12,99 €
Für Vicky geht ein lang gehegter Traum in Erfüllung, als ihr Onkel Till sie zum Tauchen in einer Unterwasserhöhle, eine sogenannten Cenote, mit nach Mexiko nimmt. Zwar weiß sie, dass in der Tiefe auch unbekannte Gefahren lauern können, doch schon beim Schnorcheln verfällt sie dem Zauber der Unterwasserwelt. Als Till bei einem Tauchgang von einem mysteriösen Wasserwesen verletzt wird, kann Vicky es zunächst nicht glauben: Wer oder was verteidigt hier sein Reich gegen die menschlichen Eindringlinge? Bei einem heimlichen Tauchgang sieht Vicky sich plötzlich einem geheimnisvollen Wesen gegenüber. Obwohl sie instinktiv spürt, dass von diesem Wesen auch Gefahr ausgehen kann, fühlt Vicky gleichzeitig eine magische Anziehungskraft zwischen ihnen. Und sie beginnt zu ahnen, dass diese Begegnung ihr Leben für immer verändern wird …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 291
Aqua Mystica
Ruf des Meeres
eISBN: 978-3-96129-190-8
Edel Kids Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Text: Bettina Belitz
Lektorat: Martina Kuscheck
Covergestaltung: formlabor
Projektkoordination: Judith Haentjes und Rebecca Hirsch
ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Unterwassertränen
Dschungelfantasien
Der Sog des Jenseits
Aus dem Nichts
Weder Fisch noch Fleisch
Fischers Fritze
Rettungsangriff
Taucherkrankheiten
Wiederbelebungsmaßnahmen
Ungeahnte Abgründe
Märchen aus alten Gezeiten
Schamanengetrommel
Krisengespräche
Erstkontakt
Gewöhnungsschwierigkeiten
Opfergaben
Auf Immerwiederfühlen
»Verdammt, das ist nicht fair! Du hast es mir versprochen, und ich will mit!«
Auf keinen Fall würde ich mit Sandra hier im kalten Deutschland bleiben, während Till nach Mexiko reiste und dort ohne mich das tun würde, wovon er mir seit Jahren vorgeschwärmt hatte: in einer Cenote zu tauchen und ihre mystische Unterwasserwelt zu erforschen. So lange schon träumte ich davon, ihn zu begleiten und mit ihm zusammen hinab in ihre Tiefen zu schwimmen. Diese Vorstellung war eine Art Lebenselixier für mich gewesen, manchmal auch ein Überlebenselixier.
Doch mein Temperamentsausbruch überraschte mich jetzt selbst. Erschrocken hielt ich inne und schlug die Hand vor meinen Mund, und auch Onkel Till und Sandra starrten mich an, als sähen sie mich so zum ersten Mal. Nie zuvor hatte ich laut geflucht, und schon gar nicht hatte ich die beiden angebrüllt. Oder irgendjemand anderen – selbst, wenn sie mich noch so sehr geärgert hatten. Wütend sein war nicht cool, wenn man dabei weinte. Und ich weinte bei nahezu jedem Anlass. Meistens war ich noch nicht einmal traurig dabei. Es passierte einfach, ohne dass ich es kontrollieren konnte – meine Augen liefen über, und binnen Sekunden waren meine Wangen nass, als hätte ich meinen Kopf unter Wasser gehalten. Auch jetzt kullerten dicke Tränen über mein Gesicht, doch gleichzeitig zitterte ich vor Zorn. Ja, ich war sauer, richtig sauer, und Onkel Till sollte das ruhig wissen. Allerdings war es ziemlich anstrengend, wütend zu sein. Meine Knie fühlten sich schon ganz weich an, und ich musste mich mit der Hand an der Stuhllehne abstützen, um nicht ins Torkeln zu geraten. Trotzdem hielt ich Tills Blick stand, als ich meinen letzten Satz wiederholte, etwas leiser als eben noch, aber unmissverständlich. »Du hast es mir versprochen!«
»Ach, Vicky, ich hab dir doch erklärt, das ist viel zu gefährlich für dich da unten …« Till zuckte hilflos mit den Schultern und wechselte einen fragenden Blick mit Sandra, die nicht darauf reagierte, sondern mich aufmerksam musterte. »Wir kennen diese Cenote noch nicht! Genau deshalb haben sie mich engagiert; ich soll sie zusammen mit den anderen erforschen … Das ist eine Angelegenheit für Profis.«
»Das hab ich alles verstanden, ich bin ja nicht blöd«, erwiderte ich gereizt und gab der Schwäche in meinen Knien nach, indem ich langsam auf meinen Stuhl sank. »Aber hier geht es um ein Versprechen, das du mir gegeben hast. Du hast gesagt, wenn du irgendwann wieder nach Mexiko fliegst, nimmst du mich mit, und dann darf ich auch in einer Cenote schwimmen … vielleicht sogar schnorcheln oder tauchen. Und du hast mir das nicht nur einmal gesagt. Sondern fast jeden Abend.«
»Ja, weil du damals dringend Trost gebraucht hast.«
»Also war das gar kein echtes Versprechen? Sondern nur eine Ausrede?« Mein Gesicht fühlte sich an wie frisch geduscht. Die Tränen tropften auf meinen Kragen, liefen in meine Ohren und hinterließen dunkle Punkte auf meiner Hose. »Du hast mich wirklich angelogen?«
»Nein.« Flehend blickte Till zu Sandra, doch sie ignorierte ihn, während sie mich weiterhin prüfend anschaute. Irgendetwas an mir schien sie gerade sehr spannend zu finden. »Ich hab das schon ernst gemeint. Aber du bist noch zu jung und … zu …« Seufzend brach er ab und warf Sandra einen weiteren Blick zu. »Sag doch bitte auch mal was, Schatz.«
»Ich finde, sie hat recht.«
»Was!? Na, besten Dank …« Till verdrehte die Augen, lehnte sich gegen die Wand und schaute ratlos an die Decke, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Habt ihr euch etwa gegen mich verschworen?«
»Ich sag ja nicht, dass es eine gute Idee ist«, lenkte Sandra vorsichtig ein. »Das ist es nicht, Vicky, freu dich nicht zu früh! Ich mag keine Höhlen und mit Wasser gefüllte Höhlen erst recht nicht, das weißt du, Till. Aber ein Versprechen ist nun mal ein Versprechen, da stimme ich ihr zu. Und wenn sie nicht so allergisch gegen Chlor wäre, würde sie wahrscheinlich längst im Jugend trainiert für Olympia-Team schwimmen. Sie bewegt sich im Wasser so sicher wie keine andere.«
»Ihr kapiert es nicht, oder?« Till löste sich von der Wand und stemmte die Arme in die Seite, während er uns finster anstierte, was ihm nicht sonderlich gut gelang.
Mühsam unterdrückte ich ein Lächeln. Till war von Kopf bis Fuß durchtrainiert, trug seine rötlichen Haare meistens raspelkurz und garnierte sie gern mit einem stacheligen Sieben-Tage-Bart. Außerdem hatte er eine tiefe, brummige Räuberhauptmann-Stimme. Aber seine Augen waren die liebsten, die ich kannte. Dunkelbraun, riesig und mit einem dichten Wimpernkranz. Echte Schokoladenaugen. Er konnte seine Brauen zusammenziehen, sosehr er wollte; böse gucken war nicht seins. Vor allem aber liebte ich ihn über alles. Selbst wenn ich so wütend auf ihn war wie jetzt.
»Das ist eine Cenote, ein Höhlensee mitten im Dschungel. Und wenn ich sage Dschungel, meine ich auch Dschungel. Da gibt’s Schlangen, Skorpione und riesige Spinnen, die Luft wimmelt nur so von Insekten, es ist schwül und stickig, und wir haben dort weder ein richtiges Klo noch eine echte Dusche … Das ist eine Expedition, kein Strandurlaub!«
»Klingt spannend«, erwiderte ich kühl, obwohl mir gerade viel zu heiß war vor lauter Zorn. »Aber ich will immer noch mitkommen. Vielleicht hast du mich angelogen, als du gesagt hast, du würdest eines Tages mit mir in einer Cenote tauchen. Aber du hast nicht gelogen, als du davon erzählt hast, wie glücklich es einen macht, wenn man da unten ist und die Sonne von oben ins Wasser scheint … und wie schön diese Höhlenseen sind … wie geheimnisvoll … Das weiß ich genau!«
Ich erinnerte mich noch an jedes einzelne Wort. Abend für Abend hatte Till mir von seinen Tauchgängen in den mexikanischen Cenotes und ihren magischen Tiefen erzählt, nachdem meine Eltern bei diesem blöden, überflüssigen Unfall gestorben waren und ich glaubte, nie wieder lachen zu können. Taucher lachten, wenn sie aus dem Wasser auftauchten, hatte Till immer wieder beteuert. Ganz egal, was vorher in ihrem Leben geschehen war. Das war ihre erste Reaktion, sobald sie die Maske vom Gesicht nahmen: Sie lachten. Und sollte ich glauben, wirklich nie wieder lachen zu können, werde er mit mir in einer Cenote tauchen, und ich würde mein Lachen dort unten, im tiefen Blau, wiederfinden. Ganz sicher.
»Ja, mich macht es glücklich«, entgegnete Till überraschend sanft. »Das stimmt. Doch ich bin seit zwanzig Jahren Berufstaucher und weiß daher genau, wie riskant es sein kann, sich in einer unerforschten Höhle zu bewegen. Wir können nächstes Jahr gerne mal einen ganz normalen Urlaub auf Yucatan buchen und in einer der öffentlichen Cenotes schwimmen, die haben außerdem auch Umkleidekabinen und Treppen und sind ungefährlich …«
»Willst du mir nicht lieber gleich das Planschbecken aufpusten und ins Wohnzimmer stellen?«, unterbrach ich ihn schluchzend und schniefend. Ich verschluckte mich beinahe an meinen Tränen. »Ich bin vierzehn Jahre alt, keine vier! Ich will nicht in einer doofen Touri-Cenote schwimmen!«
Sandra schüttelte in sich gekehrt den Kopf und deutete mit der Linken in meine Richtung. »Schau, es geht schon wieder los …«, murmelte sie Till zu. »Und sie scheinen ganz ihrer Meinung zu sein.«
Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, auf welches Phänomen sie mit ihren Worten anspielte, denn ich hatte schon zu Beginn unserer Diskussion gespürt, dass sie näher kamen. Wann immer ich länger als ein paar Minuten an meinem Esstisch-Platz vor dem Aquarium saß, begannen die Fische sich hinter mir um meinen Kopf herum in einem Kreis zu versammeln. Irgendetwas an meinen lockigen Schlangenhaaren schienen sie hochinteressant zu finden. Vielleicht erinnerte ich sie an eine Wasserpflanze aus ihrer Heimat. Auf der anderen Seite war ich diejenige, die sie jeden Tag fütterte und mit ihnen sprach, und Fische waren nicht so dumm, wie die Menschen immer behaupteten. Sie reagierten auf meine Stimme, und der dicke Buntbarsch ließ sich sogar ab und zu seinen Rücken von mir streicheln. Ich war sogar fest davon überzeugt, dass sie mich verstanden, vielleicht besser als so manche Menschen.
Schweigend beobachteten Till und Sandra, wie die Fische sich um meinen Schopf herum positionierten, und ich musste trotz meines Zorns beinahe lachen, als ich mir vorstellte, wie wir gemeinsam diese beiden Menschen anschauten. Es passte; ich sah meinen geliebten Fischen tatsächlich ein wenig ähnlich mit meinen großen, leicht hervortretenden Augen und meinen üppigen Lippen. Noch ein paar Jahre, und jeder würde denken, ich hätte sie mir künstlich aufspritzen lassen.
»Es tut mir leid, ich bleibe dabei.« Till verschränkte entschieden die Arme, wobei seine Schultern leise knackten. »Es ist zu gefährlich für dich, und ich werde dort keine Zeit haben, mich um ein junges Mädchen zu kümmern. Es geht nicht.«
Tills Worte klangen so endgültig, dass ich aufgab. Doch meine Wut blieb. »Ich glaube dir nie wieder etwas. Nie wieder!«, schrie ich ihn an, wobei meine Lunge seltsam blubberte. Dann stand ich auf und stolperte in mein Zimmer, wo ich mich heulend auf mein Bett fallen ließ. Binnen Sekunden bildete sich ein nasser Fleck auf meinem Kopfkissen, und ich wusste aus Erfahrung, dass es wahrscheinlich Stunden dauern würde, bis meine Augen sich wieder beruhigt hatten. Schon jetzt fühlte ich mich wie kurz vor dem Verdursten. Blind griff ich nach der Wasserflasche neben meinem Nachttisch, setzte sie an meine Lippen und trank gierig, wobei ich die Hälfte verschüttete.
Till hatte nicht nur sein Versprechen gebrochen. Er war überhaupt nicht ehrlich zu mir gewesen. Ja, eine unerforschte Cenote war sicherlich etwas anderes als ein Swimmingpool. Und ein tropischer Dschungel war nicht der Schwarzwald. Das sah ich alles ein. Aber das war es nicht, was ihn davon abhielt, mich mitzunehmen. Er dachte, ich sei zu labil für eine solche Reise, zu … na, zu sehr Vicky. Vicky mit all ihren merkwürdigen Besonderheiten. Zu wenig, um als behindert zu gelten, zu viel, um als normal durchzugehen. Zu zartbesaitet vor allem. Zu nah am Wasser gebaut … Warum verstanden sie nicht, dass das viele Weinen mir gar nichts ausmachte? Für mich war es normal. Ich weinte, wenn ich traurig war, wenn ich fröhlich war, wenn ich mich aufregte, wenn ich einen spannenden Film sah, wenn ich ein Kind singen hörte, meine Fische zu mir kamen – und so weiter. Für meine Augen gab es tausend gute Gründe zu weinen, und ich war machtlos dagegen. Doch es war keine Krankheit. Im Gegenteil, wenn ich mal ein paar Tage nicht weinte, fühlte ich mich elend. Für mich war es gut, viel zu weinen. Es fühlte sich natürlich an. Leider glaubte mir das niemand.
»Können wir denn wirklich keinen Kompromiss finden?«
»Was für ein Kompromiss denn, Herrgott?«, wetterte Till. »Der Dschungel macht keine Kompromisse!«
Jetzt sprachen sie also wieder miteinander – ohne zu ahnen, dass ich sie hörte. Ich hörte sie immer, wenn sie sich unterhielten und ich in meinem Zimmer war. Es sei denn, ich stopfte mir wie jede Nacht Oropax in die Ohren. Still war es dann zwar auch nicht, aber immerhin verstand ich ihre Worte nicht mehr. Ich vernahm nur noch ein undeutliches Genuschel, das mich manchmal sogar beruhigte. Mein empfindliches Gehör gehörte zu den vielen Vicky-Schrullen, doch nie hatte ich jemandem verraten, wie gut ich wirklich hörte. Die Neurodermitis, mein schwankender Gang und meine ständigen Tränen reichten vollauf.
»Jetzt bleib mal auf dem Teppich, Till. Es ist Yucatan, nicht der Kongo. Jedes Jahr fliegen Zigtausende von Touristen dorthin und lassen sich gepflegt die Sonne auf den Bauch scheinen.« Stühle rückten, dann knarzte das Sofa. Sie hatten es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. »Okay, ich mach dir einen Vorschlag: Was wäre denn, wenn ich unseren Mädels-Skiurlaub absage und Vicky und ich uns stattdessen dir anschließen? Schließlich sind dann Weihnachtsferien. Beste Reisezeit für Mexiko. Wir könnten ein nettes Hotel direkt am Strand buchen, für die ersten Tage, und zu euch stoßen, wenn euer Lager steht und ihr euch mit der Location vertraut gemacht habt. Vicky darf die Füße in die Cenote hängen lassen, aber ich fürchte mich ganz schrecklich vor Spinnen und Schlangen und ekle mich vor dem Plumpsklo, und nach einer Nacht haben wir die Nase voll und fahren zurück ins Hotel. Deal?«
Ein abgrundtiefes Seufzen drang durch die Wand. Ich blieb starr liegen, ohne zu blinzeln, um auch ja kein Wort zu verpassen, während die Tränen weiterhin in Strömen aus meinen Augenwinkeln rannen und das Kopfkissen langsam, aber sicher in einen Schwamm verwandelten. Doch es kühlte meine erhitzten Wangen, und ich schlief gerne auf einem nassen Kissen ein. Jetzt allerdings war ich so wach wie noch nie zuvor.
»Du weißt, was ich meinem Bruder versprochen habe, bevor er …« Till verstummte.
Bevor er starb, führte ich seinen Satz in Gedanken zu Ende. Mama war sofort tot gewesen, nachdem der Kleinbus gegen die Gangway gekracht und in Flammen aufgegangen war. Papa hatte noch zwei Tage durchgehalten und war zwischendurch wach genug gewesen, um mit Till sprechen und ihn darum bitten zu können, mich bei sich und Sandra aufzunehmen – und das, obwohl Till damals die meiste Zeit des Jahres in Unterwasserhöhlen rund um den Erdball unterwegs gewesen war. Meine Eltern waren nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie waren ums Leben gekommen, bevor sie das Flugzeug überhaupt bestiegen hatten, weil der Fahrer des Busses einen Herzinfarkt erlitten und die Kontrolle über das Steuer verloren hatte. Die Trauer um sie hatte mich regelrecht aufgefressen, und dabei spielte es nicht die geringste Rolle, dass sie nicht meine biologischen Eltern waren. Mama und Papa hatten nie mit mir darüber gesprochen, dass ich als Baby von ihnen adoptiert worden war, aber ich hatte es immer gewusst. Ich war nicht ihr leibliches Kind. Das hatte mich jedoch nie davon abgehalten, sie von ganzem Herzen zu lieben, und meine Sehnsucht nach ihnen hatte dafür gesorgt, dass ich manchmal weder essen noch schlafen konnte. Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal seit Langem wieder so intensiv an sie denken müssen, dass es richtig wehgetan hatte. Doch die schlimmste Trauer hatte sich gelegt. Trotzdem lag das Unglück wie ein dunkler Schatten über meinem Leben. Und als ob Till befürchtete, dass mir Ähnliches passieren könnte wie ihnen, war ich bisher nicht einmal in die Nähe eines Flughafens gekommen. Unsere Urlaube beschränkten sich auf Ziele, die mit dem Auto erreichbar waren, und wenn Till auf einer Expedition war, ließ er Sandra und mich zu Hause, und wir unternahmen eigene, ungefährlichere Ausflüge. Sandra hatte keine Lust, ihm wie ein Hündchen hinterherzulaufen, wenn er seine »Männerabenteuer« pflegte. Aber es war auch wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass ich für Expeditionen nicht geeignet war und einer bei mir bleiben musste. Selbst am Meer passten sie unentwegt auf mich auf, dabei konnte ich mich in der Brandung besser halten als sie.
»Ja, das weiß ich«, sagte Sandra nach einem kurzen Moment der Stille. »Und du hast dieses Versprechen auch gehalten. Du hast dich wie ein echter Vater um sie gekümmert und machst dir wie ein echter Vater Sorgen um sie. Aber wir können sie nicht ihr ganzes Leben lang in Watte packen, und Vicky auf Skiern … Ich mag es mir gar nicht ausmalen. Das kann nicht gut gehen. Sie ist dafür nicht gemacht.«
Ich wollte mir das auch nicht ausmalen. Wahrscheinlich würde ich die meiste Zeit auf dem Rücken die Piste hinunterschlittern und mir dabei alle Knochen brechen. Ich tanzte gerne, am liebsten allein in meinem Zimmer, und dabei bewegte ich mich sicher und geschmeidig. Aber beim Sport war ich eine echte Katastrophe, und alles in mir sträubte sich dagegen, mir zwei Bretter unter meine Füße zu schnallen und mich einen steilen Hang hinunterzustürzen, auch wenn die klare Luft der Alpen meiner Haut guttat. »Sie hat immer noch keine Freunde im Gymnasium gefunden, die anderen ziehen sie nur auf oder meiden sie … Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer oder mit mir«, sprach Sandra weiter. »Vielleicht wäre es gut für sie, mal eine aufregende Reise zu machen und etwas zu erleben, wovon die anderen nur träumen. Dann hat sie nach den Ferien etwas zu erzählen und kann tolle Fotos posten.«
»Aber was ist mit ihrer Haut? Was, wenn es in der Hitze schlimmer wird?«, wandte Till ein. »Wir wissen ja immer noch nicht, was genau sie eigentlich hat …«
»Ja, richtig. Wissen wir nicht. Nur – sie hat vorhin zum ersten Mal klar gesagt, was sie will, und sie hat ein Versprechen eingefordert. So hab ich sie noch nie erlebt. Sie war richtig sauer! Vicky braucht Selbstbewusstsein, um sich in ihrem Umfeld zu behaupten. Wenn sie endlich mal selbstbewusst auftritt, sollten wir das vielleicht fördern und nicht bestrafen. Denn anders wird sie nicht durchs Leben kommen. Sie ist viel zu lieb und zu gut für diese Welt.«
»Hm«, brummte Till, und wieder machte sich Schweigen breit.
Gespannt lauschte ich in die Stille hinein. In meinen Ohren rauschte das Blut, ein ständiges Auf und Ab, das mich an die Brandung des Meeres erinnerte. Ich hatte Till nie erzählt, dass ich fast jede Nacht von den Cenotes träumte und dabei weit hinabtauchte. In diesen Träumen konnte ich unter Wasser atmen. Ich fühlte mich schön und gesund und so zufrieden, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Mir war klar, dass ich das auf diese Weise nicht erleben würde, wenn wir dort waren. Aber allein die Vorstellung, eine Cenote zu sehen, direkt vor mir, erfüllte mich mit solcher Sehnsucht, dass mein Herz schmerzte. Von mir aus konnte meine gesamte Haut schuppig werden und sich schälen, das war mir egal. Im Wasser spürte ich das Jucken und Brennen sowieso nicht mehr. Nur jetzt, im Winter, unter mehreren Kleidungsschichten, machte mich die Schuppenflechte schier verrückt. Dann konnte ich mich nur davor bewahren, mich blutig zu kratzen, indem ich abends stundenlang in der Badewanne lag und vergaß, dass ich das »Schuppenmonster« war, wie mich meine Klassenkameraden in der Schule manchmal hinter meinem Rücken nannten. Oder »Froschgesicht«, wenn meine Haut ausnahmsweise mal in Ordnung war. Irgendetwas fanden sie immer.
»Na gut, in Ordnung, ihr habt gewonnen. Versuchen wir es.«
Mit der Hand vor dem Mund unterdrückte ich einen Freudenschrei. Hatte ich das richtig verstanden? Till gab sein Okay, er war zu Sandras Kompromisslösung bereit?
»Such du ein passendes Hotel in der Nähe, und wenn wir dort sind, erkunde ich erst einmal mit dem Team die Location. Aber dieses Mal verspreche ich gar nichts. Denn ich habe keine Ahnung, was uns dort erwartet. Jede Cenote ist anders. In dieser ist niemand zuvor getaucht, weil sie erst vor ein paar Monaten entdeckt wurde. Ich weiß nur, wo sie grob liegt und dass sie wahrscheinlich eine direkte Unterwasser-Verbindung zum Meer hat. Alles andere erfahre ich erst vor Ort. Also, bitte kein Drama, falls ihr die gesamten Ferien über im Hotel bleiben müsst.« Till versuchte, streng zu klingen, was ihm dank seiner tiefen Stimme erstaunlich gut gelang. Doch Sandra ließ nur ein unbeeindrucktes »Pffff« ertönen, was ihn wider Willen zum Lachen brachte, während ich inzwischen beide Hände fest auf den Mund presste, um nicht laut zu jubeln.
Ich hatte es geschafft, es würde passieren! Ich würde ins Land meiner Träume reisen und das mystische Blau der Cenotes nicht nur auf Fotos und YouTube-Videos anschauen können, sondern wahrhaft vor mir sehen. Mit etwas Glück würde ich sogar darin schwimmen können, um mich herum das dichte Grün des Dschungels und unter mir – unter mir der Ruf des Meeres.
»Danke, Till, danke, danke, danke …«, flüsterte ich lächelnd und presste meine heißen Wangen an das kühle, nasse Kissen. »Ich hab dich schrecklich lieb. Denn du hast dein Versprechen gehalten. Das werde ich dir niemals vergessen.«
Entspannt schloss ich die Augen und genoss das sanfte Rauschen in meinen Ohren. Mir war, als dürfte ich nach einer langen, langen Irrfahrt endlich heimkehren.
»Bist du wirklich sicher, Vicky? Sollen wir das durchziehen?« Entkräftet lehnte Sandra sich an einen wuchtigen Baumstamm, über dessen Rinde unzählige rötliche Ameisen wuselten und dessen Wurzeln einen seltsam fauligen Geruch verströmten. Mit einem großen Blatt, das sie vorhin auf dem Boden gefunden hatte, fächelte sie sich Luft zu, während Till mit dem Rücken zu uns am Kofferraum des Jeeps stand und Vorräte in einen gigantischen Rucksack packte. »Ich geh hier noch kaputt, es ist so schwül …«
»Ja, ich bin absolut sicher.« Okay, besonders gut ging es mir heute auch nicht. Sandra und ich hatten die ersten zwei Tage nach unserer Ankunft größtenteils auf der Toilette verbracht, weil uns Montezumas Rache heimgesucht hatte – angeblich eine Art heilige Tradition unter den Yucatan-Touristen. Nur die wenigsten blieben davon verschont. Am dritten Tag hatten wir immerhin wieder mit Appetit essen können, fühlten uns aber wie lebendige Leichen. Erst am Tag vier hatten wir einen Abstecher an den Strand gewagt, und genau in dem Moment, als die erste Welle meine Füße überspülte und ich mich gerade kopfüber ins Meer stürzen wollte, war Tills Nachricht reingekommen. Normalerweise gab es nichts, das mich hätte stoppen können, in die Brandung zu laufen, doch dieses Mal drehte ich mich um und beugte mich neugierig über Sandras Schulter. Langsam scrollte sie nach unten; für Tills Verhältnisse war seine Nachricht ein echter Roman.
Alles so weit okay hier, wir haben sogar echte Dixie-Klos und eine Hütte mit Dusche. Küche steht auch, mit eigenem Koch. Luxus-Expedition! Die Cenote ist klein, aber traumhaft schön. Hole euch morgen Mittag ab; mein Zelt ist groß genug für drei. Fühlt euch umarmt, bis bald, Till.
»Da hat wohl einer Sehnsucht bekommen …«, hatte Sandra mit leicht gequältem Lächeln gemurmelt, während ich vor Freude um sie herumsprang, wobei ich zwei Mal gestolpert und fast der Länge nach hingefallen war. Anstatt zu baden, liefen wir zurück auf unsere Zimmer, um unsere Rucksäcke zu packen und anschließend Lebensmittel einzukaufen, um die Till uns in einer weiteren Nachricht gebeten hatte. Nachts konnte ich wieder kaum schlafen – dieses Mal nicht wegen Bauchschmerzen, sondern wegen Bauchflattern, das sich anfühlte, als würden kleine Fische um meinen Nabel kreisen und ihn ständig anstupsen. Außerdem war das Rauschen in meinen Ohren laut wie nie zuvor, aber nicht auf unangenehme Weise. Ich fühlte mich davon sanft geschaukelt, und gleichzeitig ließ es mein Herz höherschlagen, eine merkwürdige Mischung aus Nervosität, Vorfreude und Schwindel.
Vielleicht schaffte ich es deshalb heute kaum, einen geraden Schritt vor den anderen zu setzen, aber ich war dabei definitiv besser gelaunt als Sandra, der die Hitze trotz ihrer kurzen Haare mehr zu schaffen machte als mir und die mich sorgenvoller anschaute, als ich es von Till je erlebt hatte.
»Ich bin okay, ehrlich«, beteuerte ich und streckte wie zum Beweis meine unbedeckten Arme aus. Seitdem wir angekommen waren, war der übliche Juckreiz nach einem ersten, plötzlichen Aufflammen stündlich weniger geworden, und meine Haut wirkte beinahe glatt. Dafür spielten meine Haare verrückt und probierten ständig neue Locken und Wellen aus. Um mein Gesicht herum kringelten sie sich sogar und bildeten fingerdicke Spiralen, ganz egal, wie oft ich sie kämmte. Deshalb hatte ich es aufgegeben, sie zu bändigen. Sollten sie doch machen, was sie wollten. Sonnenbrand hatte ich bisher auch keinen bekommen, und ja, meine Knie waren wie Pudding, und zu rennen, hätte mich vermutlich umgebracht. Trotzdem drängte alles in mir in das grüne Palmen- und Kakteendickicht hinein, weg von diesem öden, staubigen Parkplatz am Rande der Straße, die sich schnurgerade durch den Regenwald zog – und der Cenote entgegen. Klein, aber wunderschön, hatte Till geschrieben … ich konnte es nicht erwarten, zu erfahren, was genau er damit gemeint hatte. Hoffentlich war sie nicht zu klein.
»Es gibt um Talum herum eine Menge Maya-Ruinen, teilweise direkt am Strand, und Cenotes zum Schwimmen, außerdem ist in der Nähe ein Wasserpark mit Delfinen, wir könnten jeden Tag etwas anderes unternehmen, es würde dir nicht langweilig werden.« Sandra zwang sich zu einem Lächeln. »Das hier, das ist …« Mit einem Stöhnen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. »Ehrlich gesagt viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Wir sind doch noch gar nicht da«, erwiderte ich belustigt und sah einem dicken, blau schillernden Brummer nach, der zwischen uns hindurchgeflogen und dabei haarscharf an Sandras Kopf vorbeigesegelt war. Die Luft um uns herum wimmelte von Insekten und Schmetterlingen.
»Nein, deshalb sage ich dir das ja. Wir können uns noch anders entscheiden. Was du aber nicht willst, oder? Okay, du willst es nicht, ich hab verstanden«, schloss Sandra resigniert und beobachtete skeptisch einen kleinen, graugrünen Leguan, der mit trübem Blick und watschelndem Gang den Parkplatz querte. »Ehrlich gesagt, ich hasse es, zu zelten. Ich hasse alles, was krabbelt und mehr als zwei Beine hat. Ich hasse enge, stinkende Dixie-Klos und vor allem …« Sie zeigte neben den kleinen Trampelpfad, wo sich auf der rechten Seite ein riesiges Spinnennetz zwischen zwei Bäumen spannte, in dem bereits zahlreiche Mücken zappelten. »Hasse ich Horror-Netze wie diese, die nur von haarigen Monsterspinnen gebaut werden können. Leider weiß man nicht, wo die Monsterspinne sich gerade befindet. Vielleicht springt sie mich aus dem Dickicht an, wenn wir daran vorbeilaufen. Und wir müssen daran vorbeilaufen. Shit.« Jetzt musste sie über sich selbst lachen und schüttelte dabei kapitulierend den Kopf. »Bin ja selbst schuld. Ich hätte Till auch einfach zustimmen können. Dann würden wir jetzt in einer gemütlichen Hütte in Österreich sitzen und uns die Bäuche mit leckerem Kaiserschmarrn vollschlagen.«
»Oder du würdest dabei zusehen, wie ein Arzt mir beide Beine eingipst, weil ich mich drei Mal überschlagen habe«, entgegnete ich. »Hier bin ich besser aufgehoben, glaub mir.«
»Komm, lass mich deine Ohren noch mal anschauen, bevor wir uns in die grüne Hölle stürzen.«
»Die sind in Ordnung, kein Problem«, versuchte ich sie auf Abstand zu halten. »Ich würde es schon merken, wenn da was nicht stimmt.«
»Ich möchte mich aber gerne selbst davon überzeugen.« Resolut trat Sandra auf mich zu und umfasste meine Schultern, um erst mein linkes Ohr und dann mein rechtes an der oberen Muschel zu fassen und leicht nach vorne zu ziehen. »Die Pflaster sind trocken und sauber, aber … lieber machen wir frische darauf.«
»Ich finde, ich brauche gar keine Pflaster«, murrte ich, doch Sandra hatte schon damit begonnen, das erste abzuziehen, behutsam wie immer. Es tat kaum weh.
»Und ich finde, du brauchst sie dringender denn je. Keine Ahnung, was hier für Keime durch die Luft schwirren, und … hm«, unterbrach sie sich selbst und stockte, als würde sie ihren Augen nicht trauen. »Sieht alles sauber aus. Aber es sind nun mal offene Wunden.«
»Sind es nicht«, flüsterte ich, hinderte sie jedoch nicht daran, die Pflaster von heute früh durch neue, wasserdichte zu ersetzen. Ich hatte diese merkwürdigen Kerben hinter meinen Ohren schon von meiner Geburt an, und sie hatten mich nie behindert oder gestört. Kein einziges Mal hatten sie sich ernsthaft entzündet. Manchmal bluteten sie plötzlich, seit unserer Ankunft auf Yucatan sogar jeden Tag, ohne dass sich anschließend ein Schorf bildete. Aber sie taten nicht weh, wenn sie bluteten, sondern kitzelten nur ein bisschen, als würden sie ganz leicht zittern. Kein Arzt hatte uns je erklären können, wodurch sie entstanden waren, aber alle vermuteten, dass sie im Mutterleib schon da gewesen waren, womöglich ein erblicher Defekt. So ähnlich wie eine Hasenscharte oder ein Wolfsrachen. Meine dichten Locken verdeckten sie die meiste Zeit, und ich sah sie ohnehin nur, wenn ich mich mithilfe eines Handspiegels im normalen Spiegel von hinten betrachtete.
»Gut, das haben wir.« Sandra verstaute die alten Pflaster in ihrem Kosmetikbeutel und stopfte ihn zurück in ihren Rucksack. »Sobald sie anfangen, heiß zu werden, zu pochen oder zu brennen, sagst du Bescheid, ja?«
»Klar.« Und wenn ihr schlaft, löse ich die Pflaster. Wie jeden Abend und wann immer ich einige Stunden für mich bin. Errötend sah ich zu Boden, als ich Sandras wissenden Blick bemerkte, und wollte mich gerade entschuldigen, als sie mich sanft am Unterarm berührte und den Kopf schüttelte.
»Sorry. Ich mach mich nicht gut als besorgte Mutter, aber ich will es wenigstens ab und zu versuchen. Vor allem hier in der Wildnis.«
»Bist ja auch nicht meine Mutter«, erwiderte ich leise. »Genau das mag ich an dir.« Sandra hatte sich schon immer eher wie eine gute alte Freundin angefühlt als wie eine Mutter – und ich wollte das nicht missen. Wir konnten über fast alles miteinander reden. Ich war gerne mit ihr zusammen und sie mit mir. Manchmal sagte sie sogar ihren monatlichen »Mädelsabend« ab, um mit mir einen Film zu schauen, ungenießbare Kekse zu backen oder Musik zu hören. Allerdings hatte sie ab und zu ein schlechtes Gewissen, weil sie dachte, es wäre besser für mich, Freundinnen in meinem Alter zu haben und eine reifere »Adoptiv-Tante«. Aber ich war zufrieden so, wie es war, und hatte es sowieso noch nie geschafft, mehr als ein paar Stunden in die Zukunft zu denken. Ich würde es schon merken, wenn ich mich nach jemandem in meinem Alter sehnte. Da war ich sicher.
»Und du …« Noch einmal schüttelte Sandra den Kopf und brach ab. »Egal. Dann ziehen wir es also durch?«
Wie zur Bestätigung schlug Till den Kofferraumdeckel zu, hievte sich den schweren Rucksack auf den Rücken und trat zu uns.
»Ja«, bestätigte ich mit fester Stimme und war froh, meine Sonnenbrille zu tragen, denn in meinen Augen sammelte sich schon wieder das Wasser; dieses Mal vor lauter Aufregung und Anspannung.
»Na, ihr beiden? Bereit?« Feixend schob Till seine Kappe ein Stück in den Nacken, um uns freundschaftlich anzublinzeln. Als er Sandras besorgte Miene sah, verblasste sein Grinsen jedoch. »Was ist los mit dir, geht es dir nicht gut?«
»Doch, schon, aber …« Sandra erschauerte, obwohl gerade ein warmer, feuchter Wind durch das Unterholz strich. »Ich hab ein komisches Gefühl im Bauch. Wie eine Vorahnung. Als würde es unser gesamtes Leben verändern, wenn wir da jetzt reingehen. In einer Art und Weise, auf die wir keinen Einfluss haben …«
Till atmete langsam aus und wieder ein, als wolle er sichergehen, nichts Unbedachtes zu sagen, während eine feine Gänsehaut über meinen Rücken wanderte und mich ebenfalls frösteln ließ. Aber nicht vor Angst, sondern aus Vorfreude, ohne dass ich mir das schlüssig erklären konnte. Denn Sandra schien sich zu fürchten. Und das passierte ihr fast nie (außer bei großen Spinnen). Allein deshalb waren ihre Worte ungewöhnlich.
»Na ja, du begleitest mich zum ersten Mal auf eine Expedition und siehst zu, wie ich dort tauche und …« Nun lächelte Till wieder und stupste Sandra liebevoll in die Seite. »Zuzusehen ist anders, als sich etwas nur vorzustellen oder – zu verdrängen?«
»Verdrängen war echt klasse«, entgegnete Sandra trocken und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Darin bin ich Spezialistin.«
Ich wusste, worauf die beiden anspielten. Vor einigen Jahren hatte Till einen Tauchunfall gehabt und war unter Wasser bewusstlos geworden. Ein Kalksteinbrocken hatte sich aus der Höhlendecke gelöst, weil ein anderer Taucher mit seinen Sauerstoffflaschen dagegen gestoßen war, und ihn am Hinterkopf und am Rücken getroffen. Seine Kollegen konnten ihn heil nach oben bringen, aber wegen seiner Schädelverletzung lag er zwei Tage im Koma. Währenddessen hatten wir nicht gewusst, ob er noch der Alte sein würde, wenn er erwachte. Da seine Schulter ebenfalls verletzt worden war und er keine Ausrüstung mehr tragen durfte, hatte er anschließend fast zwei Jahre lang nicht mehr in Höhlen tauchen können – »zwei wunderbar entspannte, ruhige Jahre«, wie Sandra immer zu sagen pflegte. Mir war stets klar gewesen, dass sie ihm zu ruhig gewesen waren. Denn ich kannte seine Geschichten aus den Cenotes. Er konnte gar nicht anders, als wieder in ihnen zu tauchen. Sie waren quasi sein zweites Zuhause.
»Sieh es doch mal so – jetzt kannst du vor Ort erleben, was ich mache und wie viele Sicherheitsvorkehrungen wir beachten, und vielleicht wird es dadurch leichter für dich«, versuchte Till, Sandra ihre letzten Zweifel zu nehmen. »Aber wir müssen uns jetzt entscheiden, die anderen warten schon auf mich, und wir müssen den Tauchgang für morgen noch vorbereiten.«
»Das ist es ja gerade. Ich muss mich gar nicht entscheiden.« Sandra sah ihn verzweifelt an und seufzte. »Ich weiß, dass wir zusammen zur Cenote müssen. Geht gar nicht anders. Das wusste ich schon, als Vicky darum bat, mitkommen zu dürfen. Ich kann dir nur nicht sagen, warum. Denn eigentlich fahre ich ziemlich gerne Ski.«
»Aber ich nicht«, erwiderte ich bestimmt und schaffte es kaum noch, still zu stehen. »Und ich will jetzt endlich zum Camp laufen!«
»Ist ja gut.« Sandra trat einen Schritt zurück und wies mit einer übertriebenen Geste auf den Trampelpfad. »Geh du voran, Till, und töte alles, was uns gefährlich werden könnte, vor allem Spinnen und Schlangen.«
»Und Skorpione«, ergänzte Till lachend, gab mir einen sachten Klaps auf den Rücken und setzte sich an die Spitze unseres kleinen Trupps. »Keine Sorge, ich halte euch den Weg frei, Ladies.« Wie zur Bestätigung las er einen langen Ast vom Boden auf und schlug damit alle paar Schritte rechts und links ins Dickicht, während Sandra und ich ihm im Abstand von ein, zwei Metern folgten. Er zerriss damit sogar das Netz der »Horrorspinne« und stellte sich anschließend schützend vor die beiden Bäume, um Sandra und mich vorbeigehen zu lassen.
Dass Yucatan keinerlei Hügel oder gar Berge hatte, hatte ich schon vom Flugzeug aus beobachten können, und so fiel uns das Laufen trotz des weichen Bodens und der vielen quer wachsenden Wurzeln nicht schwer. Auch die Schwüle blieb einigermaßen erträglich. Ab und zu raschelte es links und rechts von uns im Gebüsch, und zwischen den Bäumen glitzerten so manche Spinnweben. Doch noch immer verspürte ich keine Angst, sondern lediglich Ungeduld und brennende Sehnsucht, die mich so kraftvoll nach vorne trieb, dass mich selbst die sengende Hitze und die Moskitos nicht störten. Außerdem schaffte es die Sonne an manchen Stellen kaum durch das Dach des Waldes, sodass meine Augen sich endlich entspannen konnten. Und meine verdunstenden Tränen sorgten für angenehme Kühle auf meinen Wangen. Ich mochte die Sonne eigentlich nur, wenn sie durch die Lamellen meines Rollladens fiel und Streifen auf den Fußboden zauberte. Dieses Bild liebte ich. Aber ihr direktes Licht war mir schon immer zu grell gewesen, weshalb ich im Freien pechschwarze Sonnenbrillen tragen musste, sobald der Sommer ins Land zog. Tat ich das nicht, wurden meine Augen rot und trocken, und es fiel mir schwer, mich zu orientieren. Jetzt aber begann die Brille auf meinem schweißnassen Nasenrücken zu rutschen, sodass ich sie nach einigen Minuten abnahm und in meinen Rucksack schob – und tatsächlich, ich konnte die Sonnensprenkel auf dem trockenen Waldboden gut ertragen, ohne dass mir schwindelig wurde. Erst als der Pfad plötzlich in eine kreisrunde, sonnenbeschienene Lichtung mündete, die merkwürdig künstlich aussah, setzte ich sie wieder auf.
»Hubschrauberlandeplatz«, vermeldete Till knapp. »Wir haben es gleich geschafft.«
»Hubschrauberlandeplatz?« Sandra japste beim Sprechen vor Anstrengung. Sie hatte heute früh darauf bestanden, alles Schwere in ihren Rucksack zu packen und mir den leichten zu überlassen.