Framed Feelings (Golden Hearts, Band 1) - Marina Neumeier - E-Book

Framed Feelings (Golden Hearts, Band 1) E-Book

Marina Neumeier

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Beschreibung

Framed Feelings ist SPIEGEL-Bestseller! Er hat ein Problem. Sie ist seine Lösung. Lilli Herzog atmet Kunst. Bis sie einen fatalen Fehler bei der Beurteilung eines eingelieferten Gemäldes macht und damit nicht nur ihrem eigenen Ruf schadet, sondern auch dem des traditionsreichen Auktionshauses ihrer Familie. Als ihr daraufhin der junge Galerist – und ihr auserkorener Erzfeind – Vincent Saint Clair eine Chance auf Wiedergutmachung bietet, ist Lilli alles andere als begeistert. Doch die exklusive Kooperation klingt zu verlockend. Lilli geht den Pakt mit dem Teufel ein und begibt sich mit ihm auf die Suche nach einer verschollenen Bildhauerin. Zwischen Kunst und Glamour kommen die beiden nicht nur ihrem Ziel immer näher, sondern auch einander … Enemies-to-Lovers in der Kunstwelt Münchens Kunst meets High Society in dieser spicy Enemies-to-Lovers-Romance: Mit dem Auftakt zu ihrer neuen New-Adult-Reihe entführt uns Marina Neumeier in ein München voller Kreativität, Glamour und Gossip Girl-Vibes.

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Inhalt

Playlist

PrologVor einem Jahr

1LILLIEin Jahr späterFreitag, 04. 10.

2SAINT CLAIRKaum ist die …

3LILLISamstag, 05. 10.

4SAINT CLAIRAchtung, Achtung, die …

5LILLISamstag, 05. 10.

6LILLIMontag, 07. 10.

7LILLIMittwoch, 09. 10.

8SAINT CLAIRGespottet: @lilli.herzog.art zu …

9LILLIDienstag, 15. 10.

10SAINT CLAIRDer Aufreger der …

11LILLISamstag, 19. 10.

12LILLISonntag, 20. 10.

13VINCENTEin weiser Mensch …

14LILLIMontag, 21. 10.

15LILLIMontag, 21. 10.

16VINCENTZugegeben, wir dachten …

17LILLISamstag, 26. 10.

18LILLIDonnerstag, 31. 10.

19LILLIFreitag, 01. 11.

20VINCENTAlle Zeichen stehen …

21LILLIFreitag, 01. 11. – Sonntag 03. 11.

22LILLIDonnerstag, 07. 11.

23VINCENTObacht, Münchnerinnen, Münchner …

24VINCENTNa, haben wir …

25LILLIFreitag, 08. 11.

26LILLISamstag, 09. 11.

27LILLISamstag, 09. 11.

28VINCENTKommt es nur …

29LILLIFreitag, 22. 11.

30LILLISamstag, 23. 11. – …

31VINCENTWir wussten ja …

32VINCENTWusstet ihr, dass …

33LILLIDienstag, 03. 12.

34LILLIMittwoch, 04. 12. – 13.12

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

Playlist

All Too Well (10Minute Version) (Taylor’s Version) (From The vault) – Taylor Swift

London Boy – Taylor Swift

Delicate – Taylor Swift

»Slut!« (Taylor’s Version) (From The Vault) – Taylor Swift

Dress – Taylor Swift

Cruel Summer – Taylor Swift

High – Stephen Sanchez

Die For You – The Weeknd

Ohne dich (schlaf’ ich heut Nacht nicht ein) – Münchener Freiheit

Call It What You Want – Taylor Swift

edamame – bbno$, Rich Brian

I’ll Be Good – Jaymes Young

champagne problems – Taylor Swift

End Game – Taylor Swift, Ed Sheeran, Future

Prolog

Vor einem Jahr

@muenchner_kindel

Liebe Münchnerinnen, Münchner und alle, die es gern wären (aber zu wenig Kohle dafür haben, let’s be honest): Wir haben die 500k Follower geknackt  Während wir die Champagnerkorken knallen lassen, begrüßen wir alle Neuen mit dem Versprechen, dass ihr bei uns stets den heißesten Gossip und alle Blind Items über die glitzernde Schickeria bekommt. Und so viel sei gesagt: Die High Society ist sich nie für einen Skandal zu schade, und erst kürzlich hat uns ein Vögelchen gezwitschert, dass eine gewisse tadellose Erbin womöglich nicht ganz so lupenrein ist, wie sie uns immer hat glauben lassen.

Nachricht senden

Wenn Geld einen Geruch hätte, würde es wie die Luft im großen Auktionssaal von Herzog Auktionen riechen, die vor Anspannung vibriert. Eine betäubende Mischung aus Parfüm, schalem Champagner und Mottenkugeln.

Geld riecht nicht nach abgegriffenen Papierscheinen oder dem Metall angelaufener Münzen. Das hier ist die wahre Essenz von Reichtum und Wohlstand und ich bin mittendrin, direkt hinter dem Auktionspodium positioniert, von wo aus ich den gesamten Saal im Blick habe. Die Versteigerung ist bereits in vollem Gang und mein Herzschlag trommelt im Takt der Gebote, die in immer rasanterem Tempo eingehen. Heute ist ein guter Tag für Herzog Auktionen, das Unternehmen meiner Familie, und wenn alles klappt, könnte er mit einem verdammt wichtigen Triumph für mich enden. Zum gefühlt hundertsten Mal, seit die Versteigerung vor über einer Stunde begonnen hat, werfe ich einen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr. Nicht mehr lange. Ich kenne den Katalog mit den Exponaten, die zum Verkauf stehen, praktisch auswendig und habe genau im Kopf, wann Los 115 aufgerufen werden wird.

Sooft ich auch schon bei Versteigerungen dabei war, die Aufregung packt mich jedes Mal aufs Neue. Sie lässt meine Hände schwitzig werden und meine Gedanken klar und konfus zugleich. Ganz egal, ob ich nur mit wachsamen Augen am Rand stehe oder zusammen mit anderen aus dem Team links vom Auktionatorenpodium an der Wand sitze und Bietende live am Telefon betreue. Eine Auktion ist immer ein Spektakel und ich liebe alles daran. Den Nervenkitzel, die Jagd nach dem besten Gebot, die zu regelrechten Schlachten ausufern kann, die Niederlagen. Alles kann passieren. Rekordsummen und horrende Enttäuschungen gehen nahtlos ineinander über, dramatischer, als jede Bühneninszenierung es je sein könnte.

Doch heute ist es anders, tausendfach aufregender, da ich gewissermaßen selbst ein Pferd ins Rennen schicke. Diese Auktion ist meine Feuerprobe als zukünftige Auktionatorin und doppelt wichtig, weil ich mich als Tochter des Hauses unter Beweis stellen will. Manchmal habe ich das Gefühl, dreimal so hart für die Anerkennung der Kunstwelt und des Teams von Herzog arbeiten zu müssen, weil ich mit diesem Privileg geboren wurde. Aber ich bin bereit, es allen zu beweisen.

Dabei habe ich nie dort oben gestanden, auf dem Podium der Auktionatoren. Mein persönlicher Sehnsuchtsort, der der Person zuteilwird, die das Geschehen im Saal in der Hand hat. Der Dirigent inmitten dieses Wahnsinns aus Gier, aufkeimender Panik, FOMO und Adrenalin.

Bei einer Auktion treten die besten und schlechtesten Eigenschaften der Menschen zutage, sagt mein Vater so gern und ich stimme ihm vollkommen zu. Ich habe hier schon seriöse Geschäftsleute gesehen, die Trotzanfälle wie Kleinkinder bekommen haben, nachdem ihnen ihr Wunschlos vor der Nase weggeschnappt wurde. Menschen, die Summen im Gegenwert eines Einfamilienhauses für eine von Franz Marc geschriebene Postkarte ausgegeben haben. Aber auch Verkäufer, denen beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen sind, als sie gesehen haben, für welchen Preis das unscheinbare Gemälde verkauft wurde, das sie von ihren Großeltern geerbt hatten. In einer Auktion ist alles möglich und genau darin besteht ihr Reiz.

Von meiner Position aus habe ich die schlanke Person hinter dem Podium ständig im Blick. Meine Mutter steht dort oben wie eine Galionsfigur, erfüllt von ruhiger Gelassenheit und mit einer cleveren Schlagfertigkeit geschickt dafür sorgend, dass zögerliche Bieter sich doch noch einen Ruck geben. Oder dass Stücke einen Käufer finden, bei denen wir uns zunächst unsicher waren, ob sie Anklang finden würden. Nichts, ich schwöre, absolut gar nichts, kann an der Bestimmtheit und dem Selbstbewusstsein von Henriette Herzog rütteln, wenn sie eine Auktion leitet. Zierliche Ringe und ihre geliebte Patek Philippe glänzen im Licht der Scheinwerfer, die auf das Kopfende des Saals gerichtet sind, während sie gestikulierend auf den jeweiligen Bieter deutet. Ihr glattes dunkelblondes Haar, das ich von ihr geerbt habe, ist in einen eleganten Chignon zurückgebunden und so, wie die anwesende Menge ihr aus der Hand frisst, könnte sie ihnen auch einen Sack vergammelter Kartoffeln für einen Millionenpreis verkaufen. Mama ist mein großes Vorbild. Sie und mein Vater – und ich arbeite, seit ich ein Kind war, mit eisernem Willen darauf hin, eines Tages in ihre Fußstapfen zu treten: das Familienunternehmen zu übernehmen und wie sie dort oben die Fäden in der Hand zu halten. Ein winziger, destruktiver Teil von mir ist zwar hartnäckig davon überzeugt, dass ich niemals an sie heranreichen könnte, egal, wie sehr ich mich anstrenge, aber meistens gelingt es mir, diese Stimme kleinzuhalten. Don’t let the imposter syndrome get you down und so.

Ich strecke meinen Rücken durch, als meine Mutter den kleinen Holzhammer mit einem Knall niedersausen lässt und damit einen Zuschlag besiegelt. Los 114 ist für großartige 10.000Euro verkauft worden, womit es seinen ursprünglichen Schätzpreis verdoppelt hat. Das Publikum ist heute in ausgezeichneter Kauflaune, was eine weitere Welle Adrenalin durch meine Adern schickt. Mit Argusaugen beobachte ich die beiden Aushilfen, die das eben verkaufte Bild von der Bühne tragen, sorgsam darauf bedacht, es nicht zu beschädigen.

Schon im nächsten Moment ist es so weit: Ein junger Mann, dezent in Schwarz gekleidet und mit weißen Baumwollhandschuhen versehen, tritt mit Los 115 in den Händen vor das Podium. Mein Los. Nicht, dass es mir gehören würde, aber ich habe es in unser Auktionshaus geholt. Meine erste eigene Akquise.

»Nun folgt Los Nummer 115.« Sobald die melodische Stimme meiner Mutter den Raum erfüllt, reckt die Menge prompt die Hälse. »Die zauberhafte Zeichnung eines Sommerblumenstraußes von Gabriele Münter. Öl und Kreide auf Papier. Eine Rarität aus dem Jahr 1920, die aus Privatbesitz stammt und noch nie zum Verkauf stand.«

Gerade fühlt es sich so an, als würde purer Strom durch meine Adern fließen. Da sind so viele leuchtende, begierige Blicke, die sich auf das kleine Bild in seinem schlichten Holzrahmen richten. Eine Stimmung vibriert in der Luft, die Begeisterung und Gier verspricht. Genau die richtige Mischung.

Ehrlich gesagt kann ich noch immer nicht glauben, dass es mir tatsächlich gelungen ist, eine Zeichnung von Gabriele Münter in die Auktion zu holen. Münter, die neben Franz Marc und Wassily Kandinsky Mitglied der berühmten Kunstgruppe Der blaue Reiter war. Eine Frau, was mir besonders viel bedeutet, und darüber hinaus eine Künstlerin, die in München und im nahen Voralpenland lebte und arbeitete. Da wird es zur Nebensache, dass mein Ex-Freund Konstantin mir das Bild aus dem Fundus seiner Familie zum Verkauf angeboten hat. Nach knapp zwei Jahren Beziehung sind wir seit einigen Wochen frisch getrennt und ich bin wirklich erleichtert, wie gut die Dinge zwischen uns stehen. Unsere Trennung ist zwar von mir ausgegangen, war jedoch einvernehmlich, ohne dass es böses Blut gibt. Konsti und ich haben uns einfach auseinandergelebt und gemerkt, dass unser anfängliches Verliebtsein freundschaftlichen Gefühlen gewichen ist. Wir mögen uns weiterhin, wofür ich echt dankbar bin, und die Tatsache, dass er mit dem Münter-Bild zu mir gekommen ist, beweist ultimativ, dass es am Ende einer Beziehung nicht immer einen Rosenkrieg geben muss. Meine beste Freundin Nova versteht es zwar absolut nicht, wie ich Konsti weiterhin in meinem Bekanntenkreis haben kann, aber sie ist in solchen Dingen grundsätzlich anders gestrickt.

Ein gedämpftes Murmeln geht durch das Auktionspublikum und für einen winzigen Moment findet der Blick meiner Mutter meinen. Ich glaube, Stolz in ihren Augen aufblitzen zu sehen und einen warmen Ausdruck, der mich ermutigt. Garantiert sieht sie mir meine Nervosität angesichts des Verkaufs an. Für meine Arbeit im Auktionshaus kommen diese Minuten einem Ritterschlag gleich, einer Hürde, die ich nehmen muss, um meinem Ziel einen Schritt näher zu kommen.

»Da bereits ein schriftliches Gebot von 23.000 vorliegt, beginnen wir mit dieser Summe. Wer möchte höher gehen?«

Mein Rücken tut bei meiner stocksteifen Haltung weh, allerdings habe ich die irrationale Furcht zusammenzuklappen, sollte ich nur einen Muskel locker lassen. Meine Kollegin Lucia, die einen Bieter am Telefon betreut, spricht in rasantem Tempo in den Hörer und hebt kurz darauf die Hand.

»23.500«, verkündet sie laut.

Meine Mutter nickt und macht sich eine Notiz. »Dreiundzwanzig fünf für Lucia am Telefon. Wer bietet mehr?«

Bewegung kommt ins Publikum und erst denke ich, dass jemand für ein Gegengebot die Hand heben will, doch … ein Mann in biederem Hemd und Pullunder steht auf. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es während besonders hitzigen Auktionen zu Unruhe unter den anwesenden Interessenten kommt, aber … das ist schräg. Er steht einfach nur da und starrt nach vorn.

Meine Mutter, die jede Regung im Saal wachsam verfolgt, um keinen Fingerzeig zu verpassen, hält inne und neigt den Kopf. »Wenn Sie bieten wollen, genügt es, ein Handzeichen zu geben«, sagt sie freundlich, wenn auch unverkennbar irritiert.

Der Mann – unscheinbar, etwa Ende dreißig, mit zurückgekämmtem braunem Haar und runder Hornbrille – schüttelt bloß den Kopf. Sein Blick klebt wie hypnotisiert an der Zeichnung und für einen Moment steigt die irrationale Angst in mir auf, er könnte etwas Katastrophales planen, wie das Bild mit einer Farbbombe attackieren oder nach vorn stürmen und es vor versammelter Mannschaft stehlen. Sofort bin ich bereit, mich ihm notfalls in den Weg zu werfen.

Aber er rührt sich nicht von der Stelle, sondern öffnet den Mund und sagt: »Mein Name ist Richard Gabler, ich schreibe für Kultur Heute.« Er legt eine bedeutungsschwangere Pause ein und lässt den Blick von meiner Mutter zu mir schweifen. In seinem Ausdruck liegt etwas, das mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagt. Was auch immer er will, es scheint nichts Gutes zu sein. »Im Vorfeld der Versteigerung habe ich versucht, das Auktionshaus Herzog bezüglich meiner Bedenken zu erreichen, jedoch wurde auf keinen meiner Kontaktversuche reagiert, sodass ich mich zu diesem Schritt gezwungen sehe. Es tut mir sehr leid, aber dieses Kunstwerk darf nicht verkauft werden.«

Ich schaffe es nicht, Sauerstoff in meine Lunge zu befördern. Meine Kehle wird mit einem Mal so eng, dass ich nicht einmal schlucken kann, geschweige denn atmen. Schwarze Punkte tanzen vor meinem Sichtfeld und ich blinzele heftig, damit sie verschwinden.

Das … das muss ein Scherz sein. Ein geschmackloser, niederträchtiger Scherz der Presse, um uns zu schaden. Keine Ahnung, warum irgendjemand das tun sollte, doch es kann nicht anders sein. Vielleicht steckt unsere Konkurrenz dahinter …

Das Münter-Bild ist makellos. Alle, denen ich es gezeigt habe, waren dieser Meinung und haben mir zu meiner Traum-Akquise gratuliert. Zudem steht Konstantin mit dem guten Namen seiner Familie dahinter. Es bestand nie auch nur der geringste Zweifel …

»Dieses Bild ist eine Fälschung«, fährt Richard Gabler ungerührt fort und der Schock angesichts dieser Aussage geht durch den Raum wie die Druckwelle einer Explosion. Getuschel breitet sich aus, Köpfe werden gereckt und ich spüre Blicke auf mir. So viele Blicke, die mich durchbohren, während alle Anwesenden auf eine Reaktion von mir zu warten scheinen. Vor Beginn der Auktion habe ich mit so vielen Interessenten über das Bild gesprochen, versucht, sie dafür zu begeistern, und nun hängt die Anschuldigung wie die Klinge einer Guillotine über mir. Wobei, nein … Das Fallbeil ist in dem Moment auf mich heruntergesaust, als Gabler den Mund geöffnet hat. Leise und so schnell, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass es mich getroffen hat.

»Dies ist eine äußerst verheerende Anschuldigung, die Sie hier vor aller Augen und Ohren tätigen.« Die Stimme meiner Mutter ist hart wie Stahl.

Der Mann hebt die Schultern. »Wie gesagt, ich habe mein Möglichstes getan, Ihr Haus im Vorfeld auf die Fälschung hinzuweisen. Ich wurde mit meinem Anliegen an Elisabeth Herzog verwiesen, die weder auf Anrufe noch auf E-Mails reagiert hat.« Wieder sieht er zu mir und ich kann seinen berechnenden, lauernden Blick nur mit offenem Mund erwidern. Er hat … er hat was? Panisch durchforste ich mein Gehirn nach Erinnerungen an Mitteilungen von ihm, aber die letzten Wochen vor der Auktion waren so stressig für mich, dass einiges liegen geblieben ist. Da ist ein Fetzen davon, wie mir unsere Chefsekretärin Carola im Vorbeigehen von verpassten Anrufen erzählte, allerdings klang nichts davon dringend. Ich arbeite gründlich und gewissenhaft und mir wäre es doch aufgefallen, wenn sich wiederholt ein Kulturjournalist mit Bedenken bei mir gemeldet hätte.

Vielleicht warst du aber auch zu sehr von dir selbst und deinem möglichen Akquise-Erfolg eingenommen. Zu stolz, um irgendetwas anderes wahrzunehmen, wispert mir eine gemeine innere Stimme zu. Du warst nicht gründlich genug und hast die Kontrolle verloren. Sieh dir an, wozu das geführt hat, du Versagerin.

Nein! Das kann nicht sein.

Inzwischen droht Chaos im Auktionssaal auszubrechen. Menschen sprechen wild durcheinander, Handys werden gezückt und in all dem Tumult steht der junge Mann mit den Baumwollhandschuhen, der weiterhin stoisch die Münter-Zeichnung hochhält. Mir wird übel, Galle füllt meinen Mund und nun drohe ich aus völlig anderen Gründen als noch vor wenigen Minuten zusammenzubrechen. Panisch suche ich die Menge nach Konstantin ab, von dem ich weiß, dass er hier sein wollte, um den Verkauf seines Bildes zu verfolgen. Egal, was der Journalist behauptet, das Kunstwerk war jahrzehntelang im Besitz der Familie Schäffler und wenn Konsti jetzt aufsteht und diesen Anschuldigungen die Grundlage entzieht … Aber ich finde ihn nicht. Stattdessen bleibt mein Blick inmitten des Aufruhrs an einem anderen Paar Augen hängen. Dessen Besitzer steht am Rand des Saales, gegen eine der Marmorsäulen gelehnt, und sieht mich an, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn entdecke. Einer seiner Mundwinkel ist wie so oft auf seine saloppe Art hochgezogen, doch er lächelt nicht. Er wirkt konzentriert, die dunklen Brauen leicht zusammengezogen, und unschlüssig. Als ob er nicht wüsste, was er von mir denken soll – oder als könnte er sich nicht entscheiden, ob er mich auslachen oder bemitleiden will. Trotzdem bohrt sich das außergewöhnliche Azurblau seiner Augen in meine, wie um meine Qualen live und in Farbe von meinem Gesicht zu lesen und zu verinnerlichen, um sich später daran zu ergötzen. Vincent Saint Clair, dieser hassenswerte Mistkerl. Ich weiß nicht, was er bei unserer Auktion will, aber sollte es mich wirklich wundern, dass das Schicksal ihn ausgerechnet heute geschickt hat? Wo Chaos und Verzweiflung herrschen, da ist meistens auch Saint Clair zu finden.

Ich kann den Blick erst von ihm lösen, als ich einen festen Griff an meinem Oberarm spüre. Meine Mutter ist vom Podium heruntergekommen und beugt sich mit alarmierter Miene zu mir. »Komm mit. Wir haben die Auktion für heute beendet und müssen jetzt mit diesem Journalisten reden, um seine Behauptungen zu überprüfen und Schadensbegrenzung zu betreiben. Unser Ruf steht auf dem Spiel.«

Wie gelähmt lasse ich mich von ihr aus dem Saal führen, in die Räume dahinter, wo mich meine Richter erwarten. Keine Ahnung, woher diese Überzeugung kommt, aber ich weiß, dass man mich bereits schuldig gesprochen hat. Es gibt nichts mehr zu klären oder zu korrigieren. Richard Gabler blufft nicht und Fakt ist, dass mir ein Fehler unterlaufen ist. Ein gigantischer Fehler, der nicht nur mich, sondern auch unser Familienunternehmen alles kosten könnte.

Ich habe uns eine Fälschung ins Haus geholt.

Und ich muss die Konsequenzen tragen.

Lilli

Ein Jahr später

Freitag, 04.10.

LH – Tages-To-dos:

•endlich die englische SIM-Karte gegen meine alte deutsche tauschen

•Champagnerstammtisch @ Toni

•Friseurtermin buchen (dringend!)

»OMG, Lilli! Hugo hat heute Nacht schon wieder nicht hier geschlafen, dieses umtriebige kleine Luder. Ich wette, er ist bei Finn, die haben garantiert was am Laufen und … oh!«

Die Tür zu meinem Schlafzimmer fliegt auf und die aufgeregte Stimme meiner besten Freundin und Mitbewohnerin Nova reißt mich unsanft aus der dösig gemütlichen Blase irgendwo zwischen Schlafen und Wachen. Meine Mundwinkel wandern nach unten.

Vage, irgendwo am Rand meiner Wahrnehmung, war mir das leise Schnarchen nahe an meinem Ohr die ganze Zeit über bewusst, das Gefühl, nicht allein auf der Matratze zu liegen, aber erst jetzt stelle ich mich dieser Tatsache, weil Novas Oh nur eines bedeuten kann. Blinzelnd öffne ich die Augen und drehe den Kopf zur Seite. In das butterweiche Licht der Morgensonne getaucht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereinfällt, sehe ich das Gesicht meines besten Freundes auf dem Kissen neben mir. Gestört von Novas Stimme, kräuselt Hugo die dunkelblonden Brauen und rollt sich zu einer Kugel zusammen.

Es überrascht mich wenig, ihn in meinem Bett zu finden, mollig an meine Seite gekuschelt, als wäre genau das sein Platz auf der Welt.

»Geh weg, Supernova«, grummelt er und greift nach der Bettdecke, um sie sich über den Kopf zu ziehen – wobei er sie mir halb vom Körper reißt. Die kühle Schlafzimmerluft trifft mich wie eine unwillkommene kalte Dusche.

»Hey!« Empört zerre ich meinerseits an der Decke, um meine Hälfte zurückzuerobern.

»Gemach, gemach, Kinder.« Kopfschüttelnd schnalzt Nova mit der Zunge, die Hüfte an den weiß lackierten Türrahmen gelehnt. Sie beobachtet unser Gerangel um das Bettzeug mit einer Mischung aus nachsichtiger Belustigung und Augenrollen. Als wir uns endlich geeinigt haben, setze ich mich auf, den Rücken gegen das gepolsterte Kopfteil gestützt. Hugo tut es mir mit einem Gähnen nach.

»Was tust du schon wieder in meinem Bett?« Fragend stupse ich ihm gegen die Schulter. Normalerweise bemerke ich es immer, wenn Hugo sich nachts hereinschleicht, um bei mir zu übernachten, weil es ihm phasenweise schwerfällt, allein zu schlafen. Bei Nova hat er das früher auch versucht, aber weil sie ihren Platz braucht und ihn jedes Mal ohne Pardon rausgeschmissen hat, bin ich nun seine Anlaufstelle Nummer eins. Wenn er mir nicht gerade die Decke klaut, stört mich das auch nicht. Wir sind schon so lange Freunde, dass er genauso gut mein zweiter Bruder sein könnte.

»Dass du so etwas überhaupt fragen musst«, murrt Hugo beleidigt. »Meine Verlustängste haben reingekickt! Ich wollte sichergehen, dass du wirklich hierbleibst und nicht flüchtest. Weißt du, wie lieblos mein Leben allein mit dieser Jessica Rabbit dort drüben war?«

Ich will ein Lachen unterdrücken, doch mir entwischt trotzdem ein Schnauben durch die Nase. »So melodramatisch, schon vor dem ersten Kaffee. Ich war nicht mal ein Jahr in England und ihr beiden habt mich gefühlt jedes zweite Wochenende besucht.« Ich streiche ihm eine zerzauste sandblonde Strähne aus der Stirn, aber Hugo kräuselt nur pikiert die aristokratische Nase.

»München ist einfach nicht dasselbe ohne dich!«

»Ich bin ja wieder da.«

»Und ich stelle bloß sicher, dass es auch so bleibt, indem ich bei dir übernachte.« Sein Blick huscht in Richtung Tür. »Du solltest nicht so selbstgefällig grinsen, Nova, ich tue damit auch dir einen Gefallen! Immerhin hast du am schlimmsten rumgeheult, als Lilli in London war.«

Ihr Lächeln wird gefährlich, während sie mit zwei wiegenden Schritten ins Zimmer hereinkommt. »Jetzt ist mir vollkommen klar, warum dich Saint Clair nicht in seiner WG haben wollte: Du hast einfach kein Gespür für Intimsphäre und er keinen Bock, dass du dich jede Nacht zwischen ihn und seine Chicks mogelst wie das dritte Löffelchen.«

Als der Name Saint Clair fällt, bin ich es, die prompt das Gesicht verzieht. »Sprecht ihr von Vincent oder Henry?« Eigentlich weiß ich die Antwort, aber ich frage trotzdem; einfach, um sicher zu sein. Wenn es um den Feind geht, kann man es sich nicht leisten, schlecht informiert zu sein.

Ich bin zwar seit knapp zwei Wochen zurück in München, allerdings noch nicht bei allen Entwicklungen, die sich in meiner Abwesenheit ergeben haben, auf dem neuesten Stand. Und dazu gehört wohl auch, dass die Saint-Clair-Brut eine Wohngemeinschaft gegründet hat.

»Vincent«, säuselt Nova mit übertriebenem Wimperngeklimper in meine Richtung und setzt sich ans Fußende des Bettes.

Gespielt schockiert schnappe ich nach Luft. »Das Riesenbaby hat es wirklich geschafft, bei Papi auszuziehen?« Für diesen Kommentar ernte ich postwendend einen Knuff von Hugo. Der kleine Verräter ist seit der Grundschule der beste Freund des Riesenbabys und fühlt sich verpflichtet, für ihn in die Bresche zu springen. Etwas, das ich bei aller Liebe nie verstehen werde. Hugo ist liebenswürdig und loyal, wenn auch hin und wieder etwas schrullig und exzentrisch, doch genau diese Mischung macht ihn zu einem absoluten Goldstück, dem ich blind vertraue. Alles Dinge, die ich von Vincent Saint Clair nicht behaupten kann. Er ist ein Aas. Ein versnobtes, möchtegern-kultiviertes, halb-britisches Aas, das seit Jahren keine Gelegenheit auslässt, mich zur Weißglut zu bringen. Als Kinder kamen wir relativ gut miteinander aus, aber dann sind wir nach der Schule beide dem Vorbild unserer Familien gefolgt und in die Kunstbranche eingestiegen. Spätestens da ging es steil bergab. Den bisherigen Höhepunkt unserer Fehde bildet ein Praktikum in einem Wiener Auktionshaus. Weiß der Teufel, wie wir beide vor fünf Jahren dort als Interns gelandet sind, doch seitdem wünsche ich mir sehnlichst eine Messerwurfscheibe, auf die Saint Clairs feixende Visage gedruckt ist. Jep, der Kerl weckt definitiv eine mörderische Seite in mir, die ich selbst nicht erwartet hätte. Hugo bequatscht mich ständig damit, dass ich Vincent nur mal eine Chance geben müsste, um zu erkennen, dass er eigentlich der Beste ist. Aber das ist ausgeschlossen. Um Frieden zu schließen, braucht es beide Parteien, und Saint Clair kann in meiner Nähe nicht existieren, ohne etwas zu sagen, das meinen Hass verlässlich weiter befeuert. Er hat sich ja sogar einen Platz in der ersten Reihe für die bis dato größte Schmach meines Lebens gesichert … Nun gut.

Das Letzte, das ich von ihm gehört habe, ist, dass er in die Kunstgalerie seines Vaters Edgar eingestiegen ist – Saint Clair Fine Arts – und plant, die Dependance in München zu übernehmen. Er hat noch zu Hause gewohnt, als ich nach London aufgebrochen bin – eine Tatsache, die ich ihm gern unter die Nase gerieben habe, wann immer wir das Unglück hatten, einander zu begegnen. Was bedauerlicherweise nicht so selten passiert, wie ich es mir wünsche; siehe ineinander verschränkte Freundeskreise. Unsere Bubble ist übersichtlich und man kann einander nur bis zu einem gewissen Punkt aus dem Weg gehen, wenn man nicht gerade das Land verlassen will. Und selbst in London hat er mich verfolgt wie ein Phantom.

»Jaaa«, sagt Hugo gedehnt. »Seitdem er mit seinem Vater zusammenarbeitet, ist es ihm zu viel geworden, im selben Haus zu wohnen. Sainti braucht Abstand und hat vor Kurzem die WG gegründet.« Schmollend schürzt er die Lippen. »Und damit ihr es wisst, er wollte unbedingt, dass ich einziehe, doch ich habe ihm gesagt: Dude, ich kann meine Mädels nicht allein lassen. Ohne mich sind sie verloren.« Zustimmung heischend sieht er zwischen Nova und mir hin und her, aber wir brechen in Gelächter aus.

Nova tätschelt kichernd sein Bein durch die Bettdecke. »Wie könnten wir nur ohne deine Bartstoppeln im Waschbecken und verrückten Kaffeetassen, die jeden Küchenschrank verstopfen, leben?«

Gespielt ernst runzelt er die Stirn. »Ich bin der Mann im Haus! Als wir zusammengezogen sind, habe ich euren Eltern versprochen, auf euch aufzupassen und eure Tugend zu beschützen.«

»Ja, wenn du nicht gerade wie ein verängstigter Welpe zu uns ins Bett kriechst, weil du Albträume hast.«

»Wenn du weiterhin so gemein zu mir bist, Supernova, erzähle ich dir bestimmt nichts von Saint Clairs berühmtem Mitbewohner.« Elegant legt er sich die Hand ans Kinn. »Und der Einweihungsparty, die sie morgen schmeißen.«

Nova pult an ihren makellos manikürten Nägeln herum, scheinbar desinteressiert, jedoch entgeht mir nicht, wie eine ihrer dunklen Augenbrauen nach oben wandert. Sie ist ganz Ohr.

»Wen hat er sich als Mitbewohner angelacht? Sucht Mats Hummels nach seiner Scheidung eine neue Bleibe?«

Hugos Grinsen wird katzenhaft. »Wenn du wüsstest, wie nah du dran bist! Aber nope, mit mir hast du es dir verscherzt. Keine Party für dich, Maus.«

»Ich wäre sowieso nicht mitgekommen, rein für die Akten«, werfe ich ungefragt ein, die Arme vor der Brust verschränkt. Nur über meine Leiche gebe ich Saint Clair und seinem aufgeblähten Ego, für das er eine eigene Postleitzahl anmelden könnte, die Bestätigung und tauche bei seiner Einweihungsfeier auf. Das selbstgefällige Grinsen würde sein Gesicht niemals verlassen.

»Lil!« Nova reißt die grauen Augen auf, die dank des regelmäßigen Lashliftings auch frühmorgens von einem perfekt geschwungenen Kranz tiefschwarzer Wimpern umfasst sind, was sie beneidenswert frisch wirken lässt. Aber diese Frau hat ohnehin das unnachahmliche Talent, zu jeder Tages- und Nachtzeit wie ein sinnlicher Filmstar auszusehen.

»Du kannst mich nicht hängen lassen! Folgender Plan: Ich halte Hugo fest, damit du alle nötigen Infos aus ihm herauskitzeln kannst. Oh, noch besser! Hol seinen royalen Glitzerkram als Druckmittel und verscherbele ihn auf eBay.«

Hugos Augen weiten sich panisch. »Nicht meine Orden!«

Tatsächlich gehört Hugo Albert Hyronimus Jakob von Closen zu Arnstorf einem uralten bayerischen Adelsgeschlecht an und wird eines Tages den Grafentitel seines Vaters erben. Es ist ein Irrglaube, der Adel in Deutschland sei verschwunden, nur weil er vor einer Ewigkeit offiziell abgeschafft wurde. Die Sitten leben weiter und es existiert eine seltsam elitäre Subkultur, die sich noch immer viel auf ihre Namen und Besitztümer einbildet, alte Bräuche pflegt und es am liebsten sieht, wenn die eigenen Kinder innerhalb der adeligen Kreise heiraten. Hugos Vater will dasselbe für ihn, wäre da nicht die Tatsache, dass sein Sohn schwul ist. Das Normalste der Welt für uns – ich bin sogar davon überzeugt, dass Hugo garantiert einen netten Fürstensohn finden könnte, um eine standesgemäße Partie zu machen und sein Happy End zu finden. Ich muss nicht Red, White & Royal Blue gelesen und abgöttisch geliebt haben, um daran zu glauben. Aber Papa von Closen pocht mit jedem Jahr etwas energischer auf legitime Erben und Hugo hat sich bisher nicht vor ihm geoutet, was ich absolut nachvollziehen kann. Der alte Graf ist Furcht einflößend, und würden wir ein paar Jahrzehnte früher leben, hätte ich ernsthaft Sorge, er könnte Hugo nach einem Outing ohne viel Federlesen zu einer Elektroschocktherapie schicken, um ihm die Homosexualität auszutreiben. Obwohl er so viel Druck von seiner Familie bekommt und einen verdammt wichtigen Teil von sich unter Verschluss halten muss, ist Hugo mit Herz und Seele ein kleiner Royal. Er liebt die Bälle, Landpartien und seltsamen Empfänge, die der Herzog von Bayern (ja, den gibt’s noch) jedes Jahr veranstaltet und für die er sich fein säuberlich mit diversen juwelenbesetzten Orden und Abzeichen behängt, weswegen er prompt in Panik verfällt, wenn Nova auch nur andeutet, in die Nähe seiner Schätze zu kommen.

Aufgeregt schüttelt er den Kopf. »Du wüsstest doch gar nicht, wo du nach meinen Erbstücken suchen solltest.«

Theatralisch verdreht Nova die Augen. »Der labberige Schuhkarton von Tod’s, ganz hinten in deinem Kleiderschrank. Mal ehrlich, Hugo, ruf endlich meine Mutter an und lass dich von ihr wegen der artgerechten Haltung deiner Kronjuwelen beraten. Sie haben es nicht verdient, ihr Dasein zwischen ungewaschenen Tennissocken zu fristen, wo sie jeder drittklassige Einbrecher sofort findet.«

Einige köstliche Augenblicke lang bleibt Hugo der Mund sperrangelweit offen stehen und er bringt keinen Ton hervor. Entweder weil Nova sein vermeintlich so sicheres Versteck kennt oder weil sie ihm geraten hat, mit ihrer Mutter zu sprechen – die eine überaus erfolgreiche Schmuckdesignerin ist und Hugo bestimmt zwecks Anschaffung eines Tresors beraten könnte. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fühle ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, welche Schätze ungesichert in unserer Wohnung lagern, und bin auf Novas Seite. In einem Schuhkarton, ich fass es nicht!

»Ja, sprich mit Nadja«, sage ich mit Nachdruck.

Hugo schluckt schwer, ehe er sich nervös die Lippen mit der Zunge befeuchtet. »Nichts für ungut, Nova, aber deine Mutter ist beängstigend.«

Unsere Freundin lacht nur. »Sie weiß, dass du auf Männer stehst, und wird dich nicht bespringen wie den restlichen männlichen Teil der Gesellschaft.«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob das für sie ein Hinderungsgrund ist«, murmelt Hugo in sich hinein, was mich grinsen lässt. Nadja Sobieska ist in unseren Kreisen für ihren Männerverschleiß berüchtigt; was Nova mit gemischten Gefühlen betrachtet. Einerseits ist sie genauso eine Femme fatale, doch ich kenne meine beste Freundin lange und gut genug, um zu wissen, dass sie sich besonders in ihrer Kindheit mehr Stabilität im Liebesleben ihrer Mutter gewünscht hätte.

»Lasst uns mal nicht vom eigentlichen Thema abkommen«, beendet Nova unser Gefrotzel über den Familienschmuck der von Closen zu Arnstorfs. »Wer ist Saint Clairs Mitbewohner? Davon hängt ab, ob ich heute noch shoppen muss.«

Auch wenn ich weiterhin nicht vorhabe, auf die Einweihungsparty zu gehen, stupse ich Hugo auffordernd an, der daraufhin theatralisch seufzt. »Ihr gebt ja doch keine Ruhe.« Gewichtig räuspert er sich. »Niemand anderes als Julien Gaspard.«

Als er auf diese Offenbarung bloß fragende Blicke und Stirnrunzeln von uns erntet, ergänzt er kopfschüttelnd. »Perlen vor die Säue, ehrlich wahr! Er ist nur der neue Topspieler aus Frankreich, den München für zig Millionen verpflichtet hat.«

Sobald er das gesagt hat, geht eine Wandlung in Nova vor: Ihr Gesicht leuchtet auf und ein Glitzern tritt in ihre Augen, das nichts Gutes verspricht. »Fußballprofi, sagst du?« Während sie aussieht, als wäre Weihnachten zwei Monate zu früh über sie hereingebrochen, neige ich skeptisch den Kopf.

»Welcher Profispieler zieht in eine WG?« Residieren Fußballer nicht für gewöhnlich in protzigen Villen in Grünwald oder beanspruchen ein Penthouse für sich?

Hugo verdreht über meinen Kommentar die Augen. »Dasselbe könnten wir uns auch fragen, Zuckermaus. Wären wir nicht alle in der Lage, uns eine eigene Wohnung zu leisten, aber bevorzugen es, zusammen zu sein? Julien kommt neu in die Stadt und will nicht allein wohnen, sondern Gesellschaft haben.«

Wo er recht hat …

Nova hat indes wie ferngesteuert ihr Handy aus der Tasche ihrer Schlafanzughose gezogen – zweifelsohne, um den armen Kerl samt Marktwert zu googeln. Während sie die Suchergebnisse begutachtet, kann ich genau beobachten, wie ihre Begeisterung rapide ansteigt. Julien Gaspard kann es noch nicht ahnen, aber Nova hat die Witterung aufgenommen und wird wie eine Löwin alles dafür tun, um ihn zu bekommen.

»Zeig mal her.« Als gewissenhafte beste Freundin will ich mir auch ein Bild von ihrem potenziell neuesten Lover machen. Wer weiß, vielleicht wird er derjenige sein, der ihr langfristig ins Netz geht und damit zur Erfüllung ihres Masterplans verhilft: heiraten. Sie ist vielleicht in manchen Dingen wie ihre Mutter, doch das Leben als deren Tochter hat gleichzeitig dazu geführt, dass Nova sich nach dem sehnt, was sie selbst nie kennengelernt hat: eine stabile Familie, Monogamie, Beständigkeit.

Nova dreht mir ihr Handy zu, dessen gesamtes Display vom Gesicht eines jungen Mannes ausgefüllt ist. Mit dunklen Augen blickt er ernst in die Kamera und nur die leiseste Andeutung eines Lächelns umspielt seine vollen Lippen. Er trägt sein krauses Haar kurz, was die nahezu perfekt symmetrischen Linien seines Gesichts betont. Kein Wunder, dass sofort Herzchen in Novas Augen erscheinen, dieser Kerl ist verdammt attraktiv.

»In Toulouse geboren und aufgewachsen, bevor er mit vierzehn Jahren von Olympique Lyon entdeckt und auf ein Nachwuchsinternat geschickt wurde«, rattert Hugo wie ein Mensch gewordener Wikipediaeintrag herunter. »Mutter Französin, Vater ehemaliger Diplomat aus Ghana. Letztes Jahr ist Julien Torschützenkönig der französischen Liga geworden.«

Wow, seit wann ist er so fußballinteressiert?

Nova scheint ihm allerdings gar nicht zuzuhören. »Okay, shoppen. Du, ich. Oberpollinger.« Sie löst ihren Blick nur kurz vom Handydisplay, um mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich zu deuten. Es fühlt sich auf unangenehme Weise so an, als würde sie die Mündung einer Pistole auf mich richten.

Todesmutig schüttele ich den Kopf. »Sorry, dafür habe ich leider keinen Slot frei.« Ich verzichte darauf, selbst nach meinem Handy auf dem Nachttisch zu greifen, um meine Behauptung in meiner geliebten Termin-App zu überprüfen, mit der ich praktisch jeden Aspekt meines Lebens plane. Auch so bin ich mir verdammt sicher, dort einen fetten Blocker zu finden, der da lautet: keine Zeit, um Outfits für eine Party zu shoppen, bei der ich sowieso nicht auftauchen werde.

Entnervt wirft Nova die Hände in die Luft. »Warum ist es schwieriger, mit dir etwas zu unternehmen, als eine Audienz bei der Queen zu bekommen?«

Hugo lässt ein amüsiertes Schnauben hören. »Vielleicht, weil die Gute inzwischen tot ist?«

»Fuck you!«

Ach ja, diese friedvollen Morgenstunden in unserer WG habe ich in London wirklich vermisst. Es geht doch nichts über ein paar Kraftausdrücke vor dem ersten Kaffee.

»Also gut, dann gehe ich allein shoppen«, brummt Nova. »Hat den Vorteil, dass du mir zumindest nicht reinredest, wenn ich uns die heißesten Outfits für diese Party besorge, Lilli.«

»Ich komme nicht mit zu Saint Clair!«, protestiere ich energisch. Und von mir aus kann sie so viele Outfits kaufen, wie sie will. Nur über meine Leiche würde ich mich jemals für eine seiner Partys aufbrezeln.

»Natürlich kommst du mit. Ich brauche dich, wenn ich meinen zukünftigen Ehemann klarmache. Jemand muss Fotos schießen, wenn wir uns das erste Mal ansehen, damit wir sie später auf unserer Hochzeit zeigen können.« Diese Frau …

Stirnrunzelnd starre ich sie an, kann aber das Gefühl nicht abschütteln, dass ich auf verlorenem Posten kämpfe. Nova wird mir so lange auf die Nerven gehen, bis ich sie zu dieser elenden Einweihungsfeier begleite, und ich verkürze mein Leid, wenn ich einfach nachgebe. Manchmal muss man abwägen, welche Schlachten man schlagen will.

Hugo scheint meine Kapitulation zu wittern und klatscht tatendurstig in die Hände. »Hervorragend. Dann ist das ja geklärt. Sehen wir uns alle um drei bei Toni?« Der warnende Blick, den er mir von der Seite zuwirft, sagt klar und deutlich: Ich will nicht hören, dass du dafür keinen Platz in deinem heiligen Terminkalender hast.

Zu unserer Freundschaft gehört seit Jahren eine unverrückbare Tradition: unser Stammtisch am Freitagnachmittag in Tonis Champagnerschenke auf dem Viktualienmarkt, um das Wochenende einzuläuten. Das Treffen hat sich mit der Zeit zu einer Institution unter unseren Freunden entwickelt und war eine der Sachen, die ich während meiner Zeit im Ausland besonders vermisst habe.

Saint Clair

@muenchner_kindel

Kaum ist die Wiesn vorbei, glaubt man, wird es still in München. Aber wie wir unsere Schickeria kennen, ist das nur die Ruhe vor dem Sturm. Beendet den After-Wiesn-Detox am Tegernsee und stellt den Champagner kalt, Bitches, denn ihr glaubt nicht, wer am Flughafen gespottet wurde: @lilli.herzog.art is bawck in town – bleibt einzig die Frage, ob sie ein blasser Serena-van-der-Woodsen-Abklatsch bleibt oder uns noch mehr dringend benötigtes Drama bietet.

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»Bloody fucking hell, this miserable piece of shit! Fuck it!«

Das Knallen eines Telefonhörers, der mit zu viel Wucht aufgelegt wird, unmittelbar gefolgt von einer deftigen Flucharie, begrüßt mich, als ich das Büro meines Vaters betrete. Ich registriere es mit einem Anflug von zynischem Humor. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein nach außen hin so makellos kultiviert wirkender Mann wie Edgar Saint Clair hinter verschlossenen Türen dermaßen ausflippen kann – inklusive seines fancy British-upper-class-Akzents versteht sich. Aber genau diese Kombination sorgt für die Komik. Unter anderen Umständen könnte ich über den Ausraster meines Vaters lachen, wenn ich nicht wüsste, dass er nur eines bedeuten kann: Irgendetwas ist mit der Galerie nicht rundgelaufen. Und so etwas können wir uns gerade nicht leisten.

Die Hände in die Taschen meiner Brioni-Anzughose gesteckt, schlendere ich durch den holzvertäfelten Raum auf den Schreibtisch zu, damit Dad meine Anwesenheit bemerkt und nicht wutentbrannt beginnt, mit dem Briefbeschwerer oder Tacker um sich zu werfen. Alles schon vorgekommen. Heftig atmend wie ein aufgestachelter Stier sieht er von seinem Platz zu mir auf und das ungute Gefühl in meiner Magengrube verstärkt sich. Hinter seinem Zorn verbergen sich eindeutig Sorge und ein Anflug von Verzweiflung. Sie haben sich über die vergangenen Monate hinweg in die Falten in seiner Stirn und rund um die Augen eingegraben und ziehen seine Mundwinkel nach unten. Fuck, etwas muss richtig schiefgelaufen sein. Mal wieder.

Fürs Erste versuche ich, die Situation auf die einzige Art zu entschärfen, die ich kenne: mit Sarkasmus.

»Dir auch einen wunderbaren Freitag, Daddy dearest. Wie schön, deine liebreizende Stimme zu hören«, säusele ich übertrieben fröhlich und lehne mich mit der Hüfte an die Kante seines Schreibtisches. Papierstapel bedecken die glänzende Mahagoniplatte, dazwischen mehrere leere Kaffeetassen, ein iPad und zwei Handys. Eines der Smartphones leuchtet unter einem konstanten Strom eingehender Benachrichtigungen unaufhörlich auf.

Dad wirft mir einen gereizten Blick zu. »Lass die Späßchen, Vincent. Mir ist nicht danach.«

Obwohl er gebürtiger Engländer ist und ich einen nicht unwesentlichen Teil meines Lebens auf der Insel verbracht habe, reden wir Deutsch miteinander. Das ist die Sprache, die zu Hause immer gesprochen wurde, auch jetzt, wo nur noch Dad, Henry und ich da sind. Beim Gedanken an meinen kleinen Bruder erfüllt mich eine Welle der Erleichterung darüber, dass er nicht weiß, wie angespannt die geschäftliche Situation momentan für uns aussieht. Henry ist mit seinen zweiundzwanzig Jahren zwar bloß drei Jahre jünger als ich und absolviert sein Volo, aber für mich wird er immer ein Baby bleiben – das ich bestmöglich vor den unbarmherzigen Abgründen der Kunstwelt fernhalten will. Klar, er wohnt weiterhin mit unserem Vater im Haus und ihm wird nicht entgehen, dass Dads Laune immer übler wird, doch im Gegensatz zu mir arbeitet er nicht in unserer Kunstgalerie Saint Clair Fine Arts und hat sich auch nie sonderlich für sie interessiert. Kunst und Henry, das war einmal eine untrennbare Einheit, aber mein Bruder will schon lange nichts mehr davon wissen, und ich bin froh, ihn vor weiterem Kummer bewahren zu können. Dad und ich sind uns wortlos darüber einig, dass Henry aus der Misere herausgehalten wird, solange es geht. Es reicht, dass wir beide wegen der Galerie schlaflose Nächte haben.

»Was ist los? Bloody fucking hell, hm?«

Dad sieht mich an, ein unnachgiebiger, harter Zug um seine Lippen, als überlegte er, nicht mit mir darüber zu sprechen, woraufhin ich herausfordernd die Brauen hebe. Er war damit einverstanden, dass ich in der Galerie einsteige, und wenn ich eines Tages sein Nachfolger werden soll, muss er mich einweihen. In jedes schmutzige Detail.

»Die Iskar-Ausstellung ist ein absoluter Flop. Wir haben praktisch nichts verkauft.«

Meine Brauen wandern noch höher und ich schiebe einen Stapel Ausstellungskataloge mit dem Hintern beiseite, um mich auf den Rand der Tischplatte zu setzen.

»Excuse me? Die Johnsons wollten doch die Hälfte der Fotografien kaufen.« Das australische Sammlerehepaar ist vor wenigen Tagen in die Galerie gekommen und vollkommen begeistert gewesen von den experimentellen Mikroskop-Fotografien der britisch-polnischen Künstlerin Iskar, die wir vertreten. Die Ausstellung in unseren Geschäftsräumen endet zum Wochenende und ja, wir haben weniger verkauft als erhofft, aber die Johnsons wollten uns die halbe Bude leer kaufen! Ich habe ihnen sogar eine Flasche Ruinart-Champagner geöffnet, um auf den Großeinkauf anzustoßen. Damn it, ich hasse es, eine teure Flasche für einen geplatzten Deal verschwendet zu haben.

»Sie sind gerade vom Kauf zurückgetreten. Ich hatte Ike am Telefon.« Dad lässt sich ein wenig tiefer in seinen ledernen Schreibtischstuhl sinken. »Louella will die Scheidung, was für ihn richtig teuer werden könnte. Sie hat auf seinem Handy Nachrichten zwischen ihm und einer anderen Frau gefunden. Da ist ihm ein Kunstinvestment momentan zu heikel.«

Ich lege den Kopf in den Nacken, die Zähne fest zusammengebissen, und kann nur mit Mühe einen frustrierten Aufschrei unterdrücken. Dieser einfältige, kleine Betrügerarsch. Warum fällt es manchen Kerlen so verdammt schwer, ihren Schwanz in der Hose zu behalten und einfach dankbar für eine stabile Ehe zu sein? Wenn ich Gefühle für jemand anderen entwickele, habe ich doch gefälligst die Eier, es direkt zu sagen, anstatt es meine Ehefrau zufällig herausfinden zu lassen … Argh! Tief durchatmend zwinge ich mich zur Ruhe, ersticke die aufflammenden Gedanken energisch, bevor sie zu einem tobenden Inferno anschwellen können und mich mit sich reißen. Ich will besser sein als Dad, der so oft dazu neigt, aus der Haut zu fahren und auszurasten. Trotzdem brodelt die Wut dicht unter der Oberfläche weiter und wenn ich könnte, würde ich Ike Johnson am liebsten höchstpersönlich einen Arschtritt verpassen. Es ist einfach mieses Timing. Verdammt mieses Timing. Durch diesen Umsatz hätten wir die ärgste Anspannung von der Galerie abwenden und mit weit weniger Druck unsere nächsten Schritte planen können.

»Ich überleg mir was, Dad. Das krieg ich wieder in Ordnung.«

Das Iskar-Debakel können wir vergessen machen, wenn wir als Nächstes mit etwas wirklich Spektakulärem um die Ecke kommen. Künstlerinnen und Künstler für uns gewinnen, denen die Leute sogar ihre benutzten Taschentücher aus den Händen reißen würden, um ein Stück von ihnen zu besitzen.

Mit seltsam mutlosem Blick sieht mein Vater zu mir auf. Sogar seine Wut, die ihn selbst in den dunkelsten Stunden wie ein unermüdlicher Dieselgenerator am Laufen hält, scheint verpufft, und ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Diese Resignation gefällt mir nicht. Das ist nicht der Mann, den ich zu kennen glaube und der seine Seele – und meine mit dazu – für den Erfolg freudig an den Teufel verkaufen würde. Aber womöglich ist das die Gelegenheit, um mich zu beweisen. Den Karren aus dem Dreck ziehen und die Galerie zu alter Größe führen. Ohne falsche Bescheidenheit, das klingt nach genau dem richtigen Job für mich.

»Wie willst du das anstellen, Vincent?«

Ich habe noch keinen blassen Schimmer, doch das werde ich mir nicht anmerken lassen; falsche Fassaden aufzusetzen, gehört zu meinen Spezialdisziplinen, und mein Vater kann mich schon lange nicht mehr durchschauen. Das kommt davon, wenn man seine Söhne ihr halbes Leben lang in Internate abschiebt. Auf der Suche nach einer Antwort lasse ich den Blick durch sein Arbeitszimmer schweifen. Über die dunklen holzvertäfelten Wände mit den eingebauten Bücherregalen und Wandnischen, die mit all dem bunten Sammelsurium vollgestopft sind, das ein Kunsthändler über die Jahre hinweg anhäuft. Zwischen der beeindruckenden Büchersammlung meines Vaters drängen sich gerahmte Bilder, Erinnerungsstücke an diverse Kunstschaffende, handbemalte Vasen, Antiquitäten, geschnürte Briefbündel, Glasfiguren und, und, und. Schon als Kind war ich fasziniert von diesem Raum, musste aber hoch und heilig versprechen, niemals allein hereinzukommen oder etwas anzufassen, was das Büro für mich umso verlockender machte. Ein Kloß wandert meine Kehle hinauf, als ich an einer gerahmten Zeichnung von zwei Jungs mit mitternachtsschwarzem Haar hängen bleibe, die einander die Arme um die Schultern gelegt haben. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem dieses Bild entstanden ist, daran, wie glücklich wir alle waren … Hastig sehe ich weg, um den ungebetenen Erinnerungsstrom zu unterbrechen, und richte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf eine Marmorfigur, die neben mir auf einem Regalbrett thront. Sie steht seit einer gefühlten Ewigkeit an diesem Platz; die Büste einer wunderschönen Frau, in etwa lebensgroß. Ein Ausdruck von Schrecken und Gram liegt auf ihrem detailreich bemalten Gesicht mit den langen Wimpern und roten Lippen. Doch das, was mich seit jeher am meisten an ihr fasziniert, ist ihr kahler Kopf, der mit zahlreichen kleinen Löchern versehen ist. Der Frauenkopf stellt Medusa dar, eine junge Griechin, die von der Göttin Athene zu Unrecht (meine Meinung) in ein Monster verwandelt wurde, dessen Blick jeden, den sie ansah, zu Stein werden ließ. Anstelle von Haaren wucherten Schlangen auf ihrem Kopf. Die Künstlerin, Iris Montebello, fertigte Dutzende Schlangen aus Gold und Marmor, die in die dafür vorgesehenen Löcher in Medusas Haupt gesteckt werden können. Allerdings wurde jede einzelne Schlange an jemand anderen verkauft. Dad hat sich über die Jahre hinweg mehrmals auf die Suche nach einigen der Schlangen gemacht, ist aber entweder auf Besitzer gestoßen, die sich nicht von ihnen trennen wollten, oder in Sackgassen gelandet. Medusa set free heißt das Kunstwerk und es gehört zu den wertvollsten Stücken in der Sammlung meines Vaters. Nicht nur, weil es derart außergewöhnlich ist, sondern wegen der Künstlerin. Die Arbeiten von Iris Montebello gelangen selten auf den Markt, wodurch sie unglaublich begehrt sind. Wenn Iris, die wie ein Phantom der Kunstszene zurückgezogen lebt, Skulpturen zum Kauf anbietet, werden diese zu astronomischen Summen gehandelt. Und das, obwohl sie allein agiert, ohne eine Galerie, die ihre Werke in ihrem Namen verkauft. Durch ihre Zurückgezogenheit und die Verknappung ihrer Werke ist um ihre Kunst ein regelrechter Hype entstanden und Montebello selbst wurde in der Branche zu so etwas wie einer lebenden Legende. Einem Phänomen, dem die Leute nachjagen, nach jedem Krümel haschen und dennoch hungrig zurückbleiben.

Und in meinem Kopf legt sich ein Schalter um.

Es ist Irrsinn. Absolut größenwahnsinnig und utopisch, aber wie es der Zufall will, sind das alles Qualitäten, die auf mich zutreffen. Ich liebe Herausforderungen, vor allem die, die unerreichbar scheinen, und in diesem Moment setze ich mir ein Ziel: Ich werde Iris Montebello aufspüren und sie überzeugen, sich von Saint Clair Fine Arts vertreten zu lassen. Gelingt mir das, ist die Galerie nicht nur fürs Erste gerettet, sondern ich habe finanziell bis zur Rente ausgesorgt. Vergesst das, selbst die übernächste Generation nach mir wird von diesem Deal profitieren können.

Mein Vater runzelt mit einem Anflug von Besorgnis die Stirn, als er mein breites Grinsen bemerkt. Wahrscheinlich ahnt er, welch irrsinniger Größenwahn in mir hochkocht, und fragt sich, was ich aushecke.

»Keine Sorge, Dad. Ich habe einen Plan.« Von dem ich bisher nicht weiß, wie ich ihn umsetzen soll, doch das wird sich ergeben.

Lilli

Samstag, 05. 10.

LH – 10:00 Uhr – Wäsche machen → Waschmaschine & Trockner reinigenNS – 17:00 Uhr – GETTING READY FÜR SAINTIS HOUSEPARTY, STREICH DEN REST DEINER TAGESPLANUNG MUHAHAHAHA

»Da gibt man sich jahrelang Mühe, eine treue und fürsorgliche Freundin zu sein, und so wird es einem gedankt.« Die Spitze von Novas Roger-Vivier-Stiletto trifft mich schmerzhaft am Schienbein, als sie auf dem Tramsitz mir gegenüber die Beine überschlägt und mich beleidigt anfunkelt.

Gefühlt nörgelt sie ununterbrochen, seitdem sie von ihrer gestrigen Shoppingtour aufgekratzt zurückgekommen ist und mir ihre Ausbeute präsentiert hat – in der festen Überzeugung, mich in eines der winzigen Minikleider quatschen zu können, die sie für uns beide mitgebracht hat. In unserer Freundschaft bin ich klar der nachgiebigere Part. Weil ich erstens nicht so eine Nervensäge bin wie Nova und zweitens mit der Zeit erkannt habe, dass man ihr besser ihren Willen lässt. Ich überlasse ihr gern den Großteil der Führung. Tatsächlich bin ich sogar meistens dankbar, dass sie mich mit ihrer extrovertierten Art aus meinem Schneckenhaus lockt. Die Kunst ist, sie nicht überhandnehmen zu lassen und Grenzen zu ziehen, wenn es nötig ist. So wie heute Abend. Ich habe mich dazu breitschlagen lassen, auf die olle Einweihungsparty zu gehen, mich aber entschieden geweigert, dafür mehr Aufwand als unbedingt nötig zu betreiben. Und dazu gehört, mich nicht in einen Prada-Fummel zu werfen oder meine Haare drei Stunden lang auf Lockenwickler zu drehen.

»Sieh es so«, versuche ich es beschwichtigend. »Mit meinem schlichteren Look gebe ich dir mehr Raum, um für Julien zu glänzen.«

Nachdenklich schiebt Nova die Unterlippe vor. »Komm mir nicht mit so einem Quatsch. Ich bin großartig genug, um zu wissen, dass es mein eigenes Funkeln nicht dämpft, wenn eine andere Frau genauso gut aussieht. I’m a girl’s girl.«

Verdammt, ja, das ist sie. In unserer Welt, in der Missgunst und abschätzige Blicke seit dem Kindergarten Standard sind, ist sie unerschütterlich unterstützend. Ihr Mindset lässt es gar nicht zu, in anderen Frauen eine Konkurrenz zu sehen, selbst dann nicht, wenn sie wild entschlossen ist, sich einen Typen zu angeln, den sie nie zuvor getroffen hat. Nova Sobieska ist fabulous und alle, die etwas anderes behaupten, sind ihre Zeit nicht wert.

»Es ist wirklich lieb, dass du mir ein Outfit besorgt hast, aber ich werde nicht bei Saint Clair auftauchen und so aussehen, als hätte ich mir für seine Feier Mühe gegeben. Da lauert schon der nächste ätzende Spruch, den er mir mit Freuden reingedrückt hätte.«

Dafür ernte ich ein pikiertes Zungenschnalzen. »Du gehst vollkommen falsch an die Sache ran, Schätzchen.« Verschwörerisch beugt sich Nova zu mir vor, damit ich ihr Schnurren über das Rattern der Tram hinweg verstehen kann. »Du solltest den kleinen Lord zum Sabbern bringen und dabei unerreichbar für ihn sein. Gut auszusehen, ist der bessere Mittelfinger, als rumzulaufen wie deine Tante Uschi.«

»Ey!« Jetzt bin ich es, die nach ihrem Schienbein tritt. »Was hast du gegen mein Outfit?« Und gegen Tante Uschi. Die Frau ist eine lebende Legende.

Stirnrunzelnd sehe ich an mir hinab – unter meinem geliebten camelfarbenen Wollmantel trage ich ausgewaschene High-Waist-Jeans und ein schimmerndes rosa Seidentop mit Spaghettiträgern. Auch wenn bereits Oktober ist, rechne ich nicht damit, dass mir mit dem Oberteil kalt wird. Hauspartys sind erfahrungsgemäß überheizt und stickig.

»Es ist nicht Prada«, lautet die nüchterne Antwort und ich akzeptiere, dass ich mir an diesem Thema die Zähne ausbeißen werde. Nova wird schon darüber hinwegkommen.

Zum Glück spüre ich in diesem Moment, wie das Handy in meiner Clutch vibriert, und hole es hervor. Auf dem Display leuchtet eine Nachricht meines jüngeren Bruders auf.

Luis Lust, bei Mama und Papa vorbeizukommen? Du warst noch gar nicht richtig hier, seit du aus London zurück bist. Einen Samstagabend für die Familie zu opfern, ist gelegentlich gar nicht so übel, Schwesterherz 

Die Zähne so fest zusammengebissen, dass mein Kiefer schmerzt, starre ich auf den Chat und hasse mich dafür, dass meine erste Reaktion Erleichterung darüber ist, ohne eine Notlüge absagen zu können. Ich liebe meine Familie von ganzem Herzen, doch seit der Sache mit der Fälschung fällt es mir so verdammt schwer, meinen Eltern unter die Augen zu treten. Sie haben sich Mühe gegeben, es mich nicht spüren zu lassen, aber ich weiß, was ich angerichtet habe und wie enttäuscht sie von mir sind. Unser Auktionshaus, mit dem die Herzogs seit Generationen so eng verknüpft sind, hat Schaden genommen, weil ich einen unverzeihlichen Fehler begangen habe. Ja, es war feige, zu verschwinden und andere die Drecksarbeit machen zu lassen, allerdings war meine Scham übermächtig. Ich konnte einfach nicht bleiben und jeden Tag damit konfrontiert werden, was ich angerichtet habe. Jede Sekunde in München fühlte sich an, als würden Blicke auf mir haften, und ich konnte es nicht ertragen. Das Getuschel, die Gerüchte, das Mitleid. Ich bin weggelaufen – vor mir selbst. Auch wenn mir klar war, dass ich bis ans andere Ende der Welt hätte flüchten können und es keinen Unterschied gemacht hätte. Mir ist bewusst, dass ich aktuell mit dieser Ausweichtaktik munter weitermache, indem ich mich meinen Eltern so gut wie möglich entziehe, doch ich kann nicht anders. Meine Feigheit füge ich der unendlichen Liste an Dingen hinzu, für die ich Buße tun muss.

LilliOh, Mann, tut mir leid, bin gerade mit Nova unterwegs.

Luis Schade. Aber war auch superspontan und ich weiß ja, wie voll dein Planer immer ist.

Luis Wir sehen uns dann am Montag im Auktionshaus, oder? Es sind keine Fake News, dass du zurückkommst, Fremde?

Ich schaffe es nicht, mit mehr als einem Herz auf seine letzte Nachricht zu reagieren, um das Gespräch im Keim zu ersticken. Wenn ich jetzt über meine anstehende Rückkehr ins Unternehmen nachdenke, ist der Abend definitiv gelaufen.

Mein Magen hat sich bereits in einen schmerzhaften Klumpen verwandelt und egal, wie oft ich mir sage, dass nach etwas Abstand alles wieder normal werden wird, kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass ich alles verschlimmere. Am Montag kehrst du zurück ins Auktionshaus. Dann bist du endlich mutig und stellst dich deinen Dämonen.