Apokalyptika – Dritter Akt: König der Verwachsenen - Tom K. Williams - E-Book

Apokalyptika – Dritter Akt: König der Verwachsenen E-Book

Tom K. Williams

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Beschreibung

Während Tyr auf die Vollstreckung seines Urteils wartet, setzt der Erhobene Melolonthus alles daran, Tyrs Schicksal in letzter Sekunde noch abzuwenden. Doch auch wenn ihm der Tod erspart bleiben sollte, so wird er sein Leben künftig als Sklave im Dienste der fremden Zivilisation fristen müssen. Nur die Liebe einer jungen Sklavin lässt ihn das Joch der Erhobenen ertragen, auch wenn sie letztendlich sein Verhängnis sein könnte.

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Kurzbeschreibung:

Während Tyr auf die Vollstreckung seines Urteils wartet, setzt der Erhobene Melolonthus alles daran, Tyrs Schicksal in letzter Sekunde noch abzuwenden. Doch auch wenn ihm der Tod erspart bleiben sollte, so wird er sein Leben künftig als Sklave im Dienste der fremden Zivilisation fristen müssen. Nur die Liebe einer jungen Sklavin lässt ihn das Joch der Erhobenen ertragen, auch wenn sie letztendlich sein Verhängnis sein könnte.

Tom K. Williams

Apokalyptika 

Dritter Akt: König der Verwachsenen

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright ©  2017 by Tom K. Williams

Lektorat: Raiko Oldenettel

Korrektorat: Lennart Petersen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-976-3

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Dritter Akt

I. Zwei Meister

II. Im Schutz der Ranken

III. König der Verwachsenen

Dritter Akt

I. Zwei Meister

Melolonthus hetzte durch alle Instanzen, wurde abgewiesen, ließ sich nicht abwimmeln – fragte weiter und weiter. Er hatte Mantis einen entscheidenden Vorteil voraus: Er war ein Erhobener. Noch dazu von edler Abstammung. Die Leute brachten ihm nicht unbedingt den größten Respekt entgegen, da sein Forschungsgebiet wenig angesehen war. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie ihm zuhören mussten. So kam es, dass er nach etlichen mürrischen, frisch erwachten Beamten und unter bösen Blicken endlich vor Achetus Domesticus stand, dem Protegé der Ratsherrin.

Der Beamte war in seine Schlaftoga gehüllt, das Gesicht vor Zorn puterrot angelaufen. In der zitternden Hand hielt er eine mit Fetten und Talg gefüllte Lampe, die einen unruhigen Lichtschein auf Melolonthus‘ Gesicht warf. „Was um alles in der Welt veranlasst dich, mich mitten in der Nacht zu stören? Ich bin ein wichtiger und vielbeschäftigter Mann und habe einen schweren Tag hinter mir. Also?“

„Ich komme im Namen von jemandem, der einen noch viel schwereren Tag hatte – mit Sicherheit!“

Der alte Mann schob sich dreist an dem brüskierten Beamten vorbei. „Was erlaubst du dir? Dies sind die Privatgemächer der Frau Ratsherrin!“

Melolonthus warf dem Diener einen höhnischen Blick zu. „Und was treibt Sie zu so später Stunde in ihre Gemächer?“

Einen kurzen Moment lang versteinerten Achetus Domesticus‘ Züge. „Schon gut, schon gut. Ich hoffe um deinetwillen, dass du einen guten Grund vorzuweisen hast. Die Herrin ist eine ungeduldige Frau.“ Melolonthus nickte und sah den Protegé dabei herausfordernd an. „Keine Sorge, ich bin für meine Diskretion bekannt.“

Achetus Domesticus ließ ein abfälliges Schnauben ertönen und starrte den alten Mann unverhohlen an. „Wenn ich nun den Grund der nächtlichen Störung erfahren darf…“

„Ich habe Neuigkeiten, welche die Verhandlung von heute Morgen in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen! Der junge Mann ist offensichtlich unschuldig.“

Der Diener der Ratsherrin ließ sein dreckigstes Lachen ertönen. „Ja? Ist er das? Und du denkst, dieser unbedeutende Umstand rechtfertigt ein derartiges Verhalten?“

„Wohl kaum unbedeutend, schließlich geht es um ein Menschenleben.“

Achetus Domesticus rümpfte die Nase, sodass Melolonthus tief in dieselbige blicken konnte – tiefer, als er es gewollt hätte. „Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass es in deinem verlausten Greisenschädel nicht mit rechten Dingen zugeht. Dass dir die Erforschung der minderwertigen barbarischen Völker den letzten Rest Verstand verdorren ließ. Aber sei es darum, es ist dein Leben. Wenn ich nun dort hineingehe und der Herrin sage, dass sie wegen dieses dreckigen Wilden mitten in der Nacht geweckt wird, sehe ich ein Inferno aufbranden!“

„Ja, aber wenn ich jemand anderes aufwecke, beispielsweise ihren Ehemann, könnte dies ähnlich schwere Folgen haben. Vor allem für dich.“

Achetus Domesticus‘ Gesichtsfarbe schlug in kochendes Karmesinrot um. „Das würdest du nicht wagen, du alter Tattergreis!“

Melolonthus hob beschwichtigend die Hände und raunte: „Das wird auch nicht nötig sein, nehme ich an. Sorge du nur einfach dafür, dass die Entleibung des Gefangenen auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Es muss eine weitere Verhandlung geben.“

Der Protegé hob drohend die Faust, ließ selbige jedoch schnell wieder sinken. „Du weißt, dass ich dazu nicht befugt bin.“

„Ja, aber du hast die Möglichkeit, diese Schritte einzuleiten!“

„Und dir ist klar, dass Latrodecta mich dafür strafen wird?“

Melolonthus räusperte sich geräuschvoll. „Durchaus. Und ich kann nicht behaupten, dass ich es als ungerechtfertigt empfinden würde. Tu einfach, was ich verlange. Wie du das deiner Herrin erklärst, ist mir gleichgültig. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, dein ungesundes Verhältnis publik zu machen.“

„Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst!“ Achetus Domesticus packte den Kragen des alten Mannes und zog ihn nahe zu sich heran. So verharrten die beiden einige Augenblicke, jeweils den Blick des anderen erwidernd.

Schließlich seufzte der Protegé, lockerte seinen Griff. „In Ordnung. Ich werde die Hinrichtung abblasen lassen. Aber sei dir absolut bewusst…“ Sein Gesicht näherte sich Melolonthus bis auf wenige Zentimeter. „...dass du hierfür bezahlen wirst. Teuer bezahlen.“

Dann machte der Diener kehrt, riss die Tür hinter sich zu und knallte sie geräuschvoll in den Rahmen.

Melolonthus atmete erleichtert aus, wich zur Seite und lehnte sich an die kunstvoll verzierte Außenwand der Villa. Er spielte sein Blatt zu hoch. Aber wenn er Tyr helfen wollte, musste er Zeit gewinnen. Wenn es zu einer weiteren Verhandlung kam, so hatten sie nun eine echte Chance, den jungen Barbaren zu retten. Wenn nicht…

Melolonthus stieß sich ab und hastete die hell erleuchtete Prunkstraße im Viertel der Reichen und Mächtigen hinab. Er war müde und viel zu aufgeregt – er durfte jetzt keinen Fehler begehen. Von dem Fehler abgesehen, sich überhaupt in diese Sache eingemischt zu haben.

Die Sonne tauchte matt glitzernd am Horizont auf und hüllte die Stadt der Städte in einen gespenstischen Schein. Während sich die ersten Händler bereits daranmachten, ihre Stände aufzubauen und ihre Waren aus hölzernen Kisten und Jutesäcken zu laden, hastete der alternde Wissenssuchende Melolonthus noch immer durch die verschlungenen Straßen.

Er hatte einen alten Bekannten besucht, dessen Frau Scutigera einen höheren Posten im Justizpalast innehatte. Glücklicherweise hatte dieser zugestimmt, seine Gemahlin davon zu überzeugen, das Urteil vom Vortag anzufechten. Dass er die beiden damit in Verlegenheit brachte, war ihm klar und er wollte sich eigentlich dafür schämen. Aber für derartige Gefühle würde ihm später noch genügend Zeit bleiben.

Nur Augenblicke nach Sonnenaufgang hetzte der Wissenssuchende auch schon durch die Katakomben des Justizpalastes, geführt von einem nervösen und noch jungen Legionär. Als sie vor Tyrs Zelle angekommen waren, brannten die Lungen des alten Mannes wie Feuer. Der Soldat sperrte die Riegel auf, während Melolonthus die Augen schloss und innig hoffte, zwei Menschen im Inneren der Zelle vorzufinden.

Mantis lehnte schlafend an einer Wand, während der Gefangene auf seinem Lager aus Stroh gebettet lag.

Tyr erwachte als erster, riss die Augen auf und schnellte empor. Er dachte wohl, dass nun seine Zeit gekommen war. Durch das geräuschvolle Erwachen wurde auch Mantis geweckt. Nachdem die Schlaftrunkenen den alten Mann erkannt hatten, seufzten sie erleichtert.

„Beim Grab meines Großvaters, du bist es! Ich dachte schon, es wäre soweit. Ist es doch nicht, oder?“ Die Worte platzten förmlich aus Mantis heraus. Melolonthus konnte nicht sofort antworten, sondern musste sich vorerst gegen eine Wand stützen und keuchend nach Luft ringen. Die nächtliche Aufregung und das Umherlaufen waren zu viel für ihn gewesen.

Nach einer Weile fand er wieder Atem und sprach: „Offensichtlich nicht, ihr seid ja immer noch hier, obwohl der neue Tag schon begonnen hat. Also hat mein Plan Früchte getragen.“

„Welcher Plan?“

Melolonthus legte den Finger auf die Lippen und kam näher auf die beiden zu. Flüsternd fuhr er fort: „Ich habe versucht, eine weitere Verhandlung zu erzwingen!“

Mantis legte den Kopf schief und sah den Alten ungläubig an. „Und welchen Zweck erreichst du damit?“

„Ganz einfach. Ich denke, dass der Vater dieses Burschen bereits den Strahlentod gestorben ist. Er sagte, die Geister hätten ihn geholt. Bei seinem Volk erklärt man sich derartige Todesfälle auf diese Weise. Sie verstehen nichts von Strahlung. Und die Tätowierung auf seiner Schulter ist ein eindeutiger Beweis.“

„Ein Beweis für dich vielleicht. Aber wird der Justizpalast das auch so sehen?“

Melolonthus schnaubte verächtlich aus. „Sie mögen mich für einen alten Tattergreis halten, der seine Zeit und seinen Intellekt für die Erforschung barbarischer Sitten, Sprachen und Gemeinschaften verschwendet. Der seinen angesehenen Eltern nichts als Schande gebracht hat. Der seine Bluts- und Seelenlinie aussterben ließ, da er es nicht einmal fertiggebracht hat, irgendein kleines Sklavenmädchen zu schwängern, gar eine Erhobene zur Frau zu nehmen. Aber sie werden mein Wort in dieser Sache zur Kenntnis nehmen müssen, selbst wenn sie die Ergebnisse meiner Forschung nur für die Planung weiterer Eroberungs- und Raubzüge verwenden. Meine Expertise zumindest werden sie nicht anzweifeln, mögen sie von mir auch halten, was sie wollen.“

Tyr starrte die beiden ungläubig an, wie sie auf einmal zu grinsen begannen, ihm auf die Schulter klopften und wirres Zeug in der Sprache der Erhobenen austauschten. Ein merkwürdiges Benehmen am Tag seiner Hinrichtung. Also fragte er, was sie so erheiterte.

„Keine Sorge, mein Junge. Vielleicht wird jetzt alles gut. Ich würde dir gerne die Einzelheiten erklären, doch nun muss ich zum Justizpalast. Es sieht ganz so aus, als könnten wir deinen Tod verhindern.“ Melolonthus lächelte breit und klatschte dem Gefangenen mit der flachen Hand gegen die Wange. Bevor Tyr etwas erwidern konnte, verließ er die Zelle, dicht gefolgt von Mantis. Als sie bereits die Tür schlossen, rief er ihnen hinterher: „Lasst mich nicht beide allein!“

Mantis streckte den Kopf ein Stück weit in die Zelle. „Ich bin zwar ein befreiter Sklave, allerdings gibt es auch für mich Arbeit zu erledigen. Du wirst von mir hören, das verspreche ich dir!“

Schon flog die Tür in die Angeln. Es herrschte Stille, gespenstische Stille. Tyr saß stumm auf seinem provisorischen Strohlager und starrte mit offenem Mund ins Nichts. Abermals keimte in ihm der Verdacht, ausschließlich von Irren umgeben zu sein. Dank Melolonthus und Mantis hatte er jedoch seit langem wieder das Gefühl, nicht mehr völlig allein zu sein.

Als sich die Sonne ihrem Mittagsstand näherte, das gewohnte Treiben auf den Straßen erneut zu toben begann und die ersten Sklaven sehnsüchtig nach einer Pause von der harten Arbeit gierten, versammelten sich in einem kleinen Saal des Justizpalastes würdevoll gekleidete Leute. Unter ihnen waren Melolonthus, Achetus Domesticus, zwei Dutzend Senatsmitglieder und Latrodecta, die Ratsherrin höchstselbst.

Letztgenannte sah sich zornig um, scheinbar hatte sie keine Ahnung, wem sie diese Farce zu verdanken hatte. Neben ihr saß ihr Protegé, der ein dunkles Veilchen unter dem linken Auge trug. Er blickte mit erzwungen gleichgültigem Blick auf den Boden zu seinen Füßen. Hinter vorgehaltener Hand hatten einige Senatoren den einen oder anderen Witz über den beschämten Mann ausgetauscht.

Melolonthus saß den beiden auf einem bequemen Fellsessel gegenüber. Er hatte die Zwischenzeit genutzt, um sich frisch zu machen und neu anzukleiden, sodass man ihm den fehlenden Schlaf und die Anstrengung der letzten Nacht kaum mehr ansah. Innerlich jedoch war er ungeduldig und ängstlich. Jetzt ging es um alles und er wusste nicht, wie viel Achetus Domesticus seiner Herrin offenbart hatte. Wenigstens ließ sie ihm keine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Ein gutes Zeichen!

Nun betraten zwei weitere Personen den geschmackvoll eingerichteten Saal. Bei der einen handelte es sich um den Ankläger der gestrigen Verhandlung, bei der anderen um Scutigera, die einflussreiche Gattin von Melolonthus‘ Freund. Sie warf dem Wissenssuchenden einen unauffälligen, aber eindeutigen Blick zu.

Die Unterredung, die bewusst unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, wurde mit einiger Innbrunst geführt, vor allem von Achetus Domesticus.

„Soll das etwa heißen, dass das Urteil nicht rechtskräftig sein soll?“

„Genau, das soll es heißen. Allerdings möchte ich betonen, dass ich durchaus die Berechtigung habe, einen niederen Erhobenen wegen Frechheit auspeitschen zu lassen, selbst wenn er der Diener einer sehr einflussreichen Frau ist.“ Es war Scutigera, die dem Protegé der Ratsherrin gerade eine eindeutige Warnung ausgesprochen hatte. Achetus Domesticus ließ sich wieder in seinen Sessel fallen, zog den Kopf ein und schürzte die Lippen.

Latrodecta erhob beschwichtigend die Linke und zischte: „Keine Sorge, meine Teuerste. Das wird er ohnehin werden, du kannst dir die Mühe also sparen.“

Sie strafte ihren Diener und heimlichen Liebhaber mit einer abschätzenden Geste in seine Richtung. Einer der umhersitzenden Würdenträger konnte sich ein unterdrücktes Lachen nicht verkneifen. Melolonthus atmete erleichtert auf. Man hatte ihn also nicht verraten.

Scutigera stand nun auf, ging im Raum umher und sah sich nachdenklich um, wobei sie sich bewusst den Anschein verlieh, innerlich Puzzlestücke zusammenzufügen. Schließlich verkündete sie: „Der hier anwesende, sehr geschätzte Wissenssuchende Melolonthus hat neue Erkenntnisse gewonnen, die den mutmaßlichen Mörder unserer verehrten ehemaligen Ratsherrin betreffen. Dem Anschein nach hat sich herausgestellt, dass der Vater des Verurteilten in der Wildnis bereits den Strahlentod gestorben ist. Ist dies korrekt?“

Sie wandte Melolonthus einen Blick zu, woraufhin dieser sogleich das Wort ergriff. „Absolut. Bei einem Gnadenbesuch hat der Gefangene dies eindeutig klargemacht, in weitestgehender Unkenntnis der Konsequenzen dieser Tatsache. Des Weiteren trägt er eine entsprechende Hautmalerei, welche von den Wilden des Westens nicht leichtfertig vergeben wird. Sie beweist seine Aussage.“

„Unsinn. Das beweist nur, dass die Barbaren sich gern mit albernem Körperschmuck befassen!“ Eine Senatorin mit hellen Haaren und angriffslustig funkelnden Augen hatte dazwischengerufen, sehr zur Belustigung ihrer Mitsenatoren. Ein kurzer Blick der Ratsherrin Latrodecta genügte, sie zur Räson zu bringen.

Die im Zentrum des Geschehens stehende Justizbeamte schenkte der Bemerkung keine Aufmerksamkeit und nickte in Melolonthus‘ Richtung. „Dies würde natürlich alles verändern. Wenn das Rad bereits angehalten ist, das Band der Seelenübertragung zertrennt wurde, ist eine Verurteilung weder nötig noch rechtmäßig.“

Der Ankläger wie auch Achetus Domesticus wollten lautstark protestieren, wurden jedoch scharf unterbrochen.

Latrodecta ergriff das Wort. „Auch wenn ich bereit bin, dieser Argumentation zu folgen, so verweigere ich mich dem, das Urteil eines öffentlichen Tribunals unter Mitwirkung des Senats zu annullieren. Und das nur aufgrund eines einzelnen Wilden. Dennoch…“ Die Ratsherrin verstand es ausgezeichnet, ihrem Tonfall in feinen Nuancen so viel Nachdruck zu verleihen, dass sie es nicht nötig hatte, mit besonderer Schärfe zu sprechen. Ihre strenge Würde verlieh ihr ausreichend Autorität.

Melolonthus‘ Miene wandelte sich zu einem hoffnungsvollen Ausdruck, wohingegen Achetus Domesticus aussah, als müsse er sich demnächst übergeben.

Die Ratsherrin fuhr fort. „Dennoch ist der Kreis der Erhobenen dem Ideal des Imperiums streng verpflichtet, die Fackel der Zivilisation in die düstere Welt hinauszutragen und sie zu ihrem eigenen Wohl unserer Herrschaft Untertan zu machen. Und wie sollten wir diesem Anspruch gerecht werden, wenn wir an unsere eigene Rechtschaffenheit und die Demut vor dem Gesetz nicht mehr gebunden sind? Aus diesem Grund schlage ich dem Senat vor, auch zur schnellen Klärung dieser kleinen, unbedeutenden Episode, dass der betroffene Wilde dem Kreis künftig als Sklave zur Verfügung stehen soll. Die Entleibung wird ihm in Anbetracht der jüngsten Erkenntnisse erspart bleiben. An seiner Statt soll man die Leiche eines anderen Sklaven in den Reaktor werfen. Es wird sich sicherlich ein geeigneter Körper auf einem der außerstädtischen Gutshöfe finden.“

Während die Senatoren dem Vorschlag der Ratsherrin mit relativem Gleichmut zustimmten, wollte Melolonthus zu so viel Gerechtigkeitsempfinden gratulieren, doch die Ratsvorsitzende erhob mahnend den Zeigefinger.

„Und da sich der Wissenssuchende Melolonthus so rührend für die Rettung des Wilden eingesetzt hat, soll er ihm als Sklave zugeteilt werden. Möge er ihm unsere wundervolle Sprache beibringen und ihn zu einem nützlichen Werkzeug des Kreises machen.“

„Aber Herrin…“, wollte ihr Protegé einwenden. Ein eiskalter Blick ließ ihn verstummen.

Nach einem kurzen Moment fuhr sie fort: „Und um die Ungerechtigkeit wettzumachen, die dem jungen Mann beinahe widerfahren wäre, möchte ich ihm die Gunst erweisen, zudem regelmäßig Dienst in der Villa meiner Familie zu verrichten.“

Die Justizbeamtin Scutigera lächelte schmeichelnd und erwiderte: „Eine großzügige und gütige Geste von Euch, Herrin.“

Der Ankläger, der mittlerweile abseits der anderen stand, rollte mit den Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er hatte wohl seine eigene Theorie, woher der plötzliche Sinneswandel der obersten Frau des Kreises kam.

Die Korrektur des Urteils wurde schriftlich niedergelegt, dann löste sich die Versammlung auf. Achetus Domesticus trottete seiner Herrin hinterher, drehte sich noch einmal zu Melolonthus um und formte mit seinen Lippen eine stumme Drohung. Dann verschwand er, wie auch die meisten anderen. Nach kurzer Zeit wollte auch Melolonthus sich aufmachen, um Tyr die frohe Botschaft zu überbringen und ihn aus seinem Kerker zu befreien. Doch als er die Tür durchschreiten wollte, packte ihn Scutigera streng am Kragen und hielt ihn fest.

Sie flüsterte ihm zornig zu: „Ich weiß nicht, was das Ganze zu bedeuten hat und welcher Dämon dich zu dieser Schandtat treibt, aber ich warne dich: Solltest du meinen Gatten je wieder um einen solchen Gefallen bitten, schwöre ich, dass man dich nackt vom höchsten Turm in Narbo Martius hängen wird. Und welche Teufeleien du mit dem Barbaren vorhast…“

„Es war nur Mitleid, das schwöre ich.“ Melolonthus wusste ganz genau, welchen Verdacht sie hegte.

Nun kam die Frau, die eine ergraute Kurzhaarfrisur trug, noch näher an ihn heran und raunte: „Du hast keine Ahnung, wie viele Feinde du dir heute gemacht hast, du alter Narr. Pass künftig besser auf dich auf. Mitleid ist gefährlich. Es schickt sich nicht für einen Erhobenen, solche Hirngespinste zu riskieren. Und noch einmal: Was auch immer meinen Gatten und dich in der Vergangenheit verband, sämtliche Schuldigkeiten sind hiermit beglichen.“

Sie ließ ihn los, sodass er die Tür durchschreiten konnte. Als er außer Reichweite ihres Blickes war, beschleunigte er seine Schritte. Er wollte dieses Gebäude möglichst schnell verlassen. Ihm war, als würde er vor seiner eigenen Vergangenheit davonlaufen.

Als es Mittag wurde, sanftes Licht den kahlen Kerker erhellte und das Gemurmel vieler hundert Menschen an Tyrs Ohren drang, wurde ihm langsam bewusst, dass er dem drohenden Tod tatsächlich entronnen war. Noch war er sich nicht im Klaren darüber, welcher Umstand letztendlich für seine Errettung verantwortlich zu machen war, aber er war sich sicher, dass er seinem unverhofften Freund Mantis und dem alten Mann zu tiefem Dank verpflichtet war.

Er streckte seine vielbeanspruchten Glieder, reckte den Hals und spannte Arm- und Brustmuskeln an, nur um zu sehen, ob sie noch funktionierten. Er spürte keinen Hunger, nicht einmal die beißende Kälte des feuchten Steinbodens. Er war nur noch glücklich – überglücklich, dass sein Leben weiterging. In welche Richtung, das wusste er nicht. Eigentlich war es auch egal.