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Eine rasante Reise durch die Zeit, die alles verändern kann – für Leserinnen, die nach Kerstin Giers Edelstein-Trilogie auf weitere spannende Zeitreisen warten. »Niemand, absolut niemand darf wissen, dass wir Zeitreisende aus der Zukunft sind. Egal, wie sehr du jemandem vertraust, du darfst es nicht verraten.« Rosalies Leben ändert sich schlagartig, als sie im Haus ihres Professors auf eine Gemäldesammlung stößt. Denn als sie eines der Bilder berührt, findet sie sich in Florenz wieder. Im Jahr 1480. Von diesem Moment an ist nichts mehr wie es war und Rosalie wird hineingezogen in einen Wettlauf gegen die Zeit: Jemand hat die Vergangenheit verändert und nun muss sie im Florenz der Renaissance das Leben des mächtigsten Mannes dieser Epoche retten. Leider wird sie dabei von dem gut aussehenden aber unerträglich arroganten Leo begleitet. Das fulminante Debut der Gewinnerin des Newpiper-Talent-Awards 2020: »›Aquarius – Herz über Kopf durch die Zeit‹ von Marina Neumeier holt den Leser auf der ersten Seite ab und entführt ihn in ein humorvoll, spannend, intelligent und detailreich erzähltes Abenteuer. So macht Kunstgeschichte Spaß.« (Aus der Jurybegründung)
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Cover & Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Danksagung
Für meine Eltern
München, 15. Oktober 2018
»Ein neues Semester, weißt du, was das bedeutet?«
Laras Stimme dringt durch die träge Suppe meiner Gedanken und schreckt mich auf. Huch, beinahe wäre ich wieder eingenickt, und das im Stehen. Wir befinden uns in der heillos überfüllten U-Bahn auf dem Weg zur Uni. Und mit überfüllt meine ich Zustände, die jedes ausverkaufte Justin-Bieber-Konzert wie eine gesittete Nachmittagsveranstaltung erscheinen lassen. Es ist so eng, dass ich kaum atmen kann. Ehrlich, ich hasse die morgendliche Rushhour. Und Professor Aschmann, der seine Vorlesung in diesem Semester auf neun Uhr morgens gelegt hat und heute von uns verlangt, zur ersten Sitzung schon eine Stunde früher zu erscheinen. Weiß der Geier, warum.
Laras Gesicht taucht dicht vor mir auf. Mit ihren großen blauen Augen mustert sie mich unverschämt wach. Ich blinzele verschlafen, und sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. Natürlich ist sie früh genug aufgestanden, um sich auf dem Weg zur U-Bahn noch einen Coffee-to-go zu holen. Ich habe mich schon oft genug darüber beschwert, warum sie mir bei dieser Gelegenheit nicht auch einen Becher mitnimmt. Doch Lara weigert sich standhaft und nennt es eine Erziehungsmaßnahme. Sie will erreichen, dass ich pünktlicher aufstehe und meine Zeit besser organisiere, damit ich es selbst schaffe, mir einen Kaffee zu holen. Nur leider stößt sie da absolut auf Granit. Ich bin kein Morgenmensch, und kein Latte macchiato der Welt bringt mich eine Minute früher als wirklich nötig aus dem Bett.
»Hallo, Rosalie? Hörst du mir überhaupt zu?« Lara fuchtelt mit der freien Hand vor meinem Gesicht herum. Mehrere zierliche Ringe funkeln im kalten Licht der Neonröhren an ihren Fingern.
Ich presse mir den Handrücken vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken, bevor ich ihr antworte. »Sorry, bin kurz abgedriftet. Aber ich habe diese Nacht nur fünf Stunden Schlaf erwischt.«
Lara schnalzt wieder mit der Zunge. »Das kommt davon, dass du in den Semesterferien immer diesen furchtbaren Tag-Nacht-Rhythmus entwickelst. Oft bist du noch um drei Uhr morgens online.«
Ups, da hat mich jemand ertappt! Kurz verfluche ich die moderne Technik und die Möglichkeiten, jeden ausgiebigst stalken zu können. Diesmal hat mich wohl WhatsApp verraten. »Ich gelobe Besserung«, murmele ich und entlocke Lara damit ein Lächeln.
»Also, was ich eigentlich sagen wollte … ein neues Semester bedeutet neue Austauschstudenten.« Sie wackelt anzüglich mit den Augenbrauen und leckt sich die Lippen.
Lara ist außergewöhnlich hübsch, und wäre sie nicht meine beste Freundin, würde ich sie hassen wie die Pest. Ihre Augen sind kornblumenblau, und ihre braunen Haare fallen ihr immer in diesen unaufgeregten Wellen auf die Schultern. Sie geht nie ungeschminkt aus dem Haus und ist immer tadellos gekleidet. Manche halten Lara für eine oberflächliche Tussi, aber ihr Verstand ist messerscharf, und ich habe noch nie erlebt, dass jemand eine Diskussion gegen sie gewonnen hätte.
Jetzt muss ich aber wegen ihr die Augen verdrehen. »Wir studieren Kunstgeschichte, schon vergessen? Flirtrate gleich null.«
»Dieses Semester wird es anders, das spüre ich«, entgegnet Lara völlig ungerührt und mit einem sonnigen Lächeln. »Ich habe uns nicht umsonst für das Mentoring-Programm angemeldet.«
Als ich höre, was sie da sagt, fallen mir beinahe die Augen aus dem Kopf. »Du hast was gemacht?«
Lara tut überhaupt nicht so, als wäre sie ahnungslos. Ihr Grinsen wird gemein. »Nachdem letztes Jahr diese Gruppe rattenscharfer Doktoranden aus Madrid zu einem Forschungsaufenthalt hier war, habe ich beschlossen, dass wir uns die Gaststudenten nicht mehr entgegen lassen. Du hast schon recht, dass das Material hier in München sehr zu wünschen übrig lässt, doch auf internationaler Ebene sind ein paar vielversprechende Kandidaten dabei. Und an die kommen wir umso leichter heran, wenn wir Mentorinnen sind.«
Ich bin so fassungslos, dass ich den Mund nicht mehr zubekomme. Das ist ja noch schlimmer als letztes Jahr, als sie mich auf dieser Dating-Website angemeldet und ohne mein Wissen Blind Dates mit Jungs vereinbart hat. Okay, objektiv betrachtet vielleicht doch nicht ganz so schlimm, aber ich bin trotzdem alles andere als begeistert.
»Lass mich raten, die E-Mail von Professor Aschmann, die ich angeblich nicht bekommen habe, existiert überhaupt nicht, stimmt’s? Die Vorlesung beginnt zur ersten Sitzung nicht ausnahmsweise eine Stunde früher.«
Zumindest hat Lara den Anstand, rot zu werden. Ihre Wangen leuchten in einem knalligen Pink, was perfekt zu ihrem heutigen Lippenstift passt.
»Das war die einzige Möglichkeit, dich eine Stunde früher aus dem Bett zu holen.«
Wir wissen beide, dass ich zwar eine unverbesserliche Langschläferin bin, gleichzeitig aber nichts auf mein Studium kommen lasse. Pünktlich bei den Vorlesungen zu sein, ist mir wichtig. Und Lara hat das gnadenlos ausgenutzt.
Als die Bahn an unserer Haltestelle einfährt, stapfe ich missgelaunt zu den Rolltreppen und würdige Lara keines Blickes, bis ich oben auf der Straße ankomme. Diese Verräterin. Erst jetzt schaue ich mich nach ihr um, doch sie ist nicht hinter mir. Als sie endlich auftaucht, drückt sie mir einen heißen Pappbecher in die Hand. Ich schnuppere. Kaffee. Sie muss kurz am Kiosk in der U-Bahn-Station angehalten haben, um ihn mir zu besorgen.
»Glaub jetzt nicht, dass ich dir diese linke Nummer deswegen schneller verzeihe«, murmele ich, während ich den Deckel abnehme und den Milchschaum schlürfe.
»Ist schon Zucker drin, so wie du es magst.«
»Pharisäerin.«
Als wir das Hauptgebäude erreichen, hat es der Kaffee tatsächlich geschafft, mich milde zu stimmen. Immerhin bin ich jetzt viel eher bereit, mich fremden Menschen zu stellen.
»Wohin genau müssen wir jetzt?«
Begeisterung leuchtet in Laras Augen auf. Wahrscheinlich hat sie schon befürchtet, dass ich auf keinen Fall mitmache. »Raum A 112. Glaub mir, Rosalie, das wirst du nicht bereuen.«
»Berühmte letzte Worte«, brumme ich.
Gemeinsam betreten wir das Unigebäude und steigen die Treppe hinauf. Lara hat sich bei mir unter gehakt und manövriert mich durch die Grüppchen auf den Fluren. Dabei quasselt sie munter weiter über Flirts mit sexy Austauschstudenten. Ich will ihr nicht die Laune vermiesen und erwähne nicht, dass unsere Mentoring-Partner auch Mädchen sein könnten. Wer weiß, vielleicht hält dieser Umstand sie auch nicht auf.
Als wir den Kursraum A 112 betreten, sind schon einige Personen anwesend. Ich erkenne drei Kommilitonen und den steinalten Professor Kipping. Kipping ist Experte für spätmittelalterliche Architektur und mindestens so alt wie die Bauwerke, über die er arbeitet. Lara nennt ihn seit jeher Nosferatu, und obwohl sich tief in mir etwas dagegen sträubt, diesem altehrwürdigen Professor einen so respektlosen Namen zu verpassen, muss ich zugeben, dass die Ähnlichkeit rein äußerlich bestechend ist. Er ist groß und hager, mit einer Glatze, die glänzt wie eine frisch polierte Bowlingkugel, und Augen, die tief in dunkel violetten Höhlen liegen. Aber obwohl er einen so gruseligen Eindruck hinterlässt, ist er einer der nettesten Professoren an der Uni. Wie zum Beweis nickt er uns freundlich zu, als wir den Raum betreten.
Zu meiner Überraschung spricht er mich direkt an. »Ah, Frau Gryphius, wie schön, Sie hier zu sehen!« In seinen Augen funkelt ein gutmütiges Lächeln. Sein Gesicht dagegen ist bleich und sein Mund besorgniserregend lila verfärbt. Er sieht älter aus als je zuvor und mehr denn je wie Nosferatu.
Bevor ich etwas erwidern kann, klatscht Frau Lorenz in die Hände. Sie ist Studienkoordinatorin und auch zuständig für die Betreuung der Gaststudenten. Sie hat ein grobknochiges, hageres Gesicht und hält nicht viel vom Lächeln. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich es ohne Frostbeulen aus ihrer Sprechstunde schaffe. Doch heute gibt sie sich Mühe.
»Hallo, zusammen! Herzlich willkommen zurück. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Start ins neue Semester, vor allem unseren Austauschstudenten, die heute ihren ersten Tag hier haben. Benvenuto qui a Monaco.«
Aha, Italiener also. Ich fange Laras schelmisches Lächeln auf. Wir beide belegen Italienisch im Nebenfach. Nach anfänglichen Startproblemen macht mir die Fremdsprache inzwischen sogar richtig Spaß. Ich ertappe mich dabei, wie Aufregung in mir prickelt. Vielleicht hat Lara ja doch recht, und wir werden die Mentorinnen von süßen italienischen Jungs. Vielleicht klappt Flirten bei mir auf Italienisch ja besser als auf Deutsch.
»Ich bedanke mich schon jetzt bei unseren Studierenden für ihr freiwilliges Engagement«, fährt Frau Lorenz munter fort. »Dieses Jahr ist die Ludwig-Maximilians-Universität eine Partnerschaft mit der Nuova Accademia di Belle Arti in Mailand eingegangen. Im Zuge dessen darf ich für dieses Semester hier in München fünf Studenten begrüßen – die beiden Bachelorstudenten Paola dello Russo und Davide Villani. Aus dem Master-Studiengang Matteo Ferrante und Leopoldo Orlandi del Mazza. Und Sara Pontrelli, die ihre Doktorarbeit in München fertigstellen möchte. Sie alle heiße ich noch einmal herzlich willkommen.«
Wir applaudieren höflich, was in dem großen Seminarraum ziemlich verloren klingt. Ich recke den Kopf und versuche, über die Köpfe der anderen hinweg einen Blick auf die Gaststudenten zu erhaschen. Sie haben sich vorn neben dem Pult aufgestellt, aber ich kann von meinem Platz aus nicht viel erkennen. Professor Kipping steht genau vor mir, und er misst bestimmt einen Meter neunzig. Außerdem hat er für einen Mann seines Alters noch erstaunlich breite, stattliche Schultern. Ich bin kein Winzling, aber ich kann nichts erkennen außer dem üppigen Lockenschopf eines der Mädchen.
Frau Lorenz erklärt noch einmal Sinn und Zweck des Mentoring-Programms. Sie betont, wie wichtig es ist, dass die ausländischen Studenten in ihrer Anfangszeit in dem fremden Land und an der neuen Uni Unterstützung bekommen. Meine rechte Hand schließt sich fester um den tröstlich warmen Pappbecher. So lange wird das nicht dauern, rede ich mir gut zu. Das sind alles erwachsene Menschen, die nur ein wenig Starthilfe brauchen. Stell dir vor, du wärst völlig neu hier.
»Frau Gryphius, Sie werden Herrn Orlandi del Mazza zur Seite stehen. Herr Neumann, Sie sind der Mentor von Frau Pontrelli.«
Ich merke erst wieder auf, als mein Name fällt. Moment, was habe ich verpasst? Ich sehe mich hilfesuchend um, doch alle ringsum setzen sich in Bewegung und streben auf ihren zugeteilten Partner zu. Lara lächelt mich geradezu euphorisch an und vollführt unverständliche Gesten, die mir wohl irgendetwas Wichtiges mitteilen sollen. Mir wäre es lieber, ich wüsste, wer genau mein Partner ist. Wie heißt der Typ noch mal? Kann Frau Lorenz seinen Namen vielleicht wiederholen? Lara verpasst mir einen beherzten Stoß, während sie längst einen jungen Mann mit süßem Lockenschopf entgegenstrahlt. Ich stolpere nach vorn, und dann steht er vor mir. Ludovico da Mozzarella … oder so ähnlich. Seine elegante Kleidung fällt mir als Allererstes auf. Er trägt ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit weißem Kragen und eine beige Chinohose. Auf die Brusttasche ist ein winziges Monogramm eingestickt. Langsam lasse ich den Blick nach oben zu seinem Gesicht wandern. Völlig unvorbereitet treffe ich auf ein Paar tiefgrüne Augen. Ich starre hin wie hypnotisiert. So eine Farbe habe ich noch nie gesehen. Es ist ein wunderschönes, schillerndes Meergrün, eingerahmt von einem Kranz schwarzer Wimpern. Er zieht die dunklen Augenbrauen hoch, und ich bemerke, dass ich ihn anglotze, ohne etwas zu sagen. Verdammt. Reflexartig strecke ich ihm die Hand entgegen.
»Rosalie Gryphius, freut mich.« Ich beglückwünsche mich selbst zu diesem Manöver. Indem ich mich noch einmal förmlich vorstelle, ist er gezwungen, mir ebenfalls seinen Namen zu nennen.
Er nimmt meine Hand und drückt sie kurz. »Leopoldo Orlandi del Mazza.«
Wow! Was für ein Name. Er rattert ihn in der Geschwindigkeit eines vorbeirasenden Güterzugs herunter. Sein Blick streift kurz mein Gesicht, dann gleitet er weiter und mustert wachsam die anwesenden Personen. Das gibt mir die Gelegenheit, sein Gesicht noch einmal genauer zu betrachten. Er sieht wirklich unverschämt gut aus. Das sind nicht nur diese bemerkenswerten Augen, auch das ganze Gesicht ist hübsch. Eine gerade Nase und schön geschwungene Lippen, deren Mundwinkel im Moment allerdings nach unten gezogen sind. Ich bin gerade in das Studium seiner Wangenknochen und der markanten Kinnlinie vertieft (Botticelli hätte seine Freude an ihm gehabt), als er mir seine Aufmerksamkeit wieder zuwendet. Benommen registriere ich, dass er aller Attraktivität zum Trotz ziemlich miesepetrig dreinblickt. Wenn nicht zu sagen – arrogant. Während alle anderen Paare sich angeregt unterhalten, sendet er ganz klar das Signal: Ich habe nicht das geringste Interesse daran, mich mit dir zu unterhalten.
Angesichts dieses Blicks zerplatzt meine Zuversicht wie eine Seifenblase. Die dumme alte Unsicherheit kehrt zurück und hemmt mich. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Ich suche nach einem Gesprächsfetzen, nach irgendetwas, um ein Gespräch in Gang zu bringen, doch mir fällt absolut nichts ein. Dieser abweisende, kühle Blick lähmt mich. Mir wird immer unbehaglicher zumute.
Ich höre, wie eins der italienischen Mädchen in gebrochenem Deutsch von ihrem Heimatort erzählt. Endlich nimmt mein Gehirn den Betrieb wieder auf, und ich gebe mir einen Ruck.
»Und, woher kommst du?« Ich stelle die Frage auf Deutsch, weil ich wissen will, ob er die Sprache kann.
»Florenz«, erwidert er knapp.
Na, sieh einer an! Ein richtiges Sprachtalent also.
»Oh!«, entweicht es mir unwillkürlich. »Ich war letzten Sommer dort.« Ich kann den schwärmerischen Klang in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Warst du shoppen und Eis essen?« Sein Tonfall klingt herablassend. Seine Aussprache dagegen geht mir runter wie Butter.
»He, wir studieren das Gleiche, schon vergessen? Ich habe von früh bis spät Michelangelos David angeschmachtet.«
»Ah ja.«
Hitze steigt mir in die Wangen. Super, Rosalie, kannst du etwas noch Peinlicheres von dir geben? Jetzt stehe ich da wie eine Verrückte, die eine nackte Marmorfigur anhimmelt. Aber dieser Kerl macht mich nervös. Seine Einsilbigkeit und das offensichtliche Desinteresse an Small Talk mit mir schüchtern mich ein. Ich kann mit attraktiven Jungs nicht umgehen, vor allem nicht, wenn sie mir so offensichtlich ablehnend gegenüberstehen. Hilfe suchend linse ich zu Lara hinüber, doch die ist völlig versunken in das Gespräch mit ihrem Schützling. Bei den beiden sieht es so einfach aus. Sie lächeln beide, und Lara hört ihm mit großen Augen zu, während er gestikulierend erzählt. Warum kann nicht er mein Mentoring-Partner sein? Er sieht sympathisch und aufgeschlossen aus. Wahrscheinlich hätte er über meinen verschrobenen Michelangelo-Kommentar nur gelacht und eine lustige Anekdote über ein eigenes Missgeschick eingeflochten. Signor Doppelname neben mir dagegen ist so gesprächig wie ein Felsblock. Er macht überhaupt keine Anstalten, das Gespräch fortzuführen. Wie unhöflich kann man denn sein?
»Wieso bist du nach München gekommen?«, frage ich unbeirrt weiter. Langsam, aber sicher verdrängt Gereiztheit meine Unsicherheit. Was ist so schwer daran, ein bisschen Begeisterung für ein Gespräch zu heucheln, das ich auch nicht führen möchte? Ich gebe mir wenigstens Mühe.
Er wirft mir einen flüchtigen Blick zu. Ich straffe die Schultern und kämpfe störrisch gegen das Gefühl der Unzulänglichkeit an. Das ist eine völlig legitime Frage. Er ist der Unhöfliche von uns beiden.
»Ein Jo …« Er stockt. »Das Austauschprogramm hier ist exzellent«, sagt er dann schnell. »München macht sich gut in meinem Lebenslauf.«
Ich runzele die Stirn. Wollte er gerade Job sagen? Warum hat er es nicht einfach ausgesprochen? Dieses offensichtliche Zögern passt irgendwie nicht zu seiner stolzen Haltung. Anscheinend etwas, das nicht für meine Ohren bestimmt ist. Na gut. Interessiert mich auch gar nicht.
Frau Lorenz ist meine Rettung. Sie hebt die Stimme und verkündet, dass wir uns auf den Weg zu Professor Aschmanns Vorlesung machen sollen. Offenbar besuchen alle Gaststudenten diese Vorlesung. Ich bin erleichtert, denn das bedeutet, dass ich den verstockten Miesepeter bald los bin. Als eine der Ersten will ich den Raum verlassen, da packt er mich mit der Hand am Oberarm und hält mich zurück. Seine Augen mustern mich einen Moment lang nachdenklich, als müsse er die richtigen Worte abwägen.
»Hör mal, Rosalia.«
»Ich heiße Rosalie«, verbessere ich ihn, obwohl sich die italienische Version meines Namens von seinen Lippen ziemlich verheißungsvoll anhört. Die Betonung liegt bei ihm auf der letzten Silbe. Rosa-LIA.
»Ah ja.« Schon wieder dieses desinteressierte Ah ja. Wütend runzele ich die Stirn.
»Ich weiß, wir sollen dieses Mentoring-Programm durchziehen, aber ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Zeit für so was. Du hast dich bestimmt schon gefreut, dich um einen Neuling kümmern zu können, aber da gibt es bestimmt andere, die dankbarere … Ziele abgeben.« Er lächelt gezwungen.
Mir klappt der Mund auf, und wieder bleibt mir die Luft weg. Aber diesmal nicht, weil mich sein schönes Gesicht überwältigt, sondern weil ich beinahe an seiner Arroganz ersticke. In mir meldet sich ein archaischer Teil, der ihm seinen gönnerhaften Ton am liebsten tief in den Rachen stopfen würde. Dieser Kerl hat noch keine fünf Worte mit mir gewechselt und behandelt mich schon wie eine minderbemittelte Dumpfbacke. Ich überrasche mich selbst, indem ich einen Schritt auf ihn zutrete und ihm unverwandt in die Augen sehe.
»Ich habe keine Ahnung, was falsch bei dir läuft und weswegen du unfähig bist, eine normale Unterhaltung mit mir zu führen. Aber ich habe absolut keine Lust, auch nur eine Sekunde auf einen anmaßenden Arsch wie dich zu verschwenden. Besten Dank auch.« Ich dränge mich grob an ihm vorbei durch die Tür und hätte ihn dabei gern umgeschubst, doch er gerät nicht einmal ins Wanken. Im Vorbeigehen sehe ich Lara und ihren Mentoring-Partner, die die Szene beobachtet haben. Der Junge grinst breit. Ich komme zu der Überzeugung, dass dieses missglückte Kennenlernen ganz und gar seine Schuld ist. Er war sich von Anfang an zu fein dafür, mit mir ins Gespräch zu kommen, und hat sich lieber wie ein ignoranter Schnösel benommen. Blöder, eingebildeter Leopoldo Soundso. Das ist ein bescheuerter Name, den niemand aussprechen kann, und er scheint auch noch mächtig stolz darauf zu sein. Leute mit Doppelnamen sind doch nur affige Angeber. In Höchstgeschwindigkeit erreiche ich den Hörsaal. Wütend stapfe ich die Reihen der angeschraubten Sitzbänke nach oben. Im oberen Drittel des Hörsaals entscheide ich mich willkürlich für einen Platz und klappe den Sitz herunter. In mir brodelt es. Ich schaue hoch, als sich jemand neben mich setzt, doch es sind nur Lara und ihr Mentoring-Partner. Leopoldo sitzt weiter vorn neben der italienischen Doktorandin. Wunderbar, soll er sie mit seinem ätzenden Schweigen strafen.
Lara räuspert sich. »Rosalie, darf ich dir Matteo Ferrante vorstellen? Matteo, meine beste Freundin Rosalie.«
Wir schütteln uns über Lara hinweg die Hände. Aus der Nähe betrachtet ist Matteo nicht ganz so attraktiv wie Leopoldo, sein Gesicht ist runder und seine Nase ein wenig krumm, aber in seinen braunen Augen funkelt ein verschmitztes Lächeln.
»Was war das denn gerade zwischen dir und Leo?«, fragt er interessiert. Seine Mundwinkel zucken. Offenbar bereitet es ihm einen Heidenspaß, dass ich Leozur Schnecke gemacht habe.
»Ja, das würde mich auch interessieren. Du siehst richtig wütend aus.« Lara stößt mich in die Seite. Fragend legt sie den Kopf schief. Sie kennt mich ganz genau und weiß, wie untypisch es für mich ist, vor fremden Leuten so aus der Haut zu fahren. Für meine Verhältnisse war das ein ganz und gar ungewöhnlicher Temperamentsausbruch. Neun von zehn auf der Richterskala.
»Kennst du Leonardo näher?«
Matteo runzelt kurz die Stirn. »Du meinst wohl Leopoldo. Und ja, wir sind schon seit Ewigkeiten befreundet. Ich gehe sogar so weit, ihn als meinen besten Freund zu bezeichnen.« Seine vollen Lippen kräuseln sich zu einem hinreißenden Lächeln. Meine Güte, er ist echt süß.
Meine Miene verfinstert sich dennoch. »Dann kann ich dich nur zu einem absoluten Ekelpaket von Freund beglückwünschen. Wie hältst du es nur aus mit so einem?« Skeptisch mustere ich ihn. So lieb, wie er aussieht, kann er doch vollen Ernstes nicht mit jemandem wie diesem Leopoldo befreundet sein. Vielleicht hat er ja eine gespaltene Persönlichkeit.
Matteos Grinsen wird breiter. »Ach, mit der Zeit gewöhnst du dich an die arrogante Visage.« Er gluckst. »Nein ehrlich, eigentlich ist er ein prima Kerl, aber im Moment macht ihm einiges zu schaffen. Er hat ziemlichen Stress mit …«
»Einem Job?«, falle ich ihm neugierig ins Wort. Ich spreche es aus, bevor ich innehalten kann. Meine Neugier ist mal wieder außer Rand und Band. Verbunden mit meiner lebhaften Fantasie, ergibt das selten gute Mischungen.
Matteos Blick wird wachsam. »Er hat nur viel um die Ohren«, sagt er ausweichend. »Außerdem hat ihn vor Kurzem seine Freundin abserviert. Wahrscheinlich schiebt er gerade Frust auf die Frauenwelt im Allgemeinen. Nimm es nicht persönlich, das hat nichts mit dir zu tun, micina.«
Na so was, eine Ex-Freundin. Noch eine Frau, die Verstand beweist und ihn links liegen lässt. Das besänftigt mich ein bisschen, und ich hole meinen Laptop aus der Tasche. Professor Aschmann hat vorn schon Position bezogen und öffnet seine Präsentation. Ich spüre genau, dass Lara mich mit Argusaugen von der Seite mustert. Wenn die Vorlesungen vorbei sind, wird sie alles ganz genau von mir wissen wollen.
Am Nachmittag, als ich mich wieder beruhigt habe, besuche ich Lara an ihrem Arbeitsplatz. Sie jobbt als Kellnerin im Café Adelheid, zwei Ecken von der Uni entfernt. Es ist ein urgemütliches Lokal mit schweren Polstersesseln und alten Stofftapeten an den Wänden. Lara ist die Herrin über die riesige verchromte Kaffeemaschine, die unter zischenden Dampfwolken den besten Cappuccino der Stadt ausspuckt. Ich verbringe oft ganze Nachmittage hier. Mein Stammplatz ist der Sessel in der Nische am Fenster, und Lara bringt mir jede Stunde unaufgefordert ein Getränk. Wenn wenig los ist, setzt sie sich zu mir, und wir quatschen oder büffeln zusammen für Prüfungen. Heute dreht sich unser Gespräch ausschließlich um die italienischen Gaststudenten. Lara hat mit Matteo tatsächlich den Hauptgewinn gezogen. Er ist schnuckelig und witzig und verteilt süße italienische Kosenamen. Lara nennt er ciccina. Im Gegensatz zu Leopoldo scheint er sich ehrlich darüber zu freuen, dass sie ihn an der Uni herumführt.
»Was ist eigentlich zwischen dir und diesem Knaben abgelaufen?«, will Lara mit amüsiert zuckenden Augenbrauen wissen.
Ich hebe die Schultern. Jetzt im Nachhinein ist es mir unangenehm, dass es mir zu Beginn derart die Sprache verschlagen hat. Ich komme mir blöd vor, weil sein gutes Aussehen mich so benebelt hat.
»Er hat mich von Anfang an total herablassend behandelt. Als wäre es unter seiner Würde, mit mir zu sprechen.« Lara verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Ich habe mich so gefreut, als wir beide männliche Partner zugeteilt bekommen haben«, sagt sie. »Noch dazu sieht Leopoldo supergut aus. Ich war wirklich überzeugt, dass das Schicksal es gut mit uns meint.«
»Hat es ja auch«, sage ich und beschließe, die Sache ab jetzt positiv zu sehen. »Ich hatte von vornherein keine Lust, Mentorin zu sein, und nachdem Leopoldo klargestellt hat, dass er an meinen Diensten nicht interessiert ist, bin ich wieder frei und ungebunden.«
Lara zieht einen Flunsch. »Matteo sagt, dass er sonst nicht so mies drauf ist. Du hast ihn nur auf dem falschen Fuß erwischt Er hat sich erst kurzfristig dafür entschieden, nach München zu kommen.«
»Aber es ist doch ein internationales Austauschprogramm, da kann man sich nicht in letzter Sekunde entschließen, ob man mitmacht oder nicht. Es gibt Bewerbungsfristen und so was.« Meine Vorbehalte gegen Signor Doppelname wachsen sekündlich. So ein eingebildeter Schnösel!
»Mein liebes Kind, die kommen von einer Privatuniversität. Leute wie die müssen nur die richtige Summe überweisen und ihre Verbindungen spielen lassen, und schon sind sie an Bord.«
»Hä?«
Lara rollt mit den Augen. »Die Orlandi del Mazza sind ein uraltes florentinisches Adelsgeschlecht. Heute ist ihr Titel nur noch Schall und Rauch, aber ihr Einfluss im gesellschaftlichen und politischen Leben von Florenz ist immer noch immens.«
»Woher weißt du denn das schon wieder?«
»Matteo hat es mir erzählt.«
Ich kann es nicht fassen. »Wie hast du es geschafft, ihm innerhalb so kurzer Zeit so viele Informationen zu entlocken?« Ich habe genauso lange mit Leopoldo gesprochen und lediglich herausgefunden, dass er aus Florenz kommt. Ich kann mir ja nicht einmal seinen vollständigen Namen merken.
Girlande da Mazda oder so ähnlich.
Lara bedenkt mich mit einem Blick, der genau das sagt, was ich die ganze Zeit befürchte: Mir fehlt dieses berühmte Quäntchen weiblicher Raffinesse, um das männliche Geschlecht um den kleinen Finger zu wickeln. Sie wirkt fast mitleidig. Ich verpasse ihr einen Seitenhieb.
»Im Grunde ist es doch egal. Wir haben beide keine Lust auf das Mentoring-Programm und uns sozusagen einvernehmlich getrennt.«
»Einvernehmlich?«, prustet Lara. »Was ich da gehört habe, klang eher nach einer Schlammschlacht.«
»Ich werde mich ganz sicher nicht entschuldigen, falls du das meinst.«
»Nein, das sollte ein Witz sein. Ich finde es ehrlich gesagt super, dass du ihm die Meinung gegeigt hast. So wie es mir vorkommt, passiert das ohnehin viel zu selten. Ich gebe zu, er macht wirklich keinen besonders netten Eindruck, obwohl das eine ziemliche Verschwendung von gutem Aussehen ist.« Sie lächelt diebisch, und ich schlinge ihr einen Arm um die Schulter. Habe ich schon mal erwähnt, dass Lara die beste Freundin auf der Welt ist?
»Bist du mir noch böse, weil ich dich ohne zu fragen als Mentorin angemeldet habe?«
»Iwo. Aber warn mich das nächste Mal bitte rechtzeitig vor, wenn du wieder solche Aktionen planst!«
»Ach, da du es erwähnst!« Lara richtet sich auf ihrem Platz gerade auf. »Morgen ist die Vernissage in der Villa von Professor Kipping. Du musst mich unbedingt begleiten.«
Oh, das habe ich ja total vergessen! Professor Kipping öffnet seine Türen in den nächsten Wochen exklusiv für eine Ausstellung seiner privaten Kunstsammlung. Seine Kollektion soll außergewöhnlich sein, und er macht sie zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich. Morgen findet die feierliche Vernissage statt, und das gesamte Institut für Kunstgeschichte samt Studierenden ist eingeladen. Da kann ich unmöglich passen. Außerdem bin ich tatsächlich gespannt auf die Ausstellung. So viel ich weiß, soll er auch einige Blätter von Leonardo da Vinci besitzen, was mich besonders begeistert. Seit ich denken kann, bin ich fasziniert von den Kunstwerken der italienischen Renaissance. Bei mir zu Hause stapeln sich Kunstbände über Botticelli, Mantegna und Michelangelo, und meine Wände sind gepflastert mit gerahmten Drucken. Vor allem begeistern mich mythologische Themen und die Rückkehr von antiken Proportions- und Harmonielehren in die Kunst. Vielleicht ist diese Begeisterung der Grund, warum sich Professor Kipping meinen Namen gemerkt hat. Ich dünste sie aus wie ein unverkennbares Parfüm. Lara nennt es eine ungesunde Leidenschaft.
»Wunderst du dich nicht auch, dass Nosferatu die Ausstellung in seinem Privathaus organisiert? Warum geht er dafür nicht in ein Museum?«, bemerkt sie gerade und rührt gedankenverloren in ihrem Chai Latte.
Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand eine öffentliche Kunstausstellung in seinem Privathaus veranstaltet. Allein die Versicherungskosten müssen enorm sein, wenn täglich fremde Menschen ein und aus gehen.
»Vielleicht will er seine Sammlung nicht weggeben, nachdem er sie so lange bei sich zu Hause unter Verschluss gehalten hat«, überlege ich.
Lara nickt zustimmend. »So muss es sein. Oder das Ganze ist eine riesige Enttäuschung und nichts als Schund, den kein Museum annehmen will.« Sie grinst verschlagen, und ich rolle mit den Augen. Professor Kipping ist ein international anerkannter Forscher, er wird bestimmt keine alten Einkaufszettel von da Vinci sammeln … obwohl wahrscheinlich selbst die inzwischen ein Vermögen wert sind.
»Meinst du, Paul will auch kommen?«, fragt Lara. Paul ist mein älterer Bruder, mit dem ich zusammenwohne. Er ist vierundzwanzig und macht gerade den Master in Mechatronik und Informationstechnik an der Technischen Universität. Er ist mein bester Freund und alles an Familie, was ich noch habe. Unsere Eltern sind vor fünf Jahren gestorben, und seitdem wir beide studieren, leben wir in der Wohnung, die wir gemeinsam von unserer Großmutter geerbt haben.
Meine beste Freundin mustert mich immer noch erwartungsvoll, und ich schüttele heftig den Kopf. »Nein, er hat bestimmt keine Lust darauf, das weißt du doch.«
Lara kennt meinen Bruder genauso gut wie mich und weiß, dass wir ihn mit Kunst und Kultur nicht locken können.
Sie nickt nachdenklich. »Ja, du hast recht. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben, richtig?« Ihr Lächeln ist verschmitzt, und sie bedeutet einem Gast, der ungeduldig an der Theke wartet, sich noch einen Moment zu gedulden. Lara kann es sich immer erlauben, unverschämt zu sein. Die Leute verzeihen es ihr auf der Stelle.
»Er sollte dich mehr unterstützen.«
»Paul ist immer für mich da, und ich kann mich auf ihn verlassen. Da muss ich ihn nicht auch noch zu Veranstaltungen schleppen, bei denen er sich erfahrungsgemäß nur langweilt.«
»Aber du bist seine kleine Schwester, er sollte in bisschen mehr Begeisterung für deinen Werdegang aufbringen. Jaha, ichkomme schon!« Sie stemmt sich übertrieben schwerfällig aus ihrem Sessel hoch, als wäre es eine Frechheit von diesem Kerl, sie um einen Kaffee zu bitten.
Im nächsten Moment schäkert sie bereits mit dem verstimmten Gast und wickelt ihn mit ihrem unwiderstehlichen Charme um den kleinen Finger. Ehrlich, ihre Chefin hat sie nur deshalb noch nicht gefeuert, weil sie diese Gabe hat. Wahrscheinlich bekommt sie gleich auch noch ein Trinkgeld.
Ich lümmele mich tiefer in meinen Sessel und konzentriere mich auf mein Buch von Umberto Eco, das ich mitgebracht habe.
Zwei Stunden später mache ich mich auf den Heimweg. Durch den einsetzenden herbstlichen Nieselregen eile ich im Laufschritt zur U-Bahn. Als ich die Wohnungstür aufschließe, weht mir augenblicklich ein bestialischer Gestank entgegen. Eine Mischung aus heißem Fett und Verbranntem. »Paul!«, brülle ich. Als Antwort ertönt lediglich blechernes Geklapper. Ich lasse meine Tasche neben der Garderobe auf die alte Polsterbank fallen und renne in die Küche.
Mein Bruder steht mit hochrotem Kopf vor dem Herd und hantiert hektisch mit einer Pfanne. Mit beherztem Schwung befördert er sie ins Spülbecken und lässt Wasser darauf fließen. Fett spritzt in alle Richtungen, und es qualmt höllisch. Aufquellender heißer Wasserdampf hüllt Pauls Kopf ein. Erst jetzt bemerkt er, dass ich auch da bin.
»Oh! Hi, Rosa!« Verlegen fährt er sich durch die Haare und reißt das Fenster weit auf. Demonstrativ wedele ich mit der Hand vor der Nase herum.
»Riecht ja köstlich, Monsieur Bocuse«, flöte ich und versuche einen Blick in die Spüle zu werfen. Ein dampfender schwarzer Brocken und etwas, das wie verkohlte Cocktailtomaten aussieht. Paul schiebt sich schnell zwischen mich und die Küchenzeile und versperrt mir den Blick. Er zieht eine leidende Grimasse und schubst mich aus der Küche hinaus. Nebenbei murmelt er irgendwas von Rauchgasvergiftung und zieht die Tür hinter sich zu.
»Nicht der Rede wert, wollte mir nur schnell was warm machen, aber mit der Herdplatte stimmt etwas nicht. Sie ist außer Kontrolle.«
Hinter seinem Rücken muss ich schmunzeln. Außer Kontrolle, ja genau. Ich vermute eher, dass er die Platte wie immer voller Ungeduld sofort auf die höchste Stufe gestellt hat und deswegen alles verbrannt ist. Der Junge ist unbelehrbar. Trotzdem wird mein Schmunzeln immer breiter. Wenn Paul kocht, dann hat das nur einen Grund – er hat ein Mädchen am Start. Sobald er verknallt ist, schwingt er den Kochlöffel, und es entstehen die abenteuerlichsten Kreationen.
Mit der Hüfte lehne ich mich an den Tisch in unserem offenen Wohn- und Esszimmer.
»Spuck’s aus! Wer ist sie?«, frage ich unumwunden.
Paul starrt mich erschrocken an, so als fürchte er, ich könne Gedanken lesen. Dann entspannt sich seine Miene, und er lässt sich rückwärts auf das ultrabequeme uralte Sofa fallen.
»Ich habe das Superlos gezogen, Rosa!«, sprudelt er los. »Sie ist eins der wenigen Mädchen in meinem Studiengang und ab heute meine Projektpartnerin. Mann, ich sag’s dir, sie ist der Knaller, hübsch und klug und ein Mädchen. Ein echtes Mädchen!«
Ich muss lachen. Mein süßer, verschrobener Bruder.
»Wenn das zwischen euch was werden soll, dann rate ich dir aber, sie niemals zum Essen einzuladen, zumindest nicht, wenn du selber kochst.«
Paul ist so glücklich, dass er meine Spitze mit einem breiten Grinsen wegwischt. »Vielleicht frage ich sie nächste Woche, ob wir gemeinsam mittags essen wollen. Tobi meint, in der TU-Mensa ist asiatische Woche, damit kann man nichts falsch machen.«
»Aber meide die Sommerrollen! Vor denen musst du dich wirklich in Acht nehmen«, warne ich. Beim Gedanken an das schleimige Häufchen Reispapier mit roher Gemüsefüllung dreht sich mir noch immer der Magen um.
»Oder wir gehen ins Café auf der Dachterrasse, wenn das Wetter gut ist. Dann lade ich sie auf ein oder zwei Panini ein. Meinst du, sie mag das?«
Während er völlig aufgekratzt seine erste Verabredung mit dem einzig wahren Mädchen der TUM plant, lasse ich mich auf meinen Sessel fallen. Er ist weinrot und mit edlem Samt bezogen. Abgesehen von meinem Bett gibt es kein bequemeres Möbelstück in unserer Wohnung. Irgendwann hat Paul das Thema weibliche Projektpartnerin abgegrast und setzt sich auch.
»He, wie war überhaupt dein Tag? Hattest du einen guten Start?«, fragt er mich munter. Da wir auf zwei verschiedene Unis gehen, sind unsere Semester etwas unterschiedlich getaktet, und Paul ist schon längst wieder mitten im Unialltag zurück.
»Na ja.« Ich zucke mit den Achseln und lümmele mich noch tiefer in die kuscheligen Samtpolster. Gedanklich lasse ich den Tag Revue passieren und stoße dabei ein mürrisches Schnaufen aus.
»Hoppla, das klingt aber gar nicht gut«, bemerkt Paul, der ein Meister in der Deutung meiner Äußerungen ist. Recht hat er.
Ich sehe mich gezwungen, mich noch einmal in aller Ausführlichkeit über Leopoldo Oberschnösel von Mistkerl auszulassen (inzwischen macht es richtig Spaß seinen Nachnamen zu verunstalten). Zum Ende hin sieht Paul so angewidert aus, als hätte ich ihn gerade gezwungen, eine Mensa-Sommerrolle zu essen.
»Hast du ein Glück, dass du den so schnell losgeworden bist! Hört sich ja wie ein richtiger Vollpfosten an.«
Ich stimme ihm aus tiefstem Herzen zu und bin wieder einmal froh, mit meinem Bruder auf einer Wellenlänge zu sein. Leider hält mein freudiges Gefühl geschwisterlicher Verbundenheit nur kurz an, denn Paul schneidet bereits ein neues Thema an. Und das liegt mir bereits seit Tagen im Magen wie Backsteine.
»Hast du schon was vom Museum gehört?«
Na prima. Paul trifft haargenau meinen wunden Punkt. Vor einigen Wochen habe ich mich auf eine Stelle als studentische Hilfskraft im Archiv des Nationalmuseums beworben und warte bisher vergeblich auf Antwort. Jetzt wird’s unangenehm für mich. Und das weiß er ganz genau.
Ich winde mich. »Nein.«
Paul zieht die Augenbrauen hoch, und ich ahme die Geste nach, indem ich die Schultern hochziehe. Mein großer Bruder und ich sind uns ziemlich ähnlich, vor allem äußerlich. Die gleichen silbrig blonden Haare, die permanent verwuschelt und zerzaust wirken, egal, wie oft wir sie kämmen. Dieselben blauen Augen, die laut Laras beharrlicher Behauptung angeblich violett sind. Unsere Gesichter sind herzförmig. Paul wirkt mit den vollen Lippen manchmal feminin, und meine Züge sind nur unwesentlich weicher als seine. Letztes Jahr sind wir an Fasching als Lucius und Draco Malfoy gegangen, was auf jeder Party supergut angekommen ist. Und obwohl er vier Jahre älter ist als ich, kennen wir uns in- und auswendig. In einem Alter, in dem die meisten Geschwister eigene Wege gehen und sich voneinander distanzieren, hat das Schicksal Paul und mich enger zusammengeschweißt als je zuvor.
»Du könntest anrufen und nachfragen, Initiative zeigen«, schlägt er vor. Seine Stimme klingt sanft, aber drängend.
Uargh,Initiative zeigen. Die Kombination dieser beiden Worte gehört ganz klar zu meinen TOP Drei der unliebsamsten Aussagen. Direkt hinter Sei doch nicht so schüchtern und Du musst ordentlicher sein. Alles Parolen, mit denen mich schon meine Eltern gemartert haben.
»Das kommt total aufdringlich rüber, das mache ich besser nicht«, murmele ich ausweichend und pule an meinem Daumennagel herum, an dem der rote Nagellack abblättert.
Paul schnaubt unwillig. »Du musst dich anstrengen, einen neuen Job zu finden. Wie lange ist es jetzt her, dass dein Vertrag bei diesem Auktionshaus auslief?«
Ich grummle eine Antwort.
»Was hast du gesagt? Ich verstehe dich so schlecht.«
Ich funkele meinen Bruder an. »Vor zwei Monaten.« Das war am Anfang der Semesterferien, und ich habe seitdem ehrlich gesagt wenig getan, um mich um eine neue Stelle zu kümmern. Es hat sich angefühlt, als hätte ich noch ewig Zeit. Plötzlich aber hat das neue Semester begonnen, und ich habe noch auf keine meiner Bewerbungen eine Rückmeldung erhalten.
»Es ist einfach wichtig für deinen Lebenslauf. Und dir fällt später der Berufseinstieg leichter, wenn du schon Erfahrungen gesammelt hast«, ermahnt mich Paul mit sanfter Stimme
Ich unterdrücke einen tiefen Seufzer und nicke. Er hat ja recht, leider.
Also verspreche ich Paul, mich mehr reinzuhängen. Er schaut mir noch einen Moment streng in die Augen, lässt den großen Bruder raushängen und nickt gnädig. Dann trollt er sich in die Küche, um das kulinarische Desaster zu beseitigen, das er angerichtet hat. Hoffentlich ist die Pfanne noch zu retten.
Das unbekannte Bild
Lara und ich kommen zu spät zu Professor Kippings Vernissage.
Dass wir uns verspäten, ist nichts Neues, aber ich sterbe dabei jedes Mal tausend Tode. Ich hasse es, unpünktlich zu sein, und immer, wenn ich mich verspäte, kommt es mir vor, als risse mir jemand die Zehennägel aus. Lara dagegen ist chronisch unpünktlich, das ist ihre größte Schwäche. Doch während ich innerlich Höllenqualen leide, ist Lara wie immer die Ruhe selbst. Summend schiebt sie ihr Fahrrad neben mir her und quatscht munter über ihre Schicht im Café. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum wir heute so spät dran sind. Laras kurzatmige Entschuldigungen und Begründungen sind im Lauf der letzten Jahre ineinander verschmolzen. Der vergessene Wohnungsschlüssel, ein Platten im Fahrrad, ein Anruf von ihrer Mutter. Lara ist überaus kreativ, wenn es um Ausreden geht.
Professor Kipping wohnt in einer Gegend, in der es monströse Villen in der besten Lage gibt. Man biegt am Friedensengel links ab und gelangt in eine Straße, die von herrschaftlichen Anwesen gesäumt ist. In der einbrechenden Dunkelheit brennt Licht hinter einigen Fenstern, und ich sehe von der Straße aus Kronleuchter glitzern. Ich frage mich, welche Menschen wohl in solchen Villen leben. Sind das glückliche, freundliche Leute oder fürchterliche Snobs, die sich am Esstisch anschweigen?
Zwei Straßen weiter nähern wir uns schließlich der Zieladresse. Ich erkenne das Haus schon von Weitem an der Festbeleuchtung. Beim Näherkommen entdecke ich Strahler im Vorgarten, die mehrere Banner an der Fassade beleuchten. Das sieht nicht aus wie ein Wohnhaus, sondern wir ein richtiges Museum, vielleicht die Villa Stuck, die sich hier ganz in der Nähe befindet. Ich beschleunige meine Schritte, weil wir jetzt schon über eine halbe Stunde zu spät dran sind und die Begrüßungsreden bestimmt schon angefangen haben. Meine Zehen krümmen sich vor Unbehagen in den Schuhen. Hoffentlich ist niemand mehr am Eingang, wenn wir kommen. Die monumentale Haustür steht einladend offen, und als wir eintreten, finden wir uns in einem noblen Foyer wieder, das größer ist als meine gesamte Wohnung. Geblendet blinzele ich hoch zu einem gigantischen tropfenförmigen Lüster, der aus Abertausenden Brillanten zu bestehen scheint. Plötzlich sehe ich den steinalten Professor Kipping mit völlig anderen Augen. Ein Glitzer-Funkel-Fan also, na, so was.
Im hinteren Teil des Foyers ist eine behelfsmäßige Garderobe eingerichtet, die heillos überladen ist mit Jacken und Mänteln. Nachdem wir unsere Jacken bei dem Mädchen abgegeben habe, das kaugummikauend an der Theke lehnt, beruhigt sich mein nervöser Herzschlag ein wenig. So, das wäre geschafft.
Wir steuern gerade auf die Flügeltür zu, hinter der uns die Stimmen der Gäste wie das monströse Summen eines Wespennests entgegenschlagen, als uns eine Person in den Weg tritt. Erschrocken bleibe ich auf der Stelle stehen. Unheilvoll wie ein Todesengel baut sich ein junger Mann vor uns auf, und ich kenne ihn genau: Viktor Seydel, Doktorand und Professor Kippings Assistent. In meinem ersten Semester hat er ein Tutorium geleitet, das ich besucht habe, und seitdem kann ich ihn nicht ausstehen. Viktor ist ein nervtötender Besserwisser, der immer zu leise spricht und aussieht wie Draculas Neffe (wodurch er Professor Kipping frappierend ähnelt) – hochgewachsene, hagere Statur, immer dunkle Ringe unter den Augen und ein bleiches, verkniffenes Gesicht. Seine Haare sind schwarz und glänzen wie das Gefieder eines Raben, wozu auch seine dunklen Knopfaugen passen. Für mich ist er der Inbegriff eines klischeehaften Psychokillers aus einem billigen Krimi. Ich kann ihn mir super mit irrem Blick und blutiger Axt vorstellen.
Heute Abend steckt er in einem schicken Anzug und mustert uns mit lauerndem Blick.
»Guten Abend, die Damen.« Seine Stimme ist schon wieder so leise, dass ich am liebsten ein antikes Hörrohr auspacken würde, das die Leute in alten Filmen benutzen.
»Sie wissen, dass die Veranstaltung bereits vor über fünfundvierzig Minuten begonnen hat?«
Lara lächelt Viktor zuckersüß an. »Wir wurden leider aufgehalten. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind einfach eine Katastrophe«, flötet sie, doch ihr Charme perlt an ihm ab wie Wasser auf einem Regenschirm. Er blinzelt nicht einmal, und seine Miene bleibt unverändert missbilligend. Ich habe es schon öfter miterlebt, bin aber immer wieder erstaunt, wie Lara in brenzligen Situationen Notlügen aus dem Ärmel schüttelt, ohne mit der Wimper zu zucken. Bestimmt gibt es in ihrem Gehirn ein eigenes Hängeregister mit vorgefertigten Ausreden.
Viktor mustert uns noch einen Moment lang mit sauertöpfischer Miene, dann bedeutet er uns mit einem energischen Kopfrucken, ihm zu folgen. »Aber bitte unterlassen Sie Ihr ständiges Schwätzen, die Begrüßungsrede des Dekans ist schon in vollem Gang«, erklärt er salbungsvoll, während sein giftiger Blick zu sagen scheint: Und genau diese Rede verpasse ich wegen euch zwei Gänsen. Ist er nicht ein bisschen zu alt, um die beleidigte Leberwurst zu spielen? Lara rollt hinter seinem Rücken mit den Augen und streckt ihm die Zunge heraus.
Im nächsten Moment vergesse ich Viktor den Vampir und bleibe staunend stehen. Kippings Assistent hat uns in einen riesigen Salon voller Gäste geführt. Sie stapeln sich quasi bis unter die Decke. Obwohl alle andächtig schweigend der Rede des Dekans lauschen, liegt ein erwartungsvolles Summen in der Luft. Mit ihren Sektgläsern in der Hand warten alle Hufe scharrend darauf, die Ausstellungsräume zu stürmen. Die Luft ist heiß und stickig und angereichert mit einer atemraubenden Parfumwolke. Ich sehe jede Menge juwelengeschmückte Hälse und Designerhandtaschen. Als ein ohrenbetäubender Applaus losbricht, hat der Dekan seine Rede wohl beendet. Ich war viel zu beschäftigt damit, mich umzusehen, als dass ich auch nur ein Wort mitbekommen hätte. Professor Kipping erklärt die Ausstellung für eröffnet, und wie eine große Schafherde verlassen die Gäste den Raum. Es dauert lange, bis sich alle durch die zwei Türen gequetscht haben und sich die Menge endlich lichtet. Trotzdem schaffe ich es, Lara in dem Gedränge aus den Augen zu verlieren. Wütend starre ich auf meine dunkelblauen Samtslipper, während ich in der Schlange darauf warte, in die Ausstellungsräume zu gelangen. Das sind meine Lieblingsschuhe, sie sind mit silbernen Sternen bestickt und vorn spitz zulaufend. Schleichend langsam schaffe ich es aus dem Salon in die angrenzende Räumlichkeit. Es ist ein riesiger rechteckiger Raum mit hellblau-silbriger Tapete, die seidig schimmert. An den Wänden hängen dicht an dicht Gemälde in prächtigen Rahmen, doch es drängen sich so viele schnatternde Menschen davor, dass ich kaum etwas erkenne. In der Mitte stehen Glasvitrinen, in denen Zeichnungen und Grafiken ausgestellt sind. Ich werde hin und her geschubst, während ich den Kopf recke, um nach Lara Ausschau zu halten. Ich schiebe mich in den nächsten Raum, er ist oval, mit grüner Tapete, und in einer Ecke ist ein Büfett mit Häppchen und Getränken aufgebaut. Auch hier entdecke ich Lara nicht, deshalb gehe ich weiter.
Und dann erreiche ich ein Zimmer in Rot, in dem endlich weniger los ist. Hier stehen nur Grüppchen von alten Männern herum, die mit gewichtigen Mienen über Ausstellungsstücke hinter Glas diskutieren. Ich atme einen Moment lang durch, froh, dem lärmenden Gedränge entkommen zu sein. Professor Kippings Villa ist äußerst geräumig, aber bei so viel Andrang platzt sie als allen Nähten. Bei der Planung haben sich die Organisatoren wohl mit dem Besucheransturm verschätzt. Ich drehe eine Runde und bleibe schließlich bei den Vitrinen in der Mitte stehen. Wie in Schaukästen beim Juwelier sind hier vergilbte Pergamentseiten ausgestellt, die mich magischer anziehen als sämtliche Brillanten dieser Welt. Neugierig beuge ich mich über die Auslage. Was ich da sehe, kommt mir bekannt vor und beschleunigt meinen Herzschlag. Sepiafarbene Tusche, verschlungene Handschrift und charakteristische Skizzenzeichnungen. Ich entdecke ein Infokärtchen, und meine Augen werden immer größer.
Gesammelte Blätter, Leonardo da Vinci, um 1480, Florenz, Sammlung Kipping, München.
Ich fasse es nicht. Professor Kipping besitzt Skizzenblätter von Leonardo da Vinci? Dann sind die Gerüchte also zutreffend. Ich presse die Hände flach auf das Glas und starre hin wie hypnotisiert. Kein Zweifel, das sind sie.
Ich beuge mich so dicht über den Glaskasten, dass mein Atem an der Oberfläche kondensiert. Begeisterung pumpt wie eine Droge durch meinen Körper. Ich kann die verschlungene Handschrift auf dem Pergament nicht lesen. Entweder kann ich die alte Schreibschrift einfach nicht entziffern, oder Leonardo hat einmal mehr in Spiegelschrift geschrieben, um seine Erkenntnisse zu schützen. Was ihm in diesem Fall gelungen wäre, da ich nichts verstehe. Neugierig beuge ich mich weiter hinunter, und meine Nase drückt sich fast am Glas platt. Mit akkuraten Federstrichen sind Tabellen auf das Pergament gezeichnet, die mit Zahlen, Daten und merkwürdigen Symbolen gefüllt sind. Der Rand um die Tabellen herum ist bedeckt mit anderen Symbolen und Gleichungen. Mir stockt der Atem. Sind das Sternenkonstellationen?
Ich blinzele, und plötzlich ist es mir klar. Hektisch huscht mein Blick über das Papier. Die nachlässig hingekritzelten Symbole am Rand sind die Tierkreiszeichen. Spontan erkenne ich Schütze, Waage und Stier. Und jeweils daneben sind die skizzierten Sternenkonstellationen, die mit Verbindungslinien verknüpft das jeweilige Sternzeichen ergeben. Eine astronomische Studie! Ich zermartere mir das Hirn, kann mich aber nicht erinnern, jemals etwas darüber gehört oder gelesen zu haben, dass Leonardo astronomische Forschungen betrieben hat. Zweifellos war er das größte Universalgenie, das je gelebt hat. Er beschäftigte sich mit so vielen Themen gleichzeitig, dass er selten etwas zu Ende brachte. Er konstruierte die ersten Panzer, Taucheranzüge und Fluggeräte, die zwar nie gebaut wurden, aber technisch einwandfrei konzipiert sind. Diese Blätter sind ein weitere Aspekt seines faszinierenden Genies. Eigentlich kommt es mir ganz logisch vor, dass er sich neben Mechanik und Anatomie auch mit dem Himmel auseinandergesetzt hat. Das sind detaillierte Aufzeichnungen, Messungen und Forschungsergebnisse, Jahre, bevor Galileo seine bahnbrechenden Werke über den Kosmos veröffentlichte.
Mein Mund ist so trocken wie Sandpapier, während ich in den Glaskasten starre. Ich fühle mich benommen und elektrisiert zugleich. Wie konnten diese Blätter nur so lange ein Geheimnis bleiben? Warum hat Professor Kipping sie nicht schon längst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht? Wie lange hat er sie überhaupt schon in seinem Besitz? Ich muss mich unbedingt mit ihm unterhalten! Hektisch huscht mein Blick über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Es wird bestimmt schwer, ihn an diesem Abend zu erwischen. Nicht nur ich bin begeistert angesichts der Astronomieblätter, und ich bin nur eine kleine Studentin. Bestimmt belagern ihn die anderen Professoren und Experten schon den ganzen Abend. Aber vielleicht kann ich ja ein paar Wortfetzen aufschnappen, wenn ich mich in ihrem Umkreis herumdrücke.
Wie eine Schlafwandlerin durchstreife ich die Ausstellungsräume auf der Suche nach Professor Kipping. Es ist schwerer als gedacht, ihn zu finden. Aber da! Das war ganz sicher sein kahl glänzender Hinterkopf, und er ist gerade durch die Flügeltür in den angrenzenden Raum verschwunden. Ohne lange zu überlegen, folge ich ihm. Doch statt hinter der Tür in einen weiteren Raum der Ausstellung zu gelangen, finde ich mich in einem dunklen Flur wieder. Ich zögere einen Moment lang. Offenbar beginnt ab hier der private Wohnbereich, der nichts mehr mit der Vernissage zu tun hat. Ich will mich gerade wieder umdrehen, da ertönen Stimmen hinter der Tür, durch die ich gerade gekommen bin.
»Hier entlang bitte! Das gute Stück befindet sich im hinteren Teil des Hauses.«
Ich erkenne Viktors Stimme. Mist, ich will hier nicht ertappt werden und am allerwenigsten von Kippings gruseligem Assistenten! Wahrscheinlich wirft er mich sofort hochkant hinaus, weil ich hier absolut nichts verloren habe. So leise wie möglich eile ich den Flur entlang und schlüpfe durch eine angelehnte Tür. Dahinter befindet sich eine Bibliothek mit hohen Regalen, bis unter die Decke angefüllt mit Büchern. Eigentlich müssten mir bei diesem Anblick Freudentränen in die Augen steigen, doch dafür habe ich jetzt keine Zeit. Hinter mir höre ich Stimmen und Schritte näher kommen. Viktor unterhält sich gedämpft mit seiner Begleitung. Mit rasendem Herzschlag haste ich durch die Bibliothek. Durch hohe Fenster fallen Streifen von Mondlicht auf den gewienerten Parkettboden. Zum Glück ist nirgends eine Spur von Professor Kipping zu sehen. Das wäre natürlich der Obergau – auf der Flucht vor Viktor ausgerechnet seinem Chef in die Arme zu laufen.
Ich hetze durch zwei anschließende Zimmer, die völlig identisch eingerichtet sind, über einen kurzen Flur, und erreiche nach zwei Weggabelungen ein Treppenhaus. Im Gegensatz zu der prächtigen Marmortreppe im Foyer wirkt dieser Aufgang vergleichsweise schlicht. Es ist vermutlich die alte Dienstbotentreppe. Ohne weiter nachzudenken, steige ich hinauf. Dort oben verharre ich eine Weile, bis ich mich überzeugt habe, dass die Luft rein ist. Wo auch immer Viktor seinen Begleiter hinführen wird, mit dem hinteren Teil des Hauses hat er bestimmt nicht unter dem Dach gemeint. Oh Gott, in so eine Zwickmühle habe ich mich noch nie gebracht! Ich erwäge kurz, ganz oben auf dem Treppenabsatz sitzen zu bleiben, entscheide mich dann aber doch, stattdessen hinter der Tür in Deckung zu gehen. Wie bereits vermutet, ist es der Zugang zum Dachboden. Mich erwartet aber kein niedriger Speicher voller Staub, sondern ein voll ausgebautes Stockwerk. Unter dem Mansardendach ist jede Menge Platz, bestimmt an die zweihundert Quadratmeter, und ich kann problemlos aufrecht stehen. Große Gaubenfenster lassen die matte Helligkeit der nächtlichen Stadt herein. Als sich meine Augen an das schummrige Licht gewöhnt haben, fällt mir vor Staunen die Kinnlade herunter.
Der Raum ist voller Gemälde. Sie stehen auf Staffeleien oder lehnen nachlässig an der Wand. Viele haben keine Rahmen, manche dafür schwere, prächtige Einfassungen in Gold. In der Mitte ist eine meterlange niedrige Glasvitrine aufgebaut, in der sich Aberdutzende Zeichnungen befinden. Ich laufe wie ein Gespenst durch den Dachboden, völlig gefangen genommen von den Schätzen, die hier lagern. Die Ölgemälde schimmern wie Perlmutt. Eins haben sie alle gemeinsam – sie sind in meinen Augen absolute Meisterwerke. Eins exquisiter und prächtiger als das andere. Aber ich kenne keins davon, was mich total verwirrt. Eine Sache, die mich schon mein gesamtes Leben lang begleitet, ist mein fabelhaftes Bildgedächtnis. Es hat mich selten im Stich gelassen, und jetzt stehe ich hier, inmitten von Dutzenden Kunstwerken, und kein einziges kommt mir annähernd bekannt vor. Bei näherer Betrachtung kann ich einige stilistisch ungefähr einordnen, bei anderen kommt mir das Motiv entfernt bekannt vor, aber mehr auch nicht. Da ist zum Beispiel eine Madonna mit Christuskind, die in einer Fensteröffnung sitzt. Neben ihr steht ein Korb voller Granatäpfel. Der Stil sieht venezianisch aus, Tizian vielleicht. Ich habe schon einige Marienbilder mit Granatäpfeln gesehen, aber die ganze Komposition ist mir fremd. Vielleicht ein verschollenes Frühwerk, überlege ich, oder die Arbeit eines brillanten Schülers.
Stirnrunzelnd gehe ich weiter. Je tiefer ich in den Speicher vordringe, desto düsterer werden die Bildthemen. Blutige Märtyrerszenen, Illustrationen der Hölle und der leidende Christus am Kreuz. Einige andere… sind einfach entsetzlich. Porträts, bei denen den Dargestellten die Haut in blutigen Streifen vom Schädel hängt. Albtraumbilder in unheilvollem Grün und Rot, die alles Schauerliche übertreffen, was ich je gesehen habe. Die Bilder sehen aus wie vergiftet. Ich würde so etwas nicht einmal in einem modrigen Keller lagern. Mit mulmigem Gefühl und einem Frösteln wende ich mich von dieser Sammlung ab und kehre zurück in die vordere Hälfte des Dachbodens. Es fühlt sich an, als wäre hier die Temperatur ein paar Grad höher.
Und dann entdecke ich sie. Ganz ohne Zweifel, mit absoluter Sicherheit ist es ein Frauenporträt von Botticelli. Sandro Botticelli, der Vater der berühmtesten Venus der Welt. Botticelli, dessen Bilder von einer idealen, beinahe überirdischen Schönheit sind. Ich würde ein Bild von ihm unter Hunderten erkennen. Das Gemälde zieht mich geradezu magisch an. Fast kommt es mir so vor, als glimme es im Zwielicht. Das Gemälde zeigt eine Frau. Sie steht frontal zum Betrachter, das rechte Bein zeichnet sich unter ihren wallenden Gewändern ab, als ginge sie gerade einen Schritt nach vorn. Die nackten Zehen lugen unter dem Saum hervor. Das blonde Haar ergießt sich prächtig geflochten bis zu den Hüften, und den Scheitel krönt ein Diadem, in dessen Mitte ein Auge gefasst ist. In der linken Hand hält sie einen grünen Zweig, und mit der Rechten hat sie stolz, ja beinahe zornig ein Schwert erhoben. Außerdem besitzt sie ein Flügelpaar aus roten und blauen Federn. Ihre Gestalt ist ein prächtiger und einschüchternder Anblick. Mein Blick wandert weiter nach unten. Links und zu ihren Füßen hockt ein Greif, ergeben wie ein Schoßhündchen. Zu ihrer Rechten kauert ein Löwe, der eine goldene Wappenkette um den Hals trägt. Der Löwe sieht richtig wütend aus. In seinen Augen funkelt mörderische Wut, und fauchend hebt er die rechte Tatze. Der Hintergrund zeigt eine toskanische Ideallandschaft, charakteristisch für den Stil jener Zeit. Am Horizont erhebt sich die Silhouette einer Stadt mit einem prominent darüber hinausragenden Gebäude. Der Palazzo Vecchio in Florenz.
Neugierig beuge ich mich näher vor und betrachte den winzig klein gemalten Regierungspalast mit dem hoch aufragenden Turm. Ich erkenne sogar die Fenster, an denen sich seltsame dunkle Schemen befinden. Ich kneife die Augen zusammen und begreife schließlich, dass es menschliche Körper sind, die da an Stricken aus den Fenstern hängen. Ich schaudere und weiche zurück. Dann schließe ich die Augen und atme tief durch, rufe mich zur Ruhe. Schließlich reiße ich sie blitzschnell wieder auf, doch das Bild ist nach wie vor vorhanden. Erst dann traue ich mich, das Gesicht der Frau noch einmal zu betrachten. Genauer jetzt und mit mehr Konzentration. Das, was mir zu allererst aufgefallen war, sticht mir jetzt mit unbarmherziger Klarheit ins Auge. Ich blicke in meine eigenen Züge. Es ist nicht tatsächlich mein Gesicht, die Hand des Meisters hat es vervollkommnet, überirdisch überhöht, doch ich erkenne mich zweifellos wieder. Meinen Mund, die Form meiner Augen, die Art, wie ich den Kopf halte. Um meine Lippen spielt ein rätselhaftes Lächeln, das wenig mit der bedrohlichen Aura meiner restlichen Erscheinung zu tun hat. Der Blick aus meinen Augen wirkt versonnen, entrückt, beinahe …verliebt. Im nächsten Moment fällt mir ein winziges Detail auf. Hauchzart, golden schimmernd windet sich eine Gliederkette vom rechten Fußknöchel zur Halskette des Löwen. Diese Frau und der Löwe sind aneinander gebunden, wenn auch nur mit einem hauchfeinen Kettchen. Mir schwindelt vor Schreck und Faszination. Das bin nicht ich. Das kann nicht ich sein! Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, während ich zu überschlagen versuche, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sandro Botticelli im fünfzehnten Jahrhundert mein historisches Double malen konnte. Ich komme auf keinen vernünftigen Nenner, und das beweist nur, wie völlig verrückt das ist. Natürlich kenne ich die Theorie, dass statistisch gesehen jeder Mensch mehrere Doppelgänger hat. Aber sie erklärt nicht das merkwürdige Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Es fühlt sich vertraut an, dieses Gemälde zu betrachten, obwohl ich es noch nie zuvor gesehen habe. Was genau zeigt es überhaupt? Eine geflügelte Frau mit drohend erhobenem Schwert, begleitet von Löwe und Greif. Die Tiere und das Schwert sind ganz sicher Attribute, doch ich komme nicht darauf, zu welcher Figur sie gehören. Eine Göttin oder eine Allegorie? Sollte es Letzteres sein, wird die Sache schwierig. Botticellis allegorische Darstellungen stellen die Forschung bis heute vor ungelöste Rätsel. Vieles kann nicht eindeutig entschlüsselt und gedeutet werden. Sein berühmtes Gemälde La Primavera zum Beispiel ist immer noch nicht vollständig enträtselt.
Ich stehe inzwischen so dicht vor dem Bild, dass ich beinahe mit der Nasenspitze dagegenstoße. Aus solcher Nähe sehe ich, wie viel Goldfarbe der Künstler verwendet hat. Vorsichtig, fast schüchtern streife ich mit der Fingerspitze über das mit Goldfäden durchwirkte Haar der Frau. Und dann passiert es. Ein sanftes Vibrieren steigt von meiner Fingerspitze den ganzen Arm herauf und breitet sich rasend schnell in meinem restlichen Körper aus. Reflexartig will ich die Hand zurückziehen. Bestimmt ist das eine Art Bewegungsmelder, und jeden Moment heult die Alarmanlage los … Doch ich kann mich nicht bewegen. Stattdessen zieht es mich wie magnetisch näher zu dem Bild hin. Inzwischen liegt meine flache Hand auf der Leinwand. Wärme schlägt mir entgegen, und gleißend helles Licht umgibt mich jäh von allen Seiten. Ich will schreien, doch ich höre meine eigene Stimme nicht in dem tosenden Strudel, der ringsum aufbrandet. Ein Ruck durchfährt meine Hand, als würde jemand vom anderen Ende der Leinwand meine Finger packen und fest anziehen. Ich stolpere vorwärts, und im nächsten Moment löst sich die Welt ringsum auf.