Applied Behavior Analysis (ABA) in der Therapie von Kindern mit Autismus - Beata Urbaniak - E-Book

Applied Behavior Analysis (ABA) in der Therapie von Kindern mit Autismus E-Book

Beata Urbaniak

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Beschreibung

Dieses Buch stellt Daten über die Wirksamkeit der Applied Behavior Analysis (ABA) zur Verfügung, einer der, wie hier nachgewiesen werden kann, wirksamen Methoden für den pädagogischen und therapeutischen Umgang mit Kindern im Autismus-Spektrum. Die Forschungen wurden über zehn Jahre mit insgesamt 30 Kindern durchgeführt, die dadurch großes Entwicklungspotenzial gezeigt haben, indem sie z.B. die verbale Sprache erlernt haben oder auch Blickkontakt aufzunehmen, Anweisungen anderer Personen zu verstehen, nachzuahmen, Interaktionen zu initiieren und zu spielen. Aufgrund dieser Forschungen konnten wichtige Schlussfolgerungen für die Therapie der Kinder im Autismus-Spektrum gezogen werden. Einen besonderen Abschnitt des Buches bilden die individuellen Geschichten der Kinder, die von ihren Eltern geschrieben wurden.

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Beata Urbaniak

Applied Behavior Analysis (ABA) in der Therapie von Kindern mit Autismus

Übersetzt von Martha Jurkiewicz

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029092-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029093-8

epub:    ISBN 978-3-17-029094-5

mobi:    ISBN 978-3-17-029095-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Einleitung

Teil I Autismus – was wissen wir aktuell darüber?

1   Autismus-Spektrum – ein anerkanntes Konzept

2   Immer mehr Personen sind von Autismus betroffen – Epidemiologie

3   Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus: dem Autistischen Spektrum angehörende Symptome (DSM-5

®

)

4 Wissen in Bezug auf die Ursachen

Teil II Kann man Kindern mit Autismus helfen?

5   Applied Behavior Analysis (ABA) – Grundlagen der therapeutischen Arbeit

6   Inwiefern und auf welche Weise ist es möglich, den Kindern einen guten Start in die weitere Entwicklung zu sichern?

7   Schlussfolgerungen, Fragen, Zweifel

8   Fazit und Hinweise für das Planen und Durchführen einer Therapie für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung

Bibliographie

Anhänge

 

Einleitung

 

 

Immer öfter treffe ich Eltern, die über die Entwicklung ihrer Kinder besorgt sind. Dies betrifft nicht nur Personen, die ich während meiner Arbeit treffe sondern auch den Kreis meiner Bekannten und meiner Familie.

Oft bleibt es bei der Beunruhigung. Immer wieder jedoch ist dies der Beginn eines neuen, anderen, von ihnen nicht ausgesuchten Lebensweges, den sie gemeinsam mit ihren Kindern, Geschwistern, der nahen und entfernten Familie sowie mit Bekannten beschreiten. Der erste Schritt ist die Diagnose, der zweite die Auswahl geeigneter Formen der Hilfe, der dritte …, vierte …, fünfte … Jeder beschreitet diesen Weg auf seine eigene, sich nicht wiederholende Art und trifft dabei auf verschiedene Situationen und Personen.

Auf dem Weg einiger Personen befand ich mich selbst und ich dachte zu Beginn, es sei meine Aufgabe, Tipps zu geben, Probleme zu lösen, die Therapie zu führen. Doch dem war nicht so. Es waren die Kinder und ihre Eltern, die mich mehr gelehrt haben als die Fortbildungen und Praktika, dich ich absolviert hatte. Und nicht immer war ich es, die Hilfe geleistet hat. Sehr oft bekam ich eine enorme Unterstützung seitens der Eltern der Kinder mit Behinderung. Oft in gewöhnlichen Gesprächen, aber auch allein durch das Betrachten ihrer über Jahre erarbeiteten inneren Kraft, ein Wertesystem aufzustellen für das, was wirklich wichtig ist. Manchmal auch einfach nur durch ein Lächeln, das signalisierte »ich komme zurecht«.

Unsere gemeinsamen Treffen auf verschiedenen Ebenen haben dazu beigetragen, dass ich einige Familien zu dieser Publikation eingeladen habe. Die im Buch enthaltenen Geschichten der Kinder wurden von ihren Eltern geschildert. Dies sind gleichzeitig Geschichten der Kinder, die an den Untersuchungen zum Thema der Wirksamkeit der Methoden der Applied Behavior Analysis (ABA) teilgenommen haben.

Woher kommt die Idee für ein solches Untersuchungsthema? Die Antwort ist einfach. Eine der von den Eltern am häufigsten gestellten Fragen betrifft das, was ihrem Kind hilft. Arzneimittel, Delphine, Spurenelemente, Vitamine, sensorische Integration, Musiktherapie, Gehörtraining, Behavioristische Therapie, oder eines aus ungefähr siebzig folgenden Angeboten? Die Therapeuten und Ärzte wissen jedoch nicht, was dem einen und was den anderen 99 von 100 Kindern hilft. Was wir außerdem nicht wissen, ist, welche dieser Therapieformen schadet (wenn auch nur durch Unterlassung dessen, was wirksamer gewesen wäre).

Liebend gerne würde ich den Zeitpunkt erleben, an dem wir genau wissen, in welcher Weise wir wirkungsvoll in der Entwicklung der Kinder helfen können, ohne den Eltern zumuten zu müssen, ungeheure finanzielle Ausgaben zu tragen, für eine Therapie, die nicht die besten Resultate erbringt.

Diese Publikation entstand auf der Grundlage der im Februar 2013 verteidigten Doktorarbeit »Wirksamkeit der Methoden der Applied Behavior Analysis in der Therapie von Kindern mit Autismus«. Sie ist das Ergebnis zehnjähriger Untersuchungen, die in Posen durchgeführt worden sind. Sie beschreibt, analysiert sowie beurteilt den Entwicklungszustand von dreißig Kindern im Bereich von Beeinträchtigungen beim Aufnehmen von Blickkontakt, bei der Imitation, beim Bilden grundlegender Gegenstandskategorien, beim Verstehen von Mitteilungen, beim Imitieren von Sprachlauten, beim Benennen von Gegenständen, beim Initiieren verbaler und nonverbaler Interaktionen sowie beim Ausführen zielgerichteter Handlungen. Gleichzeitig beurteilt sie den Umfang sowie den Charakter der Veränderungen im Bereich jener Fähigkeiten, die sich dank der intensiven Therapie mit den Methoden der ABA ergeben haben. Die Analyse der Untersuchungsergebnisse erlaubt es, für die gesamte Gruppe der untersuchten Kinder Schlüsse zu ziehen, und verfolgt gleichzeitig auch ihre individuellen Geschichten.

Ich möchte diese Publikation meiner wichtigsten Pädagogin widmen: Professor Irena Obuchowska, die 2016 verstorben ist und deren Herzlichkeit, Güte und Unterstützung mich auf meinen Berufsweg geführt hat und führt, sowie dem 2014 verstorbenen Krzysztof Lausch, dem ersten Leiter, Mentor und Freund, der mich in die Geheimnisse der Arbeit eingeführt hat und mich lehrte, für die Würde der Kinder zu kämpfen.

Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Familie, die mich stets bei meinen beruflichen Herausforderungen begleitet.

 

 

 

 

 

Teil IAutismus – was wissen wir aktuell darüber?

 

1          Autismus-Spektrum – ein anerkanntes Konzept

 

 

Im Mai 2013 erschien in den Vereinigten Staaten die 5. Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-5®, die die folgende »Revolution« im Bereich der Definition des Autismus mit sich gebracht hat. Anerkannt wurde der Begriff Autismus-Spektrum-Störung (engl. autism spectrum disorder), der seit vielen Jahren von den Forschern nahegelegt worden ist. Unter diesem Begriff wurden die Autistische Störung, die Asperger-Störung, die Desintegrative Störung im Kindesalter und die nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung zusammengefasst. Betrachtet man die neuesten Erkenntnisse, die die Ätiologie betreffen, so wurde die Autismus-Spektrum-Störung den Neuroentwicklungsstörungen zugeordnet.

Die neue Form der Klassifikation erlaubt es bedeutend besser, die unterschiedlichen Symptome einzelner Personen zu beschreiben, indem ihr individuelles Bild (z. B. der Ausprägungsgrad oder die Sprachfertigkeiten) sowie Aspekte, die sie begleiten (genetische Störungen, Epilepsie, geistige Behinderung und andere), zusätzlich berücksichtigt werden. Die Kategorie der Spektrum-Störung spiegelt das heutige Wissen über die Pathologie und die klinische Präsentation besser wider (APA, 2011).

Die bisherigen Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV-TR haben den Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (engl. pervasive developmental disorder, PDD) gezählt, die durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten gekennzeichnet ist (http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2011/block-f80-f89.htm).

Die in diesen Klassifikationen beschriebenen Diagnosekriterien für den Frühkindlichen Autismus (ICD-10) bzw. die Autistische Störung (DSM-IV-TR) sowie die Kriterien, die diese von anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen unterscheiden, waren keine hinreichend eindeutigen Kriterien, um eindeutige Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Diagnoseprobleme zeigten sich insbesondere bei Kindern, die das zweite Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und bei denen nicht alle Symptome auftraten, die mit dem Frühkindlichem Autismus verbunden sind (Pisula, 2010a, S. 34). Viele Fachleute wiesen auf die Tatsache hin, dass die Komplexität der neurobiologischen Faktoren, die dem autistischen Verhalten zugrunde liegen, Einfluss auf die mögliche Bildung einer uneingeschränkten Anzahl an Symptomkombinationen mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden hat, die auf den gemeinsamen Nenner der Symptom-Trias zurückzuführen sind (Poustka et al., 2004; Siegiel, 2003; Amaral, 2011; Wing et al., 2011). Der Moment, in dem sich die Symptome zeigen, sowie der sich mit der Zeit verändernde Ausprägungsgrad bewirken die Zuordnung zu einem der klinischen Fälle der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Zur Bestätigung dessen dienten Diagnosen, die bei eineiigen Zwillingen oder auch bei anderen Geschwisterkonstellationen gestellt werden, bei denen das Kind, das die stärkeren autistischen Verhaltensweisen aufweist, die Diagnose Frühkindlicher Autismus bekommt, das andere hingegen, das eine leichtere Form der Störung zeigt, die Diagnose Asperger-Syndrom oder auch nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung (Siegiel, 2003, S. 23). Autistische Verhaltensweisen bilden auf diese Weise ein Kontinuum, angefangen von ganz starken Störungen, die einen intensiven Pflegebedarf beinhalten, bis zu Störungen, die sich an der Grenze zur »Normalität« befinden und nur leicht die Entwicklung sowie alltägliche Funktionen beeinflussen (Schirmer, 2007, S. 6; 2010, S. 12). Als erste Wissenschaftlerin wies Lorna Wing darauf hin, dass autistische Verhaltensweisen mit dem Ausprägungsgrad zusammenhängen (1979, nach: Pisula, 2010b, S. 15). Ihre Untersuchungen zum »autistischen Kontinuum« haben zur Erweiterung der in der Einteilung nach DSM-IV enthaltenen Diagnosekriterien beigetragen.

Abb. 1.1: Autismus-Spektrum – tiefgreifende Entwicklungsstörungen im Kontext der Schwere der Störungen (Pietras & Witusik, 2010, S. 17)

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat man angefangen, den Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu verwenden, um die Übereinstimmung und die Kontinuität der autistischen Symptome, die sich in allen klinischen Fällen tiefgreifender Entwicklungsstörungen äußern, zu betonen. Zum ersten Mal wurde dieser Begriff von D. A. Allen verwendet in dem Artikel »Autistic spectrum disorders: clinical presentation in preschool children«, der im Journal of Child Neurology 1988 erschienen ist (Pisula, 2010b, S. 16). Er hat im Laufe der Zeit immer mehr an Befürwortung und Popularität gewonnen hat, sowohl in wissenschaftlichen Bereichen als auch bei Einrichtungen, die sich mit der Diagnose und der Therapie beschäftigen (Wing, 1997; Allen et al., 2001; Ospina et al., 2008; Siegiel, 2004; Schirmer, 2006; Krüger, 2010; Pisula, 2010b; Pietras et al., 2010; Budzińska & Budzińska 2010; Dababnah et al., 2011; Obuchowska, 2012).

Wie das Komitee für Therapeutische Intervention bei Kindern mit Autismus betont, werden Störungen, die zum autistischen Spektrum gehören, durch unterschiedlich starke Symptome, einen unterschiedlichen Zeitpunkt ihres Auftretens sowie durch das Vorhandensein unterschiedlicher zusätzlicher Störungen, wie geistige Behinderung oder spezifische Verzögerungen in der Sprachentwicklung, charakterisiert. Störungen, die dem autistischen Spektrum angehören, können sowohl erhebliche Unterschiede bei den Kindern aufweisen als auch sich mit der Zeit bei einzelnen Kindern verändern. Doch auch wenn sie gleich bleiben, insbesondere im sozialen Verhalten, gibt es kein bestimmtes Verhalten, das stets für den Autismus oder die Autismus-Spektrum-Störung typisch wäre, ebenso wenig wie es ein Verhalten gibt, das automatisch ein bestimmtes Kind von einer solchen Diagnose ausschließen würde (National Research Council, 2001, S. 8).

Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung löst Diagnoseprobleme im Falle eines nicht eindeutigen klinischen Bildes und ermöglicht eine frühe Diagnosestellung ohne das Risiko eines Fehlers und, damit verbunden, einem frühen Beginn der Therapie. Er vermindert ebenso die Symptomdynamik, indem er den Bedarf einer Neudiagnose, im Falle einer Verstärkung oder Abschwächung der Symptome, reduziert. Ein ungemein wichtiger Vorteil dieses Begriffs ist ebenfalls die Tatsache, dass als Unterscheidungsmerkmal des Ausprägungsgrades der Symptome autistische Verhaltensweisen dienen und nicht Störungen, die sie begleiten, wie Intelligenzminderung oder der Entwicklungsstand der Sprache, die bisher als Hauptbezugspunkt bei der Zuordnung zu einem bestimmten Diagnosefall galten.

Im Rahmen der Autismus-Spektrum-Störung werden drei Schweregrade der Symptome angegeben: eine Unterstützung ist erforderlich, eine umfangreiche Unterstützung ist erforderlich und eine sehr umfangreiche Unterstützung ist erforderlich. So wird aktuell die früher diagnostizierte Asperger-Störung als Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Sprachfähigkeit oder der intellektuellen Entwicklung definiert (Falkai & Wittchen, 2015).

Schweregrade der SymptomeSoziale KommunikationRestriktive, repetitive Verhaltensweisen

Tab. 1.1: Schweregrade der Symptome bei Autismus-Spektrums-Störungen (Falkai & Wittchen, 2015, S. 67)

Eine bedeutende Veränderung im Verständnis der Autismus-Spektrum-Störung resultiert ebenfalls aus dem Vorschlag, zwei Hauptdiagnosekriterien, zum einen die qualitativen Beeinträchtigungen sozialer Interaktionen und zum anderen die qualitativen Beeinträchtigungen in der Kommunikation, unter dem Begriff »Defizite in sozialer Kommunikation und in sozialen Interaktionen« (engl. Deficits in social communications and social interaction) zusammenzufassen. Sich auf veröffentlichte Untersuchungen, Konsultationen mit Fachleuten sowie zusätzliche Analysen, die von Untersuchungseinrichtungen durchgeführt worden sind, stützend haben die Autoren der neuen Version des DSM festgestellt, dass Verzögerungen in der Sprachkompetenz kein charakteristisches Symptom für die Autismus-Spektrum-Störung bilden und eher die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung beeinflussen, als sie zu definieren. Vor allem jedoch sind Defizite in der Kommunikation und im sozialen Verhalten voneinander untrennbar und sollten als ein Aspekt der Symptome, die in unterschiedlichem Kontext auftreten, berücksichtigt werden. Es wurde ebenfalls anerkannt, dass das Vorhandensein von Handlungsroutinen, Ritualen und sich wiederholenden Verhaltensmustern ein wichtiges Diagnosekriterium darstellt. Diese Verhaltensweisen konkretisieren mit der Zeit das klinische Bild der Autismus-Spektrum-Störung und differenzieren sie von anderen Störungen. Des Weiteren wurde vorgeschlagen, das Kriterium des Auftretens der Symptome vor dem 3. Lebensjahr wegzulassen. Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine Störung der Entwicklung des Nervensystems, die ab demSäuglingsalter oder frühen Kindesalter vorhanden ist, in dieser Zeit jedoch unerkannt bleiben kann aufgrund minimaler sozialer Anforderungen und Unterstützung seitens der Eltern oder betreuender Personen (http://www.dsm5.org/Pages/Default.aspx).

Autismus-Spektrum-Störung

Symptome nach der Klassifikation DSM-5® (Falkai & Wittchen, 2015, S. 64 f.)

Diagnostische Kriterien

 

A. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und in sozialen Interaktionen über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen (die Beispiele sind erläuternd, nicht vollständig):

1. Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit. Diese reichen z. B. von einem abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitige Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktionen zu reagieren bzw. diese zu initiieren.

2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird. Diese reichen z. B. von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Köpersprache oder von Defiziten im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation.

3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechtenhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Diese reichen z. B. von Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, über Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, bis hin zum vollständigen Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen.

    Bestimme den aktuellen Schweregrad:Der Schweregrad basiert auf Beeinträchtigungen der sozialen Kommunikation sowie eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern ( Tab. 1.1)

B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren (die Beispiele dienen der Erläuterung und sind nicht vollständig):

1. Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder von Sprache (z. B.: einfache motorische Stereotypien, Aufreihen von Spielzeug oder das Hin- und Herbewegen von Objekten, Echolalie, idiosynkratrischer Sprachgebrauch)

2. Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen und nonverbalen Verhaltens (z. B. extreme Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale, Bedürfnis, täglich den gleichen Wege zu gehen oder das gleiche Essen zu sich zu nehmen)

3. Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an oder Beschäftigen mit ungewöhnlichen Objekten, extrem umschriebene oder perseverierende Interessen).

4. Hyper- oder Hyporeaktvität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz/Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche, Strukturen oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten, visuelle Faszination für Licht oder Bewegung)

    Bestimme den aktuellen Schweregrad:Der Schweregrad basiert auf Beeinträchtigungen der sozialen Kommunikation sowie eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster ( Tab. 1.1)

C. Die Symptome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen (Sie manifestieren sich möglicherweise aber erst dann, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Möglichkeiten überschreiten. In späteren Lebensphasen können sie auch durch erlernte Strategien überdeckt werden).

D. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

E. Diese Störungen können nicht besser durch eine Intellektuelle Beeinträchtigung (Intellektuelle Entwicklungsstörung) oder eine Allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden. Intellektuelle Beeinträchtigung und Autismus-Spektrum-Störung treten häufig zusammen auf. Um die Diagnosen Autismus-Spektrum-Störung und Intellektuelle Beeinträchtigung gemeinsam stellen zu können, sollte die soziale Kommunikationsfähigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen.

Selbstverständlich sind zum Thema der neuen Klassifikation DSM-5® verschiedene Publikationen erschienen. Eine davon stammt von L. Wing und Mitarbeitern (2011). Die Autorinnen erkennen an, dass die Änderung des Oberbegriffs in Autismus-Spektrum-Störung die aktuelle Sicht auf die klinische Äußerung der Symptome widerspiegelt. Die Diagnosepraxis sowie neueste Untersuchungen zeigen jedoch derart voneinander abweichende Symptome, dass man von Autistischen Spektren sprechen müsste, und die gesamte Gruppe eher den Namen »Autismen« annehmen sollte (Wing, 2011, S. 771). Eine ähnliche Ansicht vertritt D. Amaral, den die Analyse genetischer Faktoren sowie die sich äußernde Verschiedenheit der Phänotypen eher dazu veranlasst, von »Autismen« als von »Autismus« (engl. autisms rather then autism) zu sprechen (Amaral, 2011, S. 5). Es bestehen ebenfalls Befürchtungen, dass die Annahme der Klassifikation in obiger Form die Diagnosestellung bei Kindern vor dem dritten Lebensjahr erschwert, wenn das gleichzeitige Auftreten einer Mehrzahl der Symptome zur Diagnosevoraussetzung wird. Der Wegfall genauer klinischer Fälle kann sofort zu einer eingeschränkten Zugänglichkeit zu spezialisierten Formen medizinischer oder therapeutischer Hilfe führen (Wing, 2011, S. 770–771)

 

2          Immer mehr Personen sind von Autismus betroffen – Epidemiologie

 

 

Statistische Daten zeigen, dass die Anzahl der Personen, die an einer Störung aus dem autistischen Spektrum leiden, mit einer höchst beunruhigenden Schnelligkeit steigt (Siegiel, 2003; Fombonne et al., 2009; Pisula, 2010; Banasiak et al., 2010; Saracino et al., 2010; Amaral, 2011). Es stellt sich natürlich die Frage, ob die veränderte Häufigkeit des Auftretens dieser Störung von 4,5/10 000 auf 70/10 000 Personen letztendlich nicht durch bestimmte Faktoren beeinflusst worden ist, wie z. B. die Veränderung der Definition sowie der Diagnosekriterien von Autismus, unterschiedliche Methodologie der epidemiologischen Untersuchungen, wachsendes soziales Bewusstsein oder auch Veränderungen im Sozialhilfesystem (Saracino et al., 2010, S. 327; Siegiel, 2003, S. 4; Frith, 2004, S. 84).

Erörtert man die Frage der veränderten Definition von Autismus, muss man die Tatsache berücksichtigen, dass in den 1960er Jahren die Kriterien für den Autismus nach Kanner (Kanner-Syndrom) auf ein verstärktes routiniertes Verhalten sowie fehlenden emotionalen Kontakt beschränkt waren. Ihre graduelle Erweiterung in den folgenden Klassifikationen DSM und ICD hatte zur Folge, dass das durchschnittliche Auftreten von Autismus von 4,5/10 000 in den 1960er Jahren auf 7,7/10 000 in den 1980er Jahren anstieg (Gillberg, 1999, nach: Saracino et al., 2010, S. 323). Eine ähnliche Meinung vertritt L. A. Croen (2002), der festgestellt hat, dass die Erweiterung der Diagnosekriterien einen Anstieg der Diagnose Autistische Störung von 5,78/10 000 im Jahre 1987 auf 14,89/10 000 im Jahre 1994 zur Folge hatte. Gleichzeitig sank die Häufigkeit der Diagnose Psychische Behinderung von 28,76 auf 19,52/10 000 (Croen, 2002, nach: Frith, 2004, S. 8; Banasiak, 2010, S. 11). Es sei jedoch angemerkt, dass zu Beginn der 1990er Jahre die Asperger-Störung in die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen eingegliedert worden ist. Die Untersuchungen von Kielinen und Mitarbeitern, die 2002 in Finnland mit einer Gruppe von 39 216 Kindern unter Verwendung der Kriterien von Kanner durchgeführt worden sind, haben gezeigt, dass Autismus bei 2,3 von 10 000 Kindern auftritt. Die Anwendung der Untersuchungskriterien ICD-10 und DSM-IV auf dieselbe Gruppe hatte einen Anstieg auf 6,1 von 10 000 zur Folge; verwendete man hingegen die Kriterien für alle tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, kam man auf 7,6 von 10 000 (Saracino et al, 2010, S. 323).

Einen wichtigen Faktor für den Anstieg nachgewiesener Fälle der Autismus-Spektrum-Störung stellt das wachsende soziale Bewusstsein dar, das vor allem im Zusammenhang mit dem leichteren Zugang zu Informationen bezüglich der Symptome, die man hauptsächlich im Internet oder durch soziale Kampagnen dazu findet, steht. Es wird ebenfalls angenommen, dass die Diagnose Autismus häufiger gestellt wird, da dies mit einem besseren Angebot an sozioökonomischer Hilfe zusammenhängt (Siegiel, 2003, S. 4; Saracino et al., 2010, S. 324). Ist es uns somit möglich, anhand dieser Faktoren den Anstieg um das 15-fache der von Autismus betroffenen Personen zu erklären?

Die derzeit auf einer breiten Skala geführten Untersuchungen bestätigen diese Annahme. Nach D. Amaral interessieren sich nicht nur wissenschaftliche Einrichtungen dafür, in denen es ein stets wachsendes Engagement in der wissenschaftlichen Arbeit zum Thema der Autismus-Spektrum-Störung gibt. Bei der Untersuchung von PubMed beispielsweise gab es im Jahre 1990 213 Publikationen zum Thema Autismus, im Jahre 2000 dann 441 und 2009 bereits fast 1522 (Amaral, 2011, S. 3). Für die Regierungen vieler Länder, denen die finanziellen Kosten bewusst sind (rund 3,2 Millionen Dollar für ein Kind mit Autismus im Laufe seines Lebens; 35 Milliarden Dollar für die lebenslange Hilfe für alle Personen, bei denen im Laufe eines Kalenderjahres Autismus diagnostiziert wurde), werden die epidemiologischen Untersuchungen zum Schlüsselproblem (Ganz, 2007 nach: Amaral, 2011, S. 3).

Störungen, die dem autistischen Spektrum angehören, treten in allen Teilen der Welt auf, bei allen ethnischen Gruppen sowie in allen sozialen Schichten (Siegel, 2003, S. 4; Pisula, 2010a, S. 19). In Abhängigkeit der angewandten Untersuchungsmethode (hier inbegriffen sind die Größe der untersuchten Gruppe und die Quellen für die Fakten) haben die epidemiologischen Untersuchungen aus 27 Veröffentlichungen der Jahre 2000 bis 2010, die bei 2536 bis 4247 Personen im Alter von 0 bis 17 Jahren durchgeführt wurden, gezeigt, dass auf umgerechnet 10 000 Personen in etwa 30 bis 181 Fällen tiefgreifende Entwicklungsstörungen auftreten (Saracino, 2010, S. 317).

UntersuchungenLandGröße der untersuchten GruppeAlterAnzahl der Falle auf 10 000 Personen

Tab. 2.1: Epidemiologische Untersuchungen tiefgreifender Entwicklungsstörungen ab 2000 (Saracino et al., 2010, S. 322)

J. Saracino und Mitarbeiter, die 61 Untersuchungen in 18 Ländern in den Jahren 1966 bis 2010 durchgesehen und deren Ergebnisse zusammengefasst haben, stellten ein durchschnittliches Auftreten tiefgreifender Entwicklungsstörungen1 bei 70 von 10 000 Personen (1 auf 143) fest, wobei durchschnittlich bei 22 von ihnen eine autistische Störung diagnostiziert wurde (Saracino et al., 2010, S. 317).

Art der StörungAktuelle SchätzungenSchätzungen bei Untersuchungen 1966–2010

Tab. 2.2: Häufigkeit des Auftretens tiefgreifender Entwicklungsstörungen (Ausarbeitung auf der Grundlage: Saracino et al., 2010)

Es wird geschätzt, dass in den Vereinigten Staaten das Problem der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen über 500 000 Personen unter 20 Jahren betrifft (Fombonne, 2009, nach: Banasiak et al., 2010, S. 11)

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen treten bedeutend häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf: Im Falle der Autistischen Störung viermal häufiger (Fombonne, 2009 nach: Banasiak et al., 2010, S. 10; Frith, 2004, S. 84; Sigiel, 2003, S. 4; Schirmer, 2006, S. 29), bei der Asperger-Störung fünfmal häufiger (Frith, 2004, S. 84), bei der desintegrativen Störung im Kindesalter neunmal häufiger (Saracino et al., 2010, S. 320). Wie E. Pisula anmerkt, ist das Überwiegen von Jungen vor allem in Kindergruppen deutlich, in denen die intellektuelle Entwicklung in der Norm liegt. Je größer die intellektuelle Beeinträchtigung ist, desto mehr gleichen sich diese Proportionen zahlenmäßig einander an (Pisula, 2010a, S. 20).

Die Untersuchungen von J. Parr und Mitarbeitern, die mit einer Gruppe von 439 Kindern durchgeführt worden sind, zeigen ebenfalls, dass bei 23% der Kinder auf eine typische Entwicklung ein Rückschritt folgte. Dieser trat im Durchschnitt ungefähr im 21. Lebensmonat auf (Parr, 2011, S. 334–335).

1     Anmerkung der Autorin: tiefgreifende Entwicklungsstörungen – von den diagnostischen Klassifikationen DSM-IV und ICD-10 verwendeter Begriff; 2015 umgeändert in der Klassifikation DSM-5 auf Autismus-Spektrum-Störung, die die bisherigen Begriffe Autistische Störung, Asperger-Störung, Desintegrative Störung im Kindesalter, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung umfasst.

 

3          Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus: dem Autistischen Spektrum angehörende Symptome (DSM-5®)

 

 

Jede Person stellt ein in ihrer Art einzigartiges, sich nicht wiederholendes Wesen dar, dessen Entwicklung durch eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Faktoren bedingt ist. I. Obuchowska (1994, S. 15) drückt dies sehr treffend aus: Es kann sein, dass sich im Repertoire der psychischen Züge jeder Person Eigenschaften finden, die dem Autismus nahe kommen und die sich unter Einfluss uns nicht bekannter Faktoren manchmal derart verstärken, dass sie die gesamte psychische Entwicklung dominieren2. Diese Faktoren führen zum Auftreten der Symptome, die die Funktionsfähigkeit der betroffenen Person stören. Man darf jedoch nicht vergessen, dass sie nicht gleichermaßen bereits bestehende Entwicklungsmöglichkeiten zunichtemachen. I. Obuchowska (1987, S. 30) betont, dass die wichtigsten Fragen oft nicht diejenigen sind, die die Art oder den Bereich der Mängel und der Dysfunktionen betreffen, sondern Fragen nach den Leistungen, über die das Kind verfügt, danach, unter welchen Umständen sie sich zeigen, unter welchen sie blockiert sind sowie danach, was zu tun ist, um diese Blockade zu lösen.3

Im Folgenden werden die Symptome näher dargestellt, die als am häufigsten auftretend und am charakteristischsten für das Autistische Spektrum beschrieben sind und gleichzeitig die Grundlage der Diagnosekriterien in der Klassifikation DSM-5® bilden. Sie treten jedoch bei jeder Person mit Autismus in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichem Ausprägungsgrad auf. Es existieren keine zwei von Autismus betroffene Personen mit identischen Symptomen, so wie es auch keine Person gibt, bei der sich die Symptome im Laufe der Zeit nicht verändern würden. Wie M. Białecka-Pikul und P. Bąbel (2011, S. 7) feststellen, ist es nur dann möglich, bei den Kindern, denen wir mit verschiedene Therapieformen zu helfen versuchen, alle Escheinungsformen der Störungen zu sehen, wenn wir uns bewusst machen, dass das Kind ein sich stets veränderndes Wesen in einer sich ununterbrochen mit ihm verändernden Umwelt ist. Wir können den Entwicklungsprozessnicht allein auf das Alter zurückführen, sondern seine Dynamik richtig einschätzen4.

Man muss berücksichtigen, dass nach unserem aktuellen Wissensstand den weiter unter genannten Symptomen neurobiologische Faktoren zugrunde liegen. Ihr Auftreten ist das Ergebnis einer atypischen Entwicklung des zentralen Nervensystems (Courchesne et al., 2007, S. 399; Amaral, 2008, S. 137; Wujcik, 2010; Frith, 2004, Bauman & Kemper, 2005; Schuman et al., 2004, 2006).

 

3.1       Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und in sozialen Interaktionen über verschieden Kontexte hinweg

 

Die soziale Entwicklung jedes Kindes verläuft individuell. Die breite Skala des Bereichs und des Ausprägungsgrades autistischer Symptome führt dazu, dass sich das soziale Verhalten von Kindern aus dem Bereich des autistischen Spektrums mit einer enormen Vielfältigkeit zeigt. Sie reicht vom normalen Verhältnis zu den betreuenden Personen und dem Bestreben nach Kontakten zu Gleichaltrigen bis hin zur Unkenntnis der Präsenz anderer Personen im Umfeld. Häufig verändert sich das soziale Verhalten im Laufe der Zeit. Man kann die soziale Entwicklung zweifelsohne als ein Kontinuum von Beeinträchtigungen verstehen, von ganz schwachen Symptomen an der Entwicklungsnorm bis zu schweren Störungen, die zu einem hohen Grad das Aufnehmen sozialer Kontakte unmöglich machen. Die nachstehende Charakteristik der am häufigsten auftretenden Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen zeigt diesen Zusammenhang. Dabei ist darauf zu achten, dass jede Beeinträchtigung bei einem Kind mit unterschiedlichem Ausprägungsgrad und mit verschiedenen anderen Symptomen auftreten kann.

3.1.1     Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit

Die Klassifikation DSM-5® charakterisiert die Probleme in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit und erklärt dabei, dass die oben genannten Defizite beispielsweise von einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitige Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktionen zureagieren bzw. diese zu initiieren, reichen (Falkai & Wittchen, 2015, S. 62). Was kann dies für die Kinder bedeuten?

Sich typisch entwickelnde Kinder antworten bereits in den ersten Wochen und Monaten ihres Lebens durch ihr Verhalten auf Kontaktversuche anderer Personen. Anzeichen von Erregung und Reaktionen, wenn man sie auf den Arm nimmt, soziales Lächeln, Vokalisieren, Wiederholen von Handlungen sowie emotionales Reagieren, wenn die betreuende Person traurig ist oder eine unbekannte Person erscheint, gehören zu diesen Verhaltensweisen (Siegiel, 2003, S. 84–85). Der Mangel an solchen Reaktionen bei Kindern mit Autismus ist oft bereits innerhalb des ersten halben Lebensjahres erkennbar (Pisula, 2010b, S. 37). Ein Teil der Kinder ignoriert Kontaktversuche von anderen Personen oder weicht ihnen aktiv aus, ein anderer Teil initiiert und erwidert sie, jedoch ohne Blickkontakt aufzunehmen (Ebd., S. 37). Charakteristisch für viele von ihnen ist ein fehlendes Erwidern des Lächelns sowie fehlendes Ausstrecken der Arme, um auf den Arm genommen zu werden, oder sogar ein Versteifen und Wegschieben der Bezugspersonen bei versuchtem näherem Kontakt (Hinz, 2007, S. 43–45). In den meisten Fällen zeigen die Kinder kein Interesse, die Handlungen und Haltungen der Anderen zu imitieren, was das Erlernen durch gegebene Situationen und geplantes Modellieren einschränkt und bei manchen Kindern sogar gänzlich ausschließt (Siegiel, 2003, S. 92). Eine mangelnde oder eingeschränkte Fähigkeit, Mimik, Gesten und Handlungsabfolgen anderer Personen zu imitieren, stellt für viele Forscher das Schlüsselsymptom dar, auf dem gestörte soziale und kommunikative Verhaltensweisen gründen (Rogers & Pennigton, 1991, S. 137; Smith et al., 1994, S. 269; Charman et al., 1998, S. 260; Dapretto et al., 2006, nach: Oberman et al., 2007, S. 315; Oberman, 2005, nach: Rizzolatti et al., 2010, S. 231; Pisula, 2010, S. 33). Sie überträgt sich unmittelbar auf die Einschränkung der Möglichkeiten, in kurzer Zeit, komplexe Verhaltensweisen zu erlernen, auf das Fehlen bzw. die Einschränkung des spontanen Verständnisses und des Sendens nonverbaler Mitteilungen sowie des Verstehens der Absichten und Gefühle anderer Personen (Cooper et al., 1987, S. 364; Oberman & Ramachandran, 2007; Bauer, 2007; Schirmer, 2007; Rizzolatti, 2010; Krüger, 2011). Die meisten Kinder zeigen kein Bedürfnis, Freuden, Interessen oder Erfolge mit anderen Personen zu teilen. Sie versuchen nicht, den Blick einer anderen Person auf Gegenstände des eigenen Interesses zu lenken, zeigen nicht mit dem Finger darauf und stellen nicht die Frage: »Was ist das?« Dies sind jedoch Verhaltensweisen, die sich bereits sehr früh in der typischen Entwicklung von Kindern zeigen. Bereits wenige Monate alte, sich typisch entwickelnde Kinder streben danach, ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse mit anderen Personen zu teilen (Siegiel, 2003, S. 84–85). Sie beginnen, mit einer zweiten Person Informationen zur Haltung, den Absichten und dem Wissen über einen bestimmten Gegenstand zu teilen und zu einem späteren Zeitpunkt bei dieser Person Emotionen, Intentionen oder auch eine bestimmte Denkart hervorzurufen.

Bei Kindern mit Autismus scheint das Bewusstsein für das, was im Umfeld geschieht, schwächer ausgeprägt als bei ihren Gleichaltrigen. Sie schenken vielen Dingen, die um sie herum geschehen, keine Beachtung und die Hauptmotivation für das, was sie tun, hierbei auch des Erlernens, ist die eigene Zufriedenheit und nicht die der anderen (Ebd., S. 92). Diesen Kindern scheint es, als ob sich die anderen nicht für ihre Freude, ihren Ausdruck des Stolzes, der Unzufriedenheit sowie auch der Ablehnung interessierten (Hinz, 2007, S. 18–19). Das Zeigen auf Gegenstände der Umgebung, falls es stattfindet, hat meistens einen instrumentalen Charakter. Es stellt ein Mittel dar, mit dem man ein Ziel erreichen und seine Bedürfnisse befriedigen will, und nicht die Lust, das zu zeigen, was man mag, was Interesse oder ein bestimmtes Gefühl hervorgerufen hat (Klicpera et al., 2002, S. 108–110; Frith, 2005, S. 131).

Auch die sich entwickelnde verbale Sprache dient oft nicht dem sozialen Kommunikationsaustausch. Im Rahmen der typischen Entwicklung erlangen Kinder gegen Ende des ersten Lebensjahres die Fähigkeit des intentionellen Kommunizierens. So erlangen sie Einfluss auf das Verhalten anderer Personen, können ihre Bedürfnisbefriedigung mit Hilfe der Sprache sowie die Ereignisse des Umfelds kommentieren. Hinzu kommt die Fähigkeit, sich bestimmter Symbole zu bedienen, wie Gesten, Wörter und Symbole beim Spielen (Noens, van Berckelaer & Onnes, 2004, nach: Pisula, 2010b, S. 43). Bei Kindern mit Autismus werden oft bereits in den ersten Lebensmonaten Störungen in der präverbalen Kommunikation sichtbar (Hinz, 2007, S. 43). Diese Kinder versuchen nicht, absichtlich das Verhalten anderer Personen durch ihr eigenes Verhalten zu verändern. Sie weinen nicht in der Art, die es ermöglichen würde, ihre Bedürfnisse zu erfahren; sie vermitteln keine Informationen mit Hilfe des Blickkontakts, der Imitation von Bewegungen, des Zeigens, des Kopfschüttelns oder auch der Imitation von Tönen sowie dem Verbinden von Sprachlauten und Gesten oder auch Gegenständen (Ebd., S. 43–45).

In Übereinstimmung mit der neuen Klassifikation gehören Verzögerungen in der Sprachentwicklung nicht zu den grundlegenden Diagnosekriterien und werden als den Autismus begleitende Symptome betrachtet. Das Hauptproblem bilden der fehlende oder sporadische Gebrauch nonverbaler und verbaler Mitteilungen im sozialen Kontext sowie der Mangel an Initiative und Ausdauer für den Konversationswechsel. Kinder mit Autismus, die gelernt haben, sich einzelner Wörter oder Sätze zu bedienen, initiieren sehr selten verbale Kontakte mit einer anderen Person (Hinz, 2007, S. 47). Sie antworten viel häufiger auf ihnen gestellte Fragen, als dass sie sich spontan an den potentiellen Gesprächspartner wenden. Wie E. Pisula (2010b, S. 51) betont, werden bei den meisten Personen verbale Mitteilungen auf den Ausdruck von Bedürfnissen sowie auf das einfache Bezeichnen von Gegenständen zurückgeführt. Selten wird die Sprache dazu verwendet, Erlebtes zu kommentieren, mit jemandem eigene Erfahrungen, Gefühle und Interessen zu teilen oder Informationen, Intentionsäußerungen, Absichten und andere Geisteszustände kundzugeben.5

Den von Autismus betroffenen Personen, die versuchen eine Konversation zu führen, fehlt eine Strategie, mit der das Gespräch begonnen und fortgeführt werden kann, was ebenfalls das Abschätzen mit einschließt, welche und wie viele Informationen einer anderen Person gegeben werden sollen (Hinz, 2007, S. 52). Einerseits geben sie detaillierte Information zu belanglosen Themen, andererseits übergehen sie das, was das Wesentliche des gegebenen Themas ausmacht (Ebd., S. 52). Die Informationen sind oberflächlicher Natur, ohne Emotionen oder Intentionen zu beinhalten (Frith, 2008, S. 164). Sie betreffen eine beschränkte Anzahl an Themen, die stets wiederholt werden, ohne Rücksicht darauf, ob der Gesprächspartner sich dafür interessiert (Schirmer, 2007, S. 7). Diese Personen achten weder auf die Antworten des Gesprächspartners noch assimilieren sie die von ihm erbrachten Informationen. Sie unterbrechen sie, indem sie zu ihrem Lieblingsthema zurückkommen, achten nicht auf höfliche Formen beim Wechseln des Themas oder auch beim Beenden des Gesprächs. Sie interessieren sich nicht dafür, was der Gesprächspartner darüber denkt, was er wissen kann und was noch erklärt werden müsste (Frith, 2008, S. 147–149; Hinz, 2007, S. 53). Gleichzeitig zeigen sich die mangelnde Fähigkeit, nonverbale Mitteilungen zu verstehen, sowie eine Konkretheit und die Schematisierung des Sprechens. Das führt dazu, dass Personen mit Autismus weder fähig sind, die ihnen gegebenen Signale zu verstehen, noch Sarkasmus, Ironie oder Metaphern zu interpretieren und entsprechend darauf zu reagieren (Frith, 2008, S. 160; Schirmer, 2007, S. 7).

Bilden andere Menschen nicht einen wichtigen Teil der umgebenden Wirklichkeit? Dem National Research Council zufolge dachte man jahrelang, dass Kinder mit Autismus biologisch unfähig sind, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Untersuchungen der 1980er und 1990er Jahre haben bewiesen, dass die Kinder Beziehungen zu nahestehenden Personen aufbauen (National Resaerch Council, 2001, S. 67). Bei den Untersuchungen der »Reaktionen auf Fremdes« haben Kinder mit Autismus gezeigt, dass es ihnen nicht an Anhänglichkeit mangelt (Dissanayake & Crossley, 1996, nach: Frith, 2005, S. 139; Pisula, 2003). Ihre Anzeichen sind jedoch anders und weichen von den typischen ab (Pisula, 2003, S. 132). Auf der Grundlage eigens durchgeführter Untersuchungen hat E. Pisula (Ebd., S. 141–142) zwei wichtige Schlüsse gezogen. Erstens macht es der Autismus als solcher weder unmöglich, dass eine vertrauensvolle Verbundenheit entsteht, noch stellt er einen Faktor dar, der keinerlei andere Muster begünstigt (darunter die desorganisierte Verbundenheit). Zweitens können Kinder mit Autismus, wie auch andere Kinder, unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Verbundenheit einnehmen. Der Autismus als solcher bestimmt diese Position nicht und stellt nur einen der Faktoren dar, die diese beeinflussen6.

Kinder mit Autismus zeigen jedoch Sympathie, Empathie oder Altruismus nicht direkt und auf die Art, die die Interaktion mit anderen steuert (Siegel, 2003, S. 92). Diese Reaktionen rühren möglicherweise von der Tatsache her, dass sie, obwohl sie elementare Emotionen wie Schmerz, Freude, Glück, Unruhe, Frust, Wut und Panik ausdrücken können (Frith, 2008, S. 140; Castelli, 2005, nach: Pisula 2010b, S. 45), oft keine Emotionen bekunden, die verbunden sind mit dem Bewusstsein fremder Geisteszustände wie Stolz, Verlegenheit, Scham, Verachtung, Bescheidenheit, Überschwänglichkeit in Bezug auf Erfolge Fremder und Eifersucht (Frith, 2008, S. 141; Bauminger et al., 2008, nach: Pisula 2010b, S. 45).

Die mangelnde soziale Gegenseitigkeit ergibt sich möglicherweise aus den Beeinträchtigungen, die bei der Aufnahme von Blickkontakt auftreten, sowie beim Schaffen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitspols, aus der mangelnden Fähigkeit zu imitieren und spontan nonverbale Mitteilungen anderer Personen und somit ihre Informationen bezüglich ihrer Absichten, Emotionen, Gedanken sowie der Ausdruckskraft eben dieser Mitteilungen abzulesen.

3.1.2     Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird

In Übereinstimmung mit der in der Klassifikation DSM-5® enthaltenen Charakteristik reichen die Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten bei sozialen Interaktionen beispielsweise von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Köpersprache oder von Defiziten im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation (Falkai & Wittchen, 2015, S. 62–63).

Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten zählen zu den ersten Symptomen, die den Bezugspersonen eines Kindes auffallen können. Zu nennen wären beispielsweise fehlendes Weinen, das erlauben würde, die Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen, fehlendes Ausstrecken der Arme zur betreuenden Person, Verkrampfen beim Auf-den-Arm-Nehmen und mangelnder Blickkontakt. Diese Verhaltensweisen werden zum Alarmsignal für die Entwicklung und sollten eine eingehende Beobachtung des Kindes zur Folge haben.

Wenn man die Aufnahme des Blickkontakts näher untersucht, stellt man fest, dass das Kind bei einer typischen Entwicklung bereits einen Tag nach der Geburt die Fähigkeit besitzt, die vor ihm auftauchenden Gesichter aufmerksam zu verfolgen, obwohl seine Fähigkeiten des visuellen Unterscheidens von Gegenständen noch nicht ausgebildet sind (Baron-Cohen, 2004, S. 85). Im Alter von 3 bis 4 Monaten sind die meisten typischen Interaktionen zwischen dem Kind und anderen Personen face-to-face-Interaktionen (Vasta et al., 1995, S. 452). Im Alter von 8 Monaten wendet das Kind seinen Blick in die Richtung der Person, die anfängt zu sprechen (Eisenberg, 1996, S. 282). Nach einem Jahr hat sich beim Kind die Fähigkeit ausgebildet, Blickkontakt mit anderen Personen aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, und es teilt unter anderem auf diese Weise die gemeinsame Aufmerksamkeit, die mit Gegenständen oder Ereignissen, die das Kind interessieren, verbunden ist (Hinz, 2007, S. 17). Bei Kindern sowie bei erwachsenen Personen mit Autismus wird hingegen der fehlende oder nicht ausreichend verwendete Blickkontakt deutlich, mit dem die sozialen Interaktionen normalerweise entsprechend gesteuert werden. Diese Personen schauen Andere selten mit dem Ziel an zu kommunizieren, Interessen zu zeigen sowie den Kontakt aufzunehmen und aufrechtzuerhalten. E. Pisula (2010b, S. 37) betont: Wenn sie dies schon tun, so wird ihre Aufmerksamkeit meist durch Impulse ohne soziale Bedeutung erregt, z. B. sich beim Reden bewegende Lippen, beim Zwinkern zufallende Augenlider, einzeln ausgesprochene Wörter oder Satzfragmente7. Charakteristisch ist das Anstarren bestimmter Elemente der Umgebung, das Anschauen von Personen, ohne sie zu sehen (sogenanntes Hindurchschauen), sowie peripheres Sehen, das heißt, Objekte und Bewegungen wahrzunehmen, ohne direkt in ihre Richtung zu blicken (Kusch & Peterman, 2001, S. 153; Schirmer, 2007, S. 67).

Verbunden mit dem Problem, Blickkontakt aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, sind die Kontrolle der Blickrichtung einer anderen Person durch den eigenen Blick, das Steuern des Blicks in die von dieser Person angewiesene Richtung sowie das Lenken der Aufmerksamkeit einer anderen Person durch die eigene Blickrichtung. Fehlt diese Fähigkeit, wird die Bildung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitspols (engl. joint attention, Pisula, 2010b, S. 37) verhindert. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Bereich ist die Grundlage der Regelungsprozesse gemeinsamer Interaktionen sowie der Prozesse des sozialen Lernens. Bei Personen mit Autismus sind die Reaktion auf die Lenkung der gemeinsamen Aufmerksamkeit durch andere Personen (engl. joint attention responding) sowie auf das Initiieren der Steuerung gemeinsamer Aufmerksamkeit mit einer anderen Person (engl. joint attention initiating, Hinz, 2007, S. 17) gestört. Kinder mit Autismus reagieren daher selten auf die Versuche der Eltern, sich gemeinsam mit etwas zu beschäftigen, d. h. sie blicken selten auf das, was ihnen die Eltern zeigen, und bemühen sich nicht, die Aufmerksamkeit der Personen für das sie interessierende Objekt zu teilen. Außerdem schauen sie weder das Objekt an, noch die Person, die sich neben ihnen befindet, um von dieser persönliche Informationen oder auch Informationen über den Bezug dieser Person zum Gegenstand zu erhalten. Auffälliger ist hierbei das Teilen der Aufmerksamkeit durch die Kinder bezüglich der Interessen, Emotionen, dem Lenken der Aufmerksamkeit der anderen auf sich, um Bestätigung und Anerkennung zu bekommen. Allerdings sieht man auch hier den eingeschränkten Gebrauch nonverbaler Signale, wie der Aufnahme von Blickkontakt oder Gesten (Ebd., S. 17–18). Oft zeigt sich ein fehlendes Bedürfnis, mit anderen Personen Freude und Stolz zu teilen sowie bei ihnen Hilfe oder Trost zu suchen (Hinz, 2007, S. 19; Pisula, 2010b, S. 37).

Das Kontrollieren des Blicks einer anderen Person, das Ablesen ihres Augenausdrucks, das Erlangen der Aufmerksamkeit einer anderen Person durch den eigenen Blick ist stets verbunden mit dem Verstehen, dass die zweite Person das gleiche Objekt wahrnimmt, ein bestimmtes Verhältnis zu diesem hat, über bestimmte Kenntnisse diesbezüglich verfügt und eigene Absichten hat. Wird ein gemeinsamer Aufmerksamkeitspol gebildet, so erfolgt eine Übermittlung dieser Informationen, wodurch der Verlauf der Interaktion geregelt und der Lernprozess eingeleitet wird. Genauso wie das Kind ein von den Eltern ausgesprochenes Wort lernt, indem sich beide auf einen gemeinsamen Gegenstand konzentrieren, so lernt es das Verhältnis zu diesem Gegenstand, indem es den unbekannten Gegenstand sieht und die emotionale Reaktion der Erwachsenen beobachtet (Baron-Cohen, 1997, nach Pisula, 2010b, S. 37; Hinz, 2007, S. 18). Ein Kind mit Autismus identifiziert die Blickrichtung einer anderen Person nicht als Information in Bezug auf das, was um sie herum geschieht. Der Blickkontakt ist unbedeutend, da er nicht die soziale Funktion erfüllt, die darin besteht, durch den Augenausdruck nicht nur Wissen, sondern auch Emotionen, Absichten, Bedürfnisse und Überlegungen zu vermitteln (Pisula, 2010, S. 38; Bobkowicz-Lewartowska, 2011, S. 56). Ein Kind mit Autismus versteht nicht, was Andere fühlen, denken, bedürfen oder beabsichtigen, und gleichzeitig beeinflusst sein Verhalten nicht die Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken der Anderen, da es diese nicht versteht (Pisula, 2010a, S. 47; Winczura, 2006, S. 392). Die Untersuchungen von S. Baron-Cohen haben bestätigt, dass das, was für sich typisch entwickelnde Personen kein Problem darstellt, sich bei Personen mit Autismus als unmöglich erweist. Dazu zählt z. B., die Gefühle anderer Personen an ihrem Augenausdruck zu erkennen, wie beispielsweise ernst, beschämt, beunruhigt oder desorientiert zu sein. (Baron-Cohen, 2001, S. 241–251; Frith, 2005, S. 134).

1995 hat S. Baron-Cohen den Begriff »Geistesblindheit« (engl. mindblindness) eingeführt, der bei Personen mit Autismus die fehlende Möglichkeit charakterisiert, die Gedanken anderer zu lesen. Mit dem Begriff der fehlenden »Theory of Mind« beschreibt U. Frith (2008, S. 16) den gestörten Prozess des Mentalisierens, der bei Personen mit Autismus auftritt und auf dem fehlenden intuitiven Verständnis fremder mentaler Zustände beruht. Untersuchungsexperimente von U. Frith und ihrer Kollegen haben gezeigt, dass Personen mit Autismus weder wissen, dass andere Personen ein bestimmtes Wissen und Verhältnis zu Objekten und Ereignissen haben, noch fähig sind, ihre mentalen Zustände zu beeinflussen (Frith, 2008, S. 111, 120; Winczura, 2008). Nach Frith (2008, S. 134) liefern die Augen die wichtigsten Hinweise in der Kommunikation mit anderen Personen. Über die Bedeutung des Blicks entscheidet der mentale Zustand, der von zwei Personen geteilt wird. Bei Autismus fehlt Fähigkeit, fremde Gefühle zu verstehen, was damit zusammenhängt, dass Kinder mit Autismus den Blick anderer Personen nicht nutzen und interpretieren können. Nach J. Kruk-Lasocka verursacht das fehlende mentale Verständnis bei Personen mit Autismus folgende Schwierigkeiten: die Unfähigkeit Gefühle anderer nachzuempfinden, eine einseitige Kommunikation, ein fehlendes Verständnis für die Bedeutung des »so tun als ob«, die Unfähigkeit, das Spiel »Verstecken« zu verstehen (Kruk-Lasocka, 1999, S. 18).

Ein wichtiger Teil der Informationen bezüglich des mentalen Zustands anderer Personen geht neben dem Blick aus den Bewegungen des Gesichts sowie aus der Körperhaltung hervor. Unter Berufung auf H. G. Wallbott gibt B. Schirmer an, dass 55% der Informationen aus der Körpersprache hervorgehen und nur 7% auf verbalem Wege übermittelt werden. Personen, die sich typisch entwickeln, verfügen über neuronale Strukturen, die unter anderem mit Spiegelneuronen zusammenhängen. Sie ermöglichen es ihnen, ohne willentliche Erkennungsprozesse, allein durch den Ausdruck der Gesichtsmimik und der Körperhaltung anderer Personen nonverbale Botschaften zu entschlüsseln (Rizzolatti et al., 2004, 2010; Bauer, 2005; Oberman & Ramachandran, 2007). Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde beurteilen sie die Einstellung einer anderen Person, ihre Emotionen und Absichten.

Personen mit Autismus haben große Schwierigkeiten, die Körpersprache anderer Personen zu interpretieren (Schirmer, 2007, S. 57). Ein Teil der erwachsenen Personen ist fähig, dieses Defizit zu kompensieren, indem sie die Bedeutung bestimmter Gesichtsausdrücke oder auch Körperhaltungen erlernen. Andere Erwachsene kompensieren dies, indem sie gezielte Fragen stellen in Bezug auf die nonverbalen Mitteilungen, die die andere Person vermitteln will. In beiden Fällen müssen bewusste Erkennungsprozesse genutzt werden, was die Interpretation bedeutend verzögert und den Verlauf der Interaktion stört.