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Mach nicht mehr, mach es anders! Mitarbeitende sind häufig besser verbunden mit dem Internet als mit dem eigenen Unternehmen, den Kolleg:innen – und sich selbst. Kein Wunder: Es fehlt eine Arbeitsplatzumgebung, in der sie sich gehört und verstanden fühlen, ja, in der sie das Gefühl haben, etwas bewegen zu können. Immer mehr erleben sie deshalb Arbeitsfrust statt Lust. Damit soll jetzt aber Schluss sein. Jonas Höhn zeigt Personalverantwortlichen, Mitarbeitenden und Führungskräften, an welchen Stellschrauben sie drehen können, um gemeinsam ein sicheres Arbeitsumfeld aufzubauen, als Team zusammenzuwachsen und die Performance aller nachhaltig zu steigern. Von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über motivierende Best-Practice-Beispiele namhafter Unternehmen bis hin zu konkreten "Quick Wins" für Mitarbeitende und Führungskräfte – dieses Buch bietet inspirierende Impulse und praktische Handlungsempfehlungen, um bessere Arbeitsumgebungen zu schaffen und Zusammenarbeit positiver zu gestalten. Und das Beste: Dafür ist keine radikale Veränderung nötig. Vielmehr lautet das Motto: "Mach nicht mehr, mach es anders!" "Wir dürfen bei der ganzen Suche nach neuen Talenten bestehende Mitarbeitende nicht vergessen." Jonas Höhn Was uns im Buch erwartet: - Vorwort von Inga Dransfeld-Haase, Präsidentin des Bundesverbandes der Personalmanager:innen - Hochinteressante Studien aus Psychologie und Wissenschaft - Best Practices namhafter Unternehmen wie Volkswagen, Microsoft, OTTO, SAP, AXA und 3M - Wertvolle Denkimpulse durch führende Expert:innen, Forscher:innen und Personalverantwortliche - Konkrete Praxistipps für Mitarbeitende, Führungskräfte und Personalverantwortliche Das Buch lädt zum Dialog ein, wie wir Mitarbeiterbindung gemeinsam attraktiv und aktiv gestalten können. Zum Autor: - Jonas Höhn ist Gründer der detoxRebels – bekannt aus "Die Höhle der Löwen" (VOX) - Zu seinen Kunden gehören u. a. TUI, Vodafone und Peek & Cloppenburg - Der Autor ist Host des erfolgreichen Podcasts "Rebellisch gesund by detoxRebels" mit führenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Psychologie und Wirtschaft
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Seitenzahl: 367
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Jonas Höhn
Gemeinsam zu mehr Wertschätzung, Verbundenheit und Produktivität
Bis zum Zeitpunkt der Drucklegung wurde dieses Buch nach bestem Wissen und Gewissen auf Aktualität und Fehlerfreiheit geprüft. Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen. Wenn notwendige Änderungen auffallen, können diese im Bedarfsfall an [email protected] gesendet werden.
Ein Hinweis zu gendergerechter Sprache: Die Entscheidung, in welcher Form alle Geschlechter angesprochen werden, obliegt den jeweiligen Verfassenden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-184-8
ISBN-ePUB: 978-3-96740-370-1
Lektorat: Silke Martin, Kriftel
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
Autorenfoto: Oliver Güth
Satz und Layout: Lohse Design, Heppenheim | www.lohse-design.de
© 2024 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
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VORWORT
BESSER SPÄT ALS NIE
1. FLEXIBILITÄT STATT STARRHEIT
Ergebniskultur: Was zählt, ist das Resultat
Führungskräfte: Von der Karriereleiter auf den Karrierepfad
Zyklusorientiertes Arbeiten: Ein Thema voller Missverständnisse
Arbeiten nach dem biologischen Rhythmus
Arbeiten nach dem Menstruationszyklus
2. HUMAN RELATIONS STATT HUMAN RESOURCE
Social Health: Lasst uns doch alle Freund:innen sein
Erfolgsfaktor Team: So funktioniert Zusammenarbeit
Change Management: Innerer Wandel braucht äußeren Wandel
3. HUMAN SKILLS STATT SOFT SKILLS
Mensch sein: Mehr Empathie und Mitgefühl
Feedback: Wir brauchen es öfter als einmal im Jahr
Radical Honesty: Nicht die Lüge tut weh, sondern die Wahrheit davor
Love Languages: Mehr Wertschätzung am Arbeitsplatz
4. EIGENVERANTWORTUNG STATT FREMDBESTIMMUNG
Intrapreneurship: Lasst sie ruhig mal machen
Job Crafting: Selbstbestimmt statt fremdgesteuert
Lebenslanges Lernen: Wir sind noch lange nicht fertig
5. UNENDLICHKEIT STATT ZIELEINLAUF
DAS IST (NOCH LÄNGST NICHT) DAS ENDE
ANMERKUNGEN
ÜBER DEN AUTOR
Liebe Leser:innen,
es gibt inzwischen kaum mehr Branchen und Regionen in Deutschland, in denen kein massiver Arbeitskräftemangel herrscht. Die Generation der »Babyboomer« geht nach und nach in den Ruhestand. Die wenigen jüngeren Menschen, die ins Erwerbsleben nachrücken, können die Lücke nicht schließen. Die Folge: Die Schere geht immer weiter auseinander. Schon heute bleiben rund zwei Millionen Arbeitsplätze in den Betrieben vakant.1 Tendenz: stark steigend! Wird vonseiten der Politik nicht stärker gegengesteuert, könnten dem deutschen Arbeitsmarkt bis 2035 rund sieben Millionen Erwerbstätige fehlen.2 Das entspricht in etwa der doppelten Einwohnerzahl Berlins.
Human Resources Management und die Sicherung von Arbeitskräften sind daher zu einer Top-Priorität in den Unternehmen aufgestiegen. Im sogenannten »War for Talents« kämpfen die Betriebe inzwischen branchen-, regionen- und länderübergreifend um Arbeitskräfte. Bleiben Positionen für längere Zeit unbesetzt, nimmt die Arbeitsbelastung der übrigen Belegschaft zu. Die Folge sind Überstunden und höhere Krankenstände bis hin zur Kündigung. Ein Teufelskreis, der im Worst Case zu noch höherer Fluktuation führt und die Zahl der offenen Stellen im Unternehmen potenziert. Das A und O für jeden Arbeitgeber im Arbeitnehmermarkt ist daher eine maßgeschneiderte Retention-Strategie. Ziel einer solchen Strategie ist es, den Teufelskreis aus Fluktuation, Aufwand und Kosten zu durchbrechen und die Mitarbeitenden durch wirksame Maßnahmen langfristig im Unternehmen zu halten. Denn: Zufriedene Mitarbeitende bleiben im Unternehmen ihrer Wahl – eine Win-win-Situation für Arbeitgeber und Beschäftigte.
Apropos Beschäftigte: Das Gute an diesem Buch ist, dass es sich nicht nur an Führungskräfte oder HR-Professionals richtet, sondern auch an Mitarbeiter:innen ohne Führungsverantwortung und ohne HR-Hintergrund. Denn: Jede:r einzelne Beschäftigte kann wirksam Veränderungen in Teams und Organisationen herbeiführen. Wie? Darauf gibt das Buch wertvolle Antworten.
Welche Elemente sollte denn jetzt die oben genannte Retention-Strategie umfassen? Ich sehe fünf Handlungsfelder, die sich für jedes Unternehmen zu durchdenken lohnen:
Unternehmenskultur:
Unternehmen sollten eine Kultur fördern, die auf Vertrauen, Offenheit, Zusammenarbeit und gegenseitigem Respekt basiert. Ein gutes Betriebsklima spielt eine wichtige Rolle, damit Mitarbeiter:innen gerne zur Arbeit kommen, sich mit dem Unternehmen identifizieren und es auch weiterempfehlen.
Entlohnung:
Beschäftigte möchten Wertschätzung und Anerkennung für ihre Leistung erhalten. Wenn Mitarbeiter:innen das Gefühl haben, dass sie unterbezahlt sind oder dass sie anderswo eine bessere Vergütung erhalten können, entscheiden sie sich häufig für einen Arbeitgeberwechsel. Bausteine einer erfolgreichen Retention-Strategie sind daher auch eine markt- und leistungsgerechte Entlohnung, eine Beteiligung der Mitarbeiter:innen am Unternehmenserfolg und ein transparentes Gehaltsgefüge, über das auch offen gesprochen wird.
Arbeitsorganisation:
Flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit, mobil zu arbeiten – wo möglich und sinnvoll –, oder das Angebot von Sabbaticals sind wichtige Aspekte, die dazu beitragen, dass Mitarbeiter:innen sich wohlfühlen und ihr Bestes geben. Sie sollten zudem die Möglichkeit haben, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, Ideen auszutauschen und voneinander zu lernen.
Führung:
Am Spruch »Mitarbeiter:innen verlassen nicht ihren Arbeitgeber, sondern ihre Führungskraft« ist viel Wahres dran. Mitarbeiter:innen wünschen sich von ihrer Führungskraft die Anerkennung ihrer Leistungen, einen fairen Umgang – idealerweise auf Augenhöhe – und ein regelmäßiges, konstruktives Feedback. Das gilt insbesondere für die Generation Z.
Personalentwicklung:
Unternehmen, die in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter:innen investieren, zeigen, dass sie an deren Entwicklung interessiert sind, ihren Wert für das Unternehmen schätzen und sie langfristig an sich binden möchten. Umgekehrt gilt: Beschäftigten ist es in einer sich verändernden Arbeitswelt wichtig, ihr Fachwissen und ihre Kompetenzen auf einem aktuellen Stand zu halten und im Idealfall stetig ausbauen zu können. Wenn Beschäftigte das Gefühl haben, dass sie im Unternehmen ihr Potenzial voll ausschöpfen können, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie dem Arbeitgeber treu bleiben.
In den Betrieben gilt es, die fünf Handlungsfelder durch konkrete Maßnahmen mit Leben zu füllen, Beschäftigte mit ihren Ideen zu beteiligen und über die Zeit zu demonstrieren, dass Mitarbeitendenbindung ein strategisches Unternehmensziel ist. Größere Unternehmen haben zumeist durch höhere Budgets und Abteilungen mehr Spielräume bei der Ausgestaltung einer Retention-Strategie. Der Vorteil von KMU ist jedoch, dass keine groß angelegten Mitarbeitendenbefragungen nötig sind. Die Wege zu den Beschäftigten, ihren Anliegen und Bedürfnissen sind kürzer.
Welche Angebote und Maßnahmen kann eine Retention-Strategie konkret beinhalten – abseits von Überschriften und Schlagwörtern? Darauf gibt das vorliegende Buch von Jonas Höhn wertvolle und inspirierende Antworten. Es verliert sich dabei nicht in der Theorie, sondern wird Ihnen konkrete Anregungen und Tipps für die betriebliche Praxis mit auf den Weg geben.
Jonas Höhn weiß, wovon er spricht. Durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Konzernen, KMUs und Personalverantwortlichen aus »beiden Welten« gibt er praxisnahe Beispiele und konkrete Tipps, wie die Rahmenbedingungen vor Ort aussehen müssen, damit Mitarbeiter:innen gerne zur Arbeit kommen und gerne im Unternehmen bleiben.
Der Gründer der »detoxRebels« hat seinen Podcast »Rebellisch gesund« zu einem Leuchtturm in der HR-Community aufgebaut. Folge für Folge inspiriert er durch unkonventionelle »Out-of-the-Box«-Ideen für die Arbeitswelt, unerwartete Denkanstöße und seine Gabe, als Moderator empathisch auf Menschen einzugehen und sie für Veränderungen in der Arbeitswelt zu begeistern. In diesem Buch kommen wir – wie seine Podcast-Gäste und Zuhörer:innen – in den Genuss seiner frischen, inspirierenden Ideen. Es sorgt für ganz besondere »Aha-Momente« – überraschend anders, unterhaltsam und rebellisch.
Ich wünsche Ihnen beim Lesen viel Freude und inspirierende Erkenntnisse. Vor allem aber wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Umsetzung der Impulse im Unternehmen. Retention ist in Zeiten leer gefegter Arbeitsmärkte nicht nur ein Gebot der Stunde, sondern auch der nächsten Jahre.
Mitarbeitende, die sich wohlfühlen, machen die Organisation attraktiver für Bewerber:innen. Dies spricht sich herum und hilft wiederum beim Recruiting. Es zeigt sich: Es sind die Menschen, die den Unterschied ausmachen.
Inga Dransfeld-Haase
Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager:innen
Es ist ein Video, das unter die Haut geht und Gänsehaut erzeugt.1 Eine junge Frau sitzt vor der Kamera, sie ringt um Fassung, kämpft mit den Tränen. »Ich kann doch nicht die Einzige sein«, sagt sie und schaut an die Decke, »die Einzige, die gar keine Kraft mehr für eine Ausbildung hat.« Sie ist Anfang zwanzig und hat bereits zwei Ausbildungen abgebrochen und dabei wertvolle Zeit vergeudet, etwa drei Jahre. »Weil es einfach der Horror ist«, erzählt sie. »Entweder man sitzt auf der Toilette und heult oder man wird wie der größte Dreck behandelt.« Sie wischt sich immer wieder Tränen aus dem Gesicht und erzählt davon, dass sie entweder ignoriert oder angemotzt wurde. »Und dafür wird man dann auch noch richtig schlecht bezahlt«, sagt sie. »Mich belastet das voll«, erzählt sie weiter. »Ich fange die Ausbildungen an und bin noch voll motiviert.« Jetzt ist sie ratlos, kraftlos, arbeitslos. Am Ende ihres Videos, das sie auf der Social-Media-Plattform TikTok hochgeladen hat, stellt sie zwei Fragen: »Warum ist das so in Deutschland? Warum ist die Ausbildung die Hölle?«
Ich habe mich gefragt, ob diese junge Frau mit ihren Gedanken und Gefühlen wohl allein ist? Stellt sie sich womöglich nur an und hat keine Ahnung davon, was es heißt, sich reinzuknien? Immerhin sind Lehrjahre keine Herrenjahre, oder? Das Beratungsunternehmen Gallup gibt dazu eine klare Antwort und zeigt in weltweiten Umfragen eindeutig, dass viele Menschen im Job mehr Frust als Lust erfahren – unabhängig von Alter oder Geschlecht. Demnach fühlen sich in Deutschland 84 Prozent der Mitarbeitenden nicht verbunden mit dem Unternehmen, in dem sie arbeiten.2 Für jede:n Dritte:n ist der Leidensdruck sogar so groß, dass ans Kündigen gedacht wird.3 Wenn du bei Google den Satzanfang »Mein Job ist …« schreibst, schlägt dir die Suchmaschine folgende Vollendungen als Erstes vor: »… langweilig«, »… sinnlos«, »… die Hölle«. Das ist also das, was die Menschen auf ihre berufliche Tätigkeit bezogen beschäftigt.
Im Gallup-Report 2023 heißt es weiter, dass 39 Prozent der Mitarbeitenden in Europa aufgrund der Unzufriedenheit viel Stress erleben. Nicht nur ein wenig oder moderat, sondern so viel Stress, dass sie sich ausgebrannt fühlen – 15 Prozent der europäischen Mitarbeitenden sind sogar sogenannte »Loud Quitter«, also Mitarbeitende, die so unzufrieden sind, dass sie nicht nur innerlich gekündigt haben, sondern ihrer Unzufriedenheit dadurch Ausdruck verleihen, dass sie öffentlich schlecht über ihr Unternehmen reden.4
Aber anstatt an dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum die Verhältnisse in den Unternehmen so schlecht sind, und vor allem, wie wir das ändern können, schreien aktuell viele Mitarbeitende nach einer Vier-Tage-Woche. Aber was nützt uns eine kürzere Woche, wenn die Arbeitsumgebung weiterhin toxisch bleibt, weil zum Beispiel die Führungskraft so emphatisch ist wie ein Clownfisch? Der Fisch stinkt vom Kopf, heißt es. Und deshalb sollten wir unseren Fokus nicht nur auf Recruiting, sondern auch auf Retention-Management legen. Denn was hilft es, wenn die besten Mitarbeitenden mit großen Versprechungen angeworben werden – die bereits in den ersten Wochen nicht eingehalten werden – und sie womöglich direkt wieder gehen, weil sie sich mit der Unternehmenskultur nicht identifizieren können? Das ist für alle frustrierend, auch für die Unternehmen: Fehlendes Engagement kostet Unternehmen jedes Jahr allein in Deutschland bis zu 113,9 Milliarden Euro.5
Deswegen stelle ich mir seit einigen Jahren die Frage, welche Rahmenbedingungen wir brauchen, damit Mitarbeitende gerne bleiben, engagiert sind und auch noch performen können? Wie können wir alle zusammen – ob als Führungskraft, Mitarbeitende oder Unternehmensleitung – die Erlebnisse und Erfahrungen am Arbeitsplatz positiver gestalten, sodass wir wieder mehr Lust als Frust am Arbeitsplatz erleben? Meine Antwort darauf ist das Buch, das du gerade in deinen Händen hältst.
Ich möchte damit Mitarbeitenden, Führungskräften und Unternehmensleitungen Impulse geben, was wir in unserem Berufsalltag anders machen können. Wie wir zusammen eine Arbeitsplatzumgebung schaffen, in der Mitarbeitende nicht nur überleben, sondern leben – und das so, dass sie dabei auch noch aufblühen und über sich hinauswachsen. Die psychologischen Einblicke in diesem Buch mit Best-Practice-Beispielen aus der Wirtschaft sind das Ergebnis aus zahlreichen intensiven Gesprächen mit führenden Expert:innen, Psycholog:innen, Forscher:innen und Personalvorständ:innen, ebenso Erfahrungen aus meinen Unternehmensberatungen sowie meinen persönlichen Erlebnissen.
Dabei geht es nicht darum, alles gleichzeitig umzusetzen, sondern vielmehr darum, auszuprobieren, welche Impulse für das eigene Unternehmen und das eigene soziale Umfeld passend erscheinen. Das Buch ist also so etwas wie ein reichhaltiges Buffet (ohne Warteschlange), von dem du dir das nehmen kannst, was dich anspricht, das zum Reflektieren sowie vor allem zum Handeln anregt.
Es ist mir sehr wichtig, zu betonen, dass es nicht darum geht, mehr aus dir herauszuholen. Du muss nicht dein komplettes Leben auf den Kopf stellen oder alles hinwerfen (wer das tut, muss meist kurz darauf sowieso alles wieder aufheben). Mein Motto für dieses Buch lautet vielmehr: »Mach nicht mehr, sondern mach es anders.« Dazu müssen wir unsere etablierten Routinen und unser Verhalten kritisch hinterfragen: »Ist das, was wir jeden Tag tun und wie wir uns verhalten, für uns selbst und für andere noch gut?« Wir dürfen also für einen kleinen Moment unsere Komfortzone verlassen. Ich weiß, das ist nicht einfach. Wir lieben sie, diese Komfortzone. Wir haben uns in ihr eingerichtet mit Billy-Regalen und Ektorp-Sofas. Aber nur weil wir etwas seit zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren machen, heißt es nicht, dass es heute immer noch gut ist. Daher sollten wir gegenüber anderen Ideen und Ansätzen offen sein und einfach mal etwas ausprobieren.
Was es bringt, nicht mehr, sondern etwas anders zu machen, habe ich selbst eindrucksvoll erfahren dürfen, als ich 2017 zum ersten Mal in Portugal war: in einem Surfcamp zwischen Lissabon und Porto. Am ersten Tag sind wir mit den Boards raus zum Strand, und weil ich recht sportlich bin, dachte ich, dass ich das mit dem Surfen schnell draufhaben würde. Die Trockenübungen am ersten Morgen auf dem Sand schienen das zu bestätigen. Dann ging es ins Wasser. Und dort fiel ich Welle für Welle für Welle vom Board. Den kompletten Tag lang. Zurück im Camp dachte ich abends im Bett darüber nach, was ich noch alles tun müsste, um besser zu werden: mehr Fitness- und Stabilitätsübungen machen, Yoga praktizieren, YouTube-Tutorials schauen.
Am nächsten Tag hatte ich einen anderen Lehrer. Er sah mich am Strand auf dem Board stehen, ließ mich eine Übung machen und sagte nach nur zwei Sekunden: »Du stehst mit dem falschen Fuß vorn.« Es sei eine der wichtigsten Faktoren für den Erfolg beim Surfen, mit dem richtigen Fuß vorn auf dem Brett zu stehen: Goofy (rechter Fuß vorn) oder Regular (linker Fuß vorn).
An diesem Tag habe ich jede Welle bekommen. Und alles, was ich dafür tun musste, war, mich anders aufzustellen. Ohne jeden Mehraufwand. Ich habe weder mehr geschwitzt noch mehr Trainingsstunden bezahlt. Und genauso, glaube ich, kann es im Job laufen: Mach nicht mehr, mach es anders!
Und das Beste daran: Es lohnt sich für alle Beteiligten. Das Softwareunternehmen SAP hat zum Beispiel in einer mehrjährigen internen Erhebung gezeigt, dass ein Prozent mehr Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden zu 50 Millionen Euro mehr Gewinn im Jahr führt: »Happy employees. Happy customers.«6 Darüber hinaus wirken sich zufriedene Mitarbeitende aber auch auf unser gesellschaftliches Miteinander aus. Stell dir mal vor, wir wären alle engagierter und zufriedener bei der Arbeit: Wie würden wir miteinander umgehen? Im Beruf, mit Freund:innen und in den Beziehungen mit unseren Partner:innen und Kindern? Wie würden wir gesellschaftliche Diskussionen führen? Ich finde, dass es auf einen Versuch ankommt.
In diesem Sinne: Viel Spaß mit diesem Buch – zu Hause und vor allem bei der Arbeit.
Rebellische Grüße
Jonas Höhn
Am liebsten würde ich das C-Wort nie mehr in den Mund nehmen, an dieser Stelle lässt es sich aber nicht vermeiden. Denn Corona, also die Pandemie, die vielen von uns noch in den Knochen sitzt, hat auch dafür gesorgt, dass sich die Arbeitswelt maßgeblich verändert hat. Auf einmal gab es Homeoffice – und damit entstand das Konzept des flexiblen Arbeitens, das mehr als eine vorübergehende Reaktion war, sondern inzwischen zu einem festen Bestandteil unserer Job-Welt geworden ist. Immerhin 87 Prozent der Mitarbeitenden nehmen diese Möglichkeit wahr, wenn sie diese Flexibilität bekommen.1 Wenn es darum geht, was sich Mitarbeitende am ehesten von ihrem Arbeitgeber erhoffen, dann wollen die meisten selbst entscheiden können, wie und wo sie ihren Job erledigen. Das ergab eine US-amerikanische Umfrage mit mehr als 1.200 Teilnehmer:innen.2 Auch in Deutschland wünschen sich 95 Prozent, ihre Arbeitszeit frei einzuteilen.3
Meine Gespräche mit verschiedenen HR-Verantwortlichen zeigen mir, dass diese Freiheit beim Arbeiten die Lösung für zukünftige Herausforderung sein könnte: »Das Thema Flexibilität ist für mich das Geheimrezept für unseren Erfolg und die Zufriedenheit unserer Mitarbeitenden. Und das geht weit über die Arbeitszeit und den Arbeitsort hinaus. In internen Umfragen konnten wir feststellen, dass Flexibilität gender- und altersübergreifend das verbindendste Element ist. Deswegen haben wir uns darauf fokussiert, alles darauf zu setzen«, sagt mir Cawa Younosi bei einem Besuch in Düsseldorf. Er ist ehemaliger Personalchef von SAP in Deutschland, war Head of Global Employee Experience und ist einer der gefragtesten HR-Vordenker.*
In diesem Kapitel gehe ich darauf ein, was Flexibilität im Unternehmenskontext überhaupt bedeutet. Ich erläutere die Möglichkeiten und Herausforderungen, die durch das hybride und flexible Arbeiten für die Mitarbeitenden entstehen, sich aber auch für Führungskräfte und Unternehmen bieten – und wie wir alle bei diesem Thema am besten abgeholt werden.
Ich weiß meine Selbstständigkeit wirklich sehr zu schätzen und bin dabei vor allem für einen Aspekt sehr dankbar: Ich kann mir meine Arbeitszeit weitestgehend frei einteilen, ohne schlechtes Gewissen.
Das war mal anders. Noch immer kann ich mich gut an das Gefühl erinnern, das ich als Angestellter hatte, wenn ich abends mit meiner Arbeit fertig war, den Rechner eigentlich runterfahren wollte – und dann gemerkt habe, dass die versammelte Mannschaft noch am Schreibtisch saß. Also bin ich online geblieben und habe mir Aufgaben geschnappt, die ich eigentlich erst am nächsten Morgen erledigen musste. Obwohl mein Akku schon zu sehr runtergefahren war, um mit Zahlen zu jonglieren, bin ich Kalkulationen durchgegangen – wofür ich am Ende viel länger gebraucht habe. Statt meines Rechners wurde nämlich meine Arbeitsleistung runtergefahren.
An solchen Abenden, und die gab es oft, kam ich später nach Hause als geplant. Dann war ich zu kaputt, um noch zum Sport zu gehen oder mir etwas zu kochen. Also lag ich beim Netflixen auf dem Sofa mit einer bestellten Pizza (mit doppelt Käse) und einem Softdrink mit Strohhalm – damit ich beim Trinken nicht aus Versehen einen Sit-up machte. Am nächsten Morgen ging ich natürlich auch nicht zum Sport, weil ich nicht der Letzte sein wollte, der ins Büro kommt (noch früher aufstehen war einfach nicht drin). Also saß ich wie die anderen Lemminge pünktlich um acht Uhr an meinem Schreibtisch, um nur da zu sein. So richtig losgelegt habe ich meist erst ab neun, weil ich dann erst wirklich wach war, also mit dem Kopf.
Irgendwann, ich weiß es noch genau, saß ich morgens bei der Arbeit auf dem Klo und dort ging mir ein Licht auf – und zwar genau in dem Moment, als es im Raum ausging, weil ich mich eine längere Zeit nicht bewegt hatte und sich die Lampen automatisch ausschalteten. Ich saß also im Dunkeln und dachte: Was, wenn es die anderen genauso machen wie ich? Wenn alle nur deshalb länger bleiben und früher kommen, weil auch sie ein schlechtes Gewissen haben – und dabei genauso unproduktiv sind? Wenn sie weder früh am Morgen noch spät am Abend wirklich ihren Job machen, sondern sich auf YouTube Katzen-, Promi- und Sportvideos reinziehen? An diesem Abend bin ich das erste Mal früher gegangen, als ich nämlich meine Arbeit erledigt hatte. Am nächsten Tag musste ich dafür bei meinem Vorgesetzten Rechenschaft ablegen. Wenig später habe ich mich dann selbstständig gemacht.
Wir alle wissen: Manche Menschen schaffen viel in einer Stunde, manche wenig. Und einige auch gar nichts. Das gilt zwar sicher nicht für »Blue-Collar-Mitarbeitende«, also für Leute mit Jobs am Fließband, im Handwerk oder in der Pflege. Sehr wohl aber für Menschen, die im Büro arbeiten (»White-Collar-Mitarbeitende«). Wenn wir das wissen, ist es dann noch zeitgemäß, die zuletzt genannte Gruppe nach ihrer Präsenzzeit zu bewerten? Sind Menschen denn wertvoller, die viele Termine in der Woche haben, die mehr Stunden arbeiten, weniger Pausen machen oder sogar in ihrer Freizeit ins Büro kommen? Die Antwort darauf sollte klar sein: Nein, sind sie nicht. Denn es ist uns doch allen klar: Die reine Arbeitszeit sagt rein gar nichts über die erbrachte Leistung aus – erst recht nicht im Zeitalter der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz. Eine solche Betrachtung wird niemandem gerecht. Der Zukunftsforscher Tristan Horx, der sich in seinem Buch »Sinnmaximierung: Wie wir in Zukunft arbeiten« mit der Arbeitswelt beschäftigt, erzählt mir bei einem Treffen in Dortmund: »Im Moment bestrafen wir effizient arbeitende Menschen mit mehr Arbeit, während die Schlausten jene sind, die es perfektioniert haben, so zu tun, als wären sie hart am Schuften – während sie Katzenvideos schauen.«
Wir kennen bestimmt alle den ein oder anderen dieser Perfektionisten, die uns in Rage bringen können. Schöner wäre es für alle von uns, wenn wir stattdessen eine Ergebniskultur etablieren würden. Wir sollten den Fokus stärker auf Inhalte und Lösungen legen. Dann zählt es auch nicht, wie hoch jemand die Karriereleiter emporgeklettert ist oder wer die ausgefallensten Flipcharts bemalt, sondern wer wirklich Mehrwert schafft – beispielsweise durch neue Produkte und Servicefunktionen oder durch Potenzialentfaltung bei anderen Kolleg:innen.
Wie solch eine Ergebniskultur in der Praxis aussehen kann, davon hat Marcus Diekmann, Unternehmer und einer der bekanntesten Digitalexperten Deutschlands, eine klare Vorstellung. Der ehemalige ROSE-Bikes-CEO erklärt mir im persönlichen Gespräch: »Führungskräfte entscheiden über das strategische Was. Denn das ist kein demokratischer Prozess.« Team und Mitarbeitende dürfen gerne Impulse geben, aber am Ende entscheidet eben die Führungskraft. Sie gibt die Leitplanken vor und definiert gemeinsam mit den Mitarbeitenden die zu erreichenden Ziele. Die Mitarbeiter:innen wiederum entscheiden dann über das operative und taktische Wie. Dies fördert Vertrauen, Freiheit und Eigenverantwortung. Damit dabei nichts aus dem Ruder läuft, wird nach sechs Wochen geschaut, ob die Ziele erreicht wurden. In dieser Zeit stehen Führungskräfte selbstverständlich als Sparringspartner und Coaches zur Verfügung, um ihr Team zu inspirieren und motivieren. In diesem Konstrukt dürfen Mitarbeitende dann auch mal selbst entscheiden, ob sie eine oder zwei Stunden Mittagspause machen, ob sie zu Hause, im Büro oder im Rahmen einer Workation arbeiten, ob sie das lieber direkt vormittags nach dem Aufstehen tun oder abends, wenn die Kinder schlafen. Der Führungskraft kann es am Ende egal sein, wie Ziele erreicht werden – entscheidend ist, dass sie erreicht werden. Ich rede hier aber nicht von einem »Freifahrtschein« – die Vorgesetzten bzw. das Team können natürlich entscheiden, wann es wichtig ist, z. B. Präsenz-Termine anzusetzen.
Wir sollten uns alle einmal die Frage stellen, wann wir wirklich kreativ und produktiv sind. Ist es, wenn wir acht Stunden am Schreibtisch im Büro sitzen und durcharbeiten? Oder wenn wir zwischendurch auch einmal Sport treiben, spazieren gehen oder Mikro-Pausen machen? Wissenschaftliche Studien zeigen, dass es förderlich für die Kreativität und Produktivität ist, wenn wir z. B. regelmäßig Pausen machen, Sport treiben und in der Natur sind.4 Auch Mario Konrad, Gründer von Ryzon, einer der führenden Brands im Triathlon-Bereich, stellt das täglich bei seiner Arbeit fest: »Ich hatte noch nie wirklich eine gute Idee am Schreibtisch. Die kommen in Interaktion oder wenn das Gehirn entspannt ist, wenn das Handy aus ist und weit weg liegt.« Deshalb ermöglicht Ryzon seinen Mitarbeitenden z. B. während der Arbeitszeit, Sport zu treiben. Viele gute Ideen kommen im Alltag, beim Einkaufen auf dem Weg von der Fleisch- zur Käsetheke, im Stau oder beim Duschen, so wie bei Jonathan Badeen, dem Gründer der Dating-App Tinder, der unter der Dusche den Einfall zum Swipen hatte, was Tinder letztlich an die Spitze gebracht hat.5
Ist es nicht verrückt, dass wir immer noch darauf vertrauen, dass physische Anwesenheit positiven Einfluss auf unsere Produktivität und Loyalität hat, mehr noch als unsere Freiheitsräume und damit verbunden unsere Zufriedenheit? Ich finde, bei der Diskussion um Arbeitszeitmodelle fokussieren wir uns auf das Falsche. Am Ende geht es nicht um die Anzahl der Stunden, die jemand abreißt, sondern darum, wie Menschen ihre Arbeit erleben. Es geht darum, welche Rahmenbedingungen vorhanden sind und welche Möglichkeiten es gibt, die Arbeit so auszuführen, dass sie sich mit privaten Interessen und Bedürfnissen vereinbaren lässt. Pa Sinyan, Managing Partner beim Beratungsunternehmen Gallup, erzählt mir beim Podcastgespräch in Köln: »Viele erleben Arbeit als negativ, als einen Energiekiller. Die Arbeit macht viele Menschen krank. Wir reden aber nicht darüber, warum das so ist und wie wir das verändern können, sondern wir reden über die Vier-Tage-Woche. Darüber, dass wir die Arbeitszeit reduzieren sollten. In anderen Ländern haben wir es untersucht, aber noch keinen Effekt gesehen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir nur über dieses Thema sprechen, weil so viele Menschen nicht gerne zur Arbeit gehen. Aber es liegt nicht an der Arbeit. Weltweit zeigen unsere Umfragen, dass knapp 80 Prozent der Mitarbeitenden ihre Arbeit gut finden und Spaß dabei haben. Menschen lieben es also, zu arbeiten.«
Es ist also nicht die Arbeit selbst, die wir als schrecklich erleben und die uns unglücklich macht, es sind die Erfahrungen und die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz. Das ist ein wenig so wie unser Umgang mit Stress, den alle verteufeln und am liebsten abschaffen wollen. Der Stress an sich ist aber überhaupt nicht das Problem, weiß Jacob Drachenberg, einer der führenden Stress-Experten. Der Autor vergleicht Stress gern mit Feuer: Damit kannst du deinen Kamin anzünden und romantisch auf einem Bärenfell liegen – oder dein komplettes Haus abfackeln, wenn du nicht richtig damit umgehst. Genauso ist es auch mit unserem Job. Arbeit ist grundsätzlich erst mal etwas, das uns allen einen Sinn gibt, ein Ort, an dem wir positive Momente erleben und aufblühen können. Aber wenn wir falsch mit ihr umgehen, kann sie uns ausbrennen und krank machen.
Wir müssen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Menschen nicht erst in Teilzeit gehen müssen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Einen guten Ansatz hat meiner Meinung nach zum Beispiel das Softwareunternehmen SAP gefunden. Der ehemalige Deutschland-Personalchef Cawa Younosi sagt mir im persönlichen Gespräch: »Durch Flexibilität geht die Teilzeitquote bei uns kontinuierlich runter. Was für mich ein gutes Zeichen ist, dass Mitarbeitende nicht in Teilzeit gehen müssen, um Vereinbarkeit hinzubekommen. Sie können weiter Vollzeit arbeiten.«
Natürlich gibt es aber auch Menschen, die gerne zwischenzeitlich in Teilzeit arbeiten möchten, um intensiver ihren Hobbys nachzugehen, noch mehr Zeit mit der Familie zu haben oder andere Wünsche umsetzen zu können. Und hier erlebt Anja Karlshaus, Professorin für BWL und Personalmanagement an der CBS International Business School und Herausgeberin des Buches »Teilzeitführung«, in den letzten Jahren einen deutlichen Wandel in der Unternehmensmentalität: »Unternehmen experimentieren heutzutage vermehrt mit verschiedenen Arbeitszeitmodellen. Zum Beispiel gewinnt das Konzept ›Top-Sharing‹ an Popularität, sodass Unternehmen Teilzeitführung nicht mehr ausschließlich als Instrument zur Förderung von Frauen betrachten, sondern es zunehmend als Instrument zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben verstehen, das auch die Perspektive der Väter einschließt.« Obwohl Teilzeitführung noch immer teilweise stigmatisiert ist und mit Nachteilen, wie geringerer Arbeitszeitverdichtung, begrenzter Akzeptanz oder beschränkteren Karrieremöglichkeiten einhergeht, bemerkt sie eine wachsende Offenheit gegenüber diesem Thema: »Ich beobachte immer mehr Beispiele, in denen es positiv und strategisch angegangen wird.«
Einer dieser Arbeitgeber ist zum Beispiel der größte deutsche Onlineshop OTTO, der seit Sommer 2023 grundsätzlich alle Führungspositionen optional in Teilzeit (ab 80 Prozent) ausschreibt. Für Katy Roewer, Bereichsvorständin Service & HR, die selbst zu 80 Prozent arbeitet, ist klar: »Eine erfolgreiche Führung im Unternehmen schließt einen Teilzeitvertrag nicht aus.«
Gerade frisch gebackene Mütter und Väter können und wollen in bestimmten Lebensphasen nicht in Vollzeit arbeiten. »Sie deswegen zu verlieren, wäre betriebswirtschaftlicher Unsinn«, erklärt mir Prof. Dr. Karlshaus. Vielmehr braucht es eine stärkere Flexibilität in der Festlegung der Arbeitszeiten, die möglichst bürokratielos anzupassen sind – in die Teilzeit hinein und wieder heraus.
»Es ist immer besser, das Talent in einer 80-Prozent-Führung zu fördern, als es zu verlieren, weil es an alternativen Arbeitsmodellen fehlt. Die am besten zur Rolle passende Person soll den Job machen – unter den bestmöglichen Voraussetzungen«, erklärt mir Katy Roewer. Damit macht sie die Verantwortung von Unternehmen klar, auf die individuellen Entscheidungen und Bedürfnisse von Mitarbeitenden flexibel zu reagieren. Wichtig dabei ist aber vor allem, dass der Aufgabenzuschnitt sich an der Arbeitszeit orientiert, damit eine Teilzeitarbeitskraft nicht plötzlich 120 Prozent leisten muss. Falls Führungskräfte weniger als 80 Prozent arbeiten möchten, gibt es bei OTTO sogar die Möglichkeit des Jobsharings: Hierbei wird die Position von zwei Personen in einem Tandem besetzt. Laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa bieten immer mehr Unternehmen solche Modelle an. Bei Mercedes-Benz arbeiten beispielsweise bereits 420 Führungskräfte in Tandem-Lösungen, bei Daimler Truck existieren 100, bei Porsche 20 Tandems bis zur zweiten Führungsebene.6
Ob diese Modelle positive Auswirkungen auf die Produktivität und Umsätze haben, kann bislang noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt werden. Was sich aber klar zeigt, ist, dass solche flexiblen Arbeitszeitmodelle sich unter anderem positiv auf die Verbundenheit zum Unternehmen und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden auswirken. Auch bei OTTO: Katy Roewer erzählt von einer Kollegin, für die die neue Teilzeitoption entscheidend war, überhaupt im Unternehmen zu bleiben und eine neue Führungsverantwortung zu übernehmen. Damit schafft das Unternehmen ganz nebenbei auch die Rahmenbedingungen, um die Geschlechterparität in der Führungsebene zu verbessern. Denn leider ist es immer noch so, dass in Deutschland knapp 73 Prozent der erwerbstätigen Mütter und lediglich sieben Prozent der erwerbstätigen Väter in Teilzeit arbeiten.7
Sollten sich die Unternehmen also nicht darum bemühen, die Mitarbeitenden durch flexible Angebote zufriedenzustellen, um dann bestmögliche Leistungen zu erwarten, anstatt Menschen zu Aktivitäten zu zwingen, die sie nicht wollen und die sie deshalb unzufrieden machen?
Eine ergebnisorientierte Kultur würde übrigens dazu führen, dass Mitarbeitende endlich realistisch erreichbare Ziele erhielten, an denen sie gemessen und beurteilt werden würden. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bisher ist es eher so, dass es entweder gar keine konkreten Ziele gibt oder die Ziele unrealistisch sind. Anstatt also irgendwelche Aufgaben zu erledigen, um einfach nur beschäftigt zu sein, würde die Arbeitszeit schließlich genutzt werden, um wirklich sinnstiftende Tätigkeiten zu erledigen, die einen echten Mehrwert für das Unternehmen haben.
Mehr als die Hälfte der Angestellten verbringen nämlich fast 60 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Tätigkeiten, für die sie nicht eingestellt wurden. Das ergab eine weltweite Umfrage von Asana, einer Plattform für Arbeitsmanagement. Damit sind an dieser Stelle keine Katzenvideos gemeint, sondern beispielsweise nicht zielführende Meetings, Software-Updates, Verwaltung von Prioritäten und To-do-Listen sowie die Kommunikation über ihre Arbeit.8
Die Präsenzkultur fördert in meinen Augen lediglich die Haltung, dass Stress, ein voller Terminkalender und sogar die reine sinnfreie Beschäftigung als Statussymbole wahrgenommen werden. Bei Angestellten genauso wie bei Selbstständigen. Ich kenne das aus meinem Alltag. Wenn ich erzähle, dass ich in den letzten zwei Wochen in fünf verschiedenen Städten war, nur noch vier Stunden geschlafen habe, weil so viel zu tun war, und ich regelmäßig meine Mittagspause auslasse, dann bekomme ich Anerkennung, bin plötzlich wichtig und bedeutsam. Weniger beeindruckend bin ich offenbar, wenn ich jeden Morgen meditiere, anderthalb Stunden Mittagspause mache und abends Zeit für meine Hobbys und Freundschaften habe. Menschen, die beschäftigt sind oder auch nur Geräte nutzen, die darauf hindeuten, beschäftigt zu sein, wie etwa Kopfhörer, Laptop, Handy, werden als wichtig und beeindruckend wahrgenommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Marketingprofessorin der Columbia Business School, Silvia Bellezza.9 Die aktuelle Forschung zeigt, dass Anstrengung grundsätzlich als moralisch bewundernswert angesehen wird, unabhängig davon, ob die Leistung zu einem gewünschten Ergebnis oder einer besseren Qualität führt.10
Dahinter stecken verschiedene Gründe und Faktoren. Um diese zu verstehen, müssen wir uns einen Begriff aus der Sozialpsychologie einmal genauer anschauen: Effort Justification. Studien haben gezeigt: Je härter Menschen arbeiten und sich anstrengen, desto positiver bewerten sie diese Arbeit – unabhängig davon, ob die Aufgabe sinnvoll oder sinnlos erscheint. Heißt: Die Bewertung eines Ergebnisses wird also durch den Input und nicht durch den Output bewertet.11
Wir rechtfertigen unseren Aufwand, unseren Stress, unsere Arbeit mit allerlei Gründen, ohne dabei zu erkennen, dass wir ausbrennen. Wen wundert es noch, dass Menschen auf die Frage, wie es ihnen geht, meistens so etwas sagen wie: »Ist gerade viel los« – »Bin busy« – »Hab ordentlich Stress«. Viele Stunden abzuklopfen, bringt Anerkennung, Wertschätzung und erhöht das eigene Ansehen. Ob dabei am Ende etwas herumkommt, hinterfragen wir erst mal nicht. Die Folgen sind gravierend: Unzufriedenheit und Erschöpfung steigen, ebenso wie die Anzahl der Menschen, die unter Burn-out oder Depressionen leiden. Wir machen zwar kein Harakiri, aber Karoshi – wie in Japan ein berufsbezogener plötzlicher Tod bezeichnet wird. Das musst du dir mal vorstellen. Dafür gibt es inzwischen sogar einen eigenen Begriff! Eine Studie der japanischen Regierung kam 2016 zu dem Ergebnis, dass bei 23 Prozent der Unternehmen Mitarbeitende über 80 Überstunden pro Monat arbeiten.12 Weltweit starben im Jahr 2016 laut einer UN-Studie 745.000 Menschen durch Überarbeitung an einem Schlaganfall oder an einer Herzerkrankung.13 Sieht so die Arbeit der Zukunft aus?
Es ist auch mal okay, nichts zu tun. Durchatmen, aus dem Fenster gucken und dabei zuschauen, wie sich die Blätter im Wind bewegen oder Hundebesitzer:innen mit einem Plastikbeutel in die Knie gehen. Viele Menschen haben inzwischen ein Problem damit, auch mal nichts zu tun – sogar in der Freizeit. So sehr, dass sie sich lieber selbst mit Elektroschocks drangsalieren, als zu entspannen. Klingt verrückt? Ist es auch! Aber genau das zeigt ein Experiment des Sozialpsychologen Timothy Wilson aus den USA. In diesem Versuch sollten sich Menschen 15 Minuten in einen tristen Raum setzen und einfach nichts tun, absolut gar nichts. Sie durften nicht schlafen, sich nicht bewegen. Einfach nur auf einem Stuhl vor einem Tisch mit einem Gerät sitzen. Wenn sie wollten, konnten sie auf einen Knopf des Geräts drücken und erhielten einen unangenehmen Elektroschock. Dieser war so schmerzhaft, dass sie in einem vorherigen Versuch angaben, Geld zu bezahlen, um diesen ein zweites Mal zu vermeiden. Und genau diesen Knopf drückten schließlich 67 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen, um sich selbst Schmerzen zuzufügen, weil sie die Langeweile nicht aushielten. Ein Teilnehmer fügte sich unfassbare 190 Elektroschocks in 15 Minuten zu. Einhundertneunzig!14
Mit der Etablierung einer Ergebniskultur und damit einhergehend der Möglichkeit, die Arbeit flexibel zu gestalten, würde sich meines Erachtens viel zum Besseren verändern. Mitarbeitende würden sich auf einmal Gedanken darüber machen, wie sie ihre Arbeit produktiver und effizienter gestalten können, sie würden sich mit Flow-Arbeit, Produktivität und Zeitmanagement auseinandersetzen.
Wir können nicht auf der einen Seite mehr Selbstverantwortung und Initiative von Mitarbeitenden einfordern und sie gleichzeitig weiterhin bis ins kleinste Detail kontrollieren. Immerhin ein Viertel der digital arbeitenden Mitarbeiter:innen haben das Gefühl, ihr Arbeitgeber sei misstrauisch und würde mehr kontrollieren als vertrauen. Das ist das Ergebnis einer Bitkom-Umfrage.15
Aus Misstrauen und Kontrolle entsteht am Ende die Angst, Fehler zu machen, worunter das kreative und das innovative Denken leiden. Wir basteln uns damit immer mehr Ja-Sager:innen, die sich nicht mehr trauen, ihre eigene Meinung mitzuteilen und Dinge zu hinterfragen. Statt sich auf den Arbeitsplatz zu freuen, wird er zu einem Ort, der mit Vorsicht genossen wird. Und um das zu vermeiden, brauchen wir Vertrauen. Ich glaube, wenn man einem Mitarbeitenden Vertrauen entgegenbringt, will auch dieser, dass es klappt – für sich und für die Kolleg:innen.
In Firmen mit einer hohen Vertrauenskultur arbeiten Mitarbeitende immerhin um 50 Prozent produktiver, haben 13 Prozent weniger Krankheitstage, sind um 76 Prozent engagierter und um 29 Prozent zufriedener. 74 Prozent sind weniger gestresst und 40 Prozent weniger Leute erleiden einen Burn-out.16 Erfolg lässt sich eben einfach nicht durch Kontrolle herstellen.
Die Grundlage für ein gutes Vertrauensverhältnis ist erst einmal ein positives Menschenbild – also davon auszugehen, dass die Kolleg:innen schon das Beste für andere und das Unternehmen wollen. Der häufigste Grund, warum wir uns gegenseitig kontrollieren, ist Misstrauen – die Annahme zum Beispiel, dass andere egoistisch sind und jede Situation zum eigenen Vorteil wenden wollen.
Der Historiker und Autor Rutger Bregman ist da anderer Meinung und widerlegt diese Annahme in seinem Buch durch fundierte Forschung. Er schreibt: »Dass Menschen von Natur aus egoistisch, panisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos.«17 Das Problem ist aber, wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen um uns herum grundsätzlich nicht gut sind und jede Situation bei der Arbeit ausnutzen, um sich zu entspannen oder faul zu sein, dann behandeln wir sie auch genau so, als würden sie das wirklich tun. Wenn wir also nur an das Negativste eines Menschen denken und Schlechtes erwarten, werden wir es auch bekommen – allein schon deshalb, weil wir uns diesem Menschen gegenüber auch so verhalten. Wir gehen in eine grundsätzliche Abwehrhaltung, ziehen uns zurück, vermeiden die Zusammenarbeit, sind nicht ehrlich, öffnen uns nicht, geben kein Feedback. Egal, ob ich mit meiner Einschätzung über die andere Person recht habe – die Arbeitsbeziehung wird leiden. Gehen wir aber von einem positiven Menschenbild aus, indem wir beispielsweise denken, dass die Kollegin alles in ihrer Macht Stehende tut, um das Unternehmen und das Team nach vorne zu bringen, dann werden wir uns ihr gegenüber positiv verhalten und die Beziehung zu ihr fördern. Weil wir vertrauen.
Ein leuchtendes Vorbild ist für mich der nachhaltige Outdoor-Ausrüster VAUDE, der bereits mehrfach für seine einzigartige Vertrauenskultur ausgezeichnet worden ist. CEO Antje von Dewitz erzählt mir persönlich: »Wir gehen mit einem positiven Menschenbild ran. Also der Überzeugung, dass die Menschen gerne für uns arbeiten. Es ist nicht die Aufgabe des Unternehmens und der Führungskräfte, Kontrolleure zu sein, zu schauen: Seid ihr bei der Arbeit, arbeitet ihr genug? Es geht vielmehr darum, einen guten Rahmen zu schaffen, in dem jede:r Einzelne optimal gefördert und gefordert wird und sein Potenzial entfalten kann. So bleibt auch die Motivation erhalten.« Das Ergebnis ist, dass die Mitarbeitenden bei VAUDE aufblühen, viel Energie in das Unternehmen einbringen und mit Körper, Seele und Geist dabei sind. Dennoch gibt es auch hier ein gewisses Maß an Kontrolle. »Vertrauen heißt nicht, wir haben uns alle lieb, äußern kein Feedback und kontrollieren nichts. Wir vertrauen darauf, dass die Einzelnen die beste Leistung erbringen wollen. Doch natürlich gibt es auch Zielvorgaben, die sich an unserer Strategie ausrichten und deren Erfüllung auch gemessen wird«, sagt von Dewitz.
Und klar, es kann auch mal dazu kommen, dass Vertrauen ausgenutzt wird. Dass wir auch mal danebenliegen und verletzt werden. Davon sollten wir sogar zwingend ausgehen. Das ist der Preis, der bezahlt werden muss. Aber ist es nicht genau das, was uns flexibel macht und weiterbringt? Sind es nicht genau die Situationen, aus denen wir lernen? Auch bei VAUDE wurde das Vertrauen bereits an der einen oder anderen Stelle missbraucht. So hat zum Beispiel ein Mitarbeiter über Jahre Produkte heimlich im Internet verkauft. Die Forderung, deshalb sofort das komplette Konzept über Bord zu werfen, blieb aber überraschenderweise aus. Vielmehr war die Rückmeldung der Kolleg:innen: »Das darf uns jetzt aber nicht unsere Vertrauenskultur zerstören.« Antje von Dewitz sieht es so: »Der Mehrwert durch unser vertrauensvolles Miteinander erträgt auch, wenn das Vertrauen von einigen wenigen mal ausgenutzt wird. Zudem können bei einem offenen Umgang mit solchen Problemen auch Vorkehrungen getroffen werden, um Wiederholungen zu vermeiden.«
Aber wie kann jetzt Vertrauen aufgebaut oder auch gefördert werden? Nach Professorin Frances Frei von der Harvard Business School und Anne Morris gibt es drei Faktoren (Vertrauensdreieck), die dafür entscheidend sind: Authentizität, Logik und Empathie.18 Werden alle drei Faktoren erfüllt, entsteht großes Vertrauen. Ist jedoch auch nur einer der Eckpfeiler am wackeln, wird die Vertrauensbeziehung bedroht.
Vertrauen aufzubauen ist Arbeit und kein Zufall. Es geht nicht darum, Vertrauen zu gewinnen, sondern aufzubauen. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, es geht hierbei um eine kontinuierliche Arbeit. Der amerikanische Neurowissenschaftler Paul J. Zak konnte durch seine weltweiten Untersuchungen insgesamt sieben Faktoren ausmachen, die das Vertrauen in Unternehmen fördern19 – die ich weiterführend auch noch in anderen Kapiteln aufgreife:
Hervorragende Leistungen anerkennen. Ein unmittelbar positives Feedback nach Erreichen eines Ziels fördert das Vertrauen. Dabei ist es wichtig, dass dieses Feedback unerwartet, öffentlich und persönlich ist.
Mitarbeitende brauchen schwierige, aber lösbare konkrete Ziele.
Mitarbeitenden sollte es ermöglicht werden, Ziele und Tätigkeiten nach ihren persönlichen Vorstellungen zu erledigen.
Informationen, Strategien und Ziele sollten Mitarbeitenden nicht vorenthalten werden.
Genauso gilt aber auch: Soziale Beziehungen sollten innerhalb des Arbeitsumfeldes aufgebaut werden.
Das persönliche Wachstum sollte durch lebenslanges Lernen gefördert werden.
Die Mitarbeitenden dürfen sich verletzlich zeigen, zum Beispiel, indem sie Kolleg:innen um Hilfe bitten.
Wer aber glaubt, dass allein ein Angebot an flexiblen Arbeitszeiten zu gesünderen und produktiveren Menschen führt, der liegt falsch. Denn eine renommierte Studie der Krankenkasse Barmer und der Universität St. Gallen, die 8.000 Erwerbstätige über einen dreijährigen Zeitraum im halbjährlichen Rhythmus untersucht hat, zeigte, dass auch ein klares Grenzmanagement zu einer besseren Arbeitsfähigkeit führt und die Gesundheit der Mitarbeitenden verbessert.20
Demnach haben Mitarbeitende, die räumliche, zeitliche und kommunikative Grenzmanagement-Taktiken anwenden, knapp 15 Prozent weniger Stress, über zehn Prozent weniger Schlafprobleme und eine über zehn Prozent höhere physische und psychische Arbeitsfähigkeit. Flexibles Arbeiten bedeutet, nicht völlig unstrukturiert in den Tag, die Woche, den Monat zu starten. Es braucht stattdessen gute Voraussetzungen, um zum Beispiel im Homeoffice gut performen zu können, etwa durch einen räumlich abgetrennten Platz. Darüber hinaus braucht es klare zeitliche Strukturen, wann gearbeitet wird und wann Freizeit, Pausen und Erholung anstehen. Wer im Homeoffice sogar seine Freizeit im hohen Maß aktiv gestaltet, kann aufkommenden Stress erheblich reduzieren.
Das Wichtigste dabei ist, dass diese Strukturen transparent und klar mit Kolleg:innen und Partner:innen, aber auch mit den eigenen Kindern kommuniziert werden, um eine ständige Erreichbarkeit zu vermeiden. Dabei wird es auch immer stärker auf die Fähigkeit des Selbstmanagements und die digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden und Führungskräfte ankommen. Denn wenn Letztere die entsprechende Technikkompetenz mitbringen, zeigen deren Mitarbeitende eine um 50 Prozent höhere Arbeitszufriedenheit und eine um zehn Prozent höhere Produktivität. Außerdem wollen 40 Prozent weniger Mitarbeitende kündigen und 15 Prozent haben weniger Stress. Verfügen Mitarbeitende über starke digitale Kompetenzen, haben sie knapp 20 Prozent weniger Schlafprobleme und sechs Prozent weniger Stress, sind knapp 14 Prozent produktiver und verfügen über eine circa 15 Prozent höhere physische sowie psychische Arbeitsfähigkeit als Menschen mit einer gering ausgeprägten Kompetenz. Diese Ergebnisse zeigen, dass den Mitarbeitenden und Führungskräften nicht allein damit geholfen ist, wenn sie flexibel arbeiten können, sondern dass es einerseits Strukturen, Regeln und Teamabsprachen braucht und andererseits Schulungsangebote, die Kompetenzen weiterentwickeln. Besonders wichtig ist es hierbei, im Team Regeln, Vereinbarungen und Leitlinien zur hybriden Zusammenarbeit festzuhalten. Denn würden wir alle autonom unsere Arbeitszeiten und -orte planen, würde sich die Zusammenarbeit im Team verkomplizieren, weil es keine Überschneidungen mehr geben könnte. Während die einen Kolleg:innen zum Beispiel vormittags gerne Brainstorming-Meetings im Büro haben, bleiben andere in diesem Zeitfenster lieber zu Hause. Eine Voraussetzung ist also auch, dass wir bereit sind, unsere individuelle Souveränität mal aufzugeben und Kompromisse einzugehen.
Auch der Automobilkonzern Audi hat die Notwendigkeit einer Änderung erkannt und seit Oktober 2022 die Betriebsvereinbarung »Hybrides Arbeiten« an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm ausgerufen. Geregelt sind darin, dass es keine allgemein vorgeschriebene Anzahl an Anwesenheitstagen gibt, sondern die Teams individuell und selbstbestimmt ihre Präsenztage definieren und damit ihren Arbeitsort frei wählen können. So kann jeder entscheiden, ob er Teil der »Desk-Sharing-Policy« sein möchte oder einen festen Arbeitsplatz bevorzugt. Wer sich für die Teilnahme am Desk-Sharing entscheidet, wird mit einem IT-Paket technisch für das mobile Arbeiten ausgestattet. Für eine ergonomische Büroausstattung erhalten diese Mitarbeitenden darüber hinaus einen Gutschein im Wert von 500 Euro. Mitarbeitende, zum Beispiel aus der Produktion, für die kein Homeoffice möglich ist, sollen auch von Fortschritten profitieren: etwa durch flexiblere Arbeitsmodelle für den Schichtdienst, neue Raumkonzepte, eine vielfältigere Gastronomie oder einen besseren Zugang zur digitalen Welt von Audi.
Im Unternehmen wollte man aber nicht nur auf das Bauchgefühl hören. Deshalb hat Audi, unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Böhm von der Universität St. Gallen, eine Studie zum hybriden Arbeiten durchführen lassen. Dazu wurden knapp 1.500 Mitarbeitende in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe begann ihren Arbeitstag ohne Absprachen und Einflussnahme von außen. Die zweite nahm an moderierten Workshops zum hybriden Arbeiten teil und sprach sich innerhalb des Teams über Bedürfnisse, Wünsche und hybride Vereinbarungen ab. Ergebnis: Die Absprache beziehungsweise das Regelwerk für die Zusammenarbeit stärkte das gegenseitige Vertrauen, steigerte das Zugehörigkeitsgefühl und die einzelnen Teammitglieder zeigten sich verbindlicher. Dabei war es vor allem wichtig, dass die Regeln gemeinsam festgelegt wurden und zum Team passen. Zudem konnte bei den Gruppenmitgliedern, die an den Workshops teilnahmen, im Vorfeld Stress reduziert und die Zufriedenheit sowie das Engagement gesteigert werden. Sogar die Kündigungsabsicht sank bei dieser Gruppe um knapp 50 Prozent.