Aru gegen die Götter, Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts (Rick Riordan Presents) - Roshani Chokshi - E-Book

Aru gegen die Götter, Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts (Rick Riordan Presents) E-Book

Roshani Chokshi

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Beschreibung

Wer die Götter herausfordert, dem ist echt nicht zu helfen ... Aru Shah kann es kaum fassen: Eigentlich wollte sie ihren Klassenkameraden nur beweisen, dass die antike Öllampe im Museum ihrer Mutter tatsächlich verflucht ist - und nun soll sie durch das Entzünden der Lampe das Ende des Universums eingeläutet haben?! Um das Schlimmste zu verhindern, bekommt sie von den Wächtern des Himmelspalasts einen geheimen Auftrag. Zum Glück wird ihr auch ein mächtiger Beschützer an die Seite gestellt - der allerdings im Körper einer Taube gefangen ist ... Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin Band 2: Jaguarmagie "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt Band 5: Der Trank der Unsterblichkeit "Tristan gegen die Götter" von Kwame Mbalia Band 1: Mythenweber

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Im Glossar findest du viele nützliche Erklärungen zu Begriffen, die in diesem Buch vorkommen.

Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022 Ravensburger VerlagDie Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel „Aru Shah and the End of Time“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint der Disney Book Group.Copyright © 2018 by Roshani ChokshiIntroduction copyright © 2018 by Rick RiordanTranslation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency.All Rights Reserved.Übersetzung: Katharina OrgaßUmschlaggestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung einer Illustration von Melanie Korte und Bildern von (c) Katikam/Adobe Stock und (c) malkani/Adobe StockSanskrit-Ziffern im Innenteil: (c) amol/Adobe StockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51139-6ravensburger.com

Für meine Schwestern:Niv, Victoria, Bismah, Monica und ShrayaWir brauchen unbedingt eine Titelmelodie.

Hast du schon mal ein Buch gelesen und gedacht: Toll! Warum habe ich das nicht geschrieben?

So geht es mir mit Aru gegen die Götter: Die Wächter des Himmelspalasts. Es hat alles, was ich an Büchern schätze: Humor, Action, großartige Figuren und natürlich eine atemberaubende Götterwelt! Trotzdem hätte ich dieses Buch nicht schreiben können, denn in der Welt der indischen Götter bin ich einfach nicht zu Hause. Und schon gar nicht könnte ich diese Welt so unterhaltsam und leserfreundlich schildern.

Zum Glück kann Roshani Chokshi das!

Wenn du dich mit Hindu-Mythologie noch nicht auskennst, dann mach dich auf was gefasst! Du findest Zeus, Ares und Apollo krass? Warte, bis du Hanuman und Urvashi kennenlernst. Du findest Percy Jacksons Schwert Springflut cool? Die Hindu-Mythologie hat jede Menge göttliche Astras zu bieten: Keulen, Schwerter, Bögen und aus Blitzen geknüpfte Netze. Such dir was aus – du wirst es brauchen. Du findest Medusa gruselig? Verglichen mit den Naginis und Rakshas ist sie harmlos. In diese verrückte Welt wird Aru Shah, eine aufgeweckte Siebtklässlerin aus Atlanta, hineingezogen. Was sie dort alles erlebt, wird dich umhauen.

Wenn du dich aber schon mal mit Hindu-Mythen beschäftigt hast, kannst du dich auf ein Wiedersehen freuen – mit Göttern und Dämonen, Bösewichten und Helden. Du wirst Aru ins Paradies und in die Unterwelt begleiten. Aber egal, wie viel du schon weißt – ich wette mit dir um eine Riesentüte Gummibärchen, dass sogar für dich noch etwas Neues dabei ist.

Du merkst schon – ich kann’s kaum erwarten, mich zusammen mit dir ins Abenteuer zu stürzen!

Worauf warten wir dann noch? Wir treffen Aru Shah im Museum für Altindische Kunst und Kultur an, wo ihre Mutter arbeitet. Die Herbstferien haben gerade angefangen und Aru stellt sich auf einen langweiligen Tag ein.

Sie irrt sich gewaltig!

Wenn man umgeben von hochgefährlichen Gegenständen aufwächst, werden sie blöderweise irgendwann selbstverständlich.

Seit Aru denken konnte, wohnte sie im Museum für Altindische Kunst und Kultur. Und sie wusste sehr wohl, dass man die Lampe hinten im Göttersaal nicht anfassen durfte.

Sie redete ganz lässig von der „Lampe der Zerstörung“, so wie ein Pirat ein Seeungeheuer, das er gezähmt hat, „mein Monsterchen“ nennen könnte. Doch obwohl die Lampe für sie selbstverständlich geworden war – angezündet hatte sie sie noch nie. Das wäre gegen die Vorschriften gewesen und die ging sie schließlich jeden Samstag mit den Teilnehmern der Nachmittagsführung durch.

Die meisten Leute hätten sich geweigert, am Wochenende zu arbeiten, aber für Aru war es keine Arbeit.

Es war ein Ritual.

Etwas Geheimnisvolles.

Dafür zog sie die frisch gebügelte rote Weste mit den drei Bienenknöpfen an und ahmte den Museumsleiterinnen-Tonfall ihrer Mutter nach. Und die Leute (das war das Allerbeste daran!) hörten ihr zu. Sie hingen an ihren Lippen – vor allem, wenn sie über die Lampe sprach.

Gab es ein faszinierenderes Thema als eine Lampe, auf der ein Fluch lastete? Das war ja wohl hundertmal spannender als zum Beispiel ein Zahnarzttermin. Wobei der auch supergruselig sein konnte.

Aru kannte das Museum in- und auswendig. Für sie war es ganz normal, sich unter den riesigen Steinelefanten in der Eingangshalle zu setzen und zu lesen oder Hausaufgaben zu machen. Wenn im Vorführraum das Erklärvideo lief, döste sie oft ein und wachte rechtzeitig wieder auf, wenn die knisternde Stimme verkündete, dass Indien im Jahr 1947 von Großbritannien unabhängig geworden war. Sie hortete sogar einen Süßigkeitenvorrat im Maul einer Statue im Westflügel. Die Figur war vierhundert Jahre alt und stellte ein Seeungeheuer dar. Aru hatte es Steve getauft. Ja, sie wusste alles über sämtliche Ausstellungsobjekte, außer über …

Die Lampe. Die war ihr immer noch ein Rätsel.

„Eigentlich ist es keine richtige Öllampe“, hatte ihre Mutter, die bekannte Museumsleiterin und Archäologin Dr. K.P. Shah, ihr erklärt, als die Vitrine aufgestellt worden war. „Man nennt so etwas eine Diya.“

Aru hatte neugierig die Nase an die Scheibe gedrückt, aber die „Lampe“ sah wie ein langweiliger Tonklumpen aus, fand sie. Das sollte ein verwunschenes Artefakt sein? Die Diya ähnelte einem eingedrückten Eishockeypuck. Am Rand hatte sie kleine Kerben, als hätte jemand daran geknabbert. Trotzdem kam es Aru vor, als würden sich die Statuen im Göttersaal leicht zurücklehnen, weil sie der Lampe lieber nicht zu nahe kommen wollten.

„Warum darf man sie denn nicht anzünden?“, hatte sie gefragt.

„Weil manches besser im Dunkeln bleibt“, hatte ihre Mutter ausweichend erwidert. „Außerdem weiß man nie, ob einen jemand beobachtet.“

Mit Beobachten kannte Aru sich aus. Das tat sie schon ihr Leben lang.

Jeden Tag nach der Schule hängte sie ihren Rucksack an den Rüssel des Steinelefanten und ging in den Göttersaal.

Bei den Besuchern war der Saal der beliebteste Raum. Hier waren an die hundert Statuen von Hindu-Göttern ausgestellt. An den Wänden hatte Arus Mutter hohe Spiegel anbringen lassen, damit die Besucher die Figuren von allen Seiten betrachten konnten. Die Spiegel waren „antik“. (So hatte Aru auch die grünlich verfärbte Pennymünze genannt, für die sie Burton Prater sage und schreibe zwei Dollar und einen halben Schokoriegel abgeknöpft hatte). Weil draußen vor dem Saal hohe Bäume standen, fiel durch die Fenster nur gedämpftes Tageslicht herein und es sah aus, als würden die Statuen Kronen aus Licht tragen.

Meistens blieb Aru am Eingang stehen und betrachtete ihre Lieblingsfiguren: Indra, den Götterkönig und Herrn über die Himmelswelt mit seinem Donnerkeil, Krishna mit seiner Flöte, Buddha, der mit übergeschlagenen Beinen kerzengerade dasaß und in Meditation versunken war. Doch irgendwann wurde Arus Blick unweigerlich von der Vitrine mit der Diya angezogen.

Sie beobachtete die Lampe minutenlang und wartete auf … Ja, worauf eigentlich? Auf irgendetwas, wodurch der nächste Schultag spannender würde. Oder auf etwas, das endlich klarstellen würde, dass sie, Aru Shah, keine normale Siebtklässlerin war, sondern etwas Besonderes.

Aru wartete jeden Tag darauf, dass etwas Magisches geschehen würde.

Und sie wurde jeden Tag enttäuscht.

„Macht endlich was!“, raunte sie den Götterstatuen zu. Es war Montagmorgen und sie war noch im Schlafanzug. „Ihr habt jede Menge Zeit, mir eine tolle Show zu bieten. Es sind nämlich Herbstferien.“

Die Statuen reagierten nicht.

Aru zuckte die Achseln und schaute aus dem Fenster. Hier in Atlanta, Georgia, hatten die Bäume noch nicht richtig mitgekriegt, dass es Oktober war. Nur die Blätter an den obersten Ästen waren rotgolden gefärbt, sodass es aussah, als hätte man die Bäume in einen Behälter mit Feuer getunkt und dann wieder aufgestellt.

Heute passiert bestimmt wieder nichts Aufregendes, dachte Aru. Schon dieser Gedanke hätte sie warnen sollen. Das Leben hat eine Vorliebe dafür, uns Menschen zu täuschen. Es wiegt uns im Glauben, dass ein Tag so zäh wird wie sonnenwarmer Honig, der in ein Glas tropft …

Und dann schlägt es zu.

Kurz bevor die Besucherklingel schrillte, war Arus Mutter in der vollgestellten Dreizimmerwohnung über dem Museum schwer beschäftigt gewesen. Sie blätterte in drei Büchern gleichzeitig und telefonierte dabei in einer fremden Sprache, die sich anhörte, als würden lauter Glöckchen läuten. Aru dagegen lag bäuchlings auf dem Sofa und warf mit Popcorn, um sich bemerkbar zu machen.

„Du brauchst nichts zu sagen, Mom, aber können wir ins Kino gehen?“

Die Mutter lachte melodiös ins Telefon. Nicht zum ersten Mal ärgerte sich Aru, dass sie nicht so lachen konnte. Bei ihr hörte es sich immer an, als bekäme sie keine Luft.

„Du brauchst nichts zu sagen, aber kriege ich einen Hund? Einen Pyrenäenberghund. Wir könnten ihn Beowuff nennen!“

Arus Mutter schloss konzentriert die Augen und nickte. Leider galt ihre Konzentration nicht Aru.

„Du brauchst nichts zu sagen, aber …“

Rrrrring!

Rrrrring!

Rrrrring!

Arus Mutter zog die schön geschwungene Augenbraue hoch und sah ihre Tochter auffordernd an. Du weißt, was du zu tun hast. Ja, das wusste Aru. Sie hatte bloß keine Lust dazu.

Sie unternahm einen letzten Versuch, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu erlangen, indem sie wie Spider-Man über den Fußboden krabbelte. Was gar nicht so leicht war, weil der Boden mit Büchern und Chai-Bechern übersät war. Doch als sie den Kopf wandte, notierte sich ihre Mutter etwas auf einem Block. Widerstrebend zog Aru Schuhe an und ging die Treppe hinunter.

Normalerweise war montags kaum etwas los. Nicht mal Sherrilyn – die Oberaufseherin des Museums und an den Wochenenden zusätzlich Arus leidgeprüfte Babysitterin – arbeitete montags. An allen anderen Tagen, außer sonntags, wenn geschlossen war, half Aru mit, den Besuchern die Sticker zu überreichen, die als Eintrittskarten dienten. Sie erklärte den Leuten auch, wie sie zu den einzelnen Ausstellungen und den Toiletten kamen. Einmal hatte sie sogar mit jemandem geschimpft, der die Elefantenfigur gestreichelt hatte, obwohl ein unübersehbares BITTE NICHT ANFASSEN-Schild davorstand (das nach Arus Meinung für alle außer ihr selber galt).

Montags verirrten sich meistens nur bei schlechtem Wetter ein paar Leute ins Museum, weil sie Schutz vor dem Regen suchten. Oder sie wollten (ganz höflich) ihre Befürchtung äußern, dass im Museum für Altindische Kunst und Kultur der Teufel verehrt wurde. Manchmal kam auch nur der Paketdienst und brauchte eine Unterschrift.

Wen Aru nicht erwartet hatte, als sie die Tür aufmachte, waren drei ihrer Mitschüler. Plötzlich hatte sie ein Gefühl im Magen, als stünde sie in einem Aufzug, der – wusch! – abwärts sauste. Die drei musterten sie und ihren Spider-Man-Schlafanzug von oben bis unten.

Poppy Lopez verschränkte die gebräunten, sommersprossigen Arme. Sie trug die dunklen Haare in einem Ballerinadutt. In Burton Praters ausgestreckter Hand lag eine unansehnliche grün angelaufene Münze. Burton war klein und blass und sah in seinem gelb-schwarzen Ringelshirt wie eine missglückte Hummel aus. Und Arielle Reddy – mit ihrer dunklen Haut und den schwarz glänzenden Haaren das hübscheste Mädchen der Klasse – machte einfach nur ein mürrisches Gesicht.

„Ich hab’s gewusst!“, sagte Poppy triumphierend. „In der Mathestunde hast du allen erzählt, dass du die Ferien mit deiner Mutter in Frankreich verbringst.“

Das hatte mir Mom ja auch versprochen, dachte Aru, sagte aber nichts.

Im Sommer war ihre Mutter wieder mal von einer langen Reise zurückgekehrt. Todmüde hatte sie sich aufs Sofa fallen lassen, aber bevor sie eingeschlafen war, hatte sie zu Aru gesagt: „Vielleicht können wir ja im Herbst mal nach Paris fliegen. An der Seine gibt es ein wunderschönes Café. Da kann man den Sternen lauschen, wenn sie über den Nachthimmel tanzen. Wir könnten durch die Museen ziehen, aus winzigen Tassen Kaffee trinken und stundenlang durch die Parks spazieren.“

An diesem Abend hatte Aru lange nicht einschlafen können, weil sie die ganze Zeit schmale, gewundene Gassen vor sich gesehen hatte und Parks, die so prächtig waren, dass sogar die Blumen eingebildet wirkten. Ab da hatte sie widerspruchslos ihr Zimmer aufgeräumt und den Abwasch gemacht, und in der Schule war das Versprechen ihrer Mutter wie ein Schutzschild gewesen. Die anderen Kinder in der Augustus-Day-Privatschule besaßen Ferienhäuser auf den Malediven oder in der Provence und jammerten, wenn ihre Segeljachten zur Reparatur mussten. Mit der Aussicht auf eine Parisreise hatte sich Aru ein bisschen wie alle anderen gefühlt.

Jetzt dagegen hätte sie sich am liebsten vor Poppys durchbohrendem Blick weggeduckt. „Meine Mutter muss für das Museum einen Geheimauftrag erledigen und konnte mich nicht mitnehmen.“

Das war nur halb geschwindelt. Arus Mutter nahm sie nie auf ihre Dienstreisen mit.

Burton warf ihr den grünen Penny vor die Füße. „Du hast mich reingelegt! Das hässliche Ding ist überhaupt keine zwei Dollar wert!“

„Der Penny ist antik …“, wollte sich Aru verteidigen, doch Arielle schnitt ihr das Wort ab.

„Red dich nicht raus, Aru Shah! Du bist eine Lügnerin! Und wenn die Schule wieder losgeht, erzählen wir es allen.“

Aru wurde wieder flau im Magen. Als sie vor einem Monat neu auf die Schule gekommen war, war sie voller Zuversicht gewesen. Doch das hatte nicht lange angehalten.

Anders als die übrigen Kinder wurde Aru nicht in einer schwarzen Limousine zur Schule gebracht. Sie wohnte in einer Mietwohnung statt in einer eigenen Villa und ihre Mutter besaß kein Ferienhaus im Ausland. Ihr stand kein eigenes Hausaufgabenzimmer oder ein Wintergarten zur Verfügung. Sie hatte einfach nur ein Zimmer und das war kaum größer als eine Abstellkammer.

Was Aru dafür im Überfluss besaß, war Fantasie. Schon ihr Leben lang ersann sie Tagträume. Wenn sie an den Wochenenden auf die Rückkehr ihrer Mutter wartete, dachte sie sich immer neue Geschichten aus: dass die Mutter eine Spionin, eine verstoßene Prinzessin oder eine Zauberin war.

Dabei behauptete Arus Mutter immer, die Dienstreisen würden ihr keinen Spaß machen. Aber wenn man ein Museum leitete, musste man anscheinend ständig reisen. Und wenn sie dann wieder da war und vergaß, sich nach Arus Schachturnier oder dem Chorkonzert zu erkundigen, dann nicht, weil Aru ihr egal war, sondern weil sie den Kopf so voll mit altindischer Kunst und Kultur hatte.

Darum erzählte Aru ihren Mitschülern Märchen – die Art Märchen, die sie auch sich selbst erzählte. Über Städte, in denen sie noch nie gewesen war, und Speisen, die sie nie gekostet hatte. Wenn sie abgelatschte Schuhe trug, dann nur deswegen, weil ihre richtigen Schuhe in Italien beim Schuster waren. Dabei zog sie wie die anderen Kinder herablassend eine Augenbraue hoch und sprach die Namen der Geschäfte, in denen sie ihre Sachen tatsächlich kaufte, absichtlich falsch und mit französischem Akzent aus. Wenn das die anderen nicht überzeugte, sagte sie nur naserümpfend: „Die Marke kennt ihr sowieso nicht.“

So versuchte sie dazuzugehören.

Eine Zeit lang hatte das gut geklappt. Poppy und Arielle hatten sie sogar übers Wochenende an den See eingeladen. Aber dann hatte Aru alles vermasselt. Auf dem Parkplatz hatte Arielle sie gefragt, welches Auto ihres war. Aru hatte wahllos auf eins gezeigt und Arielle hatte gesagt: „Na so was! Das gehört unserem Chauffeur.“ Dabei hatte sie hämisch gegrinst.

Genauso grinste Poppy jetzt.

„Du hast allen erzählt, dass du einen eigenen Elefanten hast“, sagte Poppy.

„Hab ich ja auch!“ Aru zeigte auf die Figur hinter sich.

„Du hast behauptet, dass du ihn aus Indien gerettet hast.“

„Meine Mutter hat gesagt, er wurde aus einem Tempel geborgen. Das ist dasselbe wie gerettet.“

„Und du hast erzählt, dass du eine Lampe besitzt, auf der ein Fluch liegt.“

Arus Blick fiel auf Burtons andere Hand, in der er ein Handy hielt. Ein rotes Licht leuchtete. Sie bekam einen Schreck. Er nahm alles auf! Wollte er das Video etwa ins Netz stellen? Ihr fielen nur zwei Auswege ein. Entweder hatte das Universum Mitleid mit ihr und ließ sie vor der ersten Stunde nach den Ferien in Flammen aufgehen. Oder aber sie legte sich einen Bart und einen falschen Namen zu und tauchte unter.

Oder …

Oder sie zeigte den dreien etwas, wovon ihnen die Spucke wegblieb.

„Auf der Lampe liegt wirklich ein Fluch!“, sagte sie. „Das kann ich beweisen.“

Als Aru ihre drei Mitschüler in den Göttersaal führte, war es vier Uhr nachmittags.

Diese Tageszeit ist wie ein Keller. Theoretisch total unverdächtig – bis man länger darüber nachdenkt. Denn so ein Keller entsteht, indem man lebendigen Erdboden zubetoniert. Dort gibt es muffige, unfertige Nebenräume und Holzbalken, die pechschwarze Schatten werfen. Ein Kellergeschoss ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Mit vier Uhr nachmittags verhält es sich genauso. Es ist nicht mehr richtig Nachmittag, aber auch noch nicht Abend. In solchen Zwischenzeiten legen sich Albträume und Magie bevorzugt auf die Lauer.

„Wo ist deine Mutter denn gerade?“, wollte Poppy wissen.

„In Frankreich“, sagte Aru. „Sie konnte mich nicht mitnehmen, weil jemand auf das Museum aufpassen muss.“

„Wetten, sie lügt schon wieder?“, wandte sich Burton an die beiden anderen.

„Logisch“, kam es von Arielle. „Das ist ja auch das Einzige, was sie gut kann.“

Aru musste sich schwer beherrschen. Sie konnte vieles richtig gut, bloß nahm das niemand zur Kenntnis. Zum Beispiel hatte sie ein Supergedächtnis. Wenn sie etwas nur einmal hörte, vergaß sie es nie mehr. Eine begabte Schachspielerin war sie auch. Sie hätte sogar an der Bundesmeisterschaft teilnehmen können, aber Poppy und Arielle hatten behauptet, Schach wäre total uncool. Daraufhin war Aru aus der Schach-AG wieder ausgetreten. Und bei Klassenarbeiten hatte sie früher immer gute Noten geschrieben, doch inzwischen kreisten ihre Gedanken nur noch darum, wie viel ihre Mutter für die Schule bezahlte (ein Vermögen!) und dass alle ihre Schuhe anglotzten, weil sie noch vom letzten Jahr und nicht mehr angesagt waren. Aru wollte ja gern auffallen, aber nicht andauernd aus den falschen Gründen.

„Hast du nicht auch behauptet, dass ihr eine Eigentumswohnung habt? Im Schülerverzeichnis stand aber nur die Adresse vom Museum“, fuhr Arielle fort. „Wohnst du etwa hier?“

Richtig.

„Quatsch. Siehst du irgendwo mein Zimmer?“

Das ist ja auch oben …

„Und warum bist du dann im Schlafanzug, wenn du nicht hier wohnst?“

„In England laufen alle Leute tagsüber im Schlafanzug rum.“

Könnte doch sein, oder?

„Das ist beim Adel so üblich.“

Bloß dass ich nicht adlig bin.

Arielle nickte nur vielsagend.

Sie standen jetzt im Göttersaal. Poppy sah sich um. „Wieso haben eure Götter so viele Arme?“

Aru bekam heiße Ohren. „Ist eben so.“

„Gibt es nicht sogar über tausend davon?“

„Keine Ahnung.“

Diesmal sagte Aru die Wahrheit. Von ihrer Mutter wusste sie, dass die Hindu-Götter sehr zahlreich waren, aber auch gern mal die Erscheinungsform änderten. Manche wurden nämlich wiedergeboren. Das bedeutete, dass ihre Seelen nach dem Tod auf jemand anderen übergingen. Aru gefiel diese Vorstellung. Manchmal überlegte sie, wer sie in einem anderen Leben gern wäre. Zum Beispiel jemand, der den Schikanen der siebten Klasse furchtlos entgegentrat.

Die drei anderen schlenderten kreuz und quer durch den Saal. Poppy blieb vor einer Statue stehen und äffte deren Haltung nach. Sie streckte die Hüfte raus, nahm die Arme hoch und lachte albern. Arielle zeigte abfällig auf die fülligen Hüften der Göttinnen. Aru wurde es heiß und kalt.

Konnten die Figuren nicht einfach hier und jetzt zu Staub zerfallen? Warum mussten sie so … nackt sein? So anders?

Sie musste daran denken, wie sie mit ihrer Mutter zur Abschlussfeier an ihrer alten Schule gegangen war. Aru hatte sich fein gemacht und einen hellblauen Salwar Kamiz angezogen, der mit kleinen sternförmigen Spiegeln besetzt und mit Silberfäden bestickt war. Ihre Mutter hatte einen dunkelroten Sari getragen. Aru hatte sich wie eine Märchenprinzessin gefühlt – bis sie in die Aula gekommen waren und alle sich nach ihnen umgedreht hatten. Die Blicke waren mitleidig gewesen. Oder peinlich berührt. Ein Mädchen hatte sogar hörbar geflüstert: „Glaubt sie, wir haben Halloween?“ Aru hatte behauptet, sie hätte Bauchweh, damit sie früher gehen konnten.

„Finger weg!“, sagte sie jetzt, als Burton Shivas Dreizack antippte.

„Wieso denn?“

„Äh … wegen der Kameras. Und wenn meine Mutter wieder da ist, ruft sie bei der indischen Regierung an und die lässt dich verhaften.“

Beides war natürlich frei erfunden, aber Burton trat einen Schritt zurück.

„Und wo ist jetzt die Lampe?“, wollte Arielle wissen.

Aru ging wieder voran. Hinten in der Ausstellung schimmerte die Vitrine im frühen Abendlicht. Doch die Diya selbst lag im Dunkeln und wirkte wieder wie ein unförmiger Tonklumpen.

„Das da?“, fragte Poppy ungläubig. „So was bastelt mein Bruder in der Vorschule.“

„Das Museum hat die Diya des Bharata 1947 erworben, als Indien unabhängig wurde.“ Aru versuchte, so erwachsen zu klingen wie ihre Mutter. „Sie soll aus einem Tempel namens …“ Jetzt bloß nicht verhaspeln! „… Kurukshetra stammen.“

„Kuru-hä? Komischer Name. Und was ist das für ein Tempel? Wieso war die Lampe dort?“, fragte Burton.

„Weil dort der Mahabharata-Krieg stattgefunden hat.“

„Der was?“

Aru räusperte sich und wechselte in den Museumsguide-Modus.

„Das Mahabharata ist eines von zwei alten Epen. Das sind lange Erzählungen in Gedichtform. Es wurde auf Sanskrit verfasst, einer altindischen Sprache, die heute nicht mehr gebräuchlich ist.“ Aru machte eine Kunstpause. „Das Mahabharata erzählt vom Stammeskrieg zwischen den fünf Pandava-Brüdern und ihren hundert Cousins. Sie –“

„Hundert Cousins?“, unterbrach Arielle sie. „Kein Mensch hat so viele!“

Aru überhörte die Bemerkung. „Die Legende besagt, dass die Lampe des Bharata den Schläfer weckt. Das ist ein Dämon, der seinerseits Shiva weckt, den Furcht einflößenden Gott der Zerstörung. Shiva tanzt dann über die Welt und vernichtet sie.“

„Indem er tanzt?“, fragte Burton ungläubig.

„Es ist ein kosmischer Tanz“, gab Aru zurück.

Wenn sie selbst an den tanzenden Shiva dachte, malte sie sich immer aus, dass jemand so lange über den Himmel sprang und wirbelte, bis die Wolken gezackte Risse bekamen und die ganze Welt in Stücke barst.

Ihre Mitschüler stellten sich offenbar einen schwerfälligen Trampel vor.

„Heißt das, wenn du die Lampe anzündest, geht die Welt unter?“, fragte Burton.

Aru sah die Lampe an, als könnte sich das unförmige Tonding selbst dazu äußern. Natürlich blieb die Diya stumm. „Genau.“

Arielle verzog spöttisch den Mund. „Dann los! Beweise uns, dass du diesmal die Wahrheit sagst.“

„Aber wenn ich die Wahrheit sage – was übrigens der Fall ist –, dann passiert etwas Schreckliches. Wollt ihr das wirklich?“

„Red dich nicht raus. Zünde die Lampe an. Oder bist du zu feige?“

Burton hielt sein Handy in die Höhe. Das rote Licht schien Aru zu verhöhnen.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Wäre ihre Mutter hier gewesen, hätte sie was zu hören bekommen! Aber ihre Mutter war oben in der Wohnung mit Reisevorbereitungen beschäftigt – mal wieder. Außerdem … wenn die Lampe wirklich so gefährlich war, warum ließ die Mutter Aru dann so oft damit allein? Klar gab es Sherrilyn, aber die guckte an ihren Babysittertagen fast die ganze Zeit irgendwelche blöden Serien.

Vielleicht war es ja gar keine so große Sache. Sie würde die Lampe kurz anzünden und sofort wieder auspusten. Oder sollte sie lieber die Vitrine einschlagen und dann so tun, als läge der Fluch der Lampe jetzt auf ihr? Indem sie wie ein Zombie durch den Saal tappte? Oder wieder wie Spider-Man krabbelte? Bestimmt würden die drei so einen Schreck bekommen, dass sie niemandem davon erzählten.

Bitte mach, dass alles gut geht! Ich will auch nie wieder lügen, versprochen!

Das wiederholte Aru in Gedanken, während sie die Glashaube der Vitrine vorsichtig abhob und auf den Boden stellte. Augenblicklich richteten sich feine rote Laserstrahlen auf die Lampe. Wenn auch nur eine von Arus Haarsträhnen in einen solchen Lichtstrahl fiel, würde die Polizei mit Blaulicht zum Museum brausen.

Poppy, Arielle und Burton hielten hörbar die Luft an. Na also! Jetzt seht ihr, dass die Lampe etwas Besonderes ist, dachte Aru schadenfroh. Sollte sie einfach aufhören? Vielleicht genügte das den dreien ja schon. Aber Poppy gab keine Ruhe.

„Mach endlich“, sagte sie. „Hier rumzustehen, ist öde.“

Aru tippte den Code ein – ihr Geburtsdatum – und das Laserlicht erlosch. Bei dem Geruch, der von der Diya aufstieg, musste Aru an einen alten Tempel denken, in dem Räucherwerk verbrannt wurde.

„Sag einfach die Wahrheit, Aru“, kam es von Arielle. „Wenn du jedem von uns zehn Dollar gibst, stellen wir das Video, wie du dich in deinen eigenen Lügen verwickelst, nicht online.“

Aru glaubte ihr nicht. Hätte sie die Wahl zwischen einem weltzerstörenden Dämon und einer boshaften Siebtklässlerin gehabt, hätte sie sich (wie wohl die meisten Leute) für den Dämon entschieden.

Ohne die Laserstrahlen wirkte die Diya auf einmal irgendwie bedrohlich. Als könnte die Lampe spüren, dass sie durch nichts mehr gesichert war. Aru lief es kalt über den Rücken und ihre Finger fühlten sich plötzlich taub an. Die kleine Metallschale in der Vertiefung der Lampe sah wie ein Auge aus. Ein Auge, das Aru anstarrte.

„Ich … ich hab kein Streichholz“, sagte sie rasch.

„Kein Problem.“ Poppy zückte ein grünes Feuerzeug. „Hab ich meinem Bruder aus dem Auto geklaut.“

Aru nahm das Feuerzeug. Als sie das Rädchen drehte, flackerte ein Flämmchen auf. Nur ganz kurz … Danach würde sie eine Show abziehen, wäre aus der Sache raus und würde nie, nie wieder lügen.

Als sie das brennende Feuerzeug über die Lampe hielt, wurde es im Göttersaal schlagartig so dunkel, als hätte jemand alles natürliche Licht ausgesperrt. Poppy und Arielle traten gespannt näher. Als Burton sich dazwischendrängen wollte, schubste Poppy ihn weg.

„Aru …“

Die Stimme schien aus der Lampe zu kommen.

Beinahe hätte Aru das Feuerzeug fallen lassen. Sie konnte den Blick nicht von der Lampe abwenden. Es war, als würde die Diya sie zu sich heranziehen.

„Aru, Aru, Aru …“

„Bring’s endlich hinter dich, Shah!“, rief Arielle ungeduldig.

Das rote Licht von Burtons Handy leuchtete wieder. Es würde ein grässliches Jahr werden. Aru sah schon ihren mit Essensresten beschmutzten Schulspind vor sich, das tief enttäuschte Gesicht ihrer Mutter. Aber vielleicht hatte sie ja auch Glück. Vielleicht gelang es ihr, Arielle, Poppy und Burton etwas vorzuspielen, und sie durfte sich danach in der Schulkantine immer zu den dreien setzen. Dann müsste sie sich nichts mehr ausdenken, weil ihr Leben auch so schon spannend war.

Sie gab sich einen Ruck.

Und hielt die Flamme an den Rand der Diya.

Kaum berührten ihre Fingerspitzen den Ton, schoss ihr ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. In einer Naturdoku über Tiefseebewohner hatte sie gesehen, dass manche davon andere Fische mit etwas Leuchtendem anlockten. Sobald ein Fisch zu dem Licht im Wasser hinschwamm, wurde er gefressen. Funktionierte die Lampe etwa ähnlich? Lauerte hinter ihrem Licht ein gieriges Monster?

Als das Flämmchen aufzüngelte, explodierte hinter Arus Augen ein greller Blitz. Ein Schatten schlängelte sich aus der Lampe, schien nach ihr zu greifen. Gleichzeitig ertönten abgehackte heisere Laute – Gelächter? Es hallte so laut in Arus Ohren, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Der Schatten löste sich von der Lampe. Panisch versuchte Aru, die Flamme auszupusten, aber es klappte nicht. Der Schatten verwandelte sich in ein Monster – groß und spinnenähnlich, mit Fell, Hörnern und spitzen Zähnen.

„Aru, Aru, Aru … was hast du getan?“

Als Aru wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden. Die Saalbeleuchtung flackerte und es roch eigenartig … irgendwie nach Rost. Aru stützte sich auf den Ellbogen und sah sich nach der Lampe um. Doch die Diya war verschwunden. Nur die Scherben der zerbrochenen Glashaube erinnerten noch an sie. Aru wandte den Kopf …

Sämtliche Götterstatuen hatten sich zu ihr umgedreht.

Es überlief sie eiskalt.

Sie rappelte sich hoch. „Poppy? Arielle? Burton?“

Dann entdeckte sie die drei.

Sie sahen aus, als hätte jemand einen Film mitten in einer Kampfszene angehalten. Poppy drückte die Hand gegen Burtons Brust. Er stand weit zurückgelehnt auf den Fersen, als müsste er gleich umkippen. Arielle hatte die Augen zugekniffen und den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Aru streckte zögerlich die Hand aus. Die Haut der drei war warm und sie ertastete bei allen einen Puls. Trotzdem bewegten sie sich nicht. Konnten sich offenbar nicht bewegen.

Was war da los?

Ihr Blick fiel auf Burtons Hosentasche. Rotes Licht schien hindurch. Das Handy! Vielleicht konnte sie die Aufnahme ja löschen. Doch sie schaffte es nicht, das Handy herauszuziehen. Alles war wie zu Eis erstarrt – nur sie selbst nicht.

Es musste ein Traum sein. Aru kniff sich fest in den Arm.

„Aua!“

Nein, sie war eindeutig wach. Und ihre Mitschüler irgendwie auch, aber warum rührten sie sich dann nicht? Da hallte ein Knarren durch den Göttersaal. War das eine Tür gewesen?

„Mom?“ Offenbar hatte Arus Mutter den Lärm gehört und war heruntergekommen. Bestimmt würde sie wissen, was jetzt zu tun war.

Doch als Aru in die Eingangshalle lief, traute sie ihren Augen nicht. Das hatte drei Gründe.

1. Auch ihre Mutter war zu Eis erstarrt, aber sie schwebte über dem Fußboden, als hätte es sie mitten in einem großen Schritt erwischt. Sogar ihre schwarzen Haare hingen noch in der Luft und ihr Gesicht war angstverzerrt.2. Die ganze Halle wirkte verändert. Alles wirkte seltsam flach, weil nichts einen Schatten warf.3. Nicht die Tür hatte geknarrt. Es war der Elefant gewesen.

Halb staunend, halb verstört sah Aru zu, wie sich der Steinelefant, der seit Jahrzehnten in der Eingangshalle stand, schwerfällig auf die Knie niederließ. Dann hob er den Rüssel, an dem Aru immer ihren Rucksack aufhängte, an die breite Stirn und es knarrte wieder, als er das Maul aufriss.

Erschrocken lief Aru zu ihrer Mutter, packte ihre Hand und versuchte, sie auf den Boden zu ziehen. „Mom, der Elefant ist lebendig geworden! Bitte wach auf!“

Keine Reaktion. Aru folgte dem Blick ihrer Mutter. Er war auf den Göttersaal gerichtet.

„Mom?!“

Eine tiefe Stimme ertönte. Sie kam aus dem Elefanten.

„WER HAT ES GEWAGT, DIE LAMPE ANZUZÜNDEN?“, donnerte jemand. Aru sah schon vor sich, wie Blitze aus dem Elefantenmaul zuckten (was sie unter anderen Umständen cool gefunden hätte). „WER WAGT ES, DEN SCHLUMMER DES SCHLÄFERS ZU STÖREN?“

„I-ich“, stotterte Aru. „Aber es war keine Absicht.“

„DU LÜGST, KRIEGER! DU HAST MICH GERUFEN!“

Im Maul des Elefanten waren Flügelschläge zu hören.

Jetzt ist es aus!, schoss es Aru durch den Kopf. Fraßen Vögel Menschen? Wahrscheinlich hing es davon ab, wie groß der jeweilige Vogel war. Und der jeweilige Mensch. Doch als sie sich schutzsuchend an ihre Mutter drücken wollte, waren deren gefrorene Arme im Weg. Die Flügelschläge wurden lauter, dann fiel ein riesiger, geflügelter Schatten auf den Boden.

Etwas flatterte aus dem Elefantenmaul.

Es war …

… eine Taube.

„Igitt!“, entfuhr es Aru.

Ihre Mutter nannte Tauben immer „Ratten der Lüfte“.

„Wo ist er?“, fragte die Taube. „Einer der fünf Krieger hat die Lampe des Bharata entzündet.“

Aru war so verblüfft, dass sie mit einer Gegenfrage antwortete. „Wieso hörst du dich auf einmal so anders an?“

Die Stimme aus dem Elefantenmaul hatte geklungen, als könnte sie einen Berg dazu bringen, zum Vulkan zu werden. Doch die Stimme der Taube klang leicht piepsig, so wie Arus Mathelehrer, als er mitten in einer Strafpredigt an die Klasse auf einem Legostein ausgerutscht und lang hingeschlagen war.

Die Taube plusterte sich auf. „Passt es dir nicht, wie ich mich anhöre, Menschenmädchen?“

„Doch, schon … aber …“

„Sehe ich etwa nicht wie ein Vogel aus, der Verwüstung und Verderben verbreitet?“

„Ich meinte ja bloß, dass –“

„Wisse, dass ganze Städte mich schmähen! Mein Name gilt dort als Fluch.“

„Ist das etwas Gutes?“

„Es zeigt, wie mächtig ich bin“, gab der Vogel eingeschnappt zurück. „Und wenn ich die Wahl zwischen gut und mächtig habe, entscheide ich mich stets für Letzteres.“

„Bist du deswegen eine Taube?“

Konnten Vögel einen böse anfunkeln? Die Taube bekam es jedenfalls hin.

„Die Lampe wurde entzündet. Der Schläfer wird erwachen. Es ist meine heilige Pflicht, dem Pandava, der die Diya entzündet hat, den Weg zu weisen.“

„Dem Pandava?“

So hießen die fünf Brüder aus dem Mahabharata-Epos mit Nachnamen. Jeder Pandava-Bruder verfügte über besondere Fähigkeiten und übernatürliche Waffen, weil alle fünf von Göttern abstammten. Sie waren mythische Helden. Aber was hatte das mit der Lampe zu tun? Hatte sich Aru vielleicht eine Gehirnerschütterung geholt, als sie vorhin umgekippt war? Sie befühlte ihren Kopf.

„Du hast dich nicht verhört – Pandava!“, bestätigte die Taube. Sie klang jetzt unüberhörbar verärgert und plusterte sich wieder auf. „Nur einer der fünf Brüder kann die Lampe anzünden. Wo ist er hin, Menschenmädchen?“

„Ich habe die Lampe angezündet“, sagte Aru.

Der Vogel riss ungläubig die Augen auf.

„Dann ist das Ende der Welt nicht mehr aufzuhalten.“

Aru hatte mal gelesen, dass man Schimpansen nicht in die Augen sehen sollte. Sie grinsten erst … und gingen dann auf einen los.

Ob für Tauben das Gleiche galt, hatte da leider nicht gestanden.

Trotzdem – Blicke konnten viel bewirken. Arus Mutter hatte ihr die Legende von Königin Gandhari erzählt. Weil deren Gemahl blind war, hatte sie beschlossen, selbst mit einer Augenbinde durchs Leben zu gehen. Sie nahm die Binde nur ein einziges Mal ab, nämlich um ihren ältesten Sohn zu betrachten. Ihr Blick hätte den Sohn unbesiegbar machen können – allerdings nur, wenn er splitternackt gewesen wäre. Aber er wollte sich nicht ganz ausziehen, weil es ihm peinlich war, und behielt die Unterhose an. Deswegen hatte ihm der Blick seiner Mutter zwar große Körperkraft verliehen, aber unbesiegbar war er nicht geworden. (Aru konnte sich gut in ihn hineinversetzen. Sie hätte sich auch geniert.)

Und darum hielt sie dem Blick der Taube stand, trat aber unauffällig einen Schritt zurück.

Schließlich gab die Taube als Erste nach und schaute weg. „Die letzten schlummernden Pandavas waren großartig“, sagte sie halblaut wie im Selbstgespräch und schüttelte missbilligend den Kopf. „Der letzte Arjuna war Politiker, der letzte Yudhishthira ein bekannter Richter. Der letzte Bhima war Profisportler und Nakula und Sahadeva waren begehrte Models. Außerdem schrieben die beiden tolle Selbsthilferatgeber, die Bestseller wurden, und gründeten die ersten Hot-Yoga-Studios der Welt. Und jetzt das … ein Kind! Obendrein ein Mädchen.“

Aru fand das unfair. Auch berühmte Leute waren mal Kinder gewesen. Ein Richter wurde nicht mit Perücke und Robe geboren.

Aber worauf wollte der Vogel eigentlich hinaus? Arjuna, Yudhishthira, Bhima, Nakula und Sahadeva waren die Namen der fünf sagenhaften Heldenbrüder. Es gab sogar noch einen sechsten. Er hieß Karna, aber dass er ihr Bruder war, fanden die anderen Pandavas erst heraus, als der Krieg ausbrach.

Und warum sagte die Taube „schlummernd“ statt „schlafend“? War das denn nicht dasselbe?

Der Vogel ließ sich auf den Rücken fallen und legte theatralisch den Flügel über die Augen. „Womit habe ich das bloß verdient?“, jammerte er. „Einst habe ich zur Elite gehört!“

„Ich verstehe kein Wort“, sagte Aru.

„Ha!“ Die Taube zog den Flügel weg und funkelte sie wieder böse an. „Vielleicht hättest du besser mal nachgedacht, bevor du uns diesen Schlamassel eingebrockt hast! Schon wie du aussiehst – grauenvoll!“ Der Vogel breitete beide Flügel über sich und nuschelte darunter hervor: „Warum müssen Helden von Generation zu Generation so verschieden sein?“

„Moment mal!“, sagte Aru. „Heißt das, es gibt in jeder Generation fünf Pandava-Brüder?“

Der Vogel nahm die Flügel weg. „Bedauerlicherweise.“

„Und ich gehöre dazu?“

„Bitte zwing mich nicht, es zu wiederholen.“

„Und woher weißt du das?“

„Weil du die Lampe angezündet hast!“

Ja, Aru hatte das Feuerzeug an die Diya gehalten. Anderseits hatte das Feuerzeug nicht ihr gehört, sondern Poppys Bruder. Das war ein Unterschied, oder? Und sie hatte die Lampe gleich wieder auspusten wollen. Verhielt sich so ein echter Held?

„Ja, leider bin ich ziemlich sicher“, fuhr der Vogel fort. „So gut wie sicher. Zumindest würde ich nicht ‚Nein, auf gar keinen Fall!‘ sagen. Warum wäre ich sonst hier? Wobei … warum bin ich eigentlich hier? In was für einem erbärmlichen Körper stecke ich?“ Die Taube blickte verzweifelt an die Decke. „Wer bin ich?“

„Du bist –“

„Lass nur.“ Die Taube seufzte abgrundtief. „Wenn du die verfluchte Lampe angezündet hast, weiß der andere bestimmt schon Bescheid.“

„Welcher ande–“

„Wir gehen einfach durch das Tor der Vielen. Das irrt sich nie. Außerdem geht das schneller, als wenn wir Google Maps benutzen, die verwirrendste Erfindung dieses Jahrhunderts.“

„Aber du bist doch ein Vogel. Haben Vögel denn nicht einen supertollen Orientierungssinn?“

„Ich bin kein gewöhnlicher Vogel, du vorlaute Heldin! Ich bin –“ Die Taube unterbrach sich. „Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist, dass wir die Sache rechtzeitig beenden, bevor die ganz große Katastrophe eintritt. Die nächsten neun Tage lang wird die Zeit überall dort gefrieren, wo der Schläfer auftaucht. Am neunten Tag trifft er beim Gott der Zerstörung ein. Dann führt Shiva seinen Tanz auf, der das Ende aller Zeit bedeutet.“

„Kann der Gott der Zerstörung nicht einfach ‚Nein danke‘ sagen?“

„Du bist offenbar noch nie einem Gott begegnet.“

Aru überlegte. Dass es Götter und Göttinnen tatsächlich gab, schockierte sie nicht, aber konnten Menschen ihnen begegnen? Für Aru waren Götter wie der Mond. Der war so fern, dass sie nicht allzu oft über ihn nachdachte, aber doch so hell, dass sie ihn ab und zu bestaunte.

Aru drehte sich nach ihrer erstarrten Mutter und ihren gefrorenen Mitschülern um. „Müssen sie jetzt so bleiben?“

„Nein, das geht wieder vorbei“, erwiderte der Vogel. „Sofern du nicht völlig inkompetent bist.“

„Inkompe-was? Was bedeutet das?“

Der Vogel schlug den Kopf gegen einen hölzernen Geländerpfosten. „Inkompetent bedeutet unfähig und das Universum hat wirklich einen schrägen Humor!“, stöhnte er. „Du gehörst zu den wenigen, die die Sache wieder in Ordnung bringen können. Gleichzeitig bist du diejenige, die das Ganze verursacht hat. Tja, dann müsst ihr wohl oder übel Helden sein, du und der andere.“

„In Ordnung bringen“ klang nicht besonders heldenhaft, fand Aru. Es hörte sich eher an, als sollte sie ihr Zimmer aufräumen. Sie war ein bisschen enttäuscht. „Von welchem ‚anderen‘ redest du eigentlich andauernd?“

„Von deinem Geschwister, von wem sonst? Du glaubst doch wohl nicht, dass du allein losziehen kannst! Für eine Mission wie diese braucht man familiäre Unterstützung“, antwortete der Vogel. „Dein Bruder – oder deine Schwester, obwohl das noch nie vorgekommen ist – wartet bestimmt schon auf dich. Wenn ein Pandava erwacht, weckt das stets einen zweiten. Normalerweise denjenigen, der für die anstehende Aufgabe am besten gerüstet ist. Wobei alle bisherigen Pandavas Erwachsene waren, keine inkompetenten, hormongesteuerten Halbwüchsigen.“

„Vielen Dank auch!“

„Dann komm jetzt“, sagte die Taube.

„Erst will ich wissen, wer du bist!“

Ehe sich der Vogel nicht ausgewiesen hatte, würde sich Aru nicht von der Stelle rühren. Obwohl Vögel vermutlich keine Brieftaschen bei sich hatten.

Die Taube schwieg kurz, dann entgegnete sie: „Eigentlich geziemt es sich nicht, dass ein Kind meinen erhabenen Namen ausspricht, aber ich will mal nicht so sein. Du darfst mich Subala nennen.“ Der Vogel begann sich zu putzen. „Ich bin … ich meine, ich war … Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls bin ich hier, um dir zu helfen.“

„Und warum sollte ich mit dir mitkommen?“

„Undankbares Ding! Hast du noch nie etwas von Dharma gehört? Du hast eine Aufgabe zu erfüllen! Solange der Schläfer unterwegs ist, gefriert alles, was ihm in die Quere kommt. Und wenn ihn bis zum nächsten Neumond niemand aufhält, bleibt deine Mutter bis in alle Ewigkeit in diesem Zustand. Möchtest du das?“

Natürlich nicht! Trotzdem war Aru schwindlig, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen und die Welt würde auf einmal kopfstehen.

Sie riss sich zusammen. „Subala ist mir zu lang. Stell dir vor, ich brauche Hilfe und muss dich rufen. Bis ich den Namen ausgesprochen habe, habe ich schon einen Arm oder ein Bein weniger. Ich nenne dich einfach Sue.“

„Das ist ein Mädchenname. Ich bin aber männlichen Geschlechts.“ Subala flatterte auf und flog auf das offene Maul des Elefanten zu.

Wenn ihm Sue nicht passte, dann vielleicht …

„Buh!“, rief Aru.

Subala zuckte zusammen, merkte, wo er hinflog, bog in letzter Sekunde ab und landete auf dem Elefantenrüssel.

„Na schön, du hast gewonnen. Aber wenn ich du wäre, würde ich nicht so schadenfroh grinsen. Was du getan hast, wird schwerwiegende Folgen haben. Und weil du nun mal der Pandava deiner Generation bist, ist es deine Pflicht, die Mission anzutreten. Wir hatten über achthundert Jahre lang Ruhe! Aber das hat dir deine Mutter bestimmt alles erzählt.“ Buh sah Aru scharf an. „Hat sie doch, oder?“

Aru überlegte. Ihre Mutter hatte ihr schon alles Mögliche erzählt. Zum Beispiel, dass man den Formationsflug von Starenschwärmen Murmuration nannte, dass in manchen Legenden andere Legenden verborgen waren und dass man beim Zubereiten von Chai die Minze erst zum Schluss dazugab. Aber das alles würde bestimmt nicht dazu beitragen, dass die Gefrorenen wieder auftauten.

Von irgendwelchen Missionen war nie die Rede gewesen. Auch nicht davon, dass Aru zu den Pandavas gehörte und wieso.

Und schon gar nicht hatte ihr die Mutter irgendwelche Anweisungen für den Fall erteilt, dass sie versehentlich den Weltuntergang auslöste.

Vielleicht hatte sie Aru nicht zugetraut, so eine Situation zu bewältigen.

Oder sie hatte ihr keine falschen Hoffnungen machen wollen, dass sie eines Tages eine Heldentat vollbringen würde.

Trotzdem … Diesmal halfen keine Lügen. Diesmal konnte sich Aru nicht rausreden und wie durch Zauberei wäre alles wieder wie vorher.

„Nein, über so etwas hat meine Mutter nie mit mir gesprochen.“

Als der Vogel verächtlich die Augen verdrehte, ballte Aru unwillkürlich die Fäuste. Buh behandelte sie, als wäre sie ein Nichts – und das stimmte einfach nicht!

Sie war eine wiedergeborene Heldin … irgendwie. (Aru war sich nicht ganz sicher, wie das mit der Reinkarnation funktionierte.)

„Aber auch wenn ich heute zum ersten Mal davon höre – ich lerne schnell“, setzte sie rasch hinzu.

Buh legte nur skeptisch den Kopf schief.

Die Lügen lagen Aru auf der Zunge und wollten heraus. Was war schon dabei?

„Meine Lehrerin sagt, ich bin ein Genie.“

Sie verschwieg, dass es kein Kompliment gewesen war. Aru hatte ihren persönlichen „Rekord“ aufgestellt, indem sie auf dem Sportplatz für anderthalb Kilometer vierzehn Minuten gebraucht hatte. Als sie die Strecke dann noch mal laufen sollte, um sich zu verbessern, war sie auf dem kürzesten Weg quer über den Platz zur Ziellinie spaziert. Daraufhin hatte die Lehrerin ärgerlich gesagt: „Du hältst dich wohl für ein Genie, was?“

„Und ich bin immer die Erste“, setzte sie hinzu.

Wenn die Schüler aufgerufen wurden, schon – aber nur, weil ihr Name mit „A“ anfing.

So reihte sie eine Halbwahrheit an die nächste und fühlte sich zusehends besser. Worte hatten Macht!

„Dann bin ich ja beruhigt“, entgegnete Buh knapp, als sie fertig war. „Und jetzt komm endlich. Die Zeit drängt.“

Als er gurrte, klappte die Elefantenfigur das Maul so weit auf, dass die Unterlippe den Boden berührte. Ein Luftzug wehte Aru entgegen und wirbelte den Museumsmief durch.

Sie brauchte nur durch das Maul zu treten und wäre in einer anderen Welt. Vorfreude überkam sie, wurde aber sofort von Schuldgefühlen verdrängt. Wenn sie scheiterte, würde ihre Mutter gefroren bleiben und verstauben wie ein Ausstellungsobjekt. Aru streichelte ihre erstarrte Hand.

„Ich krieg das wieder hin. Versprochen!“

„Wollen wir’s hoffen“, sagte Buh säuerlich.

Aru hielt sich an einem Stoßzahn fest und schlüpfte in das Elefantenmaul. Dahinter tat sich ein breiter, hoher Gang mit Marmorwänden auf. Aru staunte. Sie hatte nicht geahnt, dass die Figur, unter der sie so oft gesessen hatte, innen so geräumig war!

Buh war schon losgeflattert und rief: „Wo bleibst du denn?“

Aru setzte sich in Bewegung.

Hinter ihr klappte das Elefantenmaul wieder zu. Am Ende des Ganges war eine Tür. Sie war geschlossen, nur durch den Spalt darunter drang ein bisschen Licht.

Buh flog auf Arus Schulter und zwickte sie kräftig ins Ohr.

„Aua!“, rief Aru. „Spinnst du?“

„Das ist dafür, dass du mir einen anderen Namen verpasst hast“, erwiderte die Taube. „Und jetzt sag dem Tor der Vielen, dass du zu deinem erwachten Geschwister willst.“

Geschwister … Aru kam ein verstörender Gedanke. Ihre Mutter war fast jedes Wochenende weg. Ging sie vielleicht gar nicht auf irgendwelche Dienstreisen? Besuchte sie in Wahrheit ihre anderen Kinder, mit denen sie lieber zusammen war als mit Aru?

„Wieso habe ich auf einmal ein Geschwister?“

„Es gibt nicht nur Blutsverwandte“, entgegnete Buh. „Du kannst auch mit jemandem verwandt sein, weil der- oder diejenige ebenfalls göttlicher Herkunft ist. Du bist ein Götterkind, weil dir ein Gott die Seele eingehaucht hat. Das hat nichts mit deinen Erbanlagen zu tun. Die geben lediglich vor, dass du nicht größer wirst als einen Meter fünfzig – nur so als Beispiel. Der Seele ist das egal. Seelen bemessen sich nicht in Zentimetern.“

Aru hatte nur bis „Du bist ein Götterkind“ zugehört.

Dass sie offenbar eine Pandava war, hatte sie inzwischen einigermaßen verdaut. Dass das aber bedeutete, dass an ihrer Entstehung ein Gott beteiligt gewesen war und sie als sein eigenes Kind anerkannt hatte, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen.

Unwillkürlich fasste sie sich ans Herz, als könnte sie ihre Seele herausholen. Sie hätte sie gern umgedreht und auf die Rückseite geschaut. Vielleicht war dort ja ein Etikett, so wie bei einem T-Shirt. Ein Schildchen, auf dem stand: HERGESTELLT IM HIMMEL (oder so ähnlich). Ein handfester Beweis hätte Aru geholfen, das Ganze richtig zu begreifen.

Ihr kam ein anderer Gedanke. Noch erstaunlicher als die Vorstellung, dass ihr Vater ein Gott war.

„Bin ich dann eine Göttin?“

Das wäre echt cool.

„Nein“, antwortete Buh nur.

„Aber die Pandavas waren Halbgötter! Sie hatten göttliche Waffen und so. Da müsste ich doch mindestens zur Hälfte eine Göttin sein, oder?“ Aru krümmte die Finger wie Spider-Man, wenn er seine Spinnfäden abschoss. „Kann ich auch Wundertaten vollbringen, so wie die Brüder? Habe ich übernatürliche Fähigkeiten? Oder wenigstens einen magischen Umhang?“

„Vergiss es.“

„Dann wenigstens einen Zauberhut?“

„Nein.“

„Eine Titelmelodie?“

„Schluss jetzt.“

Aru schaute an sich herunter. Bei dem bevorstehenden Zusammentreffen hätte sie gern etwas anderes angehabt als einen Spider-Man-Schlafanzug.

„Und was passiert, wenn ich mein Geschwister kennengelernt habe?“

Buh legte wieder nach Taubenart den Kopf schief. „Dumme Frage. Dann müssen wir uns auf den Weg in die Anderwelt machen. Obwohl die Anderwelt auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Je weniger Fantasie ihr Menschen habt, desto mehr schrumpft sie. Wahrscheinlich ist sie inzwischen nur noch so groß wie eine Besenkammer. Oder ein Schuhkarton.“

„Aber dann habe ich doch gar nicht genug Platz darin.“

„Der Platz passt sich dir an“, erwiderte Buh leichthin. „Ach, war es dort früher herrlich! Es gab einen Nachtbasar, auf dem Träume verkauft wurden. Wer eine schöne Singstimme hatte, bekam für ein Lied eine Portion mit Mondschein bestäubten Reispudding. Köstlich! Fast so lecker wie Dämonenfleisch. Mmmh!“ Aru verzog angeekelt das Gesicht, doch die Taube ließ sich davon nicht stören. „Am besten bringe ich dich in den Himmelspalast. Dort kannst du den Wächterrat offiziell ersuchen, dir mehr über deine Mission zu erzählen.“ Als er die Wächter erwähnte, sträubte Buh das Gefieder. „Du bekommst dort auch deine Waffen … und ich bekomme endlich Amt und Würden wieder. Alles andere bleibt dann dir und deinem Bruder überlassen. Oder deiner Schwester – mögen die Götter es verhüten.“

„Und was sind das für Waffen?“ fragte Aru. „Waffen haben wir in der Schule nicht durchgenommen. Wie soll ich den Schläfer aufhalten, wenn ich nicht mal weiß, wie man einen Pfeil in die Bogensehne einlegt?“

„Man legt den Pfeil auf die Sehne!“

„Weiß ich. Ich hab mich bloß versprochen.“

Bogenschießen war eine Sportart und in Sport war Aru nicht besonders gut. Erst letzte Woche hatte sie so lange in der Nase gebohrt, bis Blut kam. Daraufhin hatte sie beim Völkerball nicht mitmachen müssen.

„Vielleicht besitzt du ja irgendein verborgenes Talent.“ Buh musterte sie prüfend. „Ein sehr gut verborgenes.“

„Aber wenn es doch so viele Götter gibt, warum halten sie dann den Schläfer nicht selber auf? Warum überlassen sie es einer ‚inkompetenten, hormongesteuerten Halbwüchsigen‘, wie du dich ausgedrückt hast?“

„Gottheiten greifen durchaus manchmal ein, aber aus Angelegenheiten, die nur euch Menschen betreffen, halten sie sich raus. Für sie seid ihr Sterblichen nur ein Staubkörnchen auf den Augenwimpern.“

„Macht es ihnen denn gar nichts aus, dass vielleicht das ganze Universum vernichtet wird?“

Buh zuckte die Schultern. „Alles hat mal ein Ende, auch die Zeit. Was geschieht und wer alles mit hineingezogen wird, hängt ganz allein von dir ab. Davon, ob du siegst oder unterliegst. Den Göttern ist das eine so recht wie das andere.“

„Na toll!“, sagte Aru.

Buh zwickte sie wieder ins Ohr.

„Kannst du das bitte lassen?!“

„Sei nicht so wehleidig. Du bist schließlich ein Götterkind.“

Aru rieb sich das schmerzende Ohr. Ihr Vater war … ein Gott. Sie konnte es immer noch nicht glauben.