Arbeitswelt.Inklusion.Inspiration. Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Handlungsempfehlung: Aktionspläne - Birgit Raab - E-Book

Arbeitswelt.Inklusion.Inspiration. Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Handlungsempfehlung: Aktionspläne E-Book

Birgit Raab

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Beschreibung

2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft verabschiedet. Doch die Zahl der Firmen, die bisher einen Aktionsplan Inklusion vorweisen können, ist in Deutschland 11 Jahre danach noch mehr als gering und liegt im unteren zweistelligen Bereich. Mit unserem Buch wollen wir ein Plädoyer für das Engagement in inklusive Mitarbeitende halten. Und ermuntern, das Thema als Business-Case zu betrachten und selbst Aktionspläne zu erstellen. Wir blicken hinter die Kulissen des UnternehmensForum, ein Zusammenschluss von mittelständischen Betrieben und Großkonzernen, die aktiv das Thema Inklusion vorantreiben und bereits an der Umsetzung ihrer Aktionspläne arbeiten. Wir stellen bereits bestehende Aktionspläne vor und geben Erfahrungen zur Erarbeitung und Umsetzung weiter. Wir sprechen mit Inklusionsbeauftragten und mit Schwerbehindertenvertretern aus DAX Unternehmen und KMU über ihre Aufgaben, Ziele und Erwartungen. Und werfen einen Blick auf die Historie des Sozialgesetzbuchs lX. Unser Ziel: Wir möchten Schwerbehinderung/Inklusion in Unternehmen als aktuelles, wichtiges und vor allem lebendiges/dynamisches Thema darstellen. Natürlich gibt es einen historischen Input, aber unser Buch lebt von den Interviews, von den Geschichten und Gesichtern. Die Inhalte sollen informativ sein, ermuntern und sensibilisieren. Es soll Denkanstöße geben und die Leser motivieren, selber aktiv zu werden!

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Birgit Raab und Astrid Westermann

Arbeitswelt. Inklusion. Inspiration.

Perspektiven aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft

© 2022 Birgit Raab, Astrid Westermann

ISBN Hardcover: 978-3-347-51873-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Vorwort: Joost Korte, Generaldirektor der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion der Europäischen Union

Historischer Rückblick auf die Sozialgesetzgebung Ein Beitrag von Birgit Raab und Astrid Westermann

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: Demokratie braucht Inklusion

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK: Barrierefreiheit als Innovationsschub

Christoph Beyer, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen: Von der Verhaltens- zur Verhältnisprävention

Prof.’in Dr. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln: Transformation hin zu inklusiven Bildungseinrichtungen

Prof. Franz Josef Düwell, Richter am Bundesarbeitsgericht a.D.: Eine vierte Klasse der Ausgleichsabgabe schaffen

Manfred Otto-Albrecht, Fortbildungsakademie der Wirtschaft: Mehr Inklusion – Weiter so oder weiter anders?

Oliver Schmidt-Eicher, Fachanwalt für Arbeits- und Sozialrecht: Vision eines europäischen Schwerbehindertennetzwerkes

Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Institutes für Mensch, Ethik und Wissenschaft: Aktionsplan – Plan mit Aktionen

Aktionspläne – Entstehung, Wirkung, Beispiele Ein Beitrag von Birgit Raab und Astrid Westermann

Judyta Smykowski, Sozialheldin, interviewt Birgit Raab und Astrid Westermann

Olaf Guttzeit, Boehringer Ingelheim: Vielfalt führt zu Mehrwert

Thomas Wendt, dentsu: Talentpool der Inklusion anzapfen

Sofia Strabis, Commerzbank: Weg vom Label der Schwerbehinderung

Frank Rusko, Sanofi-Aventis: Bewusstsein schaffen – mein Kernanliegen

Heidi Ziliaskopolous, Sodexo: Inklusion ist kein Nischenprodukt

Alexander Eckhardt, SAP: Unser Grundsatz – Stärkenorientierung

Reinhard Wagner, Fraport AG: Es kann plötzlich jeden Menschen treffen

Happy Birthday – 100 Jahre Schwerbehindertenvertretung Ein Beitrag von Ulrike Hepperle und Uwe Spillebeen

Marina Zdravkovic, Siemens AG: Inklusion entschieden leben

Dietmar Gülke, Axel Springer SE: Gesetzgebung verstehen und richtig anwenden

Elke Vetter, Bayerisches Landeskriminalamt: Ausgleichsabgabe muss wehtun

Michael Matthes, Metro AG: Nicht reden, einfach machen

Steffen Pietsch, Deutsche Bahn AG: Bewerber mit Behinderungen ansprechen

UnternehmensForum: Ziele und Aufgaben des Netzwerkes Ein Beitrag von Olaf Guttzeit und Reinhard Wagner

Alfons A. Adam, Bundesnetzwerk der Schwerbehinderten-vertretung: Eine eigene Stimme für die SBV

Wolfgang Kowatsch, myAbility: Inklusion – ein „must have“

Joachim Schoss, EnableMe – Stiftung MyHandicap: Den Fokus auf die „Abilities“ legen

Nils Dreyer, Inklupreneur: Als Unternehmer Verantwortung übernehmen

Birgit Raab, Axel Springer SE: Tandem-Partnerin im iXNet-Career-Boost

Andrea Pohl, PPH Personaldienstleistung GmbH: Die Arbeitswelt befindet sich im Umbruch

Danke!

Einleitung

2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft verabschiedet. Doch die Zahl der Unternehmen, die bisher einen Aktionsplan Inklusion vorweisen können, ist in Deutschland 13 Jahre danach noch mehr als gering und liegt im unteren zweistelligen Bereich.

Mit unserem Buch wollen wir ein Plädoyer für das Engagement in inklusive Mitarbeitende halten. Wir wollen ermuntern, das Thema als Business-Case zu betrachten und Aktionspläne zu erstellen.

Wir blicken hinter die Kulissen des UnternehmensForums, ein Zusammenschluss von kleinen und mittelständischen Betrieben sowie Großkonzernen, die aktiv das Thema Inklusion vorantreiben und bereits an der Umsetzung ihrer Aktionspläne arbeiten. Wir stellen bereits bestehende Aktionspläne vor und geben Erfahrungen zur Erarbeitung und Umsetzung weiter. Wir sprechen mit Inklusionsbeauftragten und mit Schwerbehindertenvertretungen aus Dax-Unternehmen und KMU über ihre Aufgaben, Ziele und Erwartungen. Wir werfen einen Blick auf die Historie des Sozialgesetzbuchs lX. Und wir schauen über die Grenzen und geben einen Überblick über die europäischen Aktivitäten zum Thema Inklusion.

Unser Ziel: Wir möchten Inklusion in Unternehmen als aktuelles, wichtiges und vor allem lebendig dynamisches Thema darstellen. Natürlich gibt es einen historischen Input, aber unser Buch lebt von den Interviews, von den Geschichten und Gesichtern.

Die Inhalte sollen informativ sein, ermuntern und sensibilisieren. Das Buch soll Denkanstöße geben und die Leser motivieren, selbst aktiv zu werden!

Birgit Raab und Astrid Westermann

Vorwort: Joost Korte

Liebe Leser: innen,

Inklusion ist ein Menschenrecht. Anerkannt hat das vor mittlerweile über zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Europäische Union unterstützt diesen Ansatz aktiv, und die neue EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (20212030) ist ein zentraler Baustein der Union der Gleichheit, welche die EU aufbaut. Sie soll die uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe dieser Menschen an der Gesellschaft und in der Wirtschaft sicherstellen.

Die Strategie sieht eine ganze Reihe konkreter Initiativen und Aktionen vor. Barrierefreiheit ist der Schlüssel für stärkere Rechte, eine unabhängige Lebensführung und Chancengleichheit. Viel ist schon erreicht worden, und deutlich mehr muss noch passieren.

Die Europäische Kommission wird 2022 das europäische Ressourcenzentrum „AccessibleEU“ (Barrierefreie EU) einrichten, um eine Wissensbasis mit Informationen und bewährten Verfahren zur Barrierefreiheit in allen Bereichen aufzubauen. Auch werden wir konkrete Vorschläge machen, um die Chancen für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Zudem müssen wir das Recht von Menschen mit Behinderungen sicherstellen, genauso wie alle anderen EU-Bürger überall innerhalb der EU reisen und leben zu können. Bislang scheitert das oft noch daran, dass EU-Mitgliedstaaten den Behindertenstatus nicht gegenseitig anerkennen. Das wollen wir mit einem europäischen Behindertenausweis ändern. Aufbauend auf einem Pilotprojekt in acht EU-Ländern, wird die Europäische Kommission bis Ende 2023 einen entsprechenden Vorschlag vorlegen.

Für alle unsere Vorhaben setzen wir auf Zusammenarbeit: mit Behindertenverbänden, mit Sozialpartnern, mit Dienstleistungsanbietern und mit staatlichen Stellen. Als Gemeinschaft können wir echte Inklusion, finanzielle Unabhängigkeit und ein Leben in Würde für Menschen mit Behinderungen sicherstellen.

Joost Korte

Generaldirektor der Generaldirektion

Beschäftigung, Soziales und Inklusion der Europäischen Union

Anton Storch, Bundesminister für Arbeit, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers. 1. April 1952.

Historischer Rückblick auf die SozialgesetzgebungEin Beitrag von Birgit Raab und Astrid Westermann

Norbert Blüm („Die Rente ist sicher“) kennen Sie bestimmt. Doch kennen Sie auch Anton Storch?

„Ich erinnere mich, dass der 1. April auch der Geburtstag Otto von Bismarcks ist, der den ersten Stein zur modernen Sozialpolitik in Deutschland gelegt hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Sie nun das Bauwerk in so großzügiger Weise haben weiterführen können …“

Mit diesen Zeilen gratulierte der niedersächsische Sozialminister Heinz Rudolph dem damaligen Bundesarbeitsminister Anton Storch zu dessen 65. Geburtstag am 1. April 1957. Und mit diesen Zeilen möchten wir unseren historischen Rückblick auf die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik beginnen.

Warum mit Anton Storch?

Weil er als erster Bundesarbeitsminister im Kabinett von Konrad Adenauer von 1949 bis 1957 die soziale Neuordnung der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitgeprägt hat. So bewertet es die Konrad Adenauer Stiftung auf ihrer Homepage1.

Anton Storch (1.4.1892–26.11.1975) gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den „Männern der ersten Stunde“. In Hannover war er 1945 sowohl an der Gründung der Christlich Demokratischen Union (CDU) als auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) beteiligt. Und übernahm 1946 die Leitung der sozialpolitischen Abteilung des DGB in der britischen Zone.

Die Einführung der Tarifautonomie in der gesamten Bundesrepublik geht ebenso auf ihn zurück wie der Abschluss eines Kriegsopferversorgungsgesetzes. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften konnte 1951 das Gesetz über die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie verabschiedet werden. Am 11. Oktober 1952 folgte das Betriebsverfassungsgesetz, das 1972 novelliert wurde.

In die zweite Amtszeit von Storch fiel die Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg und die Gründung des Bundesarbeits- und des Bundessozialgerichtes in Kassel 1954.

Die Konrad Adenauer Stiftung bemerkt weiter: „Seinen größten Erfolg hatte Storch mit der Rentenreform2 von 1957. Es gelang ihm, das von seinem Ministerium erarbeitete Konzept der dynamischen Rente gegen alle Widerstände … durchzusetzen, wodurch das Rentenniveau an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt wurde …“

Doch was Storch für uns erwähnenswert macht, liegt in der Einführung des Bundesschwerbeschädigtengesetzes.

Bonn, den 4. Juni 1952

An den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages. In der Anlage 1 übersende ich den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf eines Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (Schwerbeschädigtengesetz) nebst Begründung mit der Bitte, die Beschlussfassung des Bundestages herbeizuführen. Zuständig ist der Bundesminister für Arbeit. Der Deutsche Bundesrat hat zu der Vorlage gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes in seiner 79. Sitzung am 29. Februar 1952 Stellung genommen und die aus der Anlage 2 ersichtlichen Änderungen vorgeschlagen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Gesetz seiner Zustimmung bedarf. Die Stellungnahme der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates ergibt sich aus Anlage 3.

Der Stellvertreter des Bundeskanzlers

Blücher3

Vorausgegangen war eine heftige Debatte. So schreibt etwa das „Hamburger Abendblatt“ am 12. April 1952:

„An dem Entwurf, der in der nächsten Woche im Bundestag zur Sprache kommt, bemängelt der Reichsbund, dass in größeren Privatbetrieben nur sechs, in der Verwaltung nur zehn Prozent der Arbeitsplätze für Schwerbeschädigte vorgesehen sind. Als besonders ungünstig wird der Vorschlag einer Mindestzahl von sogar nur vier Prozent angesehen, da man befürchtet, dass die Minimalfestsetzung zur Regel werden könnte. Um die 70.000 arbeitslosen Schwerbeschädigten unterzubringen, fordert daher der Reichsbund einen acht- bzw. zwölfprozentigen Anteil an den Arbeitsplätzen.“

Am 16. Juni 1953 wurde das Gesetz (BGBI, I S.389) verabschiedet.

„Schon bald nach der Verabschiedung stellte sich jedoch heraus, dass bei stetigem Wachstum der Wirtschaft die Zahl der Pflichtplätze die Zahl der unterzubringenden Schwerbeschädigten beträchtlich überstieg. Am 31. Januar 1955 waren von rund 670.000 Pflichtplätzen nur rund 390.000 besetzt, 280.000 Plätze standen offen … Ende 1960 standen 6000 arbeitslosen Schwerbeschädigten 320.000 offene Pflichtplätze gegenüber. Und so kam es 1961 zur ersten Novellierung.

Wie bereits 1953 ging es erneut um die Frage, wer zu dem geschützten Personenkreis dazugehören solle. Und man bezog sich auch 1961 auf die Begründung von 1953, die da lautete: ,Das Schwerbeschädigtengesetz wurde in erster Linie erlassen, um die körpergeschädigten Kriegsopfer möglichst schnell und umfassend in das Wirtschafts- und Arbeitsleben einzugliedern.‘ In diesem Sinne ist es ein Kriegsfolgengesetz.

Durch die Einbeziehung aller Körperbehinderten mit einer erheblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit würde das Gesetz einen völlig anderen Charakter erhalten und die Probleme aufwerfen, die im Rahmen dieser technischen Novelle nicht entschieden werden können4.“

Und hier ein Überblick über weitere Meilensteine auf dem langen Weg hin zum heutigen Bundesteilhabegesetz5:

• Am 1. Mai 1974 tritt das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft in Kraft. Damit sind staatliche Unterstützungsleistungen erstmalig nicht mehr von der Ursache, der Art und dem Umfang der Behinderung abhängig. Damit wird das Schwerbeschädigten-gesetz durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts zum Schwerbehindertengesetz modernisiert.

• 1974: Auch in der Krankenversicherung wird der Rehabilitationsgedanke gesetzlich festgeschrieben.

• Am 1. Januar 1976 wird das Sozialgesetzbuch I (Regelung zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit) verabschiedet. Somit wird allen behinderten oder von einer Behinderung bedrohten Menschen unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf notwendige Hilfe anerkannt.

• 1986 wird in einem zweiten Schritt die Beurteilung der Behinderung verändert: Statt nach dem „Grad der Erwerbsminderung“ wird nun nach dem „Grad der Behinderung“ eingestuft.

• 1994 wird der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen.

• 1998 fließt die Verabschiedung eines Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes in die Koalitionsvereinbarung ein.

• Das am 1. Juli 2001 in Kraft tretende Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX) überträgt das Benachteiligungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes in die Sozialpolitik.

• Das 2002 in Kraft tretende Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gibt den Dienststellen des Bundes Rahmenbedingungen vor, die vor Benachteiligungen schützen sollen. Das Gesetz differenziert die Leitvorstellungen des Gesetzgebers zur Eingliederung Behinderter; aber es gewährt nicht selbst:

• Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

• Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

• unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen und

• Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

• 2006: Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (Convention on the Rights of Persons with Disabilities), ein Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, sowie das Fakultativprotokoll wurden am 13. Dezember 2006 verabschiedet; am 3. Mai 2008 traten sie in Kraft, nachdem die ersten 20 Staaten das Übereinkommen und zehn das Fakultativprotokoll ratifiziert hatten.

Die heute als UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bekannte Vereinbarung tritt in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft.

„Ich begrüße die Änderungen im parlamentarischen Verfahren – Baustellen bleiben, aber das Gesetz ist eine Basis für die weitere Arbeit.“

Verena Bentele

Das sagte Verena Bentele, die damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, am 1. Dezember 2016, als der Deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedete. Ein Punkt, den Verena Bentele damals kritisch sah, betrifft das Zusammenlegen von Leistungen (Poolen). „Aus meiner Sicht berücksichtigt das Gesetz das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend. Im Bereich des Wohnens wurden zwar Verbesserungen erreicht, doch auch hier lassen die Zumutbarkeits- und die Angemessenheitsprüfung zu viel Spielraum. Ich sehe auch die Gefahr, dass bei der Freizeitgestaltung der Wunsch des Menschen mit Behinderungen nach einer individuellen Assistenz regelmäßig hinter dem Kostenvergleich zurückstehen wird.6“

Das SGB IX ab dem 1. Januar 2018

Das SGB IX – „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ gibt es seit 2001. Bis heute steht es für den in der Behindertenpolitik vollzogenen Paradigmenwechsel. In Abkehr des Fürsorgegedankens wird seither primär die Zielsetzung verfolgt, Teilhabe und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen je nach Bedarf zu unterstützen, zu ermöglichen oder zu fördern.

Das SGB IX wurde durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) neu strukturiert und gefasst: Das Schwerbehindertenrecht umfasst seit dem 1. Januar 2018 ab § 151 SGB IX die „Besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“.

Es hat folgende Struktur:

• Im SGB IX, Teil 1 ist das für alle Rehabilitationsträger geltende Rehabilitations- und Teilhaberecht zusammengefasst.

• Im SGB IX, Teil 2 wird seit 2020 die aus dem SGB XII herausgelöste und reformierte Eingliederungshilfe unter dem Titel „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen“ geregelt. Bis Ende 2019 galten übergangsweise allerdings noch die Regelungen des SGB XII.

• Im SGB IX, Teil 3 steht das weiterentwickelte Schwerbehindertenrecht.

• Mit dem BTHG soll das deutsche Recht in Übereinstimmung mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) weiterentwickelt werden. Ziel ist die gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben sowie eine selbstbestimmte Lebensführung.

• Das BTHG7 wurde am 23. Dezember 2016 unterzeichnet und im Bundesgesetzblatt am 29. Dezember 2016 veröffentlicht. Es soll in vier „Reformstufen“ von 2017 bis 2023 in Kraft treten8.

Der aktuelle Stand9:

• Um zu prüfen, inwieweit die Ziele des Bundesteilhabegesetzes erreicht werden, lässt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Untersuchungszeitraum 2017 bis 2021 eine Wirkungsprognose erstellen. Hierbei soll untersucht werden, wie einzelne Regelungen in der Praxis umgesetzt werden und welche Folgen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen absehbar sind. Soweit es möglich ist, sollen auch erste konkrete Auswirkungen des Gesetzes identifiziert werden. Die Untersuchung soll außerdem dazu beitragen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den verschiedenen Bundesländern herauszuarbeiten.

• Bis 2023 soll festgelegt werden, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit Menschen mit Behinderungen Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.

• Im Sommer 2021 wurde das Teilhabestärkungsgesetz10verabschiedet, einige Ergänzungen treten erst 2022 in Kraft. So sollen unter anderem11

• die Möglichkeiten der aktiven Arbeitsförderung für Menschen mit Behinderungen im SGB II und SGB III ausgebaut werden

• auch Menschen, die schon in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, über das Budget für Ausbildung gefördert werden können

• der Kreis der leistungsberechtigten Personen in der Eingliederungshilfe durch Orientierung an der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) neu definiert werden. „Die Bundesregierung plant mit ihrem Teilhabestärkungsgesetz12 zahlreiche Änderungen in den Sozialgesetzbüchern, die den Alltag von Menschen mit Behinderungen erleichtern sollen13.

Die Regelungen betreffen unter anderem die Betreuung von Rehabilitanden im SGB II und III (Zweites und Drittes Buch Sozialgesetzbuch), deren Betreuungssituation in den Jobcentern sich verbessern soll14.

„Auf jeden Fall aber gilt es, immer wieder Arbeitgeber davon zu überzeugen, die Talente und Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderungen nicht brachliegen zu lassen. Das ist nicht nur eine soziale Frage, sondern es ist auch wirtschaftlich geboten. Sich Fachkräfte zu sichern, bedeutet ja auch, betriebliche Zukunft zu sichern. Gemeinsam mit den Schwerbehindertenvertretungen müssen wir daher auch das betriebliche Eingliederungsmanagement stärken.“

Zitat aus der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Jahresempfangs des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen am 17. August 2021 in Berlin15.

 

1 Quelle: www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/anton-storch

2 Quelle: www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/anton-storch

3 Quelle: dip.bundestag.de

4 Quelle: Jung/Cramer Schwerbehindertengesetz, Kommentar 2. Auflage, S.5.

5 Quelle: umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz

6 Quelle: www.behindertenbeauftragter.de

7 Quelle: www.behindertenbeauftragter.de/sozialgesetzbuch-und-bundesteilhabegesetz

8 Quelle: www.reha-recht.de/artikel/beitrag-d22-2021 und www.20-jahre-sgb-ix.de/rueckblende

9 Quelle: www.gemeinsam-einfach-machen.de

10 Quelle: www.lebenshilfe.de

11 Quelle: www.reha-recht.de

12 Quelle: www.bmas.de/Teilhabestaerkungsgesetz

13 Quelle: www.bundestag.de/2021/arbeit-teilhabe-831912 und www.lebenshilfe.de/teilhabestaerkungsgesetz und www.reha-recht.de/fachbeitraege/artikel/beitrag-a24-2021/

14 Quelle: www.bundestag.de/textarchiv/2021/kw16-pa-arbeit-teilhabe-831912

15 Quelle: www.bundesregierung.de/rede-von-bundeskanzlerin-merkel

Jürgen Dusel: Demokratie braucht Inklusion

Verena Bentele

Jürgen Dusel ist Jurist und seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Was genau macht ein Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen?

Im Behindertengleichstellungsgesetz ist ziemlich abstrakt und juristisch formuliert, was meine Aufgabe ist: darauf hinzuwirken, dass der Bund, also nicht nur die Bundesregierung, seiner Verantwortung, ja, seiner Verpflichtungen gerecht wird, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen – für Menschen mit und ohne Behinderungen.

Das bedeutet zum einen Politikberatung. Ich bin zu beteiligen bei allen Gesetzen, bei allen Verordnungen, bei allen wichtigen Vorhaben der Bundesregierung, die die Situation von Menschen mit Behinderungen betreffen könnten. Ich behaupte, das sind 95 Prozent aller Gesetze, denn es geht in Gesetzen ja meistens um Menschen.

Und: Es ist sehr viel Kontaktpflege zu Selbstvertretungsorganisationen. Ich bin quasi das Bindeglied zwischen der Zivilgesellschaft und der Bundesregierung. Aber ich habe natürlich auch andere Funktionen. So bin ich im Land unterwegs zu Vorträgen, habe viel Kontakt zu jungen Menschen mit Behinderungen. Dadurch erlebe ich hautnah, wo es gerade brennt. So kann ich der Bundesregierung Empfehlungen geben, was noch auf der To-do-Liste stehen muss.

Ihre Vorgängerin in Ihrem Amt, Verena Bentele, meinte, sie würde sich wahnsinnig darüber ärgern, dass das Thema Inklusion immer in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgeschoben wird. Sie würde sich wünschen, dass auch das Wirtschaftsministerium und das Finanzministerium und alle anderen Ministerien mit involviert werden. Das Thema Inklusion sei in eine Ecke abgeschoben, und alle anderen Ministerien denken, es gehe sie nichts an. Sehen Sie das auch so?

Das trifft nicht mehr ganz so zu. Gerade wenn ich zurückblicke, wie das in dieser Legislaturperiode gelaufen ist. Da kam ein behindertenpolitischer Meilenstein beispielsweise aus dem Finanzministerium. Es ist uns gelungen, zusammen mit Olaf Scholz die Pauschbeträge im Einkommensteuerrecht für Menschen mit Behinderungen zu verdoppeln.

Das ist ein finanzpolitisches Thema, und es war richtig, dass wir das gemacht haben. Diese Pauschbeträge wurden 1975 eingeführt und seitdem nie wieder angepasst.

Wenn ich mir im Vergleich dazu die Arbeitnehmerfreibeträge, die Pendlerpauschale und so weiter anschaue, wurden diese ständig erhöht. Bei den Pauschbeträgen für behinderte Menschen, die Einkommensteuer zahlen, wurde hingegen nichts gemacht. Das war von Anfang an eine Forderung von mir, die wir umsetzen konnten.

Der andere Punkt, den ich hier anmerken möchte, ist die Veränderung des Wahlrechts – nämlich die Abschaffung der pauschalen Wahlrechtsausschlüsse von Menschen, die unter Betreuung stehen. Das kam aus dem Justizbereich. Und wir machen sehr viel zum Thema Gesundheit. Wobei ich auch da ganz klar sage, dass in diesem Bereich noch viel geschehen muss. Das Gesundheitsministerium bekommt jedoch zurzeit sehr deutlich mit, dass es einen Nachholbedarf zum Thema Menschen mit Behinderungen hat. Zu nennen sind da zum Beispiel die Impf-Priorisierung, die Zugänglichkeit zum Gesundheitssystem und vieles mehr.

Also, es ist schon besser geworden. Aber Sie haben recht, die meisten denken bei Politik für Menschen mit Behinderungen an Arbeits- und Sozialpolitik. Und das ist falsch. Denn Politik für Menschen mit Behinderungen ist in erster Linie Politik für Menschen. Dabei geht es auch um Sport, wie Verena Bentele sicher nachvollziehen kann. Es geht um Freizeit, es geht um Digitales, es geht um Verkehr. Es geht um Wohnungsbau. Es geht um Außenpolitik und Wissenschaft. Das ist besser geworden, aber es ist immer noch nicht Routine. Wir arbeiten daran.

Kommen wir zum neuen Teilhabestärkungsgesetz. Wofür bedarf es eines solchen Gesetzes? Wir haben doch schon ein Bundesteilhabegesetz. Ist das zu schwach? Braucht es einen starken Bruder?

Teilhabestärkungsgesetz heißt, dass wir Themenfelder haben, die nicht durch das Bundesteilhabegesetz abgedeckt sind. In Deutschland leben 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Davon sind 8,5 Millionen Menschen schwerbehindert. Rund 900.000 Menschen mit Behinderungen bekommen Leistungen nach dem Bundesteilhabegesetz. Aber wenn es um Teilhabe geht, dann geht es wirklich um mehr. Es geht beispielsweise um die Teilhabe am Arbeitsleben, und deswegen war es wichtig, dass dieses Teilhabestärkungsgesetz beschlossen wurde.

Es ist nicht perfekt. Als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung hätte ich mir ein paar Punkte mehr gewünscht – gerade wenn es um die Teilhabe am Arbeitsleben geht. Aber das Gesetz ist auf der Basis eines Kompromisses entstanden, das ist ja immer so im politischen Geschäft. Da gibt es unterschiedlichste Interessen, und insofern finde ich es richtig, dass es nun das Teilhabestärkungsgesetz gibt.

Was hätten Sie sich denn noch gewünscht?

Im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben zwei Dinge: Zum einen geht es um die Zuständigkeit für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben. Aufgrund des hohen bürokratischen Aufwands ist es gerade für kleine und mittelständische Unternehmen oftmals schwierig, wenn sie einen Menschen mit Behinderungen einstellen wollen. Da kommt am Montag die Bundesagentur für Arbeit vorbei, am Dienstag das Integrationsamt, am Mittwoch ein Integrationsfachdienst, und am Donnerstag sagen dann die meisten Arbeitgeber, das ist uns zu kompliziert.

Ich hätte bevorzugt, dass wir wirklich einen einzigen Träger gehabt hätten. Damit wäre uns ein richtig großer Wurf gelungen. Mit dem Teilhabestärkungsgesetz gibt es jetzt zwar den ersten Verbesserungsschritt, nämlich dass es EINEN Ansprechpartner zur Information, Beratung und Unterstützung von Arbeitgebern gibt. Dieser hat aber noch keine Entscheidungskompetenz. Ich wäre gerne noch diesen einen Schritt weitergegangen – bis hin zur kompletten Entscheidungskompetenz in einer Hand.