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Gesetzestreuer Polizist trifft illegale Dämonenjägerin Das Böse hat keine Chance gegen Dämonenjägerin Aria Wenfield. Seit Jahren hat sie nur noch ein Ziel: ihren verschwundenen Bruder wiederzufinden. Sie ist sich sicher, dass er von einem Schattendämon entführt wurde. Aber dann stellt sich Aria das Gesetz in Form von Dan Howard in den Weg. Dan Howard, der in seiner Polizeiuniform verdammt heiß aussieht und Aria für nichts anderes als ein verwöhntes reiches Mädchen hält. Dennoch braucht er ihre Hilfe, um eine Reihe mysteriöser Todesfälle aufzuklären. Bald wird klar, dass weit mehr dahinter steckt als willkürliche Dämonenangriffe. Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen die beiden enger zusammenarbeiten, als ihnen lieb ist … Ich habe "Aria, die Dämonenjägerin" in einem Rutsch durchgelesen, weil ich gar nicht mehr aufhören konnte! (Jess von primeballerina's books)
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Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2017
Die AutorinAlena Coal wurde 1992 im schönen Odenwald geboren. Schon ihre Kindheit verbrachte sie stets in fantasievollen Bücherwelten oder schrieb als junges Mädchen selbst Geschichten. Während ihres Sozialpädagogikstudiums hat sie dann urplötzlich wieder die Schreiblust gepackt - und seitdem nie wieder losgelassen. Was mit einem Geschenk für ihre beste Freundin begann, wurde zur großen Leidenschaft. In ihrer Freizeit sitzt sie deshalb fast immer mit einer heißen Tasse Kaffee vor dem Laptop und verschwindet in ihren ganz eigenen Fantasiewelten.
Das Buch
Das Böse hat keine Chance gegen Dämonenjägerin Aria Wenfield. Seit Jahren hat sie nur noch ein Ziel: ihren verschwundenen Bruder wiederzufinden. Sie ist sich sicher, dass er von einem Schattendämon entführt wurde. Aber dann stellt sich Aria das Gesetz in Form von Dan Howard in den Weg. Dan Howard, der in seiner Polizeiuniform verdammt heiß aussieht und Aria für nichts anderes als ein verwöhntes reiches Mädchen hält. Dennoch braucht er ihre Hilfe, um eine Reihe mysteriöser Todesfälle aufzuklären. Bald wird klar, dass weit mehr dahinter steckt als willkürliche Dämonenangriffe. Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen die beiden enger zusammenarbeiten, als ihnen lieb ist …
Alena Coal
Aria, die Dämonenjägerin
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-225-7 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Schrilles Reifenquietschen zerschnitt die Stille der Nacht. Aria lenkte ihren GTI so scharf in die Kurve, dass ihr der Anschnallgurt die Luft abschnürte. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper und drückte das Gaspedal durch, sobald sie den Scheitelpunkt der Biegung erreicht hatten. Das Auto heulte auf. Es machte seinen zweihundertfünfunddreißig PS alle Ehre. Aria spürte die Kraft der Beschleunigung: Sie drückte sie in den Sitz, brachte ihr Blut in Wallung. Bereits Sekunden später hatte sie den Ortseingang ihres Ziels erreicht, doch sie preschte weiterhin über die Straße, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her.
Der Kopf ihrer Beifahrerin schnellte herum. Vermutlich schaute sie der Geschwindigkeitsanzeige am Straßenrand hinterher. »Du fährst knapp hundert Stundenkilometer«, stellte Caitlin ruhig fest. »Und hier sind nur fünfzig erlaubt. Das weißt du, oder?«
Aria nickte. Auch sie hatte den traurigen Smiley auf der Geschwindigkeitsanzeige gesehen, der ihren rasanten Fahrstil mit Verachtung strafte. Im Gegensatz zu ihrer Freundin war ihr das jedoch vollkommen egal. Geschickt überholte sie einen Fahrer, der sich pingelig an die Verkehrsregeln hielt.
»Was sagt Marcus eigentlich dazu, dass du ohne ihn jagen willst?« Caitlin warf ihr einen Blick zu. »Immerhin ist er dein Partner.«
Aria zuckte mit den Achseln. Sie blickte mit Absicht hochkonzentriert auf die Straße, statt Caitlin anzusehen. Der dunkle Asphalt wurde durch die Straßenlaternen blass erleuchtet. Es war Freitagabend, kurz vor Mitternacht und inzwischen stockfinster. Nicht einmal der Mond war am Horizont zu sehen. Während die Innenstadt Tensforts im Licht der bunt leuchtenden Werbereklametafeln erstrahlte, wirkten die Außenbezirke so leer und düster, als wären sie inzwischen gänzlich ausgestorben.
»Marcus würde mich fragen, ob ich auch genügend Weihwasser dabeihabe«, bemerkte Aria spitz. »Das letzte Mal war dem nämlich nicht so. Und das hätte mich fast das Leben gekostet.«
Caitlin seufzte. »Dein Kofferraum ist eine komplette Waffenkammer. Wie kann es dir da an irgendetwas fehlen?«
Aria schaltete einen Gang runter, stieß den Fuß auf das Gaspedal und beschleunigte so schnell, dass sie innerhalb von Sekunden eine halsbrecherische Geschwindigkeit erreicht hatten. Nervös sah sie auf die Uhr im Armaturenbrett. Mit etwas Glück würden sie den Dämon noch vor den anderen Jägerteams erreichen. »Weihwasser dient in erster Linie als Desinfektionsmittel. Ich bevorzuge handfeste Waffen.«
Caitlin prüfte ihr Make-Up im Spiegel der Sonnenblende. Sie strich sich durch die dunkelblonden Locken, die ihr stets die Ausstrahlung eines Engels verliehen. »Aria …«, setzte sie an.
Abwehrend hob Aria die Hand. Sie kannte diesen Tonfall. Es war der »Ich-mache-mir-Sorgen-um-dich-denn-du-bist-zu-versessen-drauf«-Tonfall. Der, auf den schnurstracks der »Du-musst-ihn-gehen-lassen«-Blick folgte. Aria konnte es nicht mehr hören. Sie wusste, dass ihre Obsession an Wahnsinn grenzte. Dennoch würde sie nicht zur Ruhe kommen, ehe sie ihren Bruder gefunden hatte.
Unwillkürlich schloss sie ihre Finger fester um das harte Lenkrad. Vier Jahre war es nun her. Vier Jahre, in denen ihr Leben vollkommen aus den Fugen geraten war.
»Hey …« Caitlin sprach vollkommen ruhig. »Verschließe dich nicht vor mir. Du weißt, ich stehe auf deiner Seite.«
Aria biss die Zähne fest aufeinander. »Dann schau ins Handschuhfach und sag mir, ob ich genug Dolche und Licht- und Weihrauchkugeln dabeihabe. Die Dämonen kannst du ruhig meine Sorge sein lassen.«
Blaue Lichter blitzten in ihrem Rückspiegel auf. Innerhalb eines Wimpernschlags sank Arias Stimmung auf den Gefrierpunkt. Ihre lächerliche Hoffnung, es handle sich lediglich um einen Krankenwagen, erlosch, sobald in leuchtend roten Lettern »Stopp« auf dem Autodach aufflammte.
Auch das noch.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie ernsthaft darüber nach, das Gaspedal noch fester zu treten. Ihr geliebter GTI hatte genug PS unter der Haube. Theoretisch könnten sie versuchen zu fliehen. Leider hatten die meisten Uniformträger aufgrund der erhöhten Kriminalitätsrate inzwischen ordentlich aufgerüstet. Wenn es schlecht lief, käme es zu einer Verfolgungsjagd, die sie nur mit viel Geschick und Können gewinnen könnte. Nicht, dass es ihr daran fehlte, doch im Moment hatte sie keine Zeit, sich unnötig ablenken zu lassen. Ein Dämon wartete darauf, von ihr gefangen zu werden. Und wenn ihr Informant den Anruf an die Notrufzentrale richtig verstanden hatte, könnte es sich dabei um einen Schattendämon handeln. Einer der Sorte, nach der Aria verzweifelt suchte.
»Denke nicht einmal daran, Aria, ich warne dich.« Caitlin schien ihre Gedanken gelesen zu haben.
»Schon gut, schon gut.« Aria bremste scharf, fuhr auf den rechten Seitenstreifen und trommelte mit den Fingerspitzen einen unsteten Takt auf das Lenkrad.
Der Polizeiwagen hielt direkt hinter ihnen. Die Scheinwerfer waren so grell, dass Aria die Augen zusammenkneifen musste. Ein Schatten huschte durch das Licht. Es war also der Beifahrer, der ausgestiegen war.
Sie ließ die Fensterscheibe herunter und unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Dann rückte sie auf ihrem Sitz hin und her und zupfte den Ausschnitt ihres ohnehin spärlichen Tops noch ein wenig weiter nach unten. »Hoffen wir, dass es ein Typ ist, und dass er von dem weit verbreiteten Gerücht gehört hat, rothaarige Mädchen seien verrucht.« Sie grinste.
Caitlin schwieg.
»Guten Abend, die Damen«, grüßte eine tiefe Raucherstimme.
Ein kleiner Lichtstrahl leuchtete ihr ins Gesicht. Aria blinzelte und erkannte einen großgewachsenen Mann mittleren Alters. Sein Bauch hatte eine kleine Wölbung und lugte über den breiten Waffengürtel. Trotz der frischen Luft roch Aria den stickigen Qualm alter Zigaretten. Die Kleider des Polizisten dünsteten ihn förmlich aus.
»Officer.« Sie lächelte. »Darf ich fragen, weshalb Sie mich angehalten haben?«
Der Mann lachte, sodass sein Körper massiv erzitterte. »Junge Dame. Sie sind gerade mit fast hundert Stundenkilometer eine Straße mit der Begrenzung von fünfzig entlang gerauscht. Ich denke, Sie wissen sehr wohl, weshalb ich Sie angehalten habe.«
Dafür hat er keinen Beweis. »Ach wirklich?« Gespielt überrascht riss Aria den Mund auf. »Sind Sie sich da auch wirklich sicher?«
Der Polizist beugte sich zu ihr herab und musterte sie eindringlich. Er trug eine dunkelblaue Uniform mit gleichfarbigem Hemd. Ein kleiner Stern zierte das Abzeichen an seiner Schulter. Das bedeutete, dass er ein Polizist der Stufe eins war; dass er also eine einjährige Ausbildung abgeschlossen hatte und für einfache Aufgaben wie zum Beispiel Verkehrsangelegenheiten eingesetzt wurde.
»Ja, junge Dame, ich bin absolut sicher, dass Sie so schnell gefahren sind. Wir haben einen mobilen Sensor in unserem Wagen und somit eine Aufzeichnung.« Er zeigte Aria ein Bild, das wie ein überdimensionales Polaroid-Foto aussah.
Innerlich stöhnte sie auf. Ihrem Ausschnitt hatte der Mann bis jetzt keine einzige Sekunde lang seine Aufmerksamkeit gewidmet. Entweder war er verdammt diszipliniert oder ganz einfach schwul. Es gab nur noch eine letzte Möglichkeit, sich aus diesem Schlamassel heraus zu manövrieren. »Wissen Sie«, säuselte sie. »Ich bin tierisch unter Zeitdruck und musste wirklich schnell vorankommen. Das liegt daran, dass ich gerade auf dem Weg zu einem Notfall bin.« Mit einem freundlichen Lächeln deutete sie auf ihre Beifahrerin. »Kennen Sie Caitlin Underwood? Sie ist eine der Ziehtöchter unseres Dekans auf Landesebene. Wir sind gerade auf dem Weg zu einem Exorzismus der Stufe drei. Wir dürfen also keine Zeit verlieren.«
Der Polizist kniff die Augen zusammen und musterte Caitlin. Aria musste nicht hinsehen. Sie wusste, dass sich der Blick ihrer Freundin gerade wütend in ihren Rücken bohrte. Caitlin hasste Lügen. Dieser Moment bedurfte jedoch einer kleinen Heuchelei. Caitlin war noch immer in der Ausbildung und konnte somit nie und nimmer zu einem Exorzismus der höchsten Stufe geordert werden.
Der Polizist zögerte.
»Officer?« Aria versuchte so ernst wie möglich dreinzublicken. »Sie wissen doch, wie wichtig ein Exorzismus der Stufe drei ist. Jede Sekunde zählt. Entweder der besessene Mensch ist für immer verloren und stirbt, oder wir können ihn retten, indem wir ihn von dem Dämon befreien.«
Der Mann kratzte sich unter der dunkelblauen Mütze. »Wo ist Ihr Schild? Im Straßenverkehr dürfen Sie nur mit Sonderrechten fahren, wenn Sie das Notfallschild auf das Dach geklemmt haben.«
»Sie haben absolut recht, Officer. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Theatralisch legte sie sich die Hand auf die Brust. »Es ist noch so neu für mich, die Fahrerin einer Exorzistin zu sein. Deshalb bin ich auch so furchtbar aufgeregt und habe es in all der Eile vergessen. Es tut mir sehr, sehr leid, Officer.«
Der Polizist schien noch immer nicht zu hundert Prozent überzeugt. Sein Blick pendelte zwischen Caitlin und ihr hin und her.
Aria drohte vor Ungeduld zu explodieren. Den Kopf leicht zur Seite geneigt sah sie zu ihm auf und setzte zu ihrer finalen dramatischen Szene an. »Beim nächsten Mal passe ich besser auf. Ich werde daraus lernen, Sir. Und wenn Sie mir Ihren Namen sagen, werde ich diesen bei der Familie des Opfers dankend erwähnen und betonen, dass wir nur durch Ihre Nachsicht dazu in der Lage waren, die Seele des Betroffenen zu befreien.« Sie holte tief Luft. »Auch der Dekan wird in Ihrer Schuld stehen und für Sie beten. Für Sie und Ihre gesamte Familie.«
Der Polizist kratzte sich erneut am Kopf und nickte – wenn auch nur in Zeitlupe.
In ihren Gedanken sang Aria ein Lobeslied auf die bodenlose Ehrfurcht mancher Menschen vor der Kirche.
»Ein Exorzismus dritten Grades?« Aria konnte an der dünnen Stimme des Polizisten bereits hören, dass sie gewonnen hatte. »Nun, wenn das so ist, möchte ich natürlich ausnahmsweise einmal ein Auge zudrücken und Sie gehen lassen.«
»Ich danke Ihnen, Officer. Auch im Namen der Familie des Opfers.« Siegessicher legte sie den ersten Gang ein und tastete mit den Fingern nach dem Schlüssel im Zündschloss.
»Einen Moment noch, bitte.« Eine dunklere, um einiges selbstbewusstere Stimme ertönte.
Das durfte doch nicht wahr sein. Aria riss den Kopf zur Seite und blickte in das Gesicht eines Polizisten, der mindestens zwanzig Jahre jünger als sein Kollege war. Selbst im schummrigen Licht der Autoscheinwerfer erkannte sie seine leuchtend azurblauen Augen. Sie fixierten Aria mit einer Intensivität, die sie beinahe schwindlig machte.
Der junge Mann war etwa eins neunzig groß und hatte breite Schultern, die von der dunkelblauen Uniform zusätzlich betont wurden. Sein Hemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass Aria seine muskulösen Unterarme sehen konnte. Die Schatten eines dunklen Dreitagebarts betonten sein kantiges Kinn.
Der Neuankömmling trat näher und rückte seine Mütze zurecht. Unter dem Rand des Stoffes erkannte Aria dunkle, kurze Haare. »Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.«
Verdammt.
Sie zwang sich zu Konzentration. Dann zog sie ihr Top unauffällig noch weiter nach unten und schenkte auch ihm ein strahlendes Lächeln. »Hallo, Officer. Das habe ich bereits alles mit Ihrem Kollegen geklärt. Wir sind auf dem Weg zu einem Exorzismus dritten Gr…«
»Aria Wenfield.« Der Polizist verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Sie sind keine Fahrerin für Mitglieder der Kirche. Im Gegenteil. Sie stehen nicht sonderlich gut mit den religiösen Instanzen dieser Erde.«
»Wie bitte?« Ihre Stimme klang unnatürlich spitz, auch wenn ihr in dieser Sekunde bereits klar war, dass sie verloren hatte. Er kannte ihren Namen. Und danach zu urteilen, wie er ihn aussprach, kannte er auch ihre Akte. Zumindest die Teile ihrer Akte, die ihr Vater nicht durch Beziehungen hatte verschwinden lassen.
Er grinste höhnisch. »Fünf gemeldete Einbrüche in Kirchen, zwei in Synagogen und drei in Moscheen.«
Erwischt. Aria sank in ihren Sitz zurück und fluchte leise.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.« Der junge Mann streckte seine Hand aus und lockte sie mit einem einzelnen Finger. »Was auch immer Sie vorhatten – das war es nun für Sie.«
Aria funkelte ihn an. »Ach, verziehen Sie sich doch dahin, wo Sie hergekommen sind. Abercrombie & Fitch, Men's Health oder Photoshop.«
Der Polizist grinste. Und Aria fluchte noch lauter.
»Hallo? Ist hier überhaupt noch jemand?« Die junge Frau hämmerte gegen die Scheibe des Verhörraumes. »Wie wäre es, wenn Sie mir einfach einen Strafzettel und ein Bußgeld verpassen und mich dann ziehen lassen? Seit wann wird man wegen eines Verkehrsverstoßes denn verhört?« Ihre bernsteinfarbenen Augen blitzten Dan direkt an. Es war beinahe so, als könnte sie ihn durch die Scheibe sehen. In Wirklichkeit sah sie jedoch lediglich sich selbst in einem Spiegel.
Dan neigte den Kopf zu Seite und betrachtete sie abschätzend. Mit den langen, hellroten, leicht gewellten Haaren und der düsteren Miene sah sie aus, als könnte sie jeden Moment vor Wut in Flammen aufgehen. Sie war eine derjenigen jungen Frauen, die in ihrem Leben mit allem davonkamen, sobald Daddy in seinen Geldbeutel griff.
Missmutig blickte er auf die Akte in seinen Händen – die vollständige. Es hatte Wochen gedauert, bis sein Kontaktmann und er die eisern verschlossenen Daten hatten entschlüsseln können. Ihr Vater hatte jede Menge Geld und Zeit geopfert und dazu etliche Beziehungen spielen lassen, um Aria Wenfields Vergangenheit zu vertuschen. Ihre Taten warfen kein gutes Licht auf den berühmten Mann. In den gesellschaftlichen Kreisen, in denen sich Arias Vater bewegte, konnte es den Untergang bedeuten, wenn auch nur eines seiner Kinder nicht perfekt ins Bild passte. Arias Taten hätten an der makellosen Fassade gekratzt. Er hatte eindeutig versucht, sein Ansehen nicht zu gefährden.
Allerdings benahm Aria sich auch in ihrer neuen Heimat einfach, wie es ihr passte. Selbst ihre offene Akte wies jede Menge Fehltritte auf. Obwohl Dan die vollständige Akte inzwischen in- und auswendig kannte, blätterte er sie noch einmal durch. Mit fast sechzehn Jahren hatte Aria Wenfield sich einen gefälschten Ausweis anfertigen lassen, um an der Akademie ihre Ausbildung als Dämonenjägerin beginnen zu können – und diese auch gänzlich abzuschließen. Als herauskam, dass sie eigentlich noch nicht volljährig war, hatte man ihr den erworbenen Titel aberkannt. Das Ganze hätte große Kreise gezogen, wenn ihr Vater nicht rechtzeitig agiert hätte. Er hatte seine Macht und sein Geld walten lassen, und war mitsamt seiner Familie hierhergezogen. Arias Vater bezahlte ihr seitdem eine elitäre Schule und eine Wohnung in Hemsfield, einem der besten Viertel in Tensfort.
Dan schnaubte. Die junge Frau hatte sich auf dem einfachen Stuhl des Verhörraums niedergelassen und drehte den winzigen Plastikbecher mit Kaffee zwischen ihren Händen. In dem kahlen, kleinen Raum, der lediglich mit einem Tisch und zwei einander gegenüberstehenden Stühlen ausgestattet war, wirkten ihre Haare wie ein Farbtupfer auf einer leeren Leinwand. Mit genervter Miene warf sie sich diese über die Schulter. Sie trug knöchelhohe schwarze Stiefeletten mit einem dünnen, hohen Absatz und dazu eine knallenge Jeans. Ihr Oberkörper steckte in einem dunkelroten Top, dessen Ausschnitt sie inzwischen wieder zurechtgerückt hatte. Scheinbar hatte sie endlich verstanden, dass sie bei ihm ausnahmsweise nicht ihre übliche Masche durchziehen konnte: Ausschnitt, Schmollmund und Komplimente.
»Wie lange willst du sie noch da drinnen sitzen lassen?«, ertönte eine vertraute, dunkle Stimme.
Dan drehte sich zu seinem eigentlichen Partner um. Hugh Davidson, alias Hug. Er hatte dunkle Haut, eine Glatze und einen Bart am Kinn. Seit die beiden zusammen die Polizeischule besucht hatten, waren sie ein eingefleischtes Team, das einander blind vertraute. Den anderen Polizisten hatte Dan lediglich benötigt, um einen Grund zu haben, Aria hierher zu verfrachten. Verkehrsangelegenheiten waren normalerweise nicht Dans Aufgabengebiet.
Der andere Polizist hatte keine Ahnung von dem, was Dan vorhatte. Er war nur aushilfsweise in diesem Revier gewesen, gleich morgen würde er wieder in einer anderen Stadt arbeiten. Somit gab es keine Zeugen für später. Alles lief wie am Schnürchen.
Dan grinste. Er wandte sich wieder der vor sich hin schimpfenden jungen Frau im Verhörraum zu.
Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees und verzog das Gesicht. »Meine Güte, nicht einmal der Kaffee schmeckt«, rief sie in seine Richtung. »Hallo! Ich bin lediglich zu schnell gefahren. Kein Grund, mich der Todesstrafe auszusetzen.«
Dans Grinsen wurde breiter. »Ich werde sie noch eine Weile da drin lassen.« Er warf ihre Akte auf den Tisch. Dann lehnte er sich mit dem Rücken zu Aria Wenfield an die Scheibe und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie geht‘s Lissi? Wie sind ihre Prüfungen gelaufen?«
Hug gähnte. »Gut soweit. Wenn sie sich weiterhin so gut schlägt, wird sie den Master anhängen und sich dann im Schwerpunktgebiet Sozialraumorientierte Arbeit einschreiben lassen.«
Lissi, die Sandkastenfreundin und große Liebe seines besten Freundes, studierte Sozialarbeit, um später eine freischaffende Streetworkerin zu werden. Besonders in der heutigen Zeit war dies für eine Frau ein riskantes Arbeitsfeld. Überfälle waren nicht selten. Lissi jedoch brannte darauf, als wäre es die Crème de la Crème.
Hug wollte sie trotz seiner bodenlosen Sorgen nicht von ihrem Wunsch abhalten. Dafür trainierte er sie bereits seit über drei Jahren in Selbstverteidigung.
»Vielleicht kannst du sie doch zu einem Team überreden«, sagte Dan. »Wenn zwei stark aussehende Männer dabei sind, ist die Wahrscheinlichkeit nicht ganz so hoch, dass jemand sich auf sie stürzt.«
Hug lachte so laut, dass der gesamte Raum damit widerhallte. »Lis hat mich gestern beinahe k.o. geschlagen, als ich zu einem Überraschungsangriff angesetzt habe. Meine Güte. Sie ist bald besser als du und ich!«
Dan schmunzelte. Dann schnappte er sich erneut Arias Akte und stieß sich von dem Einwegspiegel ab. »Jetzt aber.« Er ging zur Tür des Hinterzimmers und warf Hug einen letzten, vielsagenden Blick zu. »Mach alles aus, ja? Sowohl die Kamera als auch die Tonaufnahmen.«
Hug nickte mit ernster Miene. Er wandte sich dem Mischpult zu, während Dan die Tür ins Schloss fallen ließ und über den Gang in den Raum hineintrat, in dem Aria Wenfield bereits seit knapp einer Stunde wartete.
Die Art, wie ihre Augen loderten, zeigte, dass sie fuchsteufelswild war. »Na endlich«, fauchte sie ihn an. »Ich dachte schon, ich müsste hier übernachten. Was soll das überhaupt, verdammt?« Sie beugte sich über den Tisch, sodass Dan einen hastigen Blick auf ihr Dekolleté werfen konnte.
Unter anderem Umständen hätte ihr Aussehen ihm vielleicht sogar zugesagt. Doch Dan hasste Menschen von ihrem Schlag. Er zog eine Braue nach oben und warf ihr die Akte direkt vor die Nase auf den Tisch.
Die Dämonenjägerin zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern schaute ihm weiterhin direkt in die Augen.
»Sie haben die Ausbildung als Dämonenjägerin abgeschlossen, Aria«, stellte er ruhig fest. »Dennoch sind Sie keine anerkannte Dämonenjägerin, da Sie sich dort mit gefälschten Papieren beworben haben.«
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Woher wissen Sie davon?« Obwohl sie vollkommen gefasst wirkte, konnte Dan einen Funken Unsicherheit in ihrer Iris aufflackern sehen. Sie wusste genau, dass ihm dieser Teil ihrer Vergangenheit eigentlich verschlossen sein sollte. »Und wieso fährt ein Polizist der Stufe drei überhaupt mit einem Polizisten der Stufe eins Streife?«, fragte sie mit einem noch misstrauischeren Tonfall. »Hätten Sie nicht eigentlich Besseres zu tun?«
Aria konnte man nicht so schnell etwas vormachen. Offensichtlich hatte sie die drei Sterne auf dem Abzeichen an seiner Schulter längst bemerkt. Sie wusste, dass er eine dreijährige und somit die höchstmögliche Ausbildung der neuen Polizeiordnung gemacht hatte.
Betont langsam lehnte er die Fäuste auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinab. »Sie sind nicht in der Position, mir Fragen zu stellen, Aria.«
Die junge Frau lehnte sich in ihrem Sitz zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Offiziell wusste niemand, dass sie eine ausgebildete Dämonenjägerin war – das hatte ihr Vater geschickt eingefädelt. Neben der verschlossenen Akte hatte er eingeweihte Personen mundtot gemacht – den Rest hatte der Umzug erledigt. Dan war lediglich per Zufall und über mehrere Ecken an ihren Namen und Hinweise zu ihren Kompetenzen gelangt. Er hatte sich im Untergrund ein wenig umgehört und war dabei auf Erzählungen über ein Mädchen gestoßen, das für ihr Können und Wissen in der Dämonologie gelobt wurde. Daraufhin hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt und sich über dieses Mädchen informiert. Schließlich war er auf ihre Akte gestoßen und hatte so lange im Dreck gewühlt, bis er die verschlossenen Dateien gefunden und letztendlich geknackt hatte. Sie hatte tatsächlich eine vollständige Ausbildung absolviert. Niemand wusste davon. Und dieser Umstand bot ihm eine Chance, nach der er lange gesucht hatte.
Heute Nacht hatte er sich unter einem falschen Vorwand und mit dem ahnungslosen Verkehrspolizisten als Tarnung an ihre Fersen geheftet. Er hatte auf einen geeigneten Zeitpunkt gewartet, seine Chance zu ergreifen. Dass sie so massiv gegen die Verkehrsordnung verstoßen hatte, hatte ihm mehr als gut zugespielt. Nun konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen.
»Was genau wollen Sie eigentlich von mir, Officer?« Aria spuckte das letzte Wort aus, als hätte sie etwas Ungenießbares gekostet. »Ich bin zu schnell gefahren, also geben Sie mir endlich meinen Strafzettel, ein paar Punkte und den Bußgeldbescheid. Und dann lassen Sie mich gehen. Es gibt keinen Grund, mich hier festzuhalten, und wenn Sie das weiterhin grundlos tun, werde ich mir einen Anwalt nehmen und ihn auf Sie hetzen, verstanden?«
Dan ignorierte ihre bissigen Worte. Gemütlich setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber und deutete auf die Mappe, die vor ihren Händen lag. »Fünf gemeldete Einbrüche in eine Kirche. Zwei Einbrüche in eine Synagoge und drei Einbrüche in eine Moschee«, wiederholte er die Vorwürfe, die in ihrer offenen Akte verzeichnet waren. »Und das in der kurzen Zeit, die Sie in Tensfort verbracht haben.«
Sie funkelte ihn an.
»Ihr Vater hat die Dinge bis jetzt gut geregelt.« Dans Tonfall klang neutral, auch wenn alles in seinem Inneren rumorte. »Teile Ihrer Vergangenheit wie Ihre Ausbildung mithilfe eines gefälschten Personalausweises hat er komplett ausradieren können. Nur hier hält er sich scheinbar raus. Die Einbrüche stehen da, mit den Konsequenzen müssen Sie leben.« Er tippte auf die raue Oberfläche der Mappe.
»Wie. Auch. Immer.« Sie betonte jedes Wort einzeln. »Ich sitze hier wegen zu schnellen Fahrens. Das hat rein gar nichts mit meiner verschlossenen Vergangenheit oder auch den Einbrüchen in die Gebäude dieser Stadt zu tun.«
»Eigentlich doch.« Dan musste ein Grinsen unterdrücken. »Sie sind auf Bewährung draußen, haben Sie das bereits vergessen? Und ein solch massiver Verstoß gegen die Verkehrsordnung widerspricht Ihren Auflagen. Sie sitzen mächtig in der Klemme, Aria.«
Ihre geschwungenen Lippen wurden zu einem harten Strich. Diesmal konnte ihr Vater ihr nicht mehr aus der Patsche helfen. Dan saß am längeren Hebel. Und im Gegensatz zu den Polizisten in ihrer Heimatstadt war er nicht korrupt.
»Also, Aria«, fuhr er scheinheilig fort. »Erklären Sie mir doch, weshalb Sie in die heiligen Stätten eingebrochen sind. Oder wollen Sie gleich Ihren Vater oder Ihren Anwalt anrufen, in der Hoffnung, sie können Sie erneut raushauen?«
»Sagen Sie mir erst Ihren Namen, Officer«, erwiderte sie scharf.
»Dan Howard.« Er lehnte sich in seinem Stuhl noch etwas weiter zurück. »Und ich höre. Es macht mich neugierig.«
Die Dämonenjägerin rollte die Augen. »Zunächst einmal bin ich volljährig, also geht das meinen Vater überhaupt nichts an. Und was die Einbrüche betrifft: Ich bin nur dort rein, weil ich Weihwasser benötigt habe. Mehr nicht.«
Fragend hob Dan eine Braue. »Weihwasser in einer Moschee? Oder einer Synagoge?«
»Ja, Sie Schlaumeier. Jede religiöse Instanz ist dazu verpflichtet, für Notfälle geweihtes Wasser bereit zu halten, sodass Dämonenjäger im Falle eines Falles darauf zurückgreifen können.«
»Aber Sie sind keine Dämonenjägerin«, konterte Dan nüchtern. Nicht offiziell. Deshalb hatte sie auch keinen Schlüssel gehabt, sondern musste ein Brecheisen zur Hilfe nehmen.
»Das war den Dämonen, die mich lebensgefährlich verletzten, herzlich egal«, knurrte Aria nun sichtlich am Ende ihrer Geduld. »Um mein Leben zu retten, sie zu töten und die Wunden zu desinfizieren, ehe ich an dem Gift gestorben wäre, bin ich tatsächlich in ein paar Synagogen eingebrochen. Und mehrere Kirchen. Und Moscheen.« Ruckartig stand sie auf und stöckelte in ihren hohen Schuhen auf und ab.
Dan zog die Akte in seine Richtung. »Dank Ihrer Bewährung wird Ihre Raserei heute Nacht ernsthafte Folgen haben, Aria. Sie sind volljährig, haben gegen Ihre Auflagen verstoßen und sitzen mächtig in der Scheiße.«
Aria knallte die flache Hand auf die Akte und durchbohrte Dan regelrecht mit ihrem Blick. »Was zur Hölle wollen Sie von mir? Weshalb reden Sie so lange um den heißen Brei?«
Sie ist aggressiv. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Genau an diesem Punkt wollte er sie haben. »Reden wir Klartext.« Er deutete auf die kleine Überwachungskamera in der Ecke. »Üblicherweise leuchtet dort ein rotes Lämpchen, das Ihnen verrät, dass das Gespräch aufgenommen wird.«
Aria folgte seinem Finger nicht.
Dan ging davon aus, dass sie das längst bemerkt hatte. Er blätterte in der Akte und schob sie ihr offen hin. Dann stützte er die Ellbogen auf der Tischplatte auf und bedeutete ihr, sich zu setzen.
Nach einem kurzen Zögern folgte sie seiner Anweisung und musterte ihn eindringlich.
»Wir haben ein Angebot für Sie.« Seine Stimme schien in dem Raum plötzlich unheimlich laut zu sein. »Ein Angebot, das Sie vielleicht interessieren könnte.«
Aria schwieg. Ihr Blick war wachsam, ihre ganze Aufmerksamkeit offensichtlich auf ihn gerichtet.
»Es handelt sich dabei um eine streng geheime Angelegenheit«, erklärte Dan gelassen. »Deshalb sind auch sämtliche Kameras und Tonbandaufnahmen untersagt. Nicht jeder in diesem Revier weiß Bescheid, und genau so wird es auch bleiben. Wir fordern Ihre Mithilfe in dieser Angelegenheit, und im Gegenzug dafür …« Er tippte auf die Liste der Straftaten in ihrer Akte. »Im Gegenzug dafür werden wir über den Verstoß gegen die Verkehrsordnung hinwegsehen, die Straftaten, die Ihr Vater unter den Tisch gekehrt hat, unangetastet lassen und … und Ihre Ausbildung als Dämonenjägerin von der Kirche anerkennen lassen, sodass Sie offiziell und in der Öffentlichkeit als Jägerin der Stadt Tensfort gelten.«
Dan hätte mit einem offenen Mund oder zumindest mit einem herzlichen Lachen gerechnet. Stattdessen legte die junge Dämonenjägerin den Kopf schief und musterte ihn mit demselben Ausdruck wie zuvor. »Sie müssen ja mächtig in der Scheiße sitzen, wenn Sie mir solch ein Angebot unterbreiten.«
»Wir benötigen jemanden, der das Handwerk der Dämonenjagd beherrscht.« Dan hielt ihrem Blick stand. »Aber nicht offiziell. Die Akte über Ihre Ausbildung als Dämonenjägerin ist verschlossen. Und nicht nur das, Ihr Vater hat die Angelegenheit so klein gehalten, dass bis auf Sie, Ihre Familie, vermutlich ein paar Freunde und die wenigen Eingeweihten Ihrer Heimatstadt niemand über diese Ausbildung Bescheid weiß. Und all diese Personen stehen unter Schweigepflicht.« Er machte eine kurze Pause. »Falls jemand Informationen über Sie sucht, wird er lediglich erfahren, dass Sie eine einfache Schülerin sind. Und für unsere Zwecke sollte auch niemand von etwas anderem ausgehen.«
Aria lachte ein freudloses Lachen und warf ihre Haare über die Schulter zurück. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Ich soll mit der Polizei an einem strenggeheimen und superwichtigen Projekt arbeiten? Und dafür machen Sie mir ein Angebot, das den Rahmen sprengt? Was haben Sie verbrochen? Geheime Laborversuche mit Dämonen und Menschen?«
Dan verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn Sie es vorziehen, Ihre angemessene Strafe zu erhalten, können wir das Gespräch hier gerne beenden. Vergeuden Sie nicht meine Zeit. Entweder Sie nehmen das überaus großzügige Angebot an und erklären sich einverstanden oder eben nicht.« Er machte eine fahrige Handbewegung. »In letzterem Fall dürfen Sie sich gerne bei Ihrem Anwalt melden, morgen dann zu einer vernünftigeren Zeit hier auftauchen und die Folgen Ihrer Straftat mit mir besprechen. Dieses Angebot gilt nur für heute Abend und das war es, Aria. Überlegen Sie es sich gut.«
Aria lehnte sich ihm über den Tisch hinweg entgegen. »Das ist Erpressung.«
»Nein, Aria, das ist das Gesetz.«
Ihr Blick glitt abschätzend über sein Gesicht. »Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte sie unvermittelt. »Polizist der Stufe drei und dann scheinbar noch mit etlichen zusätzlichen Fortbildungen.« Sie deutete auf seine Schulter und das Abzeichen dort.
»Ich wüsste nicht, was das mit meinem Alter zu tun hat.« Dan neigte den Kopf. »Und vor allem kann Ihnen das herzlich egal sein, Aria. Sie sind nicht in der Position, mir Fragen zu stellen.«
»Sie wiederholen sich.«
Dan holte tief Luft. Er bereitete sich auf das Finale des Gespräches vor, den letzten Schliff, um Aria endlich einzufangen. »Vielleicht hatte mein Vorgesetzter recht.« Er seufzte theatralisch. Dann erhob er sich von seinem Stuhl, der mit einem metallischen Geräusch über den Boden kratzte, und griff nach der Akte. »Sie scheinen keinerlei Interesse daran zu haben, und ich habe um diese Uhrzeit tatsächlich etwas Besseres zu tun.« Betont beiläufig stellte er den Stuhl zurück an den Tisch und schritt durch den kahlen Raum auf die Tür zu. »Rufen Sie Ihren Anwalt an. Wir sehen uns dann morgen Punkt vierzehn Uhr auf dem Revier wieder.« Er wandte sich um und konnte spüren, wie ihr lodernder Blick sich durch seinen Rücken bohrte.
Ohne zu zögern streckte er die Hand nach der Türklinke aus. Er war lange genug Polizist, um zu wissen, dass ihre grauen Hirnzellen gerade fieberhaft arbeiteten. Und noch bevor seine Fingerspitzen die kühle Klinke berühren konnten, hörte er bereits ihr zorniges »Moment«.
Er grinste kurz in sich hinein. Dann drehte er sich mit einer neutralen Miene zu ihr um. »Ja, bitte?«
Die Dämonenjägerin sah aus, als würde sie in Flammen stehen. Ihr feuerrotes Haar und ihre bernsteinfarbenen Augen glühten regelrecht. Sie war aufgestanden und hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt. »Was ist das hier für ein Spiel?«
»Das ist kein Spiel, Aria.« Er zuckte die Achseln. »Sie haben offensichtlich kein Interesse an einer Zusammenarbeit, und das obwohl wir Ihnen ein überaus großzügiges Angebot gemacht haben.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde zunehmend misstrauischer. »Ein zu großzügiges Angebot. Wo ist der Haken?«
Der Haken ist, dass du zum ersten Mal in deinem Leben den Arsch hochkriegen musst, du verwöhntes kleines Biest. »Es gibt keinen Haken, Aria. Sie passen in unser Profil und dafür würden wir Sie angemessen entlohnen. Und wenn Sie kein Interesse haben, werden wir jemand anderen finden. Ganz einfach.«
Allmählich schien ihre Fassade zu bröckeln. »Um was würde es überhaupt gehen?«
»Das dürfte ich Ihnen erst verraten, nachdem Sie sich zu Verschwiegenheit und zu Ihrer Mitarbeit verpflichtet haben.«
»Ich soll mich zu etwas verpflichten, das ich nicht kenne?« Ihre Augen funkelten noch stärker. »Was ist, wenn es mir nicht gefällt? Wenn es nicht mit meinen Grundsätzen übereinstimmt.«
»Ihre Grundsätze?« Dan lachte verächtlich. »Es wird auf jeden Fall kein Dauermarathon an Partys sein, Aria Wenfield.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und tippte mit ihrem langen Zeigefinger auf die Tischplatte vor sich. »Ich will einen Hinweis. Einen Hinweis, um was es gehen könnte.«
»Wir benötigen Ihr Wissen und Ihre Erfahrung, das ist alles«, erklärte er. »Es wird eine enge Zusammenarbeit erforderlich sein, also wird Ihnen nicht mehr viel Freizeit bleiben. Und Sie müssten jederzeit auf Abruf bereitstehen. Zudem würden Sie und die zuständigen Personen viel Zeit miteinander verbringen. Deshalb das großzügige Angebot, um Sie angemessen zu entschädigen.« Er quittierte ihr fortwährendes Schweigen mit einem Augenrollen. »Wir sind die Polizei. Es wird schon nichts Illegales sein.«
Sie versuchte wohl weiterhin etwas in seinem Gesicht zu lesen, doch Dan blieb steinhart.
»Und weiter?«, hakte sie nach.
Er schüttelte den Kopf. »Entweder Sie sagen jetzt zu oder nicht. Ich würde dann gerne Feierabend machen …«
»Mein Wissen, meine Freizeit, meine Verschwiegenheit und meine Rufbereitschaft«, fasste sie die Anforderungen zusammen. »Und dafür bleibt meine alte Akte weiterhin verschlossen, das heutige Verbot wird unter den Tisch fallen gelassen und meine Ausbildung als Jägerin wird anerkannt?«
Er nickte.
»Und wie wollen Sie letzteres schaffen?«
»Nun«, er gähnte ausgiebig, »wir haben so unsere Kontakte und Möglichkeiten. Sie als Mitglied der gehobenen Gesellschaft sollten doch wissen, dass man mit Beziehungen alles erreichen kann.«
»Viel Zeit zusammen verbringen, sagten Sie. Was ist, wenn ich mir illegal einen Film im Internet anschauen will und Sie mich dabei erwischen?« Sie richtete sich auf und bog den Rücken durch. »Meine Bedingung ist die: Wie ich mein Privatleben gestalte und was ich darin mache, bleibt folgenlos.«
Dan lachte. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. »Glauben Sie mir. Es geht uns vollkommen am Arsch vorbei, wo Sie sich die neusten Folgen ihrer Lieblingssoap ansehen.«
»Und was wäre mit zu schnellem Autofahren?«
War das etwa ihr Ernst? Er wandte sich der Tür zu.
»Moment.«
»Was ist?« Ungeduld schwang in seiner Stimme, als er sich erneut zu ihr umdrehte. »Entweder Sie nehmen dieses Angebot an oder nicht.«
Sie biss die Zähne zusammen. »Absolute Verschwiegenheit?«, stieß sie nach einem kurzen Zögern hervor. »Das heißt, absolut niemand wird davon erfahren? Ich darf es niemandem sagen und Sie auch nicht?«
Er hob eine Braue. »Das bedeutet absolute Verschwiegenheit, ja.«
Mit den Fingernägeln fuhr sie über die Tischplatte. »Und Ihnen ist egal, was ich in meiner Freizeit mache?«
»Wenn Sie nicht gerade eine Hanfplantage auf Ihrer Dachterrasse pflegen oder härtere Verstöße gegen das Gesetz begehen, dann ja. Falls Sie erneut zu schnell fahren, zahlen Sie die Strafzettel mit allen Konsequenzen jedoch selbst.« Er warf ihr einen höhnischen Blick zu. »Ansonsten haben wir Wichtigeres zu tun, als uns mit Ihrem Kinderkram zu beschäftigen. Und wenn Sie sich auf Ihren High-Society-Partys zukiffen, ist mir das tatsächlich auch egal.«
»Muss ich die Strafzettel wirklich zahlen?«, brummte sie.
Dan konnte nur den Kopf schütteln. Er drehte sich ein drittes Mal zur Tür um.
Diesmal dauerte es keine Sekunde, bis sie ihn zurückrief. »Okay, ist ja schon in Ordnung.« Ihre Hand wurde zu einer Faust. »Ich mache es unter einer einzigen Bedingung. Absolute Verschwiegenheit jedem gegenüber. Und … und mein Lebensstil wird absolut nicht hinterfragt.«
Dan musste sich einen gehässigen Kommentar verkneifen. Dieses freche, kleine Ding stellte doch tatsächlich noch weitere Bedingungen auf. Er kannte ihre Akte und ihren sogenannten Lebensstil in- und auswendig. Partys, eine teure Wohnung von Daddy und zahlreiche Events im Rampenlicht der gehobenen Gesellschaft. Alles, was sie unter der Hand tun könnte, wäre ein paar Drogen auf ihren Partys einzuschmeißen und vielleicht ein paar Dämonen zu töten, um einen Adrenalinkick zu verspüren. Es interessierte ihn nicht. »Von mir aus«, erwiderte er. »Ist das denn nun ein Ja?«
Sie nickte. »Ja.«
»Gut.« Er unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Er hatte genau gewusst, dass er sie über diese Masche zu einer Zusage bringen konnte. »Warten Sie hier. Ich hole den Vertrag.«
Aria setzte sich auf den Stuhl und fluchte.
Aria hasste Dan Howard bereits jetzt. Dieser Kerl war sicher nicht älter als einundzwanzig und benahm sich, als wäre er der Chef der gesamten Polizei. Nachdem er ihr die Verschwiegenheitserklärung überreicht und sie sich in Androhung einer unmenschlich hohen Strafzahlung und jeder Menge rechtlicher Probleme verpflichtet hatte, ihr Schweigen einzuhalten, saß sie nun erneut eine Ewigkeit allein in dem trostlosen grauen Verhörraum. Sie starrte abwechselnd in den widerwärtigen Kaffee vor sich und auf die Spiegelwand, hinter der sich der Polizist vermutlich verschanzt hatte, um seinen Triumph und ihre Ungeduld zu genießen. Immer wieder fragte sie sich, was in sie gefahren war. Sie hatte sich auf einen Deal mit der Polizei eingelassen und das nur, weil ihre Argumente verdammt gut waren – vor allem in ihrer jetzigen Position.
Sie würgte den kalten Rest des schwarzen Getränks hinunter und zerknüllte den Becher. Das Angebot war zu verführerisch gewesen. Sie wollte mit einer anerkannten Ausbildung endlich das tun, wofür sie so lang und hart gekämpft hatte: Sie wollte als Dämonenjägerin arbeiten. Nachdem sie die zwei Jahre ihrer Lehre erfolgreich abgeschlossen hatte, war zu schnell aufgefallen, dass sie diese eigentlich nicht hätte antreten dürfen. Dämonenjäger wurden erst ausgebildet, sobald sie volljährig waren. Das hatte ihr jedoch zu lang gedauert. Und deshalb hatte sie sich mit sechzehn Jahren schließlich einen gefälschten Ausweis besorgt.
Sobald das ans Licht kam, war sie im hohen Bogen aus der Kirche geflogen und jeglicher Informations- und Angebotsquellen zu dämonischen Aufenthaltsorten beraubt worden. Ihr Vater hatte ihr dieses neue Leben in Tensfort mit der elitären Schule aufgedrückt. Doch Aria wollte solch ein Leben nicht. Sie wollte keine Anwältin werden, die korrupten Firmen dabei half, die Armen auszunehmen und ihre Seele für Geld, schicke Autos und Ansehen verkaufte. Sie wollte auch keine Ärztin werden und irgendwann die Klinik ihres Vaters übernehmen. Auch hier herrschten Verrat und Korruption. Während immer mehr Menschen auf der Straße an einer einfachen Grippe verstarben, wurden reiche Patienten in der Klinik in Einzelzimmern mit seltenen Lebensmitteln und teuren Medikamenten versorgt. Nein, Aria hatte es satt, dabei zusehen zu müssen, wie Geld die Welt regierte. Und nein, sie wollte auch keine Lehrerin werden oder eine Marketingchefin wie ihre Mutter damals.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Hastig schluckte sie ihn hinunter und schüttelte den Kopf. Immerhin hatte sich die Polizei ebenfalls zu Verschwiegenheit verpflichtet. Und Dan Howard hatte bereits ein eingemeißeltes Bild von ihr im Kopf, das ihr zusätzlich Schutz bot. Denn wenn herauskam, was alles ohne das Wissen ihres Vaters und dieses Polizisten ablief, würde sie erneut mächtig Ärger bekommen. Da war zum Beispiel die Sache mit den Dämonen. Niemals dürfe ihr Vater erfahren, dass sie hinter seinem Rücken tatsächlich noch jagte. Er hatte ihr jegliche Beschäftigung mit dem Thema Dämonen verboten. Weder durfte sie jagen, noch eine neue Ausbildung anfangen, noch überhaupt daran denken. Ansonsten würde er ihr sämtlichen Unterhalt streichen, und Aria würde ohne Mittel dastehen. Da sie volljährig war, hatte man ihn über die Einbrüche für das Weihwasser nicht informiert. Er hatte keine Ahnung. Und das war nur einer von vielen Punkten, die sie vor ihm geheim hielt.
»Aria?« Dan Howards Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er zurück in den Raum gekommen war und sie nun mit einem Stirnrunzeln betrachtete.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den leeren Kaffeebecher so sehr zerknüllt hatte, dass ihr die aufgeplatzten Plastikteile scharf in die Finger schnitten. »Haben Sie jetzt endlich mehr Infos für mich, Officer?« Sie pfefferte den Becher an die Ecke des Tisches.
Dan musterte sie mit verächtlichem Ausdruck. Es war reine Verschwendung, dass ein so gutaussehender junger Mann ein derartiges Ekelpaket an Polizist war. Er hätte Schauspieler werden sollen. Oder Model. Oder – jetzt, da sie ihn in dieser Uniform näher betrachtete – vielleicht auch einfach Stripteasetänzer.
»Zunächst der Vertrag, um die Bedingungen beider Seiten zu vereinbaren.« Dan schob ein weiteres Papier zu ihr herüber.
Arias Blick glitt über den offiziellen Briefkopf. Er verlieh dem Dokument Autorität. Sie las ihre eigenen Rechte und Pflichten durch und hob mit jeder Zeile ihre Augenbrauen ein wenig höher. Es war so, wie er es bereits erklärt hatte. Sie musste außerhalb der Schulzeiten das Team begleiten und viel von ihrer Freizeit opfern. Oft auch kurzfristig und ohne es vorher planen zu können. Dann war da noch die absolute Verschwiegenheit nach außen, zu der sie sich bereits durch ihre Unterschrift auf der Verschwiegenheitserklärung verpflichtet hatte. Lediglich vier Parteien waren in die »Ermittlungen« eingeweiht. Und ab diesem Wort bekam die »Angelegenheit« bereits eine Form, die Aria aufmerksam werden ließ. Ermittlungen. Davon hatte Dan Howard noch nichts gesagt.
»Wer ist Hugh Davidson?« Sie zeigte auf den ersten Namen, der zu dem Dreierteam auf der Seite der Polizei gehören würde.
»Mein Partner«, erwiderte Dan knapp.
Aria rollte die Augen. Dass sie in Zukunft auch mehr Zeit mit ihm verbringen musste, hatte sie bereits gesehen. »Und wer ist Mortimer Dash?«
»Der Wachleiter dieses Reviers.« Der Polizist verschränkte die Arme vor der Brust. Seine kurzen dunkelbraunen Haare waren an den Schläfen etwas angedrückt. Dort, wo er seine Polizeimütze getragen hatte. Ansonsten wirkte er ein wenig zerzaust.
»Und Daniel Lewis, der Polizeioberdirektor, ist der Auftraggeber«, sagte Aria mehr zu sich selbst als zu ihm. »Er hat alles abgesegnet und versichert, dass meine Ausbildung anerkannt wird.« Sie atmete auf. Sie kannte Daniel Lewis aus den Nachrichten. Er war das höchste Tier der Polizei in einem so großen Umkreis, dass selbst ihre alte Heimat noch zu seinem Einzugsgebiet zählte. Wenn jemand die Anerkennung ihrer Ausbildung durchboxen konnte, dann er.
Erneut vertiefte sie sich in die Dokumente. Ihre Rechte waren, wie Dan sie bereits beschrieben hatte. Ihr Verstoß gegen die Verkehrsordnung würde unter den Tisch fallen. Zudem würde ihre Ausbildung offiziell geltend gemacht werden, sodass sie endlich fest als Dämonenjägerin arbeiten konnte – bei der Kirche und ohne weitere Folgen seitens des Arbeitgebers. Zudem würden die genannten Parteien für ihre Sicherheit und Gesundheit sorgen und sie für sämtliche Kosten entschädigen, die durch ihre Beihilfe zu den Ermittlungen entstanden. Nach außen hin würde Aria die Polizisten aufgrund eines Praktikums begleiten. Sie habe angeblich an einer Schulung zur Seelsorgerin teilgenommen und würde diese Pflichtstunden nun benötigen, um ihr Zertifikat zu erhalten. Frei nach dem Motto »man kann nur dann mitreden und die Opfer ordentlich trösten, wenn man auch einmal hinter die Kulissen geschaut hat«.
Aria seufzte. Sie setzte ihre Unterschrift gleich neben die der vier Fremden. Dann schob sie das Dokument zurück zu dem Polizisten, nahm sich ihren Durchschlag und packte ihn sorgfältig in ihre Tasche.
Dan war bereits zur Tür geschritten, als sie wieder aufsah. »Wo zum Teufel wollen Sie denn jetzt schon wieder hin?« Sie funkelte den jungen Mann an. »Ich will endlich wissen, um welche Ermittlungen es sich handelt, verdammt. Sie haben mich jetzt lange genug warten lassen.«
»Das besprechen wir am Montag«, erwiderte er knapp.
Aria traute ihren Ohren kaum. Hatte sie gerade richtig gehört? »Montag?« Sie sprang von ihrem Stuhl auf. »Sie sagen mir jetzt verdammt noch mal um was es hier eigentlich geht!«
Dan zuckte die Achseln. »Es ist spät, und wie ich bereits vorhin sagte: Ich würde dann gerne Feierabend machen.«
Aria fiel aus allen Wolken. »Wie bitte?«
Dan Howard verkniff sich eindeutig ein Grinsen. Da war sie sich zu hundert Prozent sicher. Als er sich ihr zuwandte, wirkten seine Augen amüsiert, seine Miene jedoch vollkommen ernst. »Kommen Sie jetzt bitte mit. Ich habe nicht ewig Zeit.«
Das konnte er unmöglich ernst meinen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich demonstrativ wieder hin. Dan bedachte ihre Reaktion mit hochgezogenen Brauen. Obwohl Aria sich wie ein stures Kind vorkam, dachte sie nicht im Traum daran, diesen Mistkerl gewinnen zu lassen.
»Aria, Sie haben sich soeben für Ihre aktive Mitarbeit verpflichtet und auch dafür, mich ohne Widerstand für Ihre Sicherheit sorgen zu lassen.« Dan schaute sie durchdringend an. »Also kommen Sie mit, damit ich Sie endlich nach Hause fahren kann. Es ist spät in der Nacht. Ich werde Sie Montagnachmittag abholen und Ihnen vor Ort alles Nötige erklären.«
»Ich habe ein eigenes Auto«, gab sie verbissen zurück.
Dan bekam erneut diesen Gesichtsausdruck, der ihr keinen Zweifel daran ließ, dass er sich an ihrem Leid ergötzte. »Ihr Auto hat eine Kralle bekommen. Es steht auf dem Polizeiparkplatz.«
»Was zur …?« Sie sprang auf und stöckelte auf den Polizisten zu. »Wo ist mein GTI?«
»Da, wo ich es gerade gesagt habe, Aria.« Dan tippte in aller Seelenruhe auf den Vertrag in seinen Händen. »Bis Sie vor wenigen Minuten diesen Vertrag unterschrieben haben, war Ihr Auto in Beschlag, da Sie einen Verstoß gegen Ihre Auflagen begangen haben. Das ist nur der übliche Ablauf.«
Wie zähes Motoröl kroch Hass durch ihre Adern. In ihren Gedanken spielte sie sämtliche Szenarien durch, in denen sie Dan Howard die Nase, den Arm oder eine Rippe brach. Sie hatte bereits einige Dämonen und auch Männer zu Boden gerungen. In ihren Fingerspitzen juckte es, dasselbe mit diesem Polizisten zu tun. Doch dann würde sie sich vermutlich eine Strafe auf Lebenszeit einhandeln.
»Am Montagmorgen bekommen Sie ihn wieder.« Dan lächelte sie hinterlistig an und nickte in Richtung Tür. »Über das Wochenende wird er weiterhin beschlagnahmt bleiben. Und falls Sie fragen: Ich habe Caitlin Underwood vor über einer Stunde nach Hause geschickt und ihr versichert, dass wir für Ihre Heimfahrt sorgen werden.«
Aria wollte ihm am liebsten den Absatz ihrer Stiefel direkt durch den Fuß bohren. Er würde aufschreien, sodass sie ihm einen Kinnhaken verpassen könnte, der ihn ausknockte. Und dann würde sie …
»Aria?«
Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel tief in ihre Haut gruben. Früher oder später würde sie sich an diesem Mistkerl rächen. Fürs Erste musste sie ihre Fassung wahren. Erhobenen Hauptes schritt sie an ihm vorbei aus der Tür.
Aria saß auf dem Beifahrersitz des Polizeiautos und brütete vor sich hin. Sie fühlte sich wie eine Schwerverbrecherin. Seitdem sie in den Wagen gestiegen waren, hatten der Polizist und sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Üblicherweise kannte Aria die Gepflogenheiten des Small Talks in- und auswendig. Ob mit den Reichsten der Reichen über Designer zu sprechen oder mit den Ärmsten der Armen über Politik und die Regierung zu lästern – sie konnte alles. Und üblicherweise konnte sie sich auch mit gutaussehenden Typen unterhalten und je nach Interesse genau die Dinge sagen, die sie dazu brachten, ihr aus der Hand zu fressen. Dan Howard hingegen weckte in ihr nicht einmal das Interesse, auch nur eine einzige Gehirnzelle dafür arbeiten zu lassen, wie man dieses eiserne Schweigen hätte brechen können. Stattdessen malte sie sich weiterhin aus, wie sie ihm »aus Versehen« etwas brechen könnte.
Sie musste grinsen und rutschte tiefer in den Sitz hinein. Da realisierte sie, dass Dan auf der Hauptstraße fuhr, zielgerichtet auf eines der besten Stadtviertel zu: Hemsfield. »Moment mal.« Ruckartig richtete sie sich wieder auf.
Dan reagierte nur, indem er eine Braue hob.
Verdammt. Sie hatte sich vor lauter Tagträumereien über Dan Howards Leiden keine Sekunde darüber Gedanken gemacht, wohin er sie überhaupt fuhr. Heim. Ja. Aber in das Heim, in dem sie offiziell gemeldet war. Die Wohnung in Hemsfield, die nicht einmal existierte. Arias Vater zahlte die Miete an einen Vermieter, den es ebenso wenig gab. Dank eines technisch versierten Freundes wurde das Geld von einem Konto mit Pseudonym auf ihr eigenes umgeleitet. Damit bezahlte sie die Miete für ihr Zimmer in der Wohngemeinschaft mit ihrem Partner Marcus, das Benzin für den GTI und vor allem die Ausrüstung für die Dämonenjagd. Das waren alles Dinge, die sie vor ihrem Vater geheim halten musste. Dieser ging nämlich nach wie vor davon aus, dass sein Plan, sie in eine teure Wohnung und auf eine elitäre Schule zu schicken, aufgegangen war. Nachdem die Sache mit dem gefälschten Ausweis und der Ausbildung zur jüngsten Dämonenjägerin aufgeflogen war, hatte ihr Vater sie hochgradig unter Druck gesetzt. Und da er sich außer für ihren Ruf kaum für ihr Leben interessierte, merkte er auch nicht, dass sie nie in dieses angeblich vorhandene Appartement eingezogen war. Besuchen würde er sie ohnehin niemals.
Früher hatte diese abweisende Art Aria schwer verletzt. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Diese Kühle beruhte auf Gegenseitigkeit. Ihr Vater war schon lang nicht mehr der Mann, der er früher gewesen war. Mit der Zeit war er zu einem Mistkerl mutiert.
»Was ist denn los?« Dan warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu.
Aria kam ins Straucheln. In Höchstgeschwindigkeit ging sie ihre Möglichkeiten durch. Sie könnte sich nach Hemsfield bringen lassen und so tun, als würde sie in das Innere des Gebäudes gehen. Dann könnte sie warten, bis der Polizist weg war und Marcus anrufen, damit er sie abholte – seit der Wirtschaftskrise fuhren die Busse und Bahnen nachts nicht mehr. Wie sie Dan Howard allerdings einschätzte, würde er so lange warten, bis irgendwo ein Licht in einer Wohnung anging und sie am Fenster vorbeilief. Oder noch schlimmer: Er würde sie höchstpersönlich zur Tür der nicht vorhandenen Wohnung bringen wollen.
Nein, Aria konnte es nicht riskieren. Der Polizist durfte nicht herausfinden, dass sie nicht dort wohnte, wo sie gemeldet war. Nicht, wenn im Hintergrund ein nicht ganz legales System ablief.
»Ähm.« Sie schluckte. Sie brauchte dringend eine Ausrede, weshalb sie in einem der heruntergekommensten Viertel Tensforts übernachten wollte – und nicht in Hemsfield. »Nein, ich schlafe derzeit bei meinem Freund. Er wohnt in Berington.«
Der Polizist hätte nicht überraschter aussehen können. Natürlich. In sein Weltbild von Aria Wenfield passte es eindeutig nicht hinein, dass sie sich mit den untersten Schichten der Stadt abgab. »In Berington?« Seine Stimme war heiser geworden. Er räusperte sich. »Ich soll Sie nach Berington fahren?«
Aria funkelte ihn an. »Oder verbieten Sie mir jetzt auch noch, meinen Freund wiederzusehen?«
Dan Howard musste sich offensichtlich zunächst fassen – was er jedoch innerhalb eines Wimpernschlages schaffte. »Wie Sie möchten.« Er riss das Lenkrad herum und machte eine scharfe Kehrtwende mitten auf der Straße.
Aria wurde gegen die Tür gepresst. Sie unterdrückte ein Fluchen. Dann gab sie ihm die Adresse und schaute stur aus dem Fenster.
Die bunte Helligkeit der Stadt schien mit jedem Meter abzunehmen, bis die Umgebung schließlich in pure Finsternis überging. Etwa zwanzig Minuten später überquerten sie die Grenze zu Berington und somit zu ihrem eigentlichen Wohnort. Es war eines der Viertel, in denen sich illegale Geschäfte häuften. Prostituierte standen am Straßenrand und machten den Autofahrern unmoralische Angebote. Obdachlose wärmten sich in kleinen Gassen die Hände an improvisierten Feuerstellen und tauschten untereinander selbstgebrannten Schnaps aus. Hinter verbeulten Müllcontainern lagen Drogensüchtige und gaben sich mit längst verschmutzten Nadeln den letzten Schuss. Und überall dazwischen liefen gut gekleidete »Geschäftsmänner« umher, die mit ihren schwarzen Mänteln und den glänzenden Lackschuhen kaum in die Umgebung passten.
So wie die Polizei diese Viertel ignorierte, schenkten die dort lebenden Personen der Polizei und solch zwielichtigen Gestalten kaum Aufmerksamkeit. Jeder wusste, welche Art Menschen dort lebte und welche Geschäfte hier betrieben wurden. Drogen, Zwangsprostitution und etliches mehr. Dennoch rührte niemand einen Finger – und das, obwohl inzwischen die Anzeigepflicht eingeführt worden war. Aria konnte sich denken, woran dies lag. Die Machtverhältnisse waren bereits so gefestigt, dass man lieber wegschaute, anstatt sich einzumischen.
Dan Howards Miene verdüsterte sich zusehends. Aria musterte sein Spiegelbild in der Scheibe. Sie konnte nicht einschätzen, ob er von dem Treiben auf den Straßen und den dort lebenden Menschen angewidert war, oder ob er einer der wenigen Polizisten war, die den Kampf gegen die Windmühlen noch immer nicht aufgegeben hatten. Die Ehrenmänner, die sich stets dafür einsetzten, dass doch etwas gegen die Kriminalität getan wurde.
Aria rümpfte die Nase. Vermutlich ersteres. Und vermutlich sah er in Arias fiktiver Beziehung jugendliche Rebellion und die Suche nach Nervenkitzel.
»Aria«, setzte er wie aufs Stichwort an. Sein Ton verriet bereits alles. »Sind Sie sich sicher, dass Sie in einer solchen Gegend übernachten möchten?«
Aha. Deshalb hatte er also den kleinen Umweg gemacht und war von der anderen Seite in den schlechteren Randbezirk des Viertels hineingefahren. Die ersten Straßenzüge des Viertels waren nämlich eine noch relativ bewohnbare Gegend, die sich jedoch mit jedem weiteren Kilometer immer mehr in einen sozialen Brennpunkt verwandelte, der eines Mafiafilms würdig gewesen wäre.
Aria schwieg.
Der Polizist räusperte sich erneut. »Es ist nicht unbedingt die sicherste Gegend für ein Mädchen in Ihrem Alter«, fügte er nun mit einem eindringlichen Seitenblick hinzu. »Oder überhaupt eine Frau – egal welchen Alters.«
Sah sie etwa so aus, als könnte sie sich nicht selbst verteidigen? Sie begab sich jede Nacht auf Dämonenjagd. Kreaturen, die im Gegensatz zu einem kriminellen Zweimetermann um einiges mehr Schaden anrichten konnten. »Hören Sie, Officer«, spuckte sie aus. »Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen. Ich habe meine Ausbildung als Dämonenjägerin – anerkannt oder nicht – als eine der Besten abgeschlossen. Und ich habe es bereits mit Dämonen aufgenommen, im Vergleich zu denen Ihre schlimmsten Albträume ein zahmes Kätzchen sind. Hören Sie endlich auf, mit mir zu reden, als sei ich ein zehnjähriges Kind. Sie glauben, nur weil ich ein Mädchen bin, kann ich mich nicht verteidigen? An Ihrer Stelle würde ich diesen Gedanken ganz schnell wieder verwerfen.«
Dan hob eine Braue.
»Außerdem erinnere ich Sie zu gerne daran, dass Sie mich um eine Zusammenarbeit gebeten haben.«
Er ließ seine dunkle Braue noch ein Stückchen weiter nach oben wandern. »Um Ihr theoretisches Wissen zu nutzen, ja.«
Mein Gott. Er macht sich nicht einmal die Mühe, etwas gegen meinen unhöflichen Tonfall zu sagen. Er sieht in mir tatsächlich nur ein trotziges Kleinkind.
Sie schnaubte. Er war es nicht wert, dass sie auch nur ein weiteres Wort sagte.
Etwa fünf Minuten später hatten sie den Rand des Viertels erreicht. Graue Hochhäuser reihten sich eng aneinander. Sie ragten wie Betonmonster in den schwarzen Nachthimmel auf. Ihre Fassaden bröckelten bereits an allen Ecken und Enden. Nur wenige Lichter leuchteten in den unzähligen kleinen Fenstern. Sie wirkten wie verlorene Glühwürmchen in der Luft.
Dan parkte neben einem zerschlagenen Bordstein und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Er würde sie also tatsächlich bis vor die Wohnungstüre begleiten.
Schnurstracks stöckelte sie auf das Hochhaus zu und wandte sich an den Polizisten. »Ich habe einen Zweitschlüssel. Sie können also hier unten bleiben.«
Dan grinste und schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte er mit dieser Reaktion gerechnet und wollte die Chance nicht verpassen, Aria Wenfield höchstpersönlich und in Uniform ins Haus zu bringen.
Mit einem kurzen Kraftaufwand stieß sie die klemmende Tür auf und trat in den spärlich beleuchteten Hausflur. Während ihre Absätze wie Pistolenschüsse durch das kahle Treppenhaus knallten, verursachten Dans feste schwarze Lederstiefel knarzende Geräusche auf dem dreckigen Boden. Das alte Hochhaus hatte keine Aufzüge, und Aria und Marcus wohnten im dritten Stock. Dan folgte ihr schweigend. Aria konnte seinen Blick in ihrem Rücken spüren. Unwillkürlich zog sie die Schultern ein Stück nach oben. Dann zückte sie den nächsten Schlüssel und machte das Licht in ihrem Stockwerk an.
Eine ratternde Zeitschaltuhr sprang an und zählte genau eine Minute ab, bis die Lampe von selbst wieder ausgehen würde. Durch den kleinen Schlitz unter der Wohnungstür drang Licht. Marcus war noch immer wach. Und das um vier Uhr morgens.
In dem Moment, in dem Aria die Tür aufstieß, sprang der junge Mann bereits von dem zerschlissenen Sofa auf. Seine dunkelgrauen Augen funkelten wie der Stecker in seinem rechten Ohrläppchen. »Herrgott, Aria, wo zum Teufel warst du?« Er klang wütend und besorgt zugleich. »Ich habe dich auf deinem beschissenen Handy partout nicht errei…« Er stoppte abrupt, als der Polizist hinter ihr hervortrat.
»Mein Akku war leer, Schatz. Und wie du siehst, ist etwas dazwischengekommen.« Sie schaute Marcus mit durchdringendem Blick an und fügte dann ein »Tut mir leid, ich habe dir leider keine Cola mehr bei der Tankstelle holen können« hinzu.
Marcus‘ Gesicht erhellte sich, er erkannte das Codewort sofort. Cola. Eine rote Dose für Alarmstufe Rot. Dieses System hatten sie ursprünglich für Dates entworfen. Pepsi, Blau, bedeutete, dass das Date mies lief und dass der andere – sofern er nicht gerade selbst eine superheiße Verabredung hatte – demjenigen aus der Patsche helfen musste. Cola war der absolute Notfall. Ab jetzt musste Marcus alles mitspielen, was Aria vormachte. Und das, ohne Fragen zu stellen oder auch nur einen Augenblick lang zu zögern.
Hastig schlängelte Aria sich durch den Türrahmen, warf sich Marcus hemmungslos in die Arme und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
Er schlang seine Arme um sie. Marcus war groß und wirkte schmal und schlaksig. Sein Körper besaß kein Gramm Fett, dafür war er über und über mit sehnigen Muskeln besetzt. »Meine Güte, Süße, ich habe mir solche Sorgen gemacht«, hauchte er im liebevollen Ton eines Verliebten. Sanft strich er eine zerzauste Haarsträhne aus Arias Gesicht und schaute dann erneut zu dem Polizisten hinüber. »Ist denn etwas passiert?«
»Erzähl ich dir später«, murmelte sie, wandte sich Dan zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er sah in seiner autoritären Uniform unheimlich gut aus. Seine azurblaue Iris strahlte selbst dann noch hell auf, als das Licht hinter ihm erlosch und er im halbdunklen Flur stand.
»So, ich bin lebendig angekommen und werde das ganze Wochenende hier verbringen«, fuhr sie fort. »Sie haben Ihr Versprechen gegenüber Caitlin eingelöst und können guten Gewissens schlafen gehen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Aria.« Dan fixierte sie mit ausdrucksloser Miene. »Montagnachmittag um fünfzehn Uhr werde ich hier sein.« Mit diesen Worten drehte er sich um, schaltete das Licht ein und ging zielgerichtet durch den Gang in das Treppenhaus zurück.
Aria knallte die Tür lauter zu als nötig. Sie schaute den vollkommen überfragt dreinblickenden Marcus an und schüttelte den Kopf. »Sag bitte nichts.«
Bevor er auch nur Luft holen konnte, tauchte ein weiterer junger Mann im Wohnzimmer auf. Er war der Inbegriff eines Sonnyboys und brachte vermutlich etliche Damen zum Dahinschmelzen. Aria kannte ihn bereits. Er war schon einmal zu Besuch dagewesen.
Mit wenig begeisterter Miene zog er sich ein T-Shirt über den Kopf und bedachte die beiden mit einem missmutigen Blick.
»Ben!« Marcus wirbelte herum.
»Ich wusste es«, erwiderte der Fremde. »Ich wusste, dass ein toller Typ wie du nicht nur auf Männer stehen kann. Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.« Er seufzte schwer. »Tut mir leid, Marcus, aber ich werde nicht erneut eine Frau als Konkurrenz akzeptieren können.«
Marcus schien nun völlig überfordert zu sein. Er strich sich mehrfach durch die kurzen blonden Haare.
Aria dagegen begann laut und ungehalten zu lachen. »Fehlalarm. Marcus ist durch und durch schwul.« Sie zog sich die schmerzenden Schuhe von den Füßen und pfefferte sie in die Ecke des Zimmers. »Das war nur eine kleine Notlüge. Du kannst getrost zurück in sein Bett gehen.«
Ben runzelte die Stirn.
»Ich … ich erzähl es dir gleich.« Marcus lächelte verschmitzt. »Leg dich nochmal hin, ich komme gleich nach.«
Der Sonnyboy zögerte kurz. Dann drehte er sich um und verschwand wieder in Marcus' Zimmer. Während er die Türe hinter sich schloss, tapste Aria in die winzige Kochnische, die lediglich durch eine kleine Theke von dem Wohnzimmer getrennt wurde. Marcus' und ihre Wohnung war nicht sehr groß. Neben diesem Raum gab es lediglich eine kleine Abstellkammer, die eher als Waffenkammer diente, ein Bad und die zwei Schlafzimmer.
»Soso. Ben also?« Aria schnappe sich eine Wasserflasche. »Ich dachte, du datest nicht ein und dieselbe Person zweimal?«
Marcus lehnte sich über die Theke und schob die Brauen zusammen. »Du wurdest gerade von einem Polizisten höchstpersönlich hierhergebracht und hast mich als deinen Freund betitelt. Was zur Hölle ist heute Nacht passiert?«
Müdigkeit zehrte an Arias Verstand. Sie lehnte sich an die Küchenzeile. »Eine lange Geschichte, die ich dir lieber morgen nach dem Frühstück erklären würde.« Sie gähnte ausgiebig. »Aber mach dir keine Sorgen, es ist nichts passiert und er glaubt, ich sei hier nur zu Besuch.«
Marcus richtete sich auf. »Das gefällt mir nicht, Aria. Das mit dieser Wohnung ist ein verdammtes Spiel mit dem Feuer und das habe ich dir schon immer gesagt.« Seine Miene verdüsterte sich. »Und was zum Teufel heißt, er holt dich Montag wieder hier ab?«
Aria stopfte ihre Haare zu einem Dutt zusammen. »Bleib ruhig. Er hat das mit der Beziehung geschluckt und wird dich nie wiedersehen. Er wird mich nur abholen, da ich … noch etwas zu erledigen habe. Das wird sein letztes Mal in meinem privaten Umfeld sein, das kann ich dir versprechen.«
Ihr Mitbewohner öffnete den Mund.
»Ich erzähl dir alles morgen.« Mit einem vielsagenden Grinsen nickte sie zu Marcus' Zimmertür. »Jetzt lass Ben nicht warten. Da hast du mir morgen übrigens auch noch etwas zu erzählen.« Bei dem letzten Satz zwinkerte sie ihm zu. Anschließend schnappte sie sich eine Wasserflasche, nahm ihre Schuhe und zog sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Es wurde Zeit, dass sie sich schlafen legte.
»Komm schon, Lucas, lass mich nicht allein mit Mom und Dad zu dem Dinner gehen.« Aria stand in der Zimmertür und verschränkte die Arme vor der Brust. Früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatten der Schmollmund und ihre großen Augen gereicht, ihren vier Jahre älteren Bruder zu überreden. Doch jetzt, da sie bereits vierzehn war, tat er ihr Flehen und Bitten als pubertäre Krise ab.