Mit uns der Wind - Bettina Belitz - E-Book

Mit uns der Wind E-Book

Bettina Belitz

4,9

Beschreibung

Wie findet man unter den 80.000 Besuchern von Rock am Ring den einen, den man liebt? Bestsellerautorin Bettina Belitz, bekannt durch ihre Splitterherz-Trilogie erzählt eine Liebesgeschichte über Hingabe und Kontrolle und die Lust am Fliegen. Mona kennt ihn nur von den Videos auf YouTube. Es berührt sie tief, wenn er sich mit seinem Power-Kite der Willkür des Windes überlässt. Als sie herausfindet, dass ihr "Drachenreiter" ein populäres Rockmusikfestival besuchen will, überredet Mona ihren Bruder Manuel, sie dorthin mitzunehmen. Keine Selbstverständlichkeit für Mona, denn sie leidet unter einer seltenen Form von Narkolepsie: Sie schläft bei aufregenden Gefühlen regelmäßig ein. Eigentlich fährt Adrian nur zu dem Festival, weil er endlich bei der schönen Helen landen will. Doch dann läuft ihm dieses zierliche Mädchen mit dem Drachentatoo über den Weg. Ziemlich hübsch die Kleine, aber als sie endlich in seinen Armen liegt, schläft sie plötzlich ein. Wie merkwürdig ist das denn? Mehr Infos rund um Buch und Autorin unter: bettina-belitz.de

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»Für all jene, die noch nicht wissen,

Wie winzige purpurrote Botschaften aus dem All spiegelt sich das Licht der Sterne auf seinem Schuppenkleid. In eleganter Haltung liegt er am Boden, wartend, wachend und doch tief schlafend. Er blickt in seine Seele.

Seine Augen sind geschlossen, als träume er von jenen Sphären, die er noch nicht spüren kann, weil seine Flügel noch wachsen müssen. Leicht abgespreizt ruhen sie auf dem trockenen, staubigen Wüstengrund, während sein Atem gleichmäßig durch seinen Körper strömt.

Doch sobald der warme Wind ihn streift, schwellen die Klänge um ihn herum an – das sanfte Klingeln von Messingglöckchen, erzitternde Felle von kreisrunden Trommeln und der Nachhall eines Gongs, der so groß ist, dass seine Vibrationen die Tiefen meines Herzens durchdringen.

Ich muss zu ihm. Ihn bitten, aufzuwachen und mich zu tragen – damit wir gemeinsam fliegen können.

Morgenrot

Mona

»Pass auf dich auf. Bitte.«

Sie benehmen sich, als würde ich für ein Jahr in den Dschungel gehen und versuchen, dort ohne Führer, Proviant und medizinische Hilfe zu überleben.

»Keine Sorge, werde ich. Ich hatte ja jahrelang Zeit, es zu üben.«

»Willst du nicht doch noch mal darüber nachdenken, ob …«

»Nein, möchte ich nicht«, entgegne ich und richte mich auf, so gut es in Mamas Klammergriff möglich ist.

»Vergiss nicht, dass du …«

»Ja, ich weiß. Ich bin etwas Besonderes«, unterbreche ich sie ein zweites Mal. »Deshalb ist es Zeit, etwas Besonderes zu erleben.«

Keiner lacht über meinen Versuch, die Situation mit einem Scherz zu entkrampfen. Stattdessen seufzt Mama ein weiteres Mal tief durch und Papa wendet sich kurz ab, als müsse er sich sammeln. Ohne Mama anzusehen, weiß ich, dass die Tränen ihre Augen längst verlassen haben. Ich will sie nicht direkt anschauen, ebenso wenig wie Papa, der ununterbrochen mein Handgelenk hält – mit zwei Fingern nur, doch in der Hoffnung, ich könne es mir anders überlegen und beschließen hierzubleiben, in unserem Haus, wo mir nichts passieren kann und ich sicher bin. Genau deshalb kann ich kaum erwarten, es hinter mir zu lassen. Seit Wochen fiebere ich diesem Moment entgegen und nun ist er endlich da. Niemand wird mir ihn jetzt noch nehmen; das lasse ich nicht zu.

»Hast du deine Tabletten dabei? Und sie heute früh genommen? Hat sie die Tabletten genommen, Manuel?«

»Das kann ich prima allein, Mama, und ja, ich habe sie genommen. Alles gut.« Die Lüge klebt in meinem Hals, süß und bitter zugleich. Weder habe ich meine Tabletten nach dem Frühstück geschluckt, noch weiß ich, ob alles gut wird – aber ich glaube daran. Ich habe sie im Waschbecken hinuntergespült, wie schon seit Wochen, was mir weniger kriminell vorkommt, als wenn ich sie im Klo entsorgen würde. Bis auf ein paar kleinere Zwischenfälle ist mir die Abstinenz gut bekommen, sehr gut sogar. Denn ich empfange wieder mehr Bilder und Töne – vor allem über ihn. Wenn nur ein Bruchteil von ihnen die Wahrheit sagt, fahre ich nicht meinem Unglück entgegen, wie Mama und Papa wochenlang unkten, sondern meinem Glück. Ich weiß, dass mein Vorhaben waghalsig ist – aber noch verrückter fühlte es sich an, nichts zu riskieren, sondern weiterhin zu Hause rumzuhocken und auf etwas zu warten, das niemals geschehen wird. Das kann keiner von mir verlangen.

»Es gibt keine Zufälle«, höre ich Wills tiefe, sanfte Stimme in meinem Kopf und ich muss augenblicklich lächeln. Hat er mit diesen Worten recht – und ich vertraue darauf, dass er recht hat –, dann schreit das Schicksal mich geradezu an, den vielen Zeichen der vergangenen Wochen zu folgen.

Widerwillig gibt Mama mich frei und ich wende mich sofort ab, um zum Wohnmobil zu laufen. Erst, als mein Arm gestreckt in der Luft hängt, lässt auch Vater mit einem Seufzen los. »Es ist nur ein Musikfestival«, brummt Manuel, als Mama ihn zum Abschied fest in ihre Arme schließt. Doch auch ihm höre ich seine Sorge an, während Sina nur ein weiteres Mal auf ihre grasgrüne Uhr schaut. Schon vor einer Stunde hatten wir starten wollen, doch Mama und Papa sind unentwegt neue Möglichkeiten eingefallen, Zeit zu schinden. Erst, als sie Anstalten machten, mein Gepäck zu kontrollieren, und Papa mir wieder einmal eintrichterte, dass man anderen Menschen nie hinter die Stirn sehen kann und gerade in meinem Fall Vorsicht überlebenswichtig sei, griff Manuel durch und machte ihnen klar, dass wir niemals einen guten Platz für den Caravan bekommen, wenn wir jetzt nicht losfahren – und je besser der Platz, desto besser für mich. Dagegen konnten sie nichts einwenden. Manchmal ist es durchaus praktisch, eine Schwester mit »Dachschaden« zu haben.

»Mona, ich kann dich besser verstehen, als du denkst, und ich möchte, dass du glücklich bist, aber wenn ich überlege, was auf so einem Festival alles passieren kann … so viele Menschen! Menschen, die du nicht kennst.« Mama schüttelt den Kopf und legt ihre Handflächen auf die Wangen, um sich zu beruhigen, während Papa ein weiteres Mal versucht, Blickkontakt mit mir aufzunehmen. Keine Chance, Papa. Nicht jetzt.

»Wir fahren wegen der Musik hin. Okay? Wegen der Musik. Nicht um uns zu besaufen.« Manuel klingt nicht freudig, sondern als hätte er sich den Magen verdorben. Sina hingegen hat demonstrativ die Augen geschlossen, als würde sie im Stehen schlafen, während ihre Finger nervös gegen den Bauch des Wohnmobils trommeln.

»Lass sie niemals allein. Keine Minute. Versprich mir das, ja?«

»Mama, es ist gut jetzt, das macht er doch sowieso, schon seit Jahren!«, bricht es aus mir heraus. Verwundert öffnet Sina die Augen. Das Klappern ihrer Nägel verstummt. »Immer und überall, wenn ihr es nicht tut. Ich bin besser bewacht als eine hochgradig gefährliche Straftäterin. Aber lasst mich wenigstens ein Mal in einem anderen Umfeld bewacht werden! Und bei Musik! Damit es für uns alle nicht so gotterbärmlich langweilig ist.«

Mama und Papa werfen sich einen Blick zu – fragend und erschrocken zugleich. Sosehr ich in den vergangenen Wochen auch für dieses Wochenende gekämpft habe: Niemals habe ich mich dabei gegen sie gerichtet. Ich habe nur für mich gesprochen. Manuel zieht zischend die Luft ein. Ich spüre unter meiner eigenen Haut, wie angespannt er ist. Meine offenen Worte waren taktisch nicht klug. Wenn ich nun doch hierbleiben muss, muss auch er hierbleiben. Denn Mama und Papa fahren zu Opas Hochzeit nach Sylt. Davor können sie sich nicht drücken, auch wenn Mama ihre Stiefmutter am liebsten persönlich erschießen würde. Und sie können mich nicht allein lassen. Irgendeinen Wachhund brauche ich. Sina wird mich killen, wenn es so ausgeht.

»Ist nicht böse gemeint«, versuche ich meinen Worten ihre Schärfe zu nehmen. »Aber wir haben wochenlang darüber diskutiert, ich bin achtzehn und ich …«

»Ist gut. Wir haben zugestimmt und dabei bleibt es. Lass es uns kurz machen, Jenny.« Papa nimmt sich ein Herz und tritt ein paar Schritte in den Schatten des Hausflurs zurück, während Mama in der grellen Morgensonne stehen bleibt und verzweifelt gegen ihre Tränen anblinzelt, die glitzernd über ihre Wangen rinnen. Papa versucht sie zu sich zu ziehen, aber sie rührt sich nicht.

»Meldet euch mal, wenn ihr angekommen seid, ja? Und viel Spaß!«, ruft er uns zu. Sein »viel Spaß« klingt bemüht locker, doch ich fühle die Angst dahinter. Spaß und Mona, das war bisher keine ganz so glückliche Kombination. Spaß ist etwas Unkontrolliertes. Das widerspricht sich mit mir. Genauso wie Liebe – und all das, womit sie ihren Anfang nimmt. Wie nur können sie glauben, dass ich mich damit abfinde, mein Leben lang? Niemals werde ich das, auch wenn mein wahres Vorhaben eine Gleichung mit unzähligen x ist. Gut, dass niemand davon weiß, nicht einmal Will.

»Los, rein jetzt«, flüstert Sina und schiebt mich Richtung Tür, doch ich flitze noch einmal zu Mama, wische ihr die Tränen von der linken Wange und küsse sie gleichzeitig auf die salzige rechte. »Vertrau mir«, wispere ich in ihr Ohr. Sie seufzt, versucht aber, mich tapfer anzulächeln. Ja, ich weiß. Vertrauen ist eine schwierige Sache, wenn die eigene Tochter immer wieder bodenlos ins Nichts fällt und keine Chance hat, diese Stürze in irgendeiner Weise zu kontrollieren. Doch daran will ich nicht mehr denken. Vertrauen ins Leben ist nur möglich, wenn ich nicht daran denke und wage, an das zu glauben, was ich in meinen Träumen sehe – ohne zu wissen, ob es etwas ist, woran man glauben kann. Diese Bilder sind mein Schatz, mein gleißender Wegweiser ins Leben. Hätte ich mit Will darüber sprechen sollen? Wäre von ihm jenes »Ja« gekommen, das mir von meiner Familie nicht gegeben werden kann? Doch jetzt ist es zu spät. Ein paar Sekunden lang sehe ich seine Augen vor mir, deren gütiger, tiefer Blick mich jedes Mal vergessen lässt, welche Farbe sie haben, und muss erneut lächeln.

»Jetzt aber …« Sina nimmt meine Hand, als wäre ich ein Kind, und zieht mich hinter sich her. Ihre Finger sind verschwitzt, obwohl die Luft noch frisch ist und der Wind kühl. Sie ist sauer, weil ich ihr das erste Liebeswochenende mit meinem Bruder versaue. Vermutlich zu Recht. Ohne Krieg wird dieses Wochenende nicht vorüberziehen, sofern mein Plan glückt. Aber manchmal braucht es eben ein paar Schlachten, um freizukommen. Lieber denke ich an das, weshalb ich das alles überhaupt mache – nein, an den Menschen, dessentwegen ich das Risiko auf mich nehme, obwohl ich nicht einmal seinen richtigen Namen kenne.

Han-Ryu nennt er sich auf YouTube – offenbar inspiriert von jenem Drachen der japanischen Mythologie, der niemals den Himmel erreicht, egal, wie sehr er sich anstrengt.

Was für ein exotischer Name für einen jungen, braun gebrannten Kerl mit wilden Locken und Leberflecken im Gesicht, dessen Wangen glühen, wenn er wieder einen ganzen Tag lang über eine Wiese gerannt ist, um jene Böe zu erwischen, die ihn nach oben trägt … Der danach nichts anderes im Sinn hat, als sich in seine Werkstatt zu setzen, die Kamera anzuschalten und davon zu erzählen, obwohl die Bilder doch so viel mehr sagen können als seine Worte. Allein die Art und Weise, wie er die Leinen des Kites hält und ihn führt, um wiederum sich selbst führen zu lassen, wie er dabei seinen Körper dehnt und biegt wie ein Baum im Wind, spricht Bände. Ja, er ist es. Han-Ryu. Doch bevor ich die Bedeutung googelte, erschien mir seine Drachengestalt bereits in meinen Schlafbildern, ohne dass ich sie zuordnen konnte. Meine Seele ahnte längst, mit wem sie es zu tun hatte, und malte die entsprechenden Bilder dazu.

Han-Ryu, mein roter Drache, denke ich zärtlich und lasse meine Lider bereitwillig nach unten gleiten. Verstohlen taste ich meine rechte Hosentasche ab und anschließend das vordere Fach meines Rucksacks. Alles da, mein Handy, die Kopfhörer, das Ladegerät, von dem ich noch nicht weiß, wo ich es anschließen soll. Doch das ist mein kleinstes Problem. So oder so wird der Akku genügend Energie haben, damit ich mir Han-Ryus Videos heute Abend noch einmal ansehen kann. Sie beflügeln meine Bilder, nähren sie, sodass sie mir noch mehr innere Gewissheit geben.

Doch im Moment genügt das Brummen des Motors, um mich aus der Realität zu locken. Es müsste gleich so weit sein, mein Gehör verliert bereits seine Schärfe, wie immer, wenn der Wagen gleichmäßig dahinzugleiten beginnt. Wir haben die Autobahn erreicht und freie Fahrt, über uns ein strahlender Sommerhimmel, kein Wölkchen weit und breit. Wie glücklich wir sein könnten, wenn ich normal wäre! Manuel sagt etwas zu Sina und legt im Fahren seine Hand auf ihr Knie. Doch ich höre seine Worte nicht mehr. Auch die Musik, die er aufgelegt hat, dringt nicht mehr zu mir durch.

Wenn es nur immer so behutsam und gemächlich geschehen würde wie beim Autofahren … Bilder. Bitte, ich brauche die Bilder, beschwöre ich mein Unterbewusstsein. Lass mich den Drachen berühren und mich auf seinen Rücken klettern, bevor er seine Schwingen ausbreitet und davonfliegt, dem Himmel entgegen.

Gestern hatte ich ihn fast berührt – und ich erschrak, als ich sah, wie groß seine Flügel geworden waren und wie weit er sie schon anheben kann. Es gibt keine Zufälle. Was meine Träume mir sagen, ist ein Zeichen, dass unsere Zeit gekommen ist. Ich muss ihm begegnen, diesem Drachen in Menschengestalt, in seine Augen sehen, ihm sagen, was er mir bedeutet und dass wir zusammengehören – falls er es nicht ohne Worte versteht. Ich möchte sein Haar anfassen, in dem der Wind sein ewiges Spiel treibt. Seine Lippen auf meinen spüren.

Stopp!, ermahne ich mich mit schwindender Kraft, denn meine Gedanken werden immer diffuser. Trotzdem beschwöre ich meine Vernunft, denn ohne sie werde ich keine Chance haben. Noch ist das alles reine Zukunftsmusik, und auch wenn mein Traum nicht unmöglich ist, habe ich bislang keine brauchbare Idee, wie ich ihn verwirklichen soll – und Han-Ryu unter 80.000Festivalbesuchern finden, mit meinem Handicap, das es mir noch schwerer macht, meinen Plan umzusetzen, als es ohnehin schon wäre. Selbst wenn ich ihn finde, heißt das noch lange nicht, dass er mich wahrnimmt – doch er könnte. Er könnte!

Schließlich wollen wir auf das gleiche Konzert gehen. Und wir beide wollen fliegen. Wir könnten es zusammen tun, er könnte mich mitnehmen, hinauf in den Himmel. In die Freiheit. Ich möchte jetzt schon darin eintauchen, mich darauf freuen, im Schlaf – dort, wo ich ihm schon so oft begegnet bin.

Doch meine Bilder lassen mich im Stich. Ohne meinen Fall steuern zu können, stürze ich in eine schwarze, verschlingende Nacht, deren Tiefe keinen Widerstand zulässt und mir jegliche Kontrolle raubt.

* * *

Adrian

»Hey, Alter! Was geht?«

Noch im Laufen wirft Danny mir eine Bierdose zu und ich fange sie mit einer minimalen Bewegung meiner Rechten auf. Doch meine Regung genügt, um das Blut in meinen Schläfen so stark pulsieren zu lassen, dass sie erneut von einem penetranten Klopfen heim gesucht wird. Instinktiv presse ich die eiskalte Dose gegen meine Stirn und unterdrücke ein Seufzen. Hau ab, blöde Migräne. Nicht jetzt. Nicht hier. Das passt gar nicht. Doch die Farben um mich herum leuchten zu intensiv, auch Dannys Shirt scheint zu grell für mich zu sein. Meine Sonnenbrille vermag es nicht zu dämpfen. Alles Vorboten für einen handfesten Anfall, von denen ich maximal drei pro Jahr bekomme – und davon einen ausgerechnet hier, auf jenem Open-Air-Festival, von dem wir seit Wochen reden.

»Prost.« Zischend öffne ich die Dose, bevor Danny und ich anstoßen und er sich neben mir in den Schatten fallen lässt.

»Alles okay? Wieso hockst du hier?«

»Deshalb«, antworte ich vage. Die Wahrheit ist mal wieder nicht angebracht. »Bin k.o., war eine lange Nacht«, ergänze ich nicht minder unbestimmt, als Danny mich fragend anstarrt.

»Ah, verstehe.« Gönnerhaft rempelt er mir den Ellenbogen in die Seite. »Jemand wie du fängt schon einen Tag vorher mit dem Feiern an.« Danny unterdrückt einen Rülpser und stößt mich noch einmal in die Seite.

»Helen? Hm? War sie bei dir gestern Abend?«

Ich nehme nur einen Schluck Bier und grinse. Diese Kombination hat sich bewährt. Schweigen und Grinsen kommen gut an, wenn man die Rolle des coolen Frauenhelden bewahren möchte, den alle wollen, aber niemand kriegt, weil er lieber allein durch die Natur streift und sich bei seinen Kiteexperimenten in Gefahr begibt. Trotzdem, Danny hat recht. Helen ist der Grund. Helen ist immer der Grund, nicht nur für mich. Es kann kein Zufall sein, dass dieses Mädchen Helen heißt. Man verblödet, wenn man sie zu lange anschaut, und alles, was zählt, ist sie zu berühren. So ist es jedes Mal, wenn sie in meine Nähe kommt. »Ey ….«, raunt Danny und weist mit dem Kinn zu unserem Zeltplatz, wo die Mädels sich über die Kiste mit den Vorräten beugen. Helen streckt uns provokativ ihren Hintern entgegen, über den sich der dünne Stoff ihres schwarzen Rocks spannt. Automatisch legen Danny und ich den Kopf schräg. Wir benehmen uns wie Affen.

Es muss endlich passieren. Deshalb bin ich hier. Ich will es schon so lange. Wenn es nicht bald passiert, halte ich mich selbst nicht mehr aus. Helen interessiert sich ernsthaft für mich. Ich weiß das, sie hat es mir erst vergangene Woche wieder angedeutet und Danny und Robert wissen es auch. Es wird leicht sein, es beginnen zu lassen – und hoffentlich ebenso leicht, es zu vollenden. Mit Eröffnungszügen hatte ich nie Probleme, seitdem meine YouTube-Klicks die Zehntausendermarke überschritten haben. Ich kann quasi wählen. Immer wieder mailen Mädchen mich an und wollen sich mit mir treffen. Das Tückische ist die Durchführung. Aber daran will ich jetzt nicht denken. Das ruiniert alles.

Geschützt durch die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille lasse ich meine Augen auf Helens Po ruhen. Allein dieser Anblick reicht, um sie anfassen zu wollen. Wenn ich zu Hause in meinem Zimmer sitze, genügt die reine Vorstellung einer solchen Perspektive und ich kriege eine Erektion. Langsam dreht sie sich zu uns rum, als hätte sie unsere Blicke bemerkt, und grinst herüber.

Plötzlich muss ich an diesen Typen denken, an den ich vor zwei Wochen durch einen blöden Zufall geraten bin, und daran, wie er sich bewegt hat, während er hochkonzentriert seine schrägen Gymnastikübungen vorführte, als würde er von Wasser umgeben sein, obwohl er mit beiden Beinen so fest auf dem Boden stand, als wäre er mit ihm verwachsen.

Oh verdammt, was ist nur los mit mir? Vor mir sitzt die pure Verführung und ich denke an einen Kerl um die fünfzig – werde ich jetzt etwa schwul und lebe dazu noch einen ungeahnten Vater-Sohn-Komplex aus? Wundern würde es mich nicht, denn mein eigener Vater löst bei mir vor allem Beklemmungen aus. Schon allein deshalb muss ich es tun, am besten heute Nacht noch, damit endlich Ruhe in mir einkehrt. Ja, ich finde erst Ruhe, wenn ich mit Helen geschlafen habe. Es wird schön werden, ach, mehr als das, es wird die Erfüllung meiner heimlichen Träume sein.

Wieso musste ich mich auch über ein ungelenkes Häuflein gestresster Hausfrauen lustig machen – nur, weil sie mitten im Park ihr esoterisches Work-out exerzierten, zwischen biertrinkenden Schülern, die blau machten, und den üblichen Gassigehern mit ihren fetten Kötern? Ich fand es amüsant, war sogar kurz davor, mich fremdzuschämen, weil es so bescheuert aussah. Bis ich ihn wahrnahm. Nein, bis er mich wahrnahm und innerhalb von Sekunden zu durchschauen schien, was in meinem Kopf vor sich ging. Eine kurze, sinnlose Diskussion und zwei halbherzige »Nein« später reihte ich mich ein und machte mit, während ich ununterbrochen hoffte, dass mich niemand sah, den ich kenne.

Das Ergebnis? Ich sitze auf einem Rockfestival, hab Kopfschmerzen und kriege diesen Typen nicht aus meinem verdrehten Hirn. Er schien so wissend! Als könne er in mir lesen. An die Gesichter der anderen Schüler kann ich mich nicht mehr erinnern, an seines schon. Dauernd taucht es vor meinem inneren Auge auf. Doch vor allem erinnere ich mich daran, wie anders sich sein Work-out anfühlte. Das Gegenteil vom Kiten. Langsame, kontrollierte Bewegungen, die mir anstrengender vorkamen als meine heftigsten Kämpfe mit dem Wind. Auch deshalb ließ ich meine Witzchen bald sein. Deshalb und weil die Lektionen bei dem Trainer aussahen wie eine uralte geheime Kampfkunst, deren schlummernde Kraft im Ernstfall sogar den Wind zum Schweigen bringen kann.

Helen hat sich erhoben und läuft mit wiegenden Hüften auf uns zu. Schon den ganzen Vormittag suchte sie eine Gelegenheit, mit mir allein zu sein. Danny grunzt zufrieden und klopft mir auf die Schulter, fast wie eine Aufforderung. Das Pochen in meiner Schläfe verstärkt sich mit jedem Schritt, den Helen näher kommt. Die Gittertür im Zaun hinter mir ist nicht verriegelt, fällt mir blitzartig ein. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus drückte ich die Klinke nach unserer Ankunft testweise hinunter. Jemand muss vergessen haben, das Schloss zu schließen. Der stählerne Zaun, der das gesamte Festivalgelände umgibt, als wären wir Kaninchen in einem überdimensionalen Käfig, hat eine Lücke.

»Na?« Wie selbstverständlich schiebt Helen sich zwischen Danny und mich, sodass ihre nackten Arme meine Schulter streifen, als sie sich setzt. Mein Herz klopft schneller und ein Energiestoß fährt durch meinen Bauch.

»Was machen wir heute Abend?«

Meint sie mich und sie? Oder uns alle? Oder Danny und mich und sie? Ich zucke nur mit den Schultern, während Danny sich feixend erhebt, mir zuzwinkert und zurück zu unseren Zelten schlendert, um uns allein zu lassen.

»Keine Ahnung. Vielleicht mal das Gelände anschauen. Was so los ist.«

»Und dann …?« Helen rückt etwas näher, wieder berühren sich unsere Arme. Sie sehen schön nebeneinander aus, meine gebräunte Haut, unter der sich meine Muskeln abzeichnen und die von goldschimmernden Härchen überzogen ist – und im Kontrast dazu ihr milchig matter, zarter Unterarm. Wir passen gut zusammen. Sacht lässt sie den Knöchel ihres Mittelfingers über meinen Oberarm gleiten, bis unter den Ärmel meines Shirts. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Steiß und lässt mich das nervige Pochen in meiner Schläfe vergessen.

»Mal sehen.«

Ihre Hand verliert den Kontakt zu meinem Arm. Stattdessen beugt sie sich vor und schiebt mir die Sonnenbrille von der Nase. Forschend blickt sie in meine Augen, die in der plötzlichen Helligkeit blinzeln. Ihr Gesicht kann ich kaum erkennen, da sie sich im Gegenlicht befindet. Doch ich weiß, wie hübsch es ist.

»Manchmal würde ich gern in deinen Kopf schauen, Adrian.«

»Besser nicht«, erwidere ich knapp, dieses Mal ohne Grinsen, denn ich meine es ernst. Doch sie stupst nur spielerisch ihre Nase gegen meine, steht auf, ohne sich dabei um ihren nach oben rutschenden Rock zu kümmern, und haucht mir im Gehen über die Schulter einen Kuss zu.

»Kannst mich ja in meinem Zelt besuchen, wenn dir langweilig wird …«

Erleichtert atme ich aus und schiebe die Sonnenbrille zurück auf meine Nase. Strike, geschafft. Das war es. Das war die Einladung. Sie will es auch. Jetzt habe ich es sozusagen schwarz auf weiß. Erster Schritt erledigt, wie beim Kiten, wenn ich die passende Location gefunden und den Drachen ausgebreitet habe. Das ist die halbe Miete. Das Einzige, was nicht berechnet werden kann, ist der Wind – obwohl er mir stets so viel berechenbarer erscheint als Frauen.

Doch ich hab mir x-mal ausgemalt, wie es laufen sollte und könnte – selbst, wenn es nur halb so gut wird wie in meinen Fantasien, werde ich mich danach endlich grundlegend entspannen können und anfangen, mich in meinem Leben wohlzufühlen. Ich steh auf Helen, seitdem ich sechzehn bin – drei Jahre sind genug. Drei Jahre, in denen sie immer verführerischer wurde und in denen ich diese seltsame und so unverhoffte Metamorphose vom schüchternen Mittelfeldspieler zum umworbenen YouTube-Starkiter durchlebte. Nachdem ich meinen ersten 15-Sekunden-Flug schaffte, zu Closer To The Edge von 30Seconds to Mars, fing Helen an, mich wahrzunehmen und seit drei Wochen flirtet sie unentwegt mit mir. Schreibt mir Nachrichten, sendet mir Fotos von sich, sagt mir abends über WhatsApp Gute Nacht. Wir haben uns sogar auf der Abiparty flüchtig geküsst, zwar nur zum Abschied, aber ihr Blick war eindeutig: »Ich will dich.« Es fühlte sich an wie Magie, ja als hätte ich sie mit meinem Drachen zum Leben erweckt. Je kühner und gekonnter meine Stunts wurden, desto näher kam Helen mir.

Morgen Nacht sind 30Seconds to Mars Headliner. Ich werde Helen im Arm halten, wenn sie diesen Song spielen, und danach nehme ich sie mit in mein Zelt. Ich werde nicht nur mit meinem Kite fliegen und vom Boden abheben. Ich werde es zusammen mit Helen tun.

Wieder muss ich an diesen Typen aus dem Park denken, dessen Namen ich vergessen habe. »Es gibt keine Zufälle«, hat er zwischen zwei Übungseinheiten gesagt, wie nebenbei und doch zutiefst bedeutungsvoll, und dann den »Schwimmenden Drachen« vorgeführt. Zuerst wollte ich die Übung ins Lächerliche ziehen und wieder einen meiner Witze raushauen, weil er dabei so mit dem Hintern wackelte. Aber dann gab ich dem Schwimmenden Drachen doch seine Chance. Während ich mich daran erinnere, spüre ich die fließenden, geschmeidigen Bewegungen der Übung wieder in mir, Weichheit und Kraft in einem, pure Energie – genau so fühle ich mich, wenn die Böe den Kite und mich ergreift und die Schwerkraft von ihren ewigen Gesetzen erlöst.

So muss es auch sein, wenn Helen und ich endlich zusammenkommen – und all die Jahre des Hoffens und Träumens sich gelohnt haben.

Nautische Dämmerung

Mona

»Mona? Hey, Moony…«

Keine Musik, keine Farben. Die Welt ist schwarz-weiß und ihr Klang sind dumpfe Schattierungen aus Grau. Der zottige Wolf vor mir wird blasser, verschwimmt, aber kommt näher, anstatt zurückzuweichen. Manuel. Ich wusste immer, dass er der Wolf ist. Er hatte sich mir als Erstes gezeigt. Selbst, wenn ich dem Drachen begegne, ist er da– im Hintergrund, ohne dass ich ihn sehe, aber ich spüre ihn, wie einen vertrauten Schatten. Auch jetzt habe ich weder Angst noch grolle ich ihm. Er tut mir nichts und obwohl ich seine Gefangene bin und er mich bewacht, habe ich das Gefühl, ihn freilassen zu wollen.

Den Drachen aber konnte ich nicht erreichen.

»Hörst du mich? Kannst du dich bewegen, Moony?«

»Ja, kann ich«, nuschle ich mit schwerer Zunge und fahre mit der Linken suchend über das abgewetzte Polster des Sitzes, um zu prüfen, ob mir Speichel aus dem Mundwinkel gelaufen ist. Es ist mir erst ein Mal passiert, ausgerechnet auf der einzigen richtigen Party, zu der ich jemals eingeladen war, und machte mich zum Gespött aller Leute. Dieses eine Mal hat gereicht, mich fürchten zu lassen, es könnte wieder geschehen.

Ich habe keine Kontrolle darüber, wann ich in den Schlaf falle und was dann passiert. Diese verdammte Narkolepsie… Allein das Wort ist mir verhasst und doch begleitet es jeden Tag meines Lebens. Es ist der Grund, warum meine Eltern mich seit meiner Kindheit am liebsten dauerhaft in Watte packen würden und mein Bruder mir folgt wie ein Schatten. Dabei ist eigentlich noch nie etwas wahrhaft Dramatisches geschehen. Doch ich habe keine Kontrolle mehr über mich und meinen Körper, wenn mich eine Attacke ereilt, und ebensowenig kann ich sie verhindern, denn ich verliere die Macht über meine Muskeln– das ist es, was mich fast in den Wahnsinn treibt, wenn ich darüber nachdenke. Deshalb vermeide ich es, zu viel darüber nachzudenken, und prüfe nur wie immer, ob an mir und um mich herum alles in Ordnung ist. Gut, ich habe nicht gesabbert, das Polster ist trocken. Ich fühle es genau, obwohl meine Fingerspitzen fast taub sind und mein Körper seine Mitte noch nicht wiedergefunden hat.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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