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Aquitanien: Das Ende eines Krieges
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Am Rande des Weges …
Aquitanien: Das Ende eines Krieges
Annemarie Nikolaus
Inhalt
Einleitung
La bataille – das Schauspiel
Die englische Guyenne
Die historische Schlacht
Das Ende der ritterlichen Kriegführung
Sehenswert rund um Castillon-la-Bataille
Zum Weiterlesen
Über die Autorin
Bildnachweis
An der Dordogne, nicht weit von Bordeaux, wird jedes Jahr das Ende des „Hundertjährigen Krieges“ zwischen Frankreich und England inszeniert. Es ist eine der größten Freiluftveranstaltungen der französischen Sommer.
Als Aliénor von Frankreich im Jahre 1152 in zweiter Ehe den englischen König Henry Plantagenet heiratete, brachte sie ihm ihr Herzogtum Aquitanien als Hochzeitsgeschenk. Über 300 Jahre, bis zur Schlacht vor den Toren Castillons am 17. Juli 1453, blieb Aliénors Aquitanien, das wohlhabende Südwest-Frankreich, unter englischer Herrschaft.
Die Castillonaiser selbst haben paradoxerweise an diesem zentralen Ereignis der Geschichte gar nicht teilgenommen. Geschützt hinter den Mauern ihrer Stadt verfolgten sie die Schlacht quasi genauso unbeteiligt wie die heutigen Zuschauer das Spektakel.
Ein unbebauter Hang von sieben Hektar Fläche am Fuß des Schlosses von Castegens dient als Bühne für dieses Stück mittelalterliche Geschichte: Er liegt quasi nur einen Kanonenschuss entfernt vom historischen Schauplatz. Die Darstellung der Schlacht gegen Ende des Stücks nutzt die gesamte Fläche des Hügels; man fühlt sich eher auf einem Film-Set als in einem Theater.
La bataille – das Schauspiel
In den zwei Stunden, die die Inszenierung dauert, tauchen die Zuschauer ins mittelalterliche Leben ein: Detailgenau wird der Alltag auf Bauernhöfen und in Gasthäusern geschildert; auf Märkten, während der Weinlese, bei Jagdpartien des Adels ... Die Bewohner Aquitaniens reiben sich nach der Eroberung Bordeaux’ 1451 an den französischen Soldaten und versuchen sich zu wehren.
Die historische Episode wird von der Abtei Saint-Florent aus erlebt, die der Zufall ins Zentrum dieser Schlacht gestellt hat, die das Gleichgewicht in Europa verändern wird.
Das Publikum erlebt zuerst die Sorge des Priors um seine Gläubigen, die des Bürgers um seine Ernte, die des Adligen um seine Ländereien und die Sorge des Grafen Raoul über die Treue seiner Frau. Schließlich kommt es zur Schlacht zwischen dem englischen General John Talbot und den Truppen von Jean Bureau, Großmeister der Artillerie Charles’ VII..
Es ist ein atemberaubendes Spektakel, das nicht mit Pyrotechnik und anderen Effekten spart. Zwar sind nicht alle Szenen selbsterklärend. Aber das Ganze ist so grandios inszeniert, dass dies mehr als wettgemacht wird: Eine italienische Oper begreift man ja auch ohne Übersetzung. Und für Kinder ist diese Veranstaltung allemal faszinierend.
Die Website gibt es immerhin auch in englischer Übersetzung. Dort ist übrigens auch ein kurzes Video mit Ausschnitten aus dem Stück zu finden.
Seit mehr als 30 Jahren wird es an einem guten Dutzend Abenden im Juli und August inszeniert. Pro Saison hat das Schauspiel mittlerweile gegen 30.000 Besucher.
Es ist aber keineswegs immer das gleiche Stück; Das Schauspiel hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt und auch verändert: Zuletzt hat es zwischen 2008 und 2012 eine schrittweise Transformation erlebt und endet jetzt mit einem optimistischen Ausblick auf die Renaissance.
Für die Gestaltung des Schauspiels nimmt der Verein „La Bataille de Castillon“, der dafür verantwortlich zeichnet, einen enormen Aufwand auf sich. Angefangen mit der Restaurierung seltener antiker Objekte über das Bühnenbild der Priorei bis zur Serienherstellung von Schilden, Schwertern und Pistolen arbeitet das Team der Ausstatter nach wie vor das ganze Jahr an der Umsetzung.
Mehr als 800 Kostüme sind nach den Aufzeichnungen der Enzyklopädie von Eugène Viollet-le-Duc, einem französischen Kunsthistoriker des 19.Jahrhunderts, hergestellt worden. Dazu Schürzen, Hüte, Kappen und andere Kleidungsstücke, die im Laufe der Jahre entweder zu erneuern oder zu reparieren sind.
Ein anderer Teil des Aufwands ist unsichtbar: In Tausenden von Arbeitsstunden ist über die Jahre das Gelände auf Hunderten von Metern aufgegraben worden, um kilometerlange elektrische Kabel und Rohre zu verlegen. Castillon-la-Bataille unterstützt die Aufführungen finanziell und logistisch.
Es ist das erfolgreichste der kulturellen Ereignisse von Aquitanien. Im Laufe der Jahre hat es weit über 700.000 Zuschauer angezogen.
Insgesamt sind rund 700 Freiwillige aus der Region vor und hinter den Kulissen tätig; auf der „Bühne“ selbst 450 Laiendarsteller und 50 Reiter. Auch eine gute Hundertschaft Tiere bevölkert die Szenerie: Pferde, Kühe, Schweine, Hunde, Ziegen, Esel, Schafe, Tauben, Gänse. Viele von ihnen – Menschen wie Tiere – sind das ganze Jahr über beschäftigt, damit die Aufführungen gelingen. Ab dem Frühjahr beginnen die Proben für Schauspieler und Reiter und die Wiederholungen der Tierdressuren, soweit sie noch nötig sind.
Die Tiere sind allesamt dressiert wie in einem Zirkus. Jedes Tier kennt seine Rolle, erkennt die Musik, die seinen Auftritt begleitet und wird regelrecht ungeduldig, während es in den Kulissen wartet.
Die Sau Alice (eine Kreuzung der Rassen Basque und Bayeux) und ihre Gefährtin Chouchou (Rasse Gasconne) sind vor mehreren Jahren wegen ihres rustikal-mittelalterlichen Aussehens ausgewählt worden. Sie spielen ihre Rollen schon so lange, dass sie keine Proben mehr brauchen. Alice hat sogar die Gewohnheit angenommen, ihren Auftritt mit einer Reihe durchdringender Schreie anzukündigen.
Auch das Lourdaiser Ochsengespann und das Gespannpaar Blonde d’Aquitaine beherrschen ihren Auftritt seit Langem aus dem Gedächtnis und brauchen kaum noch Hilfen von Seiten des Dresseurs. Die unvorhersehbaren Esel sind dagegen launische Mitspieler. Die Pilger haben in ihren Umhängen Karotten, denen sie folgen sollen; aber es kann passieren, dass sie ihren Auftritt ohne Vorwarnung unterbrechen und in ihren Stall zurück galoppieren.
In Nebenrollen spielen Schafe, Ziegen und Gänse mit. Sie tauchen zwischenzeitlich während der Szenen des Dorflebens auf und haben ihren gemeinsamen Auftritt am Ende des ersten Aktes während dem Markt von Castillon.
Die eigentlichen Stars sind aber die Pferde. Von ihnen wird tatsächlich die größte Leistung verlangt.
Wie einstmals die speziell ausgebildeten Schlachtrösser der Ritterzeit greifen sie im Stück in Linie an, müssen sich im Nahkampf behaupten, sich inmitten des Getümmels von Fußsoldaten bewegen und Gegenangriffe aushalten. Weder das Feuer der Fackeln darf sie erschrecken, noch der Lärm der Geschütze oder die Feuerwerkskörper; und sie dürfen auch nicht vor dem Applaus der Zuschauer scheuen. Obendrein müssen sich die Pferde im Dunkel der Nacht auf einem steilen Gelände bewegen, ohne dass dabei andere Tiere oder Schauspieler in Gefahr geraten.
Die Kavallerie besteht zu je einem Drittel aus spanischen und lusitanischen Pferden und Arabern; entweder Wallache oder Stuten, mittelgroß und im Durchschnitt sieben bis acht Jahre alt. (Wenn sie das Alter von achtzehn Jahren erreichen, dürfen sie nicht mehr teilnehmen.) Die Rolle und der Platz, der ihnen zugewiesen wird, richtet sich nach ihrer Fellfarbe: danach, wo sie in der Nacht am besten auffallen, damit die Szene durch starke Bilder besticht.
Sie stammen aus vier Reitställen der Gironde. Jeder von ihnen hat seine besonderen Kompetenzen. Die Reiter trainieren ihre Pferde in ihren Reitclubs und bereiten sie dort auf die Auswahl Anfang Juni vor. Aus Gründen der Sicherheit kommen nur emotional ausgeglichene Pferde in Frage, die in vollkommenem Vertrauen mit ihren Reitern arbeiten. Es braucht Pferde, die im Gespann gehen und einen brennenden Wagen ziehen müssen; andere, die den brennenden Wagen verfolgen; Kaskadeure, Amazonen und natürlich die Offiziere und Reiter der Armeen.
2011 ist das Turnier der Schlussszene durch eine poetische Sequenz ersetzt worden, in der sich zehn Pferde sofort nach der Schlacht ungesattelt und in Freiheit auf dem Hang wiederfinden: vier spanische Pferde, fünf Lusitanier und ein Araber namens Pacific (für seine Schönheit und Intelligenz ausgewählt). Diese Szene soll darauf verweisen, dass neun Jahre nach der Schlacht König Louis XI Aquitanien seine alten Freiheiten und Privilegien zurückgeben wird.