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Apokalypse ist jetzt E-Book

Gregor Taxacher

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Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern!

Der Zusammenbruch der globalen Zivilisation ist in Wahrscheinlichkeiten ausrechenbar. Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern. Wahrhaben wollen wir das aber lieber nicht. Und auch die Kirchen schweigen.

Dabei verfügt gerade das Christentum in seiner Tradition der Apokalypse über Quellen der Weltdeutung, die einen rettenden Paradigmenwechsel mit herbeiführen könnten.

Gregor Taxacher macht deutlich, was es bedeutet, diese heute zu aktivieren: Theologie und Kirche müssen ihre faktische Koalition mit einer Religion bürgerlicher Stabilität aufgeben. Es gilt, gegen ein bloß technokratisches Krisenmanagement einen Habitus des Überlebens zu entwickeln, die biblische Gesellschaftskritik für eine Vision der Welt von morgen neu zu entdecken und auszulegen. Ein Buch, das der Gesellschaft die Wahrheit zumutet, die sie aus der Erstarrung befreien kann.

  • Gegen eine Religion bürgerlicher Stabilität
  • Theologie für einen Habitus des Überlebens

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Seitenzahl: 332

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Inhaltsverzeichnis

Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum
»1984«: Die Welt, ein Konzentrationslager»Brave New World«: Perfektion ohne Entrinnen»Kein Land wie dieses«: Die Öko-Apokalypse der Dritten Welt
KAPITEL 1 - Naturgesetze als Gegner: Die globale ökologische Katastrophe
1. Ein Szenario, das es noch nicht gab
Nie da gewesen, aber lange gewusstMensch
Copyright

Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum

Der utopische Traum von einer idealen Gesellschaft entsteht in der Neuzeit. 1516, in der Kinderstube der Epoche, gibt ein Buch von Thomas Morus einem ganzen literarischen Genre den Namen: Utopia.1 Die Bewohner dieser abgelegenen Insel halten dem kriegerischen und frühkapitalistischen England einen Spiegel vor, weil sie ihr Leben tatsächlich nach der Vernunft gestalten, möglichst friedlich sind und untereinander gleich. Mit der Aufklärung tauchen – während der reale Ozean immer flächendeckender erkundet wird – mehr und mehr solche Inseln der Vernunft in der Literatur auf. Im 19. Jahrhundert siedeln die Bürger der Nicht-Orte dann nicht mehr im imaginären Raum, sondern in der Zeit. Utopie wird zur erhofften oder gar berechneten Zukunft: sei es die einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen abgeschafft ist; sei es die einer Befriedigung der Menschheitsbedürfnisse durch technische Errungenschaften. Fortschritt scheint das geeignete Verkehrsmittel zur Erreichung der Insel Utopia. Ihr Weltmeer heißt Zukunft.

Doch dann kippt dieses Weltmeer um, wie Ökologen sagen würden. Aus dem utopischen Traum wird in der Moderne ein Albtraum. Die Weltkriege und die totalitären Imperien sich bekämpfender Ideologien bringen den Glauben an die Geschichte als einer unfehlbaren Besserungsanstalt ebenso ins Wanken wie die inhumanen Folgen von Industrialisierung und Technik. Im 20. Jahrhundert reagiert eine Gegen-Literatur auf die Fiktion von Thomas Morus, sprachlich einigermaßen unglücklich »Dystopie« genannt.2 Nun geht es darum, sich das schlimmst-mögliche Ende des Fortschritts vorzustellen. Gerade seine Verwirklichung erscheint den literarischen Unheilspropheten als das, was keinesfalls geschehen darf. Denn der Traum der Menschheit, würde sie ihn leben können, wäre eine permanente Apokalypse.

Zum Einstieg in die Analyse der apokalyptischen Situation der Gegenwart, die dieses Buch geben möchte, dienen drei Romane des 20. Jahrhunderts, zwei weltberühmte und einer, der es auch sein sollte: »1984« von George Orwell, »Brave New World« von Aldous Huxley und »Kein Land wie dieses« von Ignácio de Loyola Brandao. Den ersten beiden düsteren Fiktionen ist gemeinsam, dass sie die Apokalypse nicht mehr wie die alten religiösen Texte als ein Ende mit Schrecken schildern, auf das Gottes Rettung folgt, sondern als einen Schrecken ohne Ende. Die moderne Apokalypse ist keine katastrophische Wende zum Guten, sondern eine bleierne Endzeit ohne Ende. Aber zum Ende des 20. Jahrhunderts ändert sich das, wie der dritte Roman illustriert: Nun kommt wieder ein Kollaps in Sicht, jedoch ohne dass Gott die Hand im Spiel hätte. Die drei gewählten Beispiele stehen paradigmatisch für drei Albtraum-Aspekte der Moderne. Sie überbieten sich gegenseitig. Sie setzen gewissermaßen drei apokalyptische Reiter der Gegenwart ins Bild. Auch diese Reiter bringen, wie ihre biblischen Vorbilder, jeweils einen anderen Tod: den Tod der Freiheit, den Tod der Menschlichkeit und den Tod der Natur.

»1984«: Die Welt, ein Konzentrationslager

George Orwells Roman von 1949 hat einen vergessenen Vorgänger: Unter dem Eindruck der russischen Revolution beschrieb Jewgenij Samjatin in seinem Roman »Wir« schon 1920 ein Imperium, das sich selbst »Einziger Staat« nennt und von einem »Wohltäter« regiert wird, der dem »Großen Bruder« von »1984« durchaus ähnlich sieht.3 Die »schwarze Utopie« wird also geboren, als eine Ideologie der idealen Welt die reale Welt zu gestalten beginnt. Orwell zieht knapp 30 Jahre später, am Ende seines Lebens und in der Mitte des blutigen Jahrhunderts, eine imaginäre Bilanz von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus. Was er uns vorstellt, ist die ultimative Verwirklichung des Totalitarismus. Orwell entkleidet die Ideologien des 20. Jahrhunderts, Kollektivismus wie Nationalismus, ihrer gesamten Schein-Inhalte und entlarvt ihr eigentliches Ziel: die Errichtung absoluter Kontrolle, absoluter Herrschaft über die Menschen.

Der Staat des »Großen Bruders« hat Freiheit – und auch Wahrheit als ihre Grundlage – gänzlich destruiert. Wilson, der Protagonist des Romans, arbeitet als kleiner Beamter in der Propagandamaschinerie, welche auch die Geschichte ständig umfälscht und retuschiert. Wilson ist zugleich die Figur, durch welche der Leser in diese fremde, lückenlose Welt der Diktatur Eingang findet. Denn er kämpft auf verlorenem Posten wenigstens um einen Rest Privatleben, einen Rest an eigenen Gefühlen und eigenen Denkens. Alle uns bekannten, schon verwirklichten Ingredienzien totalitärer Systeme – die permanente Kriegsmobilisierung, die Überwachung, die Propagandakampagnen, die Geschichtsfälschung, die Erniedrigung der Menschen zu Arbeitsameisen, die Aushöhlung der Sprache, schließlich die Verhaftungen, Gehirnwäsche und Folter – stellt der Roman in einer übersteigerten Vollgestalt vor, so dass diese Welt aus lauter Bekanntem doch wie eine andere Welt, eine negative Utopie, eine Dantesche Höllenreise erscheint. Auf dieser Reise ist Wilson unser Führer, in dem wir uns Leser noch einigermaßen erkennen können. Aber gerade diese Ähnlichkeit zerstört das System am Ende des Buches: Wilson überlebt die Folter, aber er ist seelisch gebrochen. Indem man ihn zum Verrat an seiner Geliebten zwingen konnte, hat der Staat sich seines Innersten bemächtigt. Es gibt keinen verschwiegenen Rest mehr, den Wilson ihm vorenthalten, vor ihm retten konnte. »Er liebte den großen Bruder«, heißt es am Ende. Damit hat der Leser seinen letzten Orientierungspunkt verloren. Das System ist abgeschlossen. Und darin besteht die »apokalyptische« Situation bei Orwell: nicht in einem katastrophalen Zusammenbruch, sondern in der absoluten Stabilität des katastrophalen Endzustandes der Geschichte, aus dem es kein Entkommen mehr gibt.

Wie lesen wir das Buch heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts? Die Frage ist schwer eindeutig zu beantworten. Denn einerseits finden sich auch gegenwärtig in vielen Staaten die Ingredienzien des Orwellschen Totalitarismus. Andererseits scheint nach 1945 und dann nochmals seit 1989 der globale Trend nicht mehr in Richtung »Ozeaniens« zu verlaufen. Die großen totalitären Ideologien und Blöcke sind der Gewaltherrschaft eher regionaler Despotien und Terrorregime und der Vorherrschaft des »westlichen« Modells globalisierten Kapitalismus’ gewichen. So werden vom Staat des »Großen Bruders« heute eher einzelne Versatzstücke rezipiert und auf Entwicklungen etwa der Kriminaltechnik, der Datensammlung und der Verwaltung übertragen.

Das Buch hat seine warnende Aktualität nicht verloren. Dennoch wirkt es eher als ein Zeugnis des 20. Jahrhunderts, ein Dokument aus dessen Mitte, als die Welt nur noch die Alternative von Teufel oder Beelzebub zu bieten schien. Die Welt ist ein einziges Konzentrationslager  – das ist die Wahrnehmung jener Jahre. Die unsere ist es trotz der fortdauernden Existenz zahlreicher Konzentrationslager derzeit nicht.

»Brave New World«: Perfektion ohne Entrinnen

Das zweite literarische Beispiel ist einige Jahre älter als Orwells Schreckensgemälde des totalen Staates: Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« entstand schon 1931. Interessanterweise erschien seine wirkungsvolle, mit einem kommentierenden Vorwort des Autors versehene Neuauflage jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre: Offenbar erkennen sich erst die Menschen der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit zahlreich in ihm wieder. In seinem Vorwort nimmt Huxley selbst Stellung zur Realitätsnähe seiner Fiktion. Er sieht, mit einem vorangestellten Zitat von Nikolai Berdjajew, die Moderne als das Zeitalter der machbaren Utopien, in dem es Aufgabe der Intellektuellen sei, »die Utopien zu vermeiden«.4 Und gegenüber der Erstauflage seines Buches kommt es ihm nun so vor, »als wäre uns diese Utopie viel näher, als irgend jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, dass uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der Zwischenzeit davon absehen, einander zu Staub zu zersprengen.«5

Der Vorbehalt, der uns von der Brave New World noch trennt, ist also die Möglichkeit einer atomaren Apokalypse. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist gerade die Angst vor dieser Apokalypse zwar nicht gegenstandslos geworden, aber durch das Ende der Ost-West-Konfrontation doch in den Hintergrund getreten. Vielleicht ist uns also nach dem Ende der Drohkulisse des Kalten Krieges Huxleys Schrecken näher auf den Leib gerückt. Er könnte uns gerade erwarten, wenn der Orwells gebannt ist, wie Huxley selbst in einem Brief an Orwell schrieb: »Ich habe das Gefühl, dass der Albtraum ›1984‹ zwangsläufig in den Albtraum einer Welt übergehen wird, die mehr meinen Vorstellungen in ›Brave New World‹ entspricht.«6

Schildert Orwell den apokalyptischen Endzustand des Totalitarismus, so entwirft Huxley die Apokalypse der westlichen Zivilisation. Seine Dämonen sind nicht Hitler oder Stalin als Vorbilder des »Großen Bruders«, sein Dämon ist der moderne Kapitalist Henry Ford, der in Huxleys »Brave New World« zum Gott geworden ist. Sein Gesellschaftssystem beruht auf einer Biotechnologie, welche die Zucht staatlich determinierter Menschengruppen ermöglicht und die natürliche Fortpflanzung abgeschafft hat. Huxley imaginiert sein »Bokanowskyverfahren« einige Jahre bevor James D. Watson und Francis Crick in England der DNA auf die Spur kommen. Das Verfahren der Züchtung von Dutzendlingen durch »Knospung« in Reagenzgläsern, der vorgeburtlichen Verdummung der künftigen Arbeitssklaven durch Alkoholbeigabe und Sauerstoffentzug wirkt heute geradezu antiquiert. Umso faszinierender ist es, dass Huxley die drohende Anwendung von Klonung und Genmanipulation vorwegnahm, ohne deren wissenschaftliche Grundlagen kennen zu können. Genauso fasziniert liest man die Passagen über »Fühlkino« und Sportparks, über den Einsatz von Verhütungsmitteln und Drogen – um die Entkoppelung von Sexualität und Familie erträglich zu machen –, über Ferntourismus in die Reservate der »Wilden«, über die pseudoreligiösen Ford-Gottesdienste mit ihrer einem »Rave« ähnlichen, inhaltsleeren Gemeinschaftsextase, über die Abschaffung der Vergangenheit unter dem Ford-Motto »Geschichte ist Mumpitz«.

Huxley gelingt die Schilderung eines vollendeten Kollektivismus, der zumindest für die Oberschicht den westlichen Individualismus und Hedonismus vollkommen integriert hat. Huxley selbst nannte das im Rückblick auf sein Buch einen »non-violent totalitarism«, einen gewaltlosen Totalitarismus. Die Angehörigen dieser Oberschicht gleichen jenem westlichen, amerikanisierten Menschentypus, den Horkheimer und Adorno ebenfalls schon in den 1940er Jahren beobachteten, und dem »«personality kaum mehr etwas anderes bedeutet als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.«.«7 Die Totalität der Brave New World kommt, zumindest an ihrer Oberfläche und für die Mehrheit, ohne den brutalen Zwang einer primitiven Diktatur aus. Sie ist zwar eine Klassengesellschaft, aber in einem Kapitalismus von Brot und Spielen ist dem Klassengegensatz das revolutionäre Potential genommen. Denn er richtet sich die Menschen, die mit ihm zufrieden sind, selber zu, vom Reagenzglas über das Erziehungssystem bis hin zu der gigantischen Freizeit- und Kulturindustrie. Diese Gesellschaft sichert die Abschaffung aller Alternativen vom Bestehenden und einer möglichen besseren Welt nicht durch die Abschaffung der Freiheit für die Menschen, sondern schon durch die Abschaffung eines zur Freiheit fähigen Menschen.

Auch Huxley braucht als Protagonisten Außenseiter – den intellektuellen Aussteiger Sigismund und den »Wilden« Michel –, um uns diese Welt überhaupt von außen anschauen zu lassen. Nur in den Außenseitern wird noch ansichtig, was in dieser Welt verloren ging: der Mensch selbst, das Humanum. Aber die beiden Protagonisten scheitern, sie werden entweder reintegriert und geben sich auf, oder sie werden ausgestoßen und irre. Es gibt in diesem System so wenig eine Lücke wie in Orwells totalem Staat. Das Apokalyptische der negativen Utopie Huxleys besteht wie bei Orwell nicht im Untergang, sondern in der absoluten Statik einer nicht mehr endenden Endzeit, in die hinein die menschliche Geschichte untergegangen ist.

»Kein Land wie dieses«: Die Öko-Apokalypse der Dritten Welt

Ganz anders verhält es sich im dritten literarischen Beispiel. Es stammt aus dem Brasilien der 1980er Jahre: Ignácio de Loyola Brandaos »Kein Land wie dieses«.8 Brandaos »Aufzeichnungen aus der Zukunft« (so der Untertitel) schildern die Apokalypse der »Dritten Welt«, des »Südens«. Und im Gegensatz zu Orwells Apokalypse des Faschismus oder Stalinismus und Huxleys Apokalypse des Kapitalismus und der liberalen, technologischen Zivilisation schildert Brandao einen tatsächlichen Untergang, die Dynamik der gegenwärtigen Ereignisse bis zu einer letzten Katastrophe. Diese Apokalypse steuert deshalb nicht nur in den Tod der Freiheit und den Tod des Humanen – wiewohl beide Tode auch hier gestorben werden –, sondern in den Tod der Natur, des Lebens selbst, in den Zusammenbruch der Umweltbedingungen, die menschliches Leben ermöglichen. Politik bedeutet nur noch die Beantwortung der Machtfrage, wer zuerst stirbt und wer später. Waren es bei Orwell und Huxley vor allem letzte Überbleibsel des Abendlandes, der Kultur – wie Musik oder Gedichte –, deren wehmütige Erinnerung die Totalität des Verlusts verdeutlicht, so geht Professor Souza, der Held Brandaos, in ein Museum, welches die Wasser der ausgetrockneten Tropenflüsse in Gläsern zeigt, und seine schmerzvolle Erinnerungsarbeit gilt dem Tod seines Großvaters, der, selbst Holzfäller, sich schließlich und vergeblich den Holzfällern am Amazonas entgegenstellte.

Auch in Brandaos Brasilien bereitet die Diktatur einer unsichtbaren Regierung und ihrer »Militechner« jeder Freiheit ein Ende. Auch hier versucht die Fortschrittstechnik des Kapitalismus, mit künstlicher Nahrung und Glücksdrogen das Volk zu versorgen. Aber am Ende steht kein stabiler düsterer Zustand, sondern der Kollaps. Auch Diktatur und Kapitalismus funktionieren nicht mehr und lösen sich in gewalttätigem Chaos auf. Die Katastrophe ist zwar politisch und ökonomisch herbeigeführt, aber sie selbst ist die ökologische: Am Ende tötet die Sonne. Dann stehen die Menschen unter riesigen Betonmarkisen, deren Baus sich die Regierung rühmt, weil sie selbst vom Mond aus zu sehen seien, und erwarten ihren Tod.

Brandaos Roman ist zugleich surrealistischer und realistischer als die Erzählweise von Orwell und Huxley. Immer mehr lässt er den Leser ebenso wie die Hauptperson Souza im Unklaren darüber, was wirklich geschieht. Zugleich leitet der Roman die Katastrophe weitaus linearer aus unserer Gegenwart her als die früheren negativen Utopien: Der Ort der Handlung ist ein durchaus noch erkennbares Sao Paolo. Und der Weg in die Apokalypse wird in den Erinnerungen des Helden und in einer Art Geschichtsschreibung aus der Zukunft in immer neuen Anläufen rekonstruiert. Auf diese Weise schildert Brandao, was geschieht, wenn die Trends der Gegenwart nicht aufgehalten werden: Die Abholzung des Regenwaldes, die Landflucht der Hungernden in die städtischen Slums, die Politik der Sicherheit für die Reichen und Herrschenden sowie der Ausbeutung und bestenfalls Beruhigung für die Massen.

Der all dies erinnernde (Anti-)Held des Romans ist ebenfalls eine weit realere Figur als Winston Smith oder Sigismund: Geschichtsprofessor Souza ist sozusagen der letzte Intellektuelle des alten Brasiliens, und wir erleben mit dem Zerfall der Zivilisation auch den Zerfall seiner bürgerlichen Existenz und seiner Persönlichkeit. Souza stemmt sich gegen diesen Zerfall, indem er verzweifelt zu begreifen versucht, was geschieht, und seine Erinnerungsarbeit ist zugleich Arbeit am Schuldgefühl, in den entscheidenden Jahren, als vielleicht noch etwas zu ändern und aufzuhalten gewesen wäre, nicht gehandelt zu haben.

Brandaos Apokalypse findet fantastische Bilder für den Untergang: die riesigen aufgegebenen Stadtautobahnen, auf denen die verlassenen Autos vom letzten, nicht mehr aufgelösten Stau verrosten; die Flüchtlingsströme aus den Wüsten, die zuvor noch von den Superreichen als ultimatives Event besucht wurden; die Hitzebälle, in denen die Menschen verglühen. Solche Bilder sind zugleich fantastisch und aus dem Fernsehen bekannt. Es liegt kein Bruch zwischen dem Heute und dem Ende, nur die schiefe Ebene in den Abgrund. Souzas Leben spielt sich auf dieser schiefen Bahn ab, und der Knotenpunkt seiner Erinnerung sind die »Offenen Achtziger«. So heißt im Rückblick die Gegenwart des Romans. Darin liegt der appellative Charakter von Brandaos Apokalypse. Eine Hoffnung bietet sie nicht.

Dass uns die Apokalypse literarisch nirgends so nahe rückt wie in einem Entwurf der sozialen und ökologischen Katastrophe der »Dritten Welt«, scheint mir sachlich stringent. Brandaos Sao Paolo ist den heute herrschenden Zuständen weitaus näher als das London Orwells oder Huxleys. (Beide »westlichen« Albträume spielen in derselben Stadt; der deutsche Übersetzer hat Huxleys Handlung nach Berlin versetzt.) Brandaos Roman ist keine negative Utopie mehr, sondern nur noch Apokalypse. Orwell und Huxley schildern, was sein könnte, wenn moderne Utopien sich tatsächlich verwirklichen würden. Brandao schildert, was kommt, wenn wir nichts mehr ändern. Wie es gleichzeitig in der »Ersten Welt« aussieht, erwähnt er allerdings mit keinem Wort. Es wäre für die handelnden Personen auch völlig irrelevant, denn eine andere Welt als die »Dritte Welt« ist für sie nicht erreichbar.

Die apokalyptischen Reiter, die Orwell, Huxley und Brandao sehen, sind keine Ausgeburten der Fantasie. Sie reiten alle drei durch unsere Welt. Theologische Gegenwartsanalyse – das Vorhaben dieses Buches  – heißt, unsere derzeitige Stellung den modernen apokalyptischen Möglichkeiten gegenüber abzuschätzen – und das Ergebnis aus der Weltdeutung des biblischen Glaubens zu reflektieren. Deshalb wird hier in den ersten beiden umfangreichen Kapiteln scheinbar gar keine Theologie geboten, sondern eine Analyse der globalen ökologischen und sozialen Lage. Es geht darum, deren apokalyptischen Charakter wirklich zu erfassen. Im dritten Kapitel wird diese Situation sozusagen geschichtsphilosophisch eingeordnet: Was heißt es, im »Anthropozän« zu leben? In den beiden letzten Kapiteln versuche ich eine theologische Deutung: Wie verhält sich die empirische Diagnose der apokalyptischen Situation zu den apokalyptischen Kategorien der Bibel? Und welche Konsequenzen hat eine theologische Qualifikation der Gegenwart als eine apokalyptische Situation für die Kirchen, für die Glaubenden?

KAPITEL 1

Naturgesetze als Gegner: Die globale ökologische Katastrophe

Die These dieses Kapitels lautet: Die ökologische Katastrophe, so wie sie sich gegenwärtig ereignet, stellt die Menschheit irreversibel in eine apokalyptische Situation. Die Moderne ist an ihrem Ende eine Endzeit geworden, weil die Situation des drohenden, des durchaus möglichen Endes sich nicht mehr rückgängig machen lässt – selbst wenn es gelänge, dieses Ende hinauszuzögern oder gar, ihm auf absehbare Zeit zu entrinnen. Die Apokalypse ist dem Glauben an die eingreifende Hand Gottes entrissen. Damit hat die Geschichte ihre prinzipielle Offenheit verloren. Sie ist nicht vorhersehbar geworden. Aber sie ist an ein reales Ende gestoßen.

Mit Apokalypse ist hier also der drohende Zusammenbruch der Menschheit oder zumindest der menschlichen Zivilisation, wie sie uns bisher vorstellbar erscheint, gemeint. Denn menschliches Leben, das die mögliche Katastrophe vielleicht überleben und sich neu formieren könnte, hätte die Kontinuität mit der bisherigen Menschheitsgeschichte verloren. Welches Szenario auch die nähere Zukunft bestimmen wird: »Eine Krise apokalyptischen Ausmaßes wird mit ziemlicher Sicherheit das Gesicht des 21. Jahrhunderts prägen.«1

Geschichtstheologie mit Zahlen

Eine solche These als theologische Zeitdiagnose aufzustellen bedeutet für die theologische Argumentation eine bisher nicht da gewesene Situation. Denn zu ihrer Begründung muss sie sich auf Ergebnisse der ihr traditionell fremdesten Wissenschaften beziehen: auf die »exakten«. Dass eine auf Geschichte und Gegenwart bezogene Theologie nicht nur mit ihren eigenen (Glaubens-)Inhalten Umgang pflegen kann, ist zwar nicht neu. Aber die Rolle der Naturwissenschaften bei der heutigen theologischen Gegenwartsdiagnose bedeutet einen epochalen Wechsel. Bis weit in die Neuzeit hinein bezogen sich eine der Geschichte ins Auge blickende Philosophie und Theologie auf religiöse und politische Zusammenhänge. Der Aufstieg und Zusammenbruch von Weltreichen und die Ablösung alter durch neue Glaubensweisen trieben die Reflexion an. Das war grundsätzlich von Augustinus bis Hegel so.

Mit der Industrialisierung schoben sich dann technische und ökonomische Bezugsgrößen in den Vordergrund. Marx’ Unternehmen, Hegels Geschichtsphilosophie »vom Kopf auf die Füße zu stellen«, reagiert auf diese Veränderung ebenso wie die Hinwendung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zur Sozialwissenschaft. Jetzt ist jedoch auch diese Situation revolutioniert: Die ökologische Krise ist keine grundsätzlich andere für Sozialismus und Kapitalismus. Beide haben auf Fortschritt und Wachstum gesetzt. Und die ökologischen Grenzen des Wachstums können nicht mit rein ökonomischen Mitteln errechnet werden. Unsere wahre Krise bestimmt die Ökonomie, wiewohl von ihr produziert, »von außen«: Ressourcenbegrenzung, Wirkweise von Giftstoffen, die Folgen der Ausrottung von Arten, die anthropogene Veränderung des Klimas – all das sind keine politischen oder ökonomischen Faktoren, sondern »Antworten« auf unser politisches und ökonomisches Handeln. Wie diese Antworten ausfallen, bestimmen physikalisch, chemisch und biologisch beschreibbare Regelkreise.

In der Bewertung der ökologischen Krise ist die Geschichtsphilosophie gewissermaßen wieder dort angekommen, wo sie zu Beginn der Neuzeit auch ihren Anfang erträumte: Die planmäßige Beherrschung der Natur durch exakte Wissenschaft, wie sie Francis Bacon anstrebte, hat dazu geführt, dass wir uns nun von eben diesen exakten Wissenschaften sagen lassen müssen, welche Konsequenzen unser Planen und Handeln in der Natur hervorrufen. Deshalb sind die warnenden Propheten unserer Tage selten Theologen, auch nicht Kulturwissenschaftler, sondern meist Chemiker, Biologen oder Klimatologen. Die einst dazu da waren, Bacons Programm »Wissen ist Macht« zu vollstrecken, finden sich jetzt in der Verantwortung wieder, durch ihr Wissen die Menschheit auf ihre gefährliche Ohnmacht bei der Machtausübung hinzuweisen.

Für eine Theologie, die diese Situation zu deuten und theologische Antworten zu formulieren versucht, bedeutet dies zunächst, dass sie die neuen Propheten der neuartigen Apokalypse hören muss. Das geschieht außerhalb der speziellen Umweltethik meist nur sehr oberflächlich  – als sei die ökologische Lage der Menschheit für Theologen doch nur eine Art Hintergrundrauschen. Ich halte dies für einen Fehler, der die gegenwärtige Ohnmacht theologischen und kirchlichen Sprechens mitbegründet. Deshalb will ich mich in diesem Kapitel mit den ökologischen Szenarien der Gegenwart auseinandersetzen. Das bedeutet zwangsläufig, dass hier Fakten und Daten zur Kenntnis zu nehmen sind, die ein Geisteswissenschaftler weder selbst erheben, noch in sich bewerten, sondern nur einordnen und in ihrer Bedeutung reflektieren kann. Trotz ihrer Fachfremdheit sollten sich Theologen des Einstiegs in ökologische Diskussionen nicht verweigern. Eine eigenständige Meinungsbildung ist heute schlicht Bürgerpflicht. Denn das Argument der Laien-Ohnmacht darf nicht zu einer Zementierung von Experten-Herrschaft führen. Kritische Urteilsfindung ist aber auch Christenpflicht: Denn der Teufel der neuen Apokalypse steckt tatsächlich auch im Detail.

Die Warnungen der neuen Propheten vor Krise und Zusammenbruch werden häufig überhört und in den Wind geschlagen. Direkten, qualifizierten Widerspruch finden sie dagegen selten. Man straft diese modernen Apokalyptiker lieber der Missachtung, als sie zu widerlegen. Der dänische Statistiker Bjørn Lomborg dagegen hat in seinem Buch »Apokalypse No« versucht, die ökologischen Katastrophen-Diagnosen als Übertreibung und Unsinn zu entlarven. Er tut dies auf umstrittene, aber wissenschaftlich fundierte Weise – auch wenn er einzelne seiner Urteile inzwischen revidieren musste. Für meine These, die Menschheit sei ökologisch in das Stadium einer apokalyptischen Krise mit der dauernden Möglichkeit der Selbstzerstörung eingetreten, eignet sich sein Buch als Widerpart, als Instanz zur Gegenprüfung. Ich werde deshalb meine Diagnose immer wieder anhand der Diskussion zwischen Lomborg und den ökologischen Warnern überprüfen.

1. Ein Szenario, das es noch nicht gab

Die Apokalypse der Moderne hat ihre Propheten weit vorausgeschickt. Die Warnungen sind genauso alt wie die technisch geprägten Fortschrittsutopien. Mitunter konnten die Propheten – ähnlich wie Huxley in »Brave New World« die genetische Manipulation – technologische Gefahren schon erkennen, bevor es die Technik tatsächlich gab. So beschrieb der englische Lord Edward Bulwer-Lytton in seinem 1871 erschienenen utopischen Roman »Das kommende Geschlecht« eine Zivilisation, die auf der elektrisch-magnetischen Universalenergie »Vril« beruht. Sie dient als unerschöpfliche Quelle eines potenziell unendlichen zivilisatorischen Fortschritts, beschert Wohlstand, ist aber zugleich in der Lage, die gesamte Zivilisation zu zerstören. Lyttons damals bei Liberalen ebenso wie bei Sozialisten unerhörte These lautete: Es stecken »in der Technik selbst Gefahren, die unabhängig von gesellschaftlichen Interessenkonstellationen gegeben sind«.2 Es mussten weit über hundert Jahre vergehen, bis diese Erkenntnis einer breiten Öffentlichkeit nach Tschernobyl und Fukushima für die Lytton völlig unbekannte Atomenergie aufging.

Nie da gewesen, aber lange gewusst

1864 schrieb George Perkins Marsh in den USA in seinem Buch »Men and Nature«: »Die Verwüstungen, die der Mensch angerichtet hat, bringen die Naturbeziehungen durcheinander und zerstören das von der Natur eingerichtete Gleichgewicht, und nun rächt sie sich selbst an dem Störenfried, indem sie ihren destruktiven Energien freien Lauf lässt. … Die Erde ist nahe daran, für ihren vornehmsten Bewohner unbewohnbar zu werden; ein weiteres Zeitalter vergleichsweiser menschlicher Kriminalität und Kurzsichtigkeit – und sie wäre endgültig in einen Zustand herabgesetzter Produktivität, einer zerstörten Erdoberfläche, klimatischer Extreme versetzt, so dass allgemeines Elend, Barbarei, wenn nicht gar die Auslöschung der menschlichen Rasse die Folge wären.«3 Von der Vernichtung der Wälder, von Wasserverunreinigung, Erosion der Böden und der Verschlechterung des Klimas im Zuge der Industrialisierung sprach Charles Fourier sogar schon um 1830.4 Nun beruhigen frühe Untergangspropheten die Nachgeborenen meist, weil es mit ihren Vorhersagen ja nicht so schnell ging und nicht so schlimm wurde, wie angekündigt. Aber es spricht doch einiges dafür, dass diese Vorfahren der Ökologen den Countdown der ökologischen Apokalypse recht genau da anzuzählen begannen, als er tatsächlich ausgelöst wurde.

Die apokalyptische Qualität der ökologischen Krise besteht in einer nie da gewesenen Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen für das Leben der Menschheit, sowohl im Hinblich auf ihr Ausmaß als auch im Hinblick auf ihr Tempo. Und diese Veränderung ist eine, welche Menschen verursachen. In ein breites öffentliches Bewusstsein rückte diese Diagnose mehr als ein Jahrhundert nach den zitierten Propheten, nämlich 1972 durch den Bericht des Club of Rome: »Grenzen des Wachstums«. Die Autoren des Berichts haben ihn 1992 und 2004 nochmals überprüft und fortgeschrieben, mit verschärftem Ergebnis: Die Menschheit »nutzt ihre Ressourcen und schafft Abfälle in einem Ausmaß, das auf die Dauer nicht durchhaltbar ist«.5

Kritiker haben diesen Bericht gern auf die Vorratsfrage reduziert, als ginge es beim Club-of-Rome-Alarm allein darum, »dass unsere Ressourcen bald zur Neige gehen«.6 Tatsächlich lag die Kernthese der »Grenzen des Wachstums« jedoch in einem in der Geschichte noch nie da gewesenen, sich steigernden Missverhältnis von Belastung und Regeneration unserer natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt. Es ging schon 1972 darum, dass die industrielle Zivilisation – mit einem erst später populär gewordenen Begriff gesagt – nicht nachhaltig wirtschaftet.

Diese Situation ist geschichtlich wirklich neu und lässt sich nicht durch den Verweis auf die Naturausbeutung früherer Kulturen relativieren. »Es gibt etwas Neues unter der Sonne«, konstatiert ein Umwelthistoriker: »Die Stellung der Menschheit in der natürlichen Umwelt hat sich geändert. In dieser Hinsicht sind die modernen Zeiten anders als die früheren.«7 Und ein Kollege ergänzt: »Historisches Bewusstsein bedeutet heutzutage in Umweltfragen zuallererst, sich den aus der gesamten bisherigen Geschichte vollkommen herausfallenden Charakter der gegenwärtigen Wirtschaftsweise vor Augen zu halten … Das Neue ist dabei nicht so sehr die Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen als solche, sondern das rasant beschleunigte Tempo und die flächendeckende und weltweite Dimension dieses Prozesses.«8 Von daher lässt sich feststellen, dass »das 20. Jahrhundert hinsichtlich der Intensität der ökologischen Veränderungen aus dem Rahmen fällt«.9

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich sogar noch eine Beschleunigung in der Beschleunigung: Weltweit ist die Subsistenzwirtschaft, also eine Lebenserhaltung bei relativ geringer Produktivitätssteigerung, erst nach 1945 auf breiter Front verändert worden. Zuvor waren die Zentren industrieller Produktion und insbesondere industrieller Landwirtschaft regional begrenzt, weshalb »eine der tiefsten Zäsuren der gesamten Alltags- und Umweltgeschichte in allerneuster Zeit liegt«. Diese Zäsur bedeutet, dass »der Mensch als Gattung vor einem entwicklungsgeschichtlich riskanten Umbruch steht.«10

Wir sind Zeitzeugen einer Entwicklung, die es in Ausmaß und Geschwindigkeit noch nicht gegeben hat. »Der Film der Geschichte läuft in Zeitraffergeschwindigkeit.«11 Diese Feststellung ist auch von euphorischen Optimisten der industriellen Revolution getroffen worden, denn zunächst hat die Katastrophe tatsächlich das Gesicht des Fortschritts: Die Großeltern erlebten die ersten Dampfzüge, die Kinder die elektrisch erleuchteten Städte, die Enkel den Flugverkehr. »Nie zuvor hat es auf der Erde eine so rapide Entwicklung gegeben, die der im 20. Jahrhundert gleicht.«12 Das Wirtschaftswachstum ist heute 120 Mal schneller als um 1500, aber seine größten Sprünge macht es erst seit 1820 und dann nochmals erheblich gesteigert seit 1950. Die Produktivität steigerte sich im Zuge der Industrialisierung des Wirtschaftens von 1750 bis 1990 um das 200-fache.13

Entsprechend entwickelte sich aber auch der Energieverbrauch: »Die Menschheit hat seit 1900 wahrscheinlich mehr Energie verbraucht als während der gesamten Zeit vorher zusammengenommen.«14 Man kann nicht einerseits die Rasanz der wünschenswerten Entwicklungen preisen, dieselbe Rasanz in der ökologischen Katastrophe jedoch durch historische Vergleiche nivellieren. Niemand wird den technischen Fortschritt mit Hinweis auf die Erfindung des Rades im Neolithikum leugnen wollen, und ebenso ist der Hinweis auf die Brandrodung durch Buschmänner angesichts der Vernichtung der tropischen Wälder lächerlich. »Veränderungen in der Quantität können zu einem Qualitätssprung führen. Ein solcher Sprung vollzog sich im 20. Jahrhundert: Umweltveränderungen, die über Jahrhunderte hinweg lediglich lokal begrenzte Auswirkungen hatten, gewannen plötzlich globale Bedeutung.« Das heißt aber: »Im 20. Jahrhundert hat die Menschheit begonnen, mit der Welt zu spielen, ohne jedoch alle Regeln des Spiels zu kennen. Unbeabsichtigt hat sie auf der Erde ein gigantisches, unkontrolliertes Experiment in Gang gesetzt.«15

Die nie da gewesene Qualität von Umweltzerstörung lässt sich als die Kumulation quantitativ überstürzt anwachsender Einzelfaktoren definieren, die in ihrem Zusammenwirken zu irreversiblen Zerstörungsprozessen führen. Irreversibel wird die Zerstörung dadurch, dass im Einzelnen und in der Kumulation der Faktoren Grenzen des von Ökosystemen Verkraftbaren so überschritten werden, dass die Folgen auch dann noch eintreten würden, wenn die Menschheit ihre Eingriffe unverzüglich stoppen würde – ähnlich wie der Bremsweg eines Tankers die Havarie unvermeidlich macht, auch wenn die Fahrt längst abgebremst wurde. Zudem fährt unser Tanker noch munter weiter. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft noch vor Erreichen der Grenzen automatisch ihr Wachstum bremst. Wenn sie sich keine Selbstbeschränkung auferlegt, ist die Grenzüberziehung unvermeidlich, eben wegen der verzögerten Signale aus der Umwelt.«16 Die Rasanz des Fortschritts hat einen parallelen Fortschritt des Zusammenbruchs losgetreten, der längst in sich selbst und deshalb einer punktuellen Beeinflussung davonläuft.

Die Sortenzahl der weltweit in die Umwelt eingebrachten synthetisch hergestellten Stoffe wird auf 48.000 geschätzt, wovon »weniger als tausend einer Prüfung auf ihre akuten Auswirkungen hin unterzogen« wurden.17 Angeblich hat »jeder Nordamerikaner in seinem Körper mindestens 500 Chemikalien, die vor dem Ersten Weltkrieg noch völlig unbekannt waren«.18 »Umweltverschmutzung« ist ein anachronistischer Begriff geworden, der den Eindruck erweckt, als ginge es um einen – den Funktionszusammenhängen letztlich doch äußerlich bleibenden – Eintrag, den man durch entsprechende Kläranlagen wieder entfernen könne. In Wahrheit ist Umweltverschmutzung »ein höfliches Wort für die mögliche Selbstzerstörung der Menschheit durch Zerrüttung des ökologischen Gleichgewichts«.19 In den Computermodellen des Meadows-Teams treten an die Stelle dieses euphemistischen Wortes neue Begriffe wie »Erosions-Rückkopplung«, »Erosions-Regelkreise« oder »Verschmutzung der natürlichen Anti-Verschmutzungsprozesse«.20 All diese Begriffe drücken aus, dass die Umwelt des modernen Menschen in einem bislang unbekannten Maß sein Werk geworden ist, in dessen Abläufe er seine Handlungen einprogrammiert hat wie der Hacker einen Virus ins Computerprogramm. Ganz grundsätzlich hat schon Anfang der 1970er Jahre ein im Übrigen durchaus nicht pessimistischer Zukunftsforscher die geschichtliche Veränderung der Situation in der Gegenwart auf den Punkt gebracht: »Der Mensch ist nicht mehr der Mensch. Die Natur ist nicht mehr die Natur. Die … Beziehungen zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt sind nicht mehr dieselben.«21

Wenigstens in einigen Grundzügen sollte man sich das konkrete Szenario hinter dieser Diagnose vor Augen führen. Ich wähle deshalb in einer nur der Anschaulichkeit dienenden Systematisierung den Ausgang beim Faktor Mensch sowie einen Durchgang durch die antiken Elemente Luft, Wasser und Erde bis hin zum Gesamtzusammenhang Leben.

Mensch

Die Katastrophe trägt, gerade im Blick auf den Verursacher, den Menschen, die Züge eines ungeheuren Erfolgs. Der Erfolg unserer Art heißt inzwischen »Bevölkerungsexplosion«, und die ereignet sich genau parallel zu der beobachteten Beschleunigung der Umweltzerstörung seit dem 19. Jahrhundert und nochmals dynamisiert in den vergangenen fünfzig Jahren. Dass es sich zunächst tatsächlich um einen gewaltigen Erfolg, einen echten Fortschritt handelt, wird allein daran deutlich, dass »sich die Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren mehr als verdoppelt« hat – natürlich nicht, weil wir alle doppelt so alt werden, sondern in erster Linie, weil »viel weniger Menschen früh sterben«.22

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Satz: Satz!zeichen, Landesbergen

eISBN 978-3-641-09264-1

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