Transzendenz des Wortes Gottes, denn sie verstand die Geschichte als spezifisch menschlichen Weltumgang, der in religiöser Verantwortung wahrgenommen wird – und dies um so mehr, als die Geschichte selbst in Gott gründet. In diesem Ausgangspunkt sind sich Wolfhart Pannenberg (1928–2014) und Jürgen Moltmann (*1926), die beiden wichtigsten Repräsentanten dieses Typs von Dogmatik, einig. Und auch darin, daß sie die geschichtsbestimmende Einheit von Offenbarung und Geschichte in der Auferstehung Jesu Christi erkennen, die einen Vorblick auf das Ende der Welt und die Vollendung der Geschichte erlaubt.
Allerdings differenziert sich dieser gemeinsame Ausgangspunkt auch wieder gemäß der Logik des Gedankens von der Auferstehung Jesu Christi. Denn einerseits gilt Jesu Auferstehung als geschehen; sie ist als solche ein – wie immer näher zu beschreibendes – Faktum, auf das man zurückkommen kann, das auch selbst geschichtliche Auswirkungen besitzt. Auf der anderen Seite kann man nicht sagen, daß der universale Gehalt der Auferstehung Jesu schon verwirklicht wäre; die Auferstehung bleibt immer auch Verheißung des Reiches Gottes. In dieser Aufteilung akzentuiert Pannenberg das Geschehensein der Auferstehung als Vorwegereignung des Endes der Geschichte, von der her sich eine konstruktive Dynamik kontinuierlich durch die Geschichte zieht, um dann auf ein universalgeschichtliches Ziel zuzulaufen. Auf der anderen Seite unterstreicht Moltmann, daß die Auferstehung eine unabgegoltene Kraft besitzt, die sich als unendlicher Ruf in die Zukunft auswirkt. Daß diesen theologischen Begründungen auch unterschiedliche politische Optionen entsprechen, liegt auf der Hand. Während Pannenberg auf ein eher konservatives Modell der Entwicklung und Entfaltung setzt, zielt Moltmann auf einen andauernden kritischen Neuaufbau in Kirche und Gesellschaft. Es läßt sich leicht nachvollziehen, daß sich in diesen Konzepten auch die alternativen politischen Möglichkeiten der späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts spiegeln. Ebenso kann man verstehen, daß die Begründung der Geschichtswirksamkeit des Evangeliums in der Auferstehung Jesu ein Moment bildet, das sich den politischen und gesellschaftlichen |12|Selbstverständlichkeiten der Epoche gerade entziehen möchte und damit nicht umstandslos vereinbar ist.
Allerdings hat sich auch der normative Gehalt dieser Konzeptionen inzwischen erschöpft. Denn im gegenwärtigen Bewußtsein kann man von einer Einheit der Geschichte kaum reden; von einer Bestimmtheit der (Universal-) Geschichte durch die Auferstehung noch weniger. Geschichte ist vielfältig geworden, und die eigene Lebensgeschichte bildet einen kleinen Teil dieser mannigfaltigen Geschichten. Nicht über das Ganze der Geschichte erschließt sich die Transzendenz als Bestimmung des je eigenen Lebens; sie muß in der individuellen geschichtlichen Lebensführung zu bemerken sein. Damit kehrt das gegenwärtige Bewußtsein in gewisser Weise zu der Positionsbestimmung zurück, wie sie bei Schleiermacher vorlag, angereichert freilich durch die Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte, an deren Wenden eben erinnert wurde. Darum gewinnt das historische Bewußtsein eine unhintergehbare Stellung, allerdings in der Form einer offenen historischen Grundhaltung, für die seinerzeit Ernst Troeltsch (1865–1923) das entscheidende Paradigma entwickelt hat. Nach Troeltschs Überlegungen gibt es so etwas wie einen historischen Gesamtzusammenhang, der sich aber nur rein methodisch erschließt, also so, daß sich die Menschen in die Geschichte hineingestellt finden, ohne sie insgesamt überschauen zu können, und daß sie in dieser Geschichte den Sinn ihres Leben im Blick auf Gott suchen können und müssen.
Die theologische Arbeit sieht sich also mit Schleiermacher und Troeltsch herausgefordert, die Dogmatik auf das gegenwärtige religiöse Bewußtsein so einzustellen, daß es in seiner eigenen Lebensgeschichte erreicht wird, auch wenn der Blick auf die Geschichte als Ganze sich nicht eröffnet und ihr theologischer Sinn insgesamt verborgen bleibt. Und dieses Bewußtsein muß auf eine Weise erreicht werden, daß sich ihm die Gewißheit eröffnet, tatsächlich mit Gott verbunden zu sein, wie es der Gedanke der Offenbarung zum Ausdruck bringt. Das ist das Erbe der dialektischen Theologie. Diese beiden Forderungen umreißen die Position, die die Dogmatik in der Gegenwart einzunehmen hat.
Das Verständnis der historischen Logik der Dogmatik in der Moderne gibt den Blick frei auf die Bedingungen, unter denen sich dogmatische Theologie gegenwärtig formiert. Das Heils- und Sinninteresse der |13|Menschen heute steht dabei im Vordergrund, also das, was Glaube und Religion für das Leben bedeuten. Das schließt aus, religiöse Vorstellungen nach dem Vorbild von Gegenständen zu behandeln, die als Inhalte unabhängig vom subjektiven Bezug auf sie bestehen sollen. Das Einleuchten von Heil und Sinn ist dabei die Form, unter der sich religiöse Gehalte präsentieren. Dieses Einleuchten wird als unwillkürlich erwartet und erlebt. Religion ist daher weder eine rational erzwingbare Voraussetzung des Lebens noch kann sie durch autoritative Lehre vorgeschrieben werden. Heil und Sinn leuchten dann tatsächlich ein, wenn sie die humane Lebensgeschichte begleiten und erfüllen, also in der Geschichte standhalten, soweit sie uns zugänglich ist und von uns verantwortet werden muß. Das sind die Darstellungsformen von Religion, wie sie heute erwartet werden. Dieses Erfordernis wird in der gegenwärtigen evangelischen Theologie in Deutschland mit drei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen wahrgenommen, die sich durch eine jeweils andere Konstellation der genannten drei Merkmale, also der Gewißheit des Bewußtseins, der Gültigkeit der Offenbarung und der Wirklichkeit der Geschichte, auszeichnen.
Die erste Konstellation geht von der Beobachtung aus, daß das religiöse Bewußtsein seine Gewißheit mit Inhalten verknüpft, die einen schlüssigen Zusammenhang bilden müssen, um als Basis der Gewißheit dienen zu können. Dem religiösen Bewußtsein entspricht daher, so lautet die These, ein christliches Wirklichkeitsverständnis, das die Wirklichkeit insgesamt umfaßt. Wenn es sich so verhält, dann muß dieser umfassende Charakter auch systematisch ausformuliert werden im Aufbau rationaler Zusammenhänge, sozusagen im Aufbau einer christlich-religiösen Weltanschauung. Damit nimmt der Glaube vor dem Auge der Christenmenschen die Position eines internen Realismus ein; die religiösen Vorstellungen sind zwar bewußtseinsbezogen, vertreten aber dem Bewußtsein gegenüber eine eigene Stufe von Realität. Nach außen hin freilich ist dieses christliche Wirklichkeitsverständnis pluralistisch; denn es weiß aus eigener Erfahrung, daß sein Realismusanspruch ein Produkt des Bewußtseins ist; weil es aber allen anderen Bewußtseins-Formationen in Religion, Politik und Wissenschaft genauso geht, stehen die unterschiedlichen Wirklichkeits-Auffassungen in einem kritisch-konkurrenzhaften Verhältnis zueinander. Die Plausibilität dieses dogmatischen Zugangs, der vor allem von Eilert Herms (*1940), Wilfried Härle (*1941) und Christoph Schwöbel (*1955) vertreten wird, besteht darin, daß dem Realismusanspruch des religiösen Bewußtseins Rechnung getragen wird. Allerdings erscheint die |14|Ausdehnung dieser Intention zu einer christlichen Weltanschauung überzogen; denn keineswegs hat das religiöse Bewußtsein an deren Geschlossenheit Interesse; vielmehr gibt es unterschiedliche lebensweltliche Partizipationen an verschiedenen Formationen der Wirklichkeitserkenntnis. Religiöse Menschen sind ebenso wissenschaftlich tätig wie ästhetisch kompetent und politisch unterschiedlich engagiert – und müssen diesen anderen Wirklichkeitsumgang keineswegs immer in den Rahmen einer christlichen Weltanschauung einbringen. Außerdem hindert die enge Beziehung zwischen dem religiösen Bewußtsein und seiner Realitätssuche die Wahrnehmung der historischen Position, in der sich die Menschen in der Gegenwart befinden. Es ist daher so auffällig wie symptomatisch, daß sich dieser Typ von Dogmatik um eine historische Selbstverortung wenig bemüht, obwohl er doch in hohem Maße von der Geschichte bestimmt ist.
Die zweite Konstellation geht ebenso vom Bewußtsein aus, konzentriert sich aber dann auf die lebensgeschichtliche Deutungsbedürftigkeit dieses Bewußtseins. Mit dieser Fragestellung ist grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, zu verstehen, daß, warum und auf welche Weise sich gegenwärtig lebende Menschen unterschiedlicher Wirklichkeitszugänge bedienen, um ihr Leben zu meistern. Politik und Wissenschaft gehören genauso dazu wie Kunst und Religion. In diesem Spektrum zeichnen sich religiöse Lebensdeutungen insbesondere durch zwei Eigenschaften aus. Einmal ist es die Spontaneität des Einleuchtens. Religiöse Vergewisserung ergibt sich nicht auf den Spuren und als Konsequenz anderer Deutungszugänge, weder als Resultat der Wissenschaft noch als Überhöhung der Kunst, sondern besitzt eine Plausibilität eigenen Rechtes. Diese zeigt sich darin, und das ist das zweite Moment, daß die religiöse Lebensdeutung die ganze Person betrifft, in allen ihren aktiven und passiven Momenten der Lebensbewältigung. Religion läßt gewissermaßen auf den Grund sehen, der uns in allem Wirklichkeitsumgang trägt. Und in diesem Durchblicken des vielfältigen Weltverhaltens fällt der Blick auf uns selbst – in unmittelbarer Beziehung zu Gott. Darum ist das Interesse dieser dogmatischen Position viel stärker auf den Vorgang der Entstehung des Glaubens gerichtet als auf seine „Inhalte“. Die christliche Verkündigung konzentriert sich darauf, solchen Glauben zu wecken – und eben dazu dient das ganze Arsenal der religiösen Vorstellungen und theologischen Begriffe der Tradition. Vom suchenden religiösen Bewußtsein zur Lebens- und Glaubensgewißheit – das ist der Weg, der hier verfolgt wird; daraus ergibt sich eine große Nähe zur christlich-religiösen und |15|religionspädagogischen Praxis und zur Praktischen Theologie, die diese Praxis reflektiert. Eine christliche Weltanschauung liegt dagegen nicht im Interesse einer Theologie der Lebensdeutung, wohl aber eine geschichtliche Selbstverortung der Dogmatik mit der Absicht einer Präzisierung sowohl der eigenen Position als auch der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen religiöser Kommunikation. Diese Konzeption findet sich vertreten in meiner Dogmatik im Grundriß, die ihrerseits im Kontext der historischen, religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Arbeiten von Ulrich Barth (*1945), Jörg Dierken (*1959), Jörg Lauster (*1966) und anderer steht sowie der praktisch-theologischen und religionspädagogischen Werke von Wilhelm Gräb (*1948) und Bernhard Dressler (*1947).
Zwischen diesen beiden Positionen scheint eine dritte Option möglich, nämlich diejenige einer modifizierten und religionsphilosophisch abgestützten Wort-Gottes-Theologie, wie sie Ingolf U. Dalferth (*1948) in der Nachfolge Eberhard Jüngels (*1934) vertritt. Dabei erfolgt der systematische Ausgang bei der Offenbarung. Diese wird – zunächst mit sprachphilosophischen Mitteln – als der Horizont des immer schon bestimmten religiösen Bewußtseins ermittelt. Mit phänomenologischem Instrumentarium wird alsdann dargetan, daß dieses Verhältnis ein solches ist, das als orientierend und lebensbestimmend erfahren wird. Im dritten Schritt erfolgt dann – mit Hilfe hermeneutischer Theorie – das Nachzeichnen des Überzeugungsprozesses, und zwar sowohl nach innen, in Richtung auf das eigene Selbstverstehen, als auch nach außen, also was die Verkündigung betrifft. Der Charme dieser Position besteht in der präsentierten offenen Verweis- und Entsprechungsstruktur von religiösem Bewußtsein und theologischer Bestimmtheit. Indem sie von dieser Annahme ausgeht, kommt sie verbreitetem kirchlichem Selbstverständnis entgegen, das sich dank des faktischen Funktionierens kirchlicher Religion mit der Auskunft dieses Zusammenbestehens von religiösem Bewußtsein und Verkündigung beruhigt. Doch scheint dieses eher das Resultat gefundener Gewißheit zu sein und nicht bereits die Voraussetzung abzugeben, unter der diese Gewißheit zustande kommt. Daher droht diese an sich sympathische Option doch wieder in die Alternative zu zerfallen, entweder, quasi dogmatistisch, mit vorgegebenen Lehraussagen als Überzeugungsgehalten zu operieren, denen das Bewußtsein entsprechen soll – oder sich auf den offenen Verstehensprozeß religiöser Lebensdeutung einzulassen, der in Vergewisserung mündet. Das hier beschriebene dritte Modell scheint auch der inzwischen sehr beliebten Formel von der „Kommunikation des |16|Evangeliums“ (Christian Grethlein, *1954) nahezustehen. Dabei wird mit dem Kommunikationsbegriff ein moderner Terminus aufgenommen, dem das traditionelle Evangelium zugeordnet wird; die innere Problematik der Entsprechung (oder eben: Nicht-Entsprechung) wird dabei unterbelichtet. Denn wie kommt es unter den Bedingungen der Kommunikation zum „Evangelium“ – wenn nicht das „Evangelium“ autoritativ vorausgesetzt und dann mitgeteilt werden soll?
Es läßt sich jedoch, bei aller Positionsdifferenz, nicht übersehen, daß die drei vorgestellten Zugangsweisen zur Dogmatik alle derselben historischen Lage angehören; insofern lassen sie sich, trotz unvermeidlicher Differenz in der Bewertung ihrer Leistungsfähigkeit, nicht definitiv gegeneinander ausspielen. Vielmehr zeigt sich, daß sich in einer Theologie, die sich darum bemüht, die in der Gegenwart aufgeworfenen „einfachen“ theologischen Fragen adäquat, also das gebildete Bewußtsein der Zeit befriedigend, zu beantworten, Elemente aus allen drei Hauptpositionen verwenden lassen; das wird sich im Durchgang durch die Fragen auch in diesem Buch erweisen. Es reicht daher auch nicht aus, sich aus individueller Vorliebe oder im Gefolge der eigenen Schultradition lediglich auf eine dieser Positionen stützen zu wollen; erst die Spannbreite der theologischen Antwortversuche und Antwortmöglichkeiten läßt ansatzweise das Spektrum erkennen, in dem sich die Dogmatik heute bewegt. Allerdings darf man die Frage stellen, welches dieser drei hier unterschiedenen methodischen Konzepte in der Lage ist, einen solchen dogmatischen Pluralismus auszubilden und zu gebrauchen. Die hier vorgeschlagene Antwort auf diese Frage lautet, daß es die als zweite Formation genannte hermeneutisch-deutungstheoretische Zugangsweise ist, die die anderen Gesichtspunkte am ehesten zu berücksichtigen imstande ist; darum dient diese Perspektive auch in diesem Buch als Leitfaden.
Will man nun ermessen, in welchem Horizont diese dogmatischen Argumentationen stattfinden, wie sie verstanden und gegebenenfalls weiterentwickelt werden können, dann muß man sich die historisch-gesellschaftliche Situation und deren Auswirkung auf das religiöse Bewußtsein klarmachen. Der noch enge Blickwinkel auf die Dogmatik und ihre Geschichte wird so geweitet, indem Religion als Kontext der Dogmatik herausgearbeitet wird.
Im ersten Paragraphen sind wir der historischen Logik der Dogmatik gefolgt. Wir haben dabei das Augenmerk auf die hervorstechenden Reaktionen der Theologie gerichtet, mit denen sie den Herausforderungen ihrer Zeit zu begegnen beabsichtigte. Das war eine Betrachtung, die von der Theologie selbst ausging.
Nun ist es darum zu tun, diese theologiegeschichtliche Sicht in einen weiteren Horizont einzustellen und eine religionsgeschichtliche Analyse vorzunehmen. Erst in dieser Perspektive werden die Veränderungen, auf die die Theologie zu antworten versucht, in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar. Und erst dann lassen sich auch künftige Anforderungen an die Dogmatik abschätzen.
Dabei kann man die Umstellungen, auf die wir nun achten werden, in einen Begriff zusammenfassen, der als Index verschiedener, miteinander verknüpfter Probleme gelten kann: den Begriff der Religion. Wir bedienen uns in diesem Paragraphen einer zwiefachen Betrachtungsweise. Zunächst geht es um das gesellschaftliche Geschick der Religion in der Geschichte der Moderne, also um ihre äußeren Bedingungen, die den Rahmen auch der Theologie abgeben. Danach um ihre subjektive Ausprägung in Gestalt des religiösen Bewußtseins, das den innersten Bezugspunkt der Theologie, namentlich der Dogmatik, abgibt.
Der Begriff der Religion ist gegenwärtig vielfach umstritten. In der Religionswissenschaft, die sich selbst der Konjunktur dieses Begriffes verdankt, wird er derzeit überwiegend als westlicher, ja imperialistischer Begriff abgelehnt und als untauglich für die eigene Wissenschaft erklärt. In der Theologie wurde er auf den Bahnen der dialektischen Theologie kritisiert, ja bekämpft; das ist bisweilen heute noch der Fall. Seine inhaltliche Bestimmung differiert in einem weiten Spektrum; eine Aussicht auf begriffliche Kohärenz scheint nicht gegeben zu sein. All diese kritischen Einschätzungen sind richtig – und genau |18|das zeichnet den Begriff der Religion als unerläßlichen Index eines unabweislichen Problems aus. Seine Umstrittenheit ist Ausdruck der Sache. Darum empfiehlt es sich, das Wort „Religion“ nicht als Begriff für einen Sachverhalt zu verstehen, sondern als Bezeichnung einer Diskursformation.
Was ist hier mit Diskurs gemeint? Nun, der Ausdruck bezeichnet ein offenes Debattenfeld, in dem es um etwas geht, was „bedeutsam“ ist, also eine individuelle und überindividuelle Relevanz besitzt, ohne daß es feste, von allen geteilte methodische Grundentscheidungen gibt, wie man sich in diesem Feld orientieren kann. Diese Lage hat einmal zur Folge, daß sich immer wieder neue und andere Akteure auf diesem Debattenfeld einstellen, weil sie sich – kritisch oder affirmativ – hineingezogen finden oder weil sie darauf eigene Absichten verfolgen wollen. Und sie hat sodann zur Folge, daß es auch durch erhöhten Einsatz von Debattenbeiträgen nicht zu einer Auflösung und Verabschiedung des Problems kommt. Es werden sich in den Debattenverläufen immer nur zeitweilig tragende und gruppenspezifisch überzeugende Strukturen ausbilden, die für eine Reduktion der insgesamt unüberwindlichen Komplexität sorgen. Von Diskursformation ist die Rede, um den Sachverhalt im Blick zu behalten, daß das mit dem Indexwort benannte Phänomen auch über aktuell geführte Diskurse hinaus bedeutsam bleibt, so daß sich unter Umständen immer wieder neue Diskurse auf diesem Feld entzünden. Ein anderes Beispiel für eine solche Diskursformation neben „Religion“ ist etwa mit dem Stichwort „Umwelt“ gegeben, das ebenso für fortdauernde Kontroversen mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Optionen sorgt, ohne daß es dabei zu einer allgemeinen Lösung kommen könnte. Was ist nun das Spezifische von Religion als Diskursformation? Worum geht es dabei?
Der moderne Religionsbegriff, wie wir ihn gebrauchen, ist ein Produkt der frühen Neuzeit in Europa. Man kann sich die Veränderung, für die er steht, recht einfach klarmachen, wenn man sich den Kontrast zwischen einer alten und einer neuen Frage vor Augen hält. Die alte religiöse Frage lautet: Was gilt unveränderlich und unverrückbar? Die neue religiöse Frage heißt: Auf was kann ich mich verlassen? Oder, in personaler Wendung: Wem kann ich vertrauen?
Die alte Frage kennzeichnet eine Epoche, in der, obwohl sich die Gesellschaft in der Geschichte natürlich immer ändert, eine |19|gesellschaftliche Veränderung nicht zu den bewußten Handlungszielen der Menschen gehört. Zu einer solchen vorgegebenen, in der Regel religiös gedeuteten Ordnung der Gesellschaft paßt auch eine sich selbst als unveränderlich ausgebende religiöse Organisation mit ihren verbindlichen Vorstellungswelten und den diese Vorstellungen bekräftigenden religiösen Riten und Gebräuchen. Die nachreformatorische frühe Neuzeit schlug in Mitteleuropa eine erste Bresche in diese Allianz des Unveränderlichen, indem zwei authentische christliche Konfessionen nebeneinander zustande kamen; allerdings blieb die darin schon verborgene Pluralität durch die lange geltende Deckungsgleichheit von politischer Herrschaft und religiöser Organisation gebremst, die für konfessionell homogene staatliche Gebilde sorgte.
Die neue Frage lebt von dem erfahrenen Wechsel politischer Ordnung, die auf eine konzentrierte Tätigkeit kollektiven Willens zurückgeht, also dem Aufstieg des Bürgertums und seiner republikanischen politischen Repräsentation. Jetzt finden sich alle, jedenfalls grundsätzlich, mit der Aufgabe beschäftigt, zur politischen Wirklichkeit Stellung zu nehmen. Jedoch: Nach welchen Kriterien? Man kann gut verstehen, daß es diese Situation ist, die zur Geburt einer universalistischen Ethik wie derjenigen Immanuel Kants beiträgt: alle sind grundsätzlich für alles verantwortlich – dafür steht das moralische Gesetz ein, dem jeder Einzelne verpflichtet ist. Eine solche umfassende Orientierung des eigenen Willens setzt aber voraus, die leitenden Prinzipien selbst zu finden und ihnen mit innerster Überzeugung zustimmen zu können.
Es ist dieser Übergang in der Struktur der Überzeugungswelten, dem der Begriff „Religion“ seine moderne Stellung verdankt. Denn mit dem prinzipiellen Verblassen der alten Verbindung von politischer Herrschaft und religiöser Organisation in Gestalt der Kirche kommt ein neuer Horizont in den Blick, vor dem sich letzte Überzeugungen bilden können und müssen. An die Stelle der kirchlich verordneten Vorstellungswelten tritt das eigene Fragen; die scheinbar unveränderliche Bestimmtheit, die Kirche und Theologie vermitteln, gerät in den Strudel der Unbestimmtheit, dem nur die Anstrengung der eigenen Bestimmungsversuche entgegengesetzt werden kann. Damit ist es aber unmittelbar klar, daß diese Bestimmungssuche plural verfaßt ist und gar nicht anders als polemisch durchgeführt werden kann. Denn partikular behauptete letzte Gewißheiten verhalten sich ausschließlich gegen andere letzte Gewißheiten. Erst die Abkopplung der politischen Sphäre vom religiösen Meinungskampf bremst die gewaltsame Austragung der Konflikte – eine prinzipielle Errungenschaft des 17. |20|Jahrhunderts, deren Verbreitung allerdings noch lange Zeit in Anspruch nahm.
„Religion“ ist demnach Index einer Situation, in der die Suche nach tragfähigen letzten Gewißheiten, wie sie für eine Orientierung in der gesellschaftlich bestimmungsbedürftigen Welt nötig ist, von vorgegebenen religiösen Organisationen abgelöst und einer unbestimmteren religiösen Kommunikation übergeben wird. Damit ist klar, daß „Religion“ die christlich-kirchliche Lebens- und Vorstellungswelt übergreift und relativiert – noch ein Argument, warum in manchen Theologien der Begriff nicht geschätzt wird und eher vermieden werden soll. Es ist weiter klar, daß es sich beim Religionsbegriff, der sich einer solchen gesellschaftlichen Umstellung verdankt, um einen historisch partikularen, „westlichen“ Begriff handelt. Und es versteht sich schließlich von selbst, daß sich eine inhaltliche Einigung darüber, was unter Religion verstanden werden soll, nicht erzielen läßt. Genau die Bestätigung dieser drei eingangs genannten kritischen Betrachtungsweisen des Religionsbegriffs unterstreicht aber, wie angemessen seine Bezeichnung als Diskursformation ist.
Die Umstellung von der alten zur neuen religiösen Frage, wie das gerade genannt wurde, ist der harte Kern dessen, was man mit dem begriffspolitisch stark umstrittenen Begriff „Säkularisierung“ meint. In unserer Skizze war deutlich zu merken, daß es um eine Transformation der Frage nach dem unbedingt Geltenden geht, bei der an die privilegierte Stelle der Kirche das offene Feld von „Religion“ tritt.
Allerdings ist es nun noch dringend nötig, sich das innerste Muster dieser gesellschaftlichen Veränderung klar zu machen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine irgendwie und irgendwann auch wieder reversible historisch-politische Zufälligkeit, sondern um eine tiefgreifende Umstellung der Prinzipien von Vergesellschaftung überhaupt. Die Pointe dieser Umstellung besteht darin, daß es nicht Strukturen von (familiärer und traditioneller) Herkunft und Herrschaft sind, die bestimmen, wer auf welche Weise in die Gesellschaft gehört. Vielmehr läuft diese Entscheidung über die Wirtschaft – darüber, was jemand über die Vermittlung durch Arbeit zur Gesellschaft beiträgt; sei es dadurch, daß er selbst arbeitet, sei es dadurch, daß er andere zur Arbeit einstellt, sei es dadurch, daß alles, was wir konsumieren können, Waren oder Dienstleistungen, stets Produkt von gesellschaftlicher Arbeit ist. Die Ebene, auf der die gesellschaftliche Integration stattfindet, ist der Tausch; dessen Erscheinung ist der Markt. Diese Umstellung ist für uns hier insofern von Interesse, weil dadurch auch die Rolle |21|der Religion betroffen wird. Das Gesetz des Tausches, das die Arbeit als Aneignung der Welt und die Vermittlung der erzeugten Güter bestimmt, macht aus jedem Mitglied der Gesellschaft einen Einzelnen, und diese Vereinzelung ist tendenziell stärker als alle naturwüchsige Vergemeinschaftung. Und es macht zugleich diese Einzelnen auf eine abstrakte Weise einander gleich und anonym; wenn es entscheidend auf die Funktion im Prozeß des Wirtschaftens ankommt, kann – und muß – jede Funktion unabhängig von der individuellen leibseelischen und geistigen Bestimmtheit eines Einzelnen wahrgenommen werden können.
Es läßt sich vor diesem Hintergrund gut verstehen, daß und warum die Frage nach einer neuen Art von Vergemeinschaftung auftaucht, die sich nun ebenfalls nicht mehr naturwüchsig oder traditionell gestaltet. Diese Aufgabe ist im 19. und 20. Jahrhundert etwa von der Arbeiterbewegung wahrgenommen worden: ein kollektives Ganzes auf der Basis einer identischen Funktion in der Wirtschaftsgesellschaft soll den Individuen dazu helfen, ihre eigene Individualität und einen umgreifenden Sinn miteinander zu vermitteln; man kann von hier aus auch begreifen, warum die Arbeiterbewegung eine umfassende Ideologie brauchte, wie sie etwa der Marxismus geliefert hat. Daß angesichts der unüberwindlichen Pluralität damit keine Allgemeinheit zu erringen war, gehört zu den schmerzhaften Lernprozessen des 20. Jahrhunderts.
Für unsere Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Religion kommt dieser Gesichtspunkt neuer Vergemeinschaftung insbesondere deshalb in den Blick, weil davon auch die Kirchen (und andere Religionsgemeinschaften) betroffen sind.
Man sagt nicht zuviel, wenn man das Verhältnis von Kirche und Religion als prekär bezeichnet. Das hat vor allem damit zu tun, daß die Weitung des Horizonts auf eine allgemein unbestimmte und nur individuell zu bestimmende Religion hin das Monopol der Kirchen auf religiöse Lebensdeutung unterminiert hat. Die Kirchen haben bis heute Schwierigkeiten damit, sich auf diese Situation, die ihr eigenes Selbstverständnis in Frage stellt, produktiv einzulassen.
Im Art. 140 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland werden die Kirchen unter den Ausdruck „Religionsgesellschaften“ subsumiert. Das bringt nicht nur die Einordnung der Kirchen unter den Begriff der Religion signifikant zum Ausdruck, es sorgt auch für eine |22|unwiderrufliche Pluralisierung der Kirche in die Kirchen. Diese Einordnung stellt eine andauernde Enttäuschung der Kirchen dar, mit ihrer Botschaft und mit ihrem Leben nicht mehr unmittelbar maßgeblich zu sein. Diese Enttäuschung wird freilich dadurch begrenzt, daß sich die Kirchen noch immer auf hohe Mitgliederzahlen, solide Finanzausstattung und öffentlich-rechtliche Anerkennung berufen können, wie sie sich in Deutschland etwa im Kirchensteuersystem sowie dem Status der theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten zum Ausdruck bringt. Das kirchliche Konzept von „Volkskirche“ gibt diesem spannungsreichen Verhältnis von normativem Allgemeinheitsanspruch und faktischer Partikularität einen Namen.
Auf dieser Grundlage haben die Kirchen bei stabiler Mitgliedschaft und finanziellem Rückhalt Strategien entwickelt, den alten Anspruch auf religiöse Maßgeblichkeit auch in einem gewandelten gesellschaftlichen Umfeld zu artikulieren. Nur beispielhaft seien die vielen sogenannten Funktionspfarrämter genannt, von denen her Pfarrerinnen und Pfarrer den besonderen, individualisierten Lebensformen der Menschen nachgehen. Man kann auch an die Akademien denken, die eine Plattform für den Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen in der Welt von Politik, Recht und Gesellschaft abgeben sollen. Oder an die kirchlichen Medien, die auf eine breite, eher unbestimmte Öffentlichkeit von Konsumenten zielen.
Diese Strategien erweisen sich als begrenzt erfolgreich, solange sie eine konstante Mitgliederzahl und ausreichende Finanzen voraussetzen können. In dem Maße, wie derzeit durch Prognosen Befürchtungen geweckt werden, dies könne sich ändern, geraten die Kirchen unter neuen Anpassungsdruck, die eingespielten Strategien mit reduzierten Mitteln fortzusetzen. Daher wird die Aufmerksamkeit auf die Effizienz der Organisation gelenkt. Das Wuchern von Organisationsreformen ist deutlichstes Indiz für dieses Vorhaben, freilich auch Ausdruck der Tatsache, daß für die religionsgeschichtliche Dynamik der Gegenwart kein Verständnis besteht. Mit den zum Teil harschen Organisationsumstellungen sind nämlich keine inhaltlichen Korrekturen hinsichtlich der religiösen Profilierung der Kirchen verbunden. Statt dessen baut sich eine vermutlich insgesamt schädliche Spreizung auf – zwischen ethischen Beiträgen der Kirchen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen, mit denen sie ihre öffentliche Relevanz kundtun möchten (die damit aber genau den Anforderungen an „Religion“ im Pluralismus entsprechen, Wertgesichtspunkte in die allgemeine Debatte einzubringen) einerseits, und einer internen |23|Glaubenskommunikation andererseits, wie sie sich etwa in „Glaubenskursen“ dokumentiert, die den Versuch repräsentieren, die lockeren Reihen enger zu schließen. Das große Mittelfeld zwischen allgemeinen öffentlichen Äußerungen und binnenkirchlichen Konventionen jedoch wird von kirchlicher Verkündigung, die mit einer Fortschreibung der Tradition arbeitet, immer weniger erreicht.
Es ist übrigens genau diese Situation einer relativen kirchlichen Sprachlosigkeit, in der die weiter unten behandelten „einfachen theologischen Fragen“ laut werden: Versuche, in der Diskursformation „Religion“ Auskunft zu erhalten über das, was heute im Christentum so gilt, daß es persönlich trifft, aber auch mit dem Gegenwartsbewußtsein verträglich ist; auch und gerade im Unterschied zu anderen religiösen Haltungen und Ansichten. Darum ist nun eine Weitung des Blicks auf Religion in der Kultur angebracht.
Indem wir von Religion als Diskursformation ausgehen, löst sich eine oft verhandelte Frage relativ leicht, ob man nämlich auch da von Religion reden kann und darf, wo keine besondere religiöse Sprache vorliegt, also Worte wie Gott, Glaube, Gebet usw. nicht vorkommen. Die leitende Frage für das Diskursfeld „Religion“ hieß ja: Auf was kann ich mich verlassen? Oder: Wem kann ich vertrauen? Es liegt auf der Hand, daß man diese Fragen mit religiösen Begriffen, aber auch ohne religiös klingende Worte behandeln kann. Wenn das zutrifft, dann geht es darum zu fragen, welche Phänomene der Kultur welche Wirkungen auf die Menschen haben, die mit ihnen umgehen.
Grundsätzlich kann man sagen, daß zur Kultur alle menschlichen Gebilde gehören, in denen sich eine Wahrnehmung von Selbst und Welt zusammengefaßt verdichtet und so zur Darstellung bringt, daß sie rezipiert, tradiert und erneut zur Deutung von Erfahrungen verwendet werden kann. Daß Menschen solche Gebilde schaffen können, macht ihre „symbolische Kompetenz“ aus. Solche kulturellen Gebilde oder „symbolischen Formen“ verbinden einen gemeinten Gehalt mit einer Personengruppe, von der her und auf die hin dieser Gehalt ausgedrückt wird; immer wird ein „Was“ mit einem „Von wem“ und einem „Für wen“ verknüpft. Nun lassen sich die Hervorbringungen der Kultur nach ganz verschiedenen Kategorien ordnen. Uns geht es hier insbesondere darum, auf welche Weise kulturelle Schöpfungen mit dem Problem von Verläßlichkeit und Vertrauen umgehen.
|24|Zwar gilt, daß jede Hervorbringung der Kultur, jeder symbolische Zusammenhang religiöse Momente im Sinne unserer Beschreibung von Religion als Diskursformation in sich trägt. Denn alle Gebilde der Kultur versprechen Geltung und Dauer über den individuellen Moment der Erfahrung hinaus; und sie stiften kommunikative Gemeinschaft durch die Tatsache, daß sich Menschen dieser kulturellen Symbole bedienen, um ihr Leben zu bestehen. Doch kann und muß nicht in allen kulturellen Phänomenen ihre religiöse Seite in den Vordergrund treten, so daß sie als Religion gewertet und behandelt werden. Das kann man sich an der oft verhandelten Frage deutlich machen, ob Fußball als Religion verstanden werden kann. Zweifellos ist „Fußball“ so etwas wie eine symbolische Welt eigener Art, mit Inhalten (Spielregeln, Mannschaften, Vereinsfarben etc.) und mit Zugehörigkeiten (Riten und Gesänge, Kleidung, gemeinschaftsstiftende Erfahrungen). Aber kaum jemand könnte ausschließlich in dieser symbolischen Welt leben, sondern muß normalerweise arbeiten oder in die Schule gehen, einkaufen, sein Alltagsleben nach den entsprechenden Regeln führen. Darum kann man zwar in irgendeiner Weise an seinem Verein hängen („Fan“ heißt heute das, was früher „Fußballfreund“ genannt wurde), aber diese Anhänglichkeit kann nicht das ganze Leben bestimmen. Wer darauf setzen wollte, würde sich alsbald nicht nur in gedankliche Widersprüche und Konflikte verwickeln, weil es ja immer auch andere Vereine gibt und deren Existenz gerade die Voraussetzung für das Funktionieren des gesamten Symbolsystems Fußball ist, sondern würde sich auch soziale Abweichungen einhandeln, die das Leben kaum erträglich sein ließen. Das heißt aber: Die Vielfalt der Kultur relativiert die Möglichkeit, kulturelle Phänomene unmittelbar als Religion zu verwenden.
Wie steht es aber mit expliziter Religion als Kulturphänomen? Sie läßt sich einerseits kaum wie die Anhänglichkeit an einen Fußballverein leben, denn eine sozusagen sektoral begrenzte Religion wäre höchstens Freizeitfolklore; sie kann aber auch nicht als generelle Bestimmungsgröße der pluralen gesellschaftlichen Wirklichkeit insgesamt in Gebrauch genommen werden, sondern könnte nur in sozialen Nebenwelten konsequent durchzusetzen versucht werden, also in Sektenbildung nach innen und potentiellem Terrorismus nach außen. Eine mit der modernen Kultur verträgliche Religion muß vielmehr in der Lage sein, die maßgeblichen Bestimmungen des Bewußtseins der Gegenwart aufzunehmen, wie sie sich in der pluralen Welt der Moderne gesellschaftlich gebildet haben, und gleichzeitig authentisch |25|vergewissernd zu sein. Wie das geschehen kann, muß sich aus einer Analyse des religiösen Bewußtseins selbst ergeben.
Wir haben gesehen, daß das religiöse Bewußtsein nicht als „Provinz im Gemüte“ verstanden werden kann, wenn man darunter (in einer unzureichenden Auslegung dieses Ausdrucks Schleiermachers) ein Segment des Bewußtseins neben anderen verstehen wollte. Vielmehr handelt es sich (und dies in Übereinstimmung mit einem zutreffenden Schleiermacher-Verständnis) um eine Dimension bewußten Lebens, die alle Vollzüge des Bewußtseins in einer abgestuften Präsenz des Religiösen begleitet. Das religiöse Bewußtsein wird da ausdrücklich und als lebendig empfunden, wo es an sich selbst und im Blick auf diese grundlegende Begleitung des ganzen Lebens thematisiert wird – also in ausgeübter Religion. Zugleich aber kann dieses religiöse Bewußtsein mit anderen Bewußtseinsformationen unserer gegenwärtigen Welt koexistieren, ohne diese zu beeinträchtigen oder zu überformen. Diese Koexistenz freilich trägt mit dazu bei, daß sich auch die Ansprüche an ein seiner selbst bewußtes religiöses Empfinden von den Standards des Gegenwartsbewußtseins mitbestimmt finden. Darum geht es im folgenden zunächst um eine Beobachtung der wesentlichen Merkmale dieses Welt- und Selbstbewußtseins überhaupt.
Selbstverständlich kann man überhaupt nur allgemeine Grundzüge benennen, die ein waches Bewußtsein auszeichnen, welches an den Standards und Bewegungen der gegenwärtigen Welt teilhat. Jede individuelle Lebensgeschichte dagegen ist von unüberschaubarer Besonderheit, auch wenn sie die wichtigen allgemeinen Strukturen in sich aufgenommen und miteinander kombiniert hat.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kommen als Felder, auf denen sich das Bewußtsein der Gegenwart bildet, in Betracht: Wissenschaft, Wirtschaft, Sport, Kunst, Politik und Recht, Medien, Religion und das, was man Privatsphäre nennen kann. Interessant und maßgeblich ist die Verbindung oder Mischung der verschiedenen Elemente, die diese Felder bestimmen, in dem Konglomerat des Gegenwartsbewußtseins. Dabei zeichnen sich diese Funktionssysteme |26|dadurch aus, daß sie Vertrauen generieren; man weiß, worauf man sich in ihnen verlassen kann. Allerdings bedingt schon die Mehrzahl dieser Funktionssysteme, daß keines von ihnen völlig hinreichend ist.
Die Wissenschaft trägt zur Bildung dieses Bewußtsein vor allem dadurch bei, daß sie den Eindruck der Regelmäßigkeit und Beherrschbarkeit der Welt vermittelt. Die methodische Grundstellung wissenschaftlichen Denkens kennt zwar empirische Grenzen, weist aber immer schon über diese hinaus in ein Feld zukünftigen Wissens. Daß das wissenschaftliche Weltbild selbst kulturell geformt ist und überdies unbeherrschbare Ränder aufweist, im Mikro- wie im Makrokosmos, irritiert das auf die Wissenschaft vertrauende Normalbewußtsein nicht. Die sinnliche Gewißheit, auf die alle wissenschaftlichen Ergebnisse zurückgeführt werden können, verfügt über eine geradezu verzaubernde Verbindlichkeit – zumal dann, wenn der Zusammenhang von Wissenschaft und Technik als Erleichterung des Lebens erfahren wird. Ob man aber der Wissenschaft, ihren Ergebnissen und Anwendungen, vorbehaltlos vertrauen kann, wird weithin bezweifelt. Das hat damit zu tun, daß die Zielsetzungen der Wissenschaft und der Umgang mit ihren Ergebnissen auch dem Selbstverständnis der Forschenden unterworfen sind, die als Menschen anfällig sind für einen Mißbrauch ihrer Vermögen. Darum kann die Wissenschaft nicht als Vertrauensbasis der inneren Welt insgesamt gelten.
Während die meisten Menschen die Wissenschaft von außen betrachten, so sehr sie auch ihre Prinzipien verinnerlicht haben, sind alle über die Prozesse des Wirtschaftens miteinander verflochten, als Produzenten und Konsumenten, als Investierende und abhängig Beschäftigte, als Beobachter und als Teilnehmer. Diese umfassende Integration verleiht einerseits ein Gefühl des Dabeiseins, führt andererseits jedoch auch zu einer Vereinzelung, sofern der Beitrag eines jeden Menschen nach Kriterien der Leistung berechnet und honoriert wird. Verminderte oder verweigerte Anerkennung widerfährt denen, die zur Leistung nicht fähig sind. Dabei kommt heraus, daß die Härte der gesellschaftlichen Integration in Spannung steht zu der Flüssigkeit der wirtschaftlichen Konjunkturen, die kein Mensch beherrschen kann, weil von ihnen sogar die Märkte selbst abhängig sind. Individualisierung vermittelt Stolz aufs eigene Leben, fordert und begründet Vertrauen, stiftet aber auch Kleinmut angesichts der eigenen Abhängigkeit.