Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Roshani Chokshi - E-Book

Die silbernen Schlangen (Bd. 2) E-Book

Roshani Chokshi

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Beschreibung

Séverin, Laila, Enrique und Sofia haben zwar den Kampf gegen das "Gefallene Haus" für sich entscheiden können, aber der Sieg war mit einem schrecklichen Preis verbunden. Auf Wiedergutmachung aus, verfolgt das Team die gefährliche Spur nach einem verloren geglaubten Artefakt, das seinem Besitzer angeblich die Macht Gottes verleihen soll. Ihre tollkühne Jagd lockt sie weit weg von Paris nach Sibirien, wo in einem Eispalast dunkle und tödliche Geheimnisse auf sie warten und eine Serie ungelöster Morde das Team fragen lässt, ob ein uralter Mythos doch nur ein Mythos ist.

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Roshani Chokshi

Die silbernene Schlangen

Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Christine Fliedner und Jennifer Michalski

 

 

 

Für Nicolas Cage, die Muse, mit der ich nicht gerechnet habe.

O Faust, leg das verfluchte Buch beiseite,

Sieh nicht hinein, ’s versucht dir deine Seele

Und häuft des Herren schweren Zorn auf dich.

 

Christopher Marlowe – Doktor Faustus

Prolog

Dreizehn Jahre zuvor …

 

Die Matriarchin des Hauses Kore umfasste das Weihnachtsgeschenk in ihrem Arm noch ein wenig fester. Das fein gearbeitete Miniaturtheater verfügte über farbenfroh bemalte Schauspieler und winzige Requisiten – Schwerter, Umhänge, ein Karussell, das sich drehte –, und einen roten Samtvorhang, den man mittels einer klitzekleinen Seilwinde öffnen und schließen konnte. Séverin würde begeistert sein. Die Idee dazu war ihr gekommen, nachdem sie in der Woche zuvor mit ihm im Theater gewesen war. Jeder andere Sechsjährige hätte das Geschehen auf der Bühne verfolgt, doch der kleine Séverin hatte unablässig das Publikum beobachtet.

»Du verpasst das ganze Spektakel, mein Schatz«, hatte sie ihn sanft ermahnt.

Woraufhin Séverin mit großen violetten Augen zu ihr aufgesehen hatte. »Meinst du?«

Danach ließ sie ihn in Ruhe schauen, und hinterher erzählte er hellauf entzückt, wie sich die Gesichter der Zuschauer verändert hatten, wenn auf der Bühne etwas passiert war. Einerseits schien ihm die Magie der Aufführung völlig entgangen zu sein. Andererseits hatte er sie möglicherweise vollständig durchschaut.

Die Matriarchin lächelte in sich hinein, als sie die Stufen des Landsitzes von Haus Vanth erklomm, dessen Fenster anlässlich der Winterversammlung einladend leuchteten. Obwohl die Versammlung stets an einem anderen Ort stattfand – dieses Jahr im kalten Schatten der Alpen an der Rhône –, hatte sich der Ablauf seit Jahrhunderten nicht verändert. Jedes Haus des Ordens von Babel brachte neue, ungezeichnete Schmiedekunstschätze aus den Kolonien mit, um sie bei der Mitternachtsauktion zu versteigern. Für viele der Häuser war es eine Herausforderung, zugleich aber auch ein Zeichen ihrer Macht und ihres Wohlstands, nicht nur eigene Schätze beisteuern, sondern ebenso neue ersteigern zu können. Alle Häuser hatten mindestens ein gesondertes Interessengebiet, einige unter ihnen verfügten allerdings über genügend Ressourcen, um mehreren Vorlieben zu frönen.

Das besondere Augenmerk des Hauses Kore lag auf dem Gebiet der Botanik, doch nicht ausschließlich. Die Kammern und Truhen ihres illustren Hauses waren gefüllt mit ebenso vielen Schätzen verschiedenster Art, wie es Sprachen auf der Welt gab. Andere Ordensfraktionen, wie Haus Dažbog in Russland, bezogen nur wenige herkömmliche Reichtümer aus ihren Kolonien, und so hatten sie sich stattdessen auf den Handel mit Schriftstücken und Geheimnissen spezialisiert.

So unterschiedlich die teilnehmenden Häuser auch waren, Sinn und Zweck der Winterversammlung blieb stets derselbe: den Eid zu erneuern, die westliche Zivilisation mit ihren Errungenschaften, vor allem aber die Babelfragmente, zu schützen, und so die göttliche Kunst des Schmiedens zu bewahren.

Allen hehren Zielen zum Trotz handelte es sich jedoch im Grunde um ein gigantisches Fest.

Das Anwesen des Hauses Vanth badete im Licht der frühen Wintersonne. Aus den Schornsteinen quoll Rauch und schlich katzenartig über das Dach. Die Matriarchin sah die Festlichkeiten bereits vor sich: Zimtstangen in Kelchen voll Glühwein, Gebinde aus Tannenzweigen und künstliche Schneeflocken, geschmiedet, um wie eingefangene Sterne zu funkeln … und zwischen alledem: Séverin. Ein entzückendes Kerlchen, ernsthaft und aufgeweckt. Das Kind, das sie sich für sich selbst gewünscht hätte.

Sie strich sich mit der Hand über den flachen Bauch. Manchmal wurde sie sich der Leere in ihrem eigenen Körper nur allzu bewusst. Doch dann fiel ihr Blick auf den Babelring an ihrem Finger und sie reckte das Kinn. Macht besaß einen feinen Sinn für Ironie, dachte sie. Die ureigene Macht der Frauen, die Freuden der Geburt zu erleben, war ihr versagt geblieben. Die Macht allerdings, die ihr aufgrund ihrer Geburt als Frau hätte versagt bleiben müssen, war ihr gewährt worden. Noch immer war ihre Familie empört darüber, wie ausgerechnet sie es geschafft hatte, die Matriarchin von Haus Kore zu werden.

Es musste ihnen ja nicht gefallen.

Sie mussten sich bloß fügen.

Zu beiden Seiten der schmiedeeisernen Eingangstür thronte je eine große, mit tropfenden Kerzen geschmückte Tanne. Auf der obersten Stufe der Freitreppe grüßte sie der Haushofmeister von Vanth.

»Willkommen, Madame, bitte erlauben Sie mir.« Er nahm ihr das Geschenk ab.

»Seien Sie ja vorsichtig«, ermahnte ihn die Matriarchin.

Sie lockerte die Schultern. Seltsamerweise fehlte ihr nun das Gewicht des Pakets. Für einen Moment hatte es sie daran erinnert, wie es sich anfühlte, Séverin zu tragen. Schläfrig hatte er sich mit seinem warmen Körper an sie geschmiegt, als sie ihn im Anschluss an den Theaterbesuch nach Hause gebracht hatte.

»Madame, verzeihen Sie.« Der Haushofmeister verzog bedauernd das Gesicht. »Ich möchte Sie nicht von den Feierlichkeiten fernhalten, aber … sie … ähem, wünscht, mit Ihnen zu sprechen.«

Sie.

Die Tanne zu ihrer Linken raschelte, als eine Frau dahinter hervortrat.

»Lassen Sie uns allein«, befahl die Frau dem Haushofmeister.

Sofort tat er wie geheißen. Die Matriarchin empfand eine widerstrebende Bewunderung für diese Dame, die weder Macht noch Status im Hause Vanth besaß und doch darin herrschte. Lucien Montagnet-Alarie hatte sie von einer archäologischen Exkursion in Algerien mitgebracht und sechs Monate später hatte sie ihm den gemeinsamen Sohn geschenkt: Séverin.

Es gab viele Frauen, die man wie sie mit dem Kind eines weißen Mannes im Bauch in ein fremdes Land verfrachtet hatte. Sie galten weder als Ehefrauen noch als Mätressen, sondern wandelten wie exotische Geister an den Rändern der Gesellschaft. Doch nie zuvor war der Matriarchin eine Person mit derartigen Augen untergekommen. Séverin mochte als Franzose durchgehen, die Augen aber hatte er von seiner Mutter: düster und violett, wie ein in Rauch gehüllter Abendhimmel.

Der Orden von Babel interessierte sich für Séverins Mutter genauso wenig wie für die haitianische Mutter des Erben von Haus Nyx. Dennoch hatte die Algerierin etwas Besonderes an sich. Das konnte daran liegen, dass sie sich nicht um Gepflogenheiten scherte und sich in ihre absurden Tuniken und Tücher hüllte. Oder an den Gerüchten, die sich um sie rankten. Angeblich besaß sie Kräfte jenseits der bekannten Schmiedegaben. Man erzählte sich, der Patriarch des Hauses Vanth habe sie in einer verwunschenen Höhle gefunden, eine Erscheinung mit unergründlichen Augen, aufgetaucht wie aus dem Nichts.

Geheimnisumwoben.

»Woher nehmen Sie das Recht, mir so aufzulauern?«

Kahina ging nicht darauf ein.

»Sie haben ihm etwas mitgebracht«, sagte sie.

Keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Und?«

Ein Anflug von Schuldgefühlen durchzuckte die Matriarchin, als sie den Blick der anderen auffing: Hunger. Hunger nach allem, wozu sie als Matriarchin in der Lage war und was Kahina selbst versagt blieb. Kahina hatte die Macht besessen, Séverin zur Welt zu bringen, doch ihn ihren Sohn zu nennen, wurde ihr nicht gestattet.

Macht besaß Sinn für Ironie.

»Warum haben Sie dieses Geschenk gewählt?«

Die Frage brachte die Matriarchin des Hauses Kore aus dem Konzept. War das denn wichtig? Sie hatte schlicht und einfach gedacht, es würde ihm gefallen. Sie sah ihn schon vor sich, wie er hinter dem Miniaturtheater hockte und die Puppen bewegte, den Blick nicht auf die Bühne, sondern auf das imaginäre Publikum gerichtet.

Er hatte ein Gespür für Zusammenhänge und dafür, was in anderen Menschen Staunen hervorrief. Vielleicht würde einmal ein Künstler aus ihm.

»Lieben Sie ihn?«, fragte Kahina weiter.

»Wie bitte?«

»Lieben Sie meinen Sohn?«

Meinen Sohn. Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Die Matriarchin konnte mit Séverin ins Theater gehen und ihn mit Geschenken überhäufen, so viel sie wollte – er gehörte nicht zu ihr. Für ihr Herz machte das jedoch keinen Unterschied.

»Ja«, antwortete sie.

Kahina nickte. Sie schien sich für etwas zu wappnen. Schließlich sagte sie: »Wenn das so ist … bitte … versprechen Sie mir, ihn zu beschützen.«

Teil I

Aus den Archiven des Ordens von Babel

Großmeister Boris Gorjunow, Haus Dažbog der russischen Fraktion

Im Jahre 1871, unter der Herrschaft des Zaren Alexander II.

 

Am heutigen Tage nahm ich meine Männer mit zum Baikalsee. Wir warteten dort bis nach Einbruch der Dunkelheit. Die Soldaten waren nervös, sprachen von ruhelosen Geistern im Wasser, doch sie sind von schlichtem Gemüt und ließen sich vermutlich zu sehr von den Berichten über Mädchen beeindrucken, die panisch um ihr Leben schrien. Möglicherweise wurden die Einheimischen mittels Geistschmiedekunst in Angst und Schrecken versetzt. Ich stellte einige Nachforschungen an, fand jedoch nichts. Pflichtschuldig habe ich nun beim Orden Verstärkung angefordert, doch bezweifle ich, dass wir etwas entdecken werden. Persönlich vernahm ich keine Todesschreie junger Mädchen, was bedeutet, dass sie entweder niemals zu hören waren oder dass inzwischen jede Hilfe zu spät kommt.

Séverin

Noch zwei Wochen bis zur Winterversammlung …

 

Séverin Montagnet-Alarie ließ den Blick über das Terrain schweifen, das einst der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Seltene, namhafte Pflanzen hatten früher den Boden bedeckt: Aureum mit milchigen Blättern und Chrysanthemum parthenium von hellem Gelbgrün, knochenfarbene Hyazinthen und nachtblühende Fackeldisteln. Und doch waren es die Rosen gewesen, die sein Bruder Tristan am meisten geliebt hatte. Sie waren zuerst gepflanzt worden, und er hatte sie gehegt und gepflegt, bis sie mit ihren tiefroten Blütenblättern und dem betörenden Geruch aussahen und rochen wie der Inbegriff von Sünde.

Jetzt, gegen Ende Dezember, wirkten die Gärten kahl und trostlos. Séverin atmete tief ein, beißende Kälte drang in seine Lunge.

Der Wohlgeruch der Blumen war fast verflogen.

Er hätte natürlich sein Faktotum bitten können, einen Gärtner mit einer Schmiedegabe für Pflanzen zu engagieren. Jemanden, der die Anlage wieder in ihrer ganzen Pracht erstrahlen ließ. Aber er wollte keinen Gärtner. Er wollte Tristan.

Doch Tristan war tot und der Garten der Sieben Sünden war mit ihm gestorben.

An seiner Stelle befanden sich dort nun Hunderte geschmiedeter Illusionsteiche. Die spiegelglatten Oberflächen zeigten Bilder von Wüstenlandschaften oder, sofern sich der Abend bereits über das Anwesen senkte, den Himmel bei Dämmerung. Die Gäste des L’Éden waren von dieser Kunstform äußerst angetan. Sie wussten nicht, dass es Séverins Reue war, die ihn dazu veranlasst hatte – nicht sein Sinn für Ästhetik. Wenn er in die Teiche blickte, wollte er nicht sein eigenes Gesicht darin reflektiert sehen.

»Monsieur?«

Séverin wandte sich um. Eine seiner Wachen kam auf ihn zu.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte er.

»Ja, Monsieur. Wir haben den Raum exakt so hergerichtet, wie Sie es verlangt haben. Ihr … Gast … befindet sich nun im Dienstzimmer neben den Stallungen.«

»Und haben wir auch Tee für unseren Gast?«

»Oui.«

»Très bien.«

Séverin atmete tief ein und zog die Nase kraus. Sie hatten die Rosenstöcke an den Wurzeln herausgezogen, sie verbrannt und den Boden versalzen. Trotzdem nahm er jetzt, Monate später, immer noch den Phantomgeruch von Rosen wahr.

 

SÉVERINSTEUERTEAUF ein kleines Gebäude in der Nähe der Pferdeställe zu. Er berührte das alte Taschenmesser von Tristan, das in seiner Sakkotasche steckte. Ganz gleich, wie oft er die Klinge auch säuberte, er bildete sich nach wie vor ein, die zarten Vogelfedern und Knochensplitter zu fühlen, die es vorher besudelt hatten. Erinnerungen an Tristans Gräueltaten. Der Beweis für seinen Hang zur Gewalt, den sein Bruder so sorgfältig vor ihnen verborgen hatte.

Manchmal wünschte Séverin, er hätte es nie erfahren. Er hätte Laila nicht aufsuchen dürfen. Dabei hatte er sie doch nur von dem irrsinnigen Schwur entbinden wollen, mit dem sie sich selbst dazu zwang, ihn als Mätresse zur Winterversammlung zu begleiten.

Aber er hatte sie nicht angetroffen. Stattdessen fand er Briefe an Tristan und daneben seine Gärtnertasche – von der Laila behauptet hatte, sie wäre verschwunden.

 

Liebster Tristan, ich dachte, ich würde dir einen Gefallen damit tun, keine Gegenstände von dir zu lesen. Nun aber frage ich mich jeden Tag, ob ich die dunkle Seite in dir früher hätte bemerken können. Vielleicht hättest du dich dann nicht an den armen Vögelchen vergangen. Ich lese alles in der Klinge. Das Töten. Deine Tränen. Auch wenn ich dich nicht in jeder Hinsicht verstanden habe, so habe ich dich doch von Herzen lieb. Bitte vergib mir …

 

Schon davor hatte Séverin gewusst, dass er sein Versprechen Tristan gegenüber nicht gehalten hatte: Er hatte nicht auf ihn aufgepasst. Doch erst anhand der Briefe erkannte er, wie sehr er tatsächlich versagt hatte. Danach dachte er fortwährend an seine Versäumnisse. Wenn Tristan geweint hatte, war er gegangen, um ihm seinen Freiraum zu lassen. Wenn Tristan wütend ins Gewächshaus gestürmt und tagelang nicht mehr herausgekommen war, hatte er ihn nicht gestört. Er hätte ihm nachlaufen müssen. Stattdessen hatte er ihn einfach seinen Dämonen überlassen.

Beim Lesen der Briefe sah er nicht nur Tristan mit dem todesstarren Blick vor sich, sondern auch die Mienen der anderen, von Enrique, Zofia, Hypnos. Und von Laila. Den glanzlosen Ausdruck in ihren Augen, den der Tod dort hinterlassen hatte. Ein Tod, für den er verantwortlich war, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte. Weil er nicht gewusst hatte, wie.

Laila hatte ihn schließlich in ihrem Zimmer erwischt. Er erinnerte sich nicht an jedes einzelne ihrer Worte, aber an die letzten: »Du kannst nicht alle vor allem beschützen. Du bist auch nur ein Mensch, Séverin.«

Er hatte die Augen geschlossen, die Hand schon auf dem Türknauf. Dann muss sich das ändern.

 

SÉVERINBETRACHTETESICH als so etwas wie einen Künstler auf dem Gebiet des Verhörs.

Es kam auf die Kleinigkeiten an und die mussten mehr nach Zufall als nach Kalkül aussehen. Der wackelige Stuhl. Der widerlich süße Blumenduft. Die zu Beginn dargereichten versalzenen Köstlichkeiten. Und das Licht. Es wurde von versteckten Glasscherben reflektiert und warf überall blendend helle Tupfer an Decke und Wände, sodass man nicht anders konnte, als seine Aufmerksamkeit auf den Holztisch zu richten, auf dem soeben warmer, duftender Tee serviert worden war.

»Sitzen Sie bequem?«, fragte Séverin und nahm dem Mann gegenüber Platz.

Der zuckte zusammen. »Ja.«

Séverin lächelte und schenkte sich Tee ein. Der Mann vor ihm war dünn und blass und hatte einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Er musterte den Tee misstrauisch. Séverin trank einen großen Schluck.

»Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«

Der Mann zögerte, dann nickte er.

»Warum … warum bin ich hier? Sind Sie …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Gehören Sie zum Orden von Babel?«

»Gewissermaßen.«

Einige Monate nachdem sie bei Haus Kore eingebrochen waren, hatte der Orden Séverin und die anderen damit beauftragt, nach dem verlorenen Schatz des Gefallenen Hauses zu suchen. Angeblich sollte er an einem Ort versteckt sein, den man den Schlafenden Palast nannte. Doch niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wo dieser sich befand. Sollten sie erfolgreich sein, dürfte Séverin im Gegenzug die Kostbarkeiten als Erster genauer untersuchen – ein Privileg, das sonst nur Ordensmitgliedern vorbehalten war. Im Grunde wäre er ja auch längst einer von ihnen geworden, wenn der Wunsch danach nicht verloschen wäre. Nach alledem, was mit Tristan geschehen war.

Der Orden behauptete, er wolle den Schatz in seinen Besitz bringen, um dem Gefallenen Haus auch den letzten Rest Macht zu rauben, aber Séverin wusste es besser. Die Mitglieder des Gefallenen Hauses hatten ihre Karten offengelegt. Sie waren Schlangen, die lange Schatten warfen. Ohne ihre Reichtümer würden sie zwar deutlich schwächer dastehen, das war jedoch nicht der Hauptbeweggrund des Ordens. Die ganze Sache war viel simpler. Durch die Kolonien besaßen die Häuser Kostbarkeiten im Überfluss: Es gab Kautschuk im Kongo, Silber in der Mine von Potosí, Gewürze in Asien. Die verlorenen Wunder aber, die das Gefallene Haus gehortet hatte, stellten eine weitaus größere Verlockung dar. Die Ordensmitglieder würden sich wie die Wölfe darauf stürzen. Deswegen musste er schneller sein. Ihm ging es jedoch nicht um Gold oder Silber. Was er suchte, war wesentlich wertvoller: Die Göttliche Lyrik.

Es war ein Schatz, dessen Fehlen der Orden überhaupt nicht bemerken würde, da er schon seit langer Zeit nicht mehr auffindbar war. Überlieferungen des Ordens zufolge war es mithilfe des Buches möglich, die Babelfragmente zusammenzufügen, daher kannte man es auch unter dem Namen Die Göttliche Fügung. Waren die Fragmente einmal vereinigt, konnte man den Turm von Babel wiedererrichten und so zu göttlicher Macht gelangen. Diesen Plan hatte das Gefallene Haus vor fünfzig Jahren verfolgt und war dafür aus dem Orden ausgestoßen worden. Das Buch galt als verschollen.

Bis Roux-Joubert sich verplappert hatte.

Nach dem Kampf in den Katakomben hatten sich diejenigen Mitglieder des Gefallenen Hauses, die sie noch erwischt hatten, als nutzlose Informationsquellen erwiesen. Nicht nur hatte sich jeder Einzelne von ihnen das Leben genommen. Sie hatten sich auch ihre Gesichter und die Fingerspitzen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nur Roux-Joubert hatte es nicht geschafft. Nach dem Mord an Tristan hatte er auf seiner Suizidtablette bloß herumgekaut, statt sie zu schlucken. Und so waren seine Geheimnisse nicht mit ihm ins Grab gewandert. Über mehrere Wochen hinweg war er eines langsamen Todes gestorben und hatte im Wahn zu reden begonnen.

»Der Papa vom Doktor ist ein böser Mensch«, sagte er und lachte hysterisch. »Sie, Monsieur, wissen natürlich alles über böse Väter. Sie haben bestimmt Mitleid … oh, wie gemein er doch ist … lässt den Doktor einfach nicht in den Schlafenden Palast … aber das Buch ist dort, es wartet auf ihn. Er wird es finden. Er wird uns das Leben nach dem Tod schenken …«

Er? Die Ungewissheit darüber, wer das letzte Oberhaupt des Gefallenen Hauses gewesen war, quälte Séverin. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über ihn. Und obwohl die Ordensmitglieder enttäuscht waren, weil der Schlafende Palast nicht aufzufinden war, so beruhigte es sie doch, dass es dem Gefallenen Haus ebenfalls nicht gelungen war.

Nur er und Hypnos, der Patriarch von Haus Nyx, hatten nicht aufgegeben, hatten jede Niederschrift, jeden Bericht zweimal gelesen und nach jeder noch so kleinen Ungereimtheit gesucht – was sie schließlich zu dem Mann geführt hatte, der Séverin jetzt gegenübersaß. Ein alter, runzeliger Herr, der sich lange Zeit hatte versteckt halten können.

»Ich habe meine Schuldigkeit doch schon getan«, sagte dieser nun. »Ich war nicht einmal Mitglied des Gefallenen Hauses, nur einer der vielen Rechtsberater. Und ich habe dem Orden bereits gesagt, dass sie mir damals, als man sie stürzte, irgendeinen Trank verabreicht haben. Ich kann mich an keines ihrer Geheimnisse erinnern. Warum bringen Sie mich hierher? Ich besitze keine wertvollen Informationen.«

Séverin stellte seine Teetasse ab. »Ich bin überzeugt, dass Sie mich zum Schlafenden Palast führen können.«

Der Mann setzte einen höhnischen Gesichtsausdruck auf. »Den hat schon ewig niemand mehr gesehen, genau genommen seit …«

»Fünfzig Jahren. Ist mir bekannt«, sagte Séverin. »Soviel ich weiß, ist er gut versteckt. Aber wie mir meine Spitzel berichteten, hat das Gefallene Haus ein spezielles Paar Linsen hergestellt. Eine Tezcat-Brille, um genau zu sein. Sie soll den Standort des Schlafenden Palasts mitsamt seinen verlockenden Schätzen preisgeben.« Séverin lächelte. »Nun ja, jedenfalls haben sie diese Brille einer Person anvertraut, die offenbar gar nicht weiß, was sie da hütet.«

Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an.

»W-woher …« Er konnte gerade noch an sich halten und räusperte sich. »Dabei handelt es sich bloß um ein Gerücht. Und ganz sicher befindet sich diese Tezcat-Brille nicht in meinem Besitz. Ich weiß nichts darüber, Monsieur. Das schwöre ich Ihnen bei meinem Leben.«

»Unkluge Wortwahl«, entgegnete Séverin.

Er holte Tristans Taschenmesser hervor und strich über die eingravierten Initialen: T.M.A. Tristan hatte damals keinen Nachnamen und so hatte Séverin den seinen mit ihm geteilt. Unten auf dem Messer war ein Uroboros abgebildet, eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Einst war sie das Symbol von Haus Vanth gewesen – dem Haus, dessen Patriarch er hätte werden können, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Wenn sein Traum vom Erbe nicht den Tod der Person verschuldet hätte, die ihm auf der Welt am liebsten war. Jetzt stand das Symbol für das, was er ändern wollte.

Selbst wenn sie Die Göttliche Lyrik fanden, würde es nicht reichen, um die anderen zu beschützen. Sie würden bis an ihr Lebensende eine Zielscheibe auf ihrer Brust tragen, und das konnte er nicht zulassen. Deswegen klammerte Séverin sich inzwischen an einen neuen Traum. Er träumte von der Nacht in den Katakomben, als Roux-Joubert sein Gesicht mit goldenem Blut beschmiert hatte, vom Gefühl seiner Wirbelsäule, die sich dehnte, um Platz für Flügel zu schaffen. Er träumte von dem Druck der Hörner, die ihm aus der Stirn sprossen und sich nach hinten bogen, von den glatten Spitzen, die seine Ohren streiften.

Wir könnten zu Göttern werden.

Genau das versprach Die Göttliche Lyrik. Wenn er das Buch besäße, könnte er sich in einen Gott verwandeln. Götter kannten keinen menschlichen Schmerz. Verluste und Schuldgefühle Sterblicher waren ihnen fremd. Und sie verfügten über die Macht der Wiederauferstehung. Er würde seine neuen Kräfte mit den anderen teilen, sie unbesiegbar machen, sie für immer beschützen. Und wenn sie ihn schließlich verließen, wie es von Anfang an ihr Plan gewesen war, würde er nichts fühlen müssen.

Denn dann wäre er kein Mensch mehr.

»Wollen Sie mich damit erstechen?«, fragte der Mann, deutete auf das Messer und stieß sich vom Tisch ab. »Wie alt sind Sie, Monsieur? Um die zwanzig? Denken Sie nicht, Sie sind noch ein bisschen zu jung, um Blut an Ihren Händen kleben zu haben?«

»Ich glaube, dem Blut ist mein Alter egal«, sagte Séverin und klappte die Klinge wieder ein. »Erstechen werde ich Sie trotzdem nicht. Welchen Sinn hätte das, wo ich Sie doch schon vergiftet habe?«

Der Blick des Mannes glitt zu der Teekanne. Über seinen Augenbrauen bildeten sich Schweißtröpfchen. »Sie lügen. Wäre der Tee vergiftet, hätten Sie sich selbst auch vergiftet.«

»Mit ziemlicher Sicherheit«, sagte Séverin. »Aber das Gift war ja nicht im Tee. Ihre Porzellantasse war damit versetzt. Also …« Er zog ein durchsichtiges Fläschchen aus der Tasche und stellte es auf den Tisch. »Hier ist das Gegengift. Gibt es wirklich nichts, was Sie mir gern sagen möchten?«

 

ZWEISTUNDENSPÄTER verschloss Séverin einige Briefe mit Siegelwachs. Einen würde er sofort auf den Weg schicken, die anderen erst in zwei Tagen. Kurz zögerte er, doch dann riss er sich zusammen. Schließlich tat er es für sie. Für seine Freunde. Je mehr Rücksicht er auf ihre Gefühle nahm, desto härter würde seine Aufgabe werden. Und so bemühte er sich, nichts zu fühlen.

Laila

Laila starrte auf den Brief, den das Zimmermädchen ihr überreicht hatte. Erst hatte sie gedacht, es handelte sich um eine Nachricht von Zofia, die von ihrer Reise aus Polen zurückgekehrt war. Oder von Enrique, der ihr mitteilte, wie sein Vortrag vor den Ilustrados gelaufen war. Oder von Hypnos, der sie fragte, wann sie mal gemeinsam zu Abend essen könnten. Am allerwenigsten jedoch hatte sie mit diesem Absender und diesen Worten gerechnet:

 

Ich weiß, wie wir Die Göttliche Lyrik finden.

Treffen um zwölf.

SÉVERIN

 

Das Rascheln der Decke ließ sie zusammenfahren.

»Komm wieder ins Bett«, ertönte eine schlaftrunkene Stimme.

Kühles Dezemberlicht fiel durch das Erkerfenster ihrer Suite im Palais des Rêves, des Cabarets, in dem sie als Tänzerin L’Énigme auftrat. Mit dem Licht kamen auch die Erinnerungen an den vergangenen Abend. Sie hatte jemanden mit auf ihr Zimmer genommen, was in letzter Zeit nicht unüblich war. Dieses Mal war es der Sohn eines Diplomaten, der ihr nach dem Auftritt Champagner und Erdbeeren spendiert hatte. Er hatte ihr auf Anhieb gefallen. Sein Körper war nicht geschmeidig, sondern kantig, seine Augen waren nicht von sattem Violett, sondern blass wie junger Wein, seine Haare nicht pflaumenschwarz, sondern goldblond.

Sie mochte, wer er nicht war.

Deshalb konnte sie ihm auch das Geheimnis verraten, das sie Tag für Tag von innen heraus auffraß. Ein Geheimnis, dessentwegen ihr eigener Vater sie verabscheute. Ein Geheimnis, das sie selbst ihren engsten Freunden nicht anvertrauen konnte.

»Ich sterbe«, hatte sie gewispert und ihn auf sich gezogen.

»So?« Der Diplomatensohn hatte gegrinst. »Du kannst es wohl nicht abwarten, was?«

Jedes Mal, wenn sie die Worte vor einem ihrer Liebhaber aussprach, schien die Wahrheit zu schrumpfen, und Laila hatte das Gefühl, sie verkleinern zu können, bis sie eines Tages in ihre Hand passte und sie nicht mehr zu überwältigen drohte. Der Jaadugar hatte gesagt, ihr Körper – nicht geboren, sondern geschaffen – würde nur bis zu ihrem neunzehnten Geburtstag bestehen und somit auch sie. Ihr blieb also nur noch rund ein Monat. Die einzige Chance, zu überleben, lag darin, Die Göttliche Lyrik zu finden. Das Buch enthielt das Geheimnis um die Macht des Schmiedens – die Kunst, je nach Begabung, Materie oder Geist zu beherrschen. Vielleicht wäre ihre geschmiedete Hülle damit in der Lage, fortzubestehen. Doch trotz monatelanger Bemühungen waren alle Spuren zum Buch im Sand verlaufen. So hatte sie keine andere Wahl, als die restliche Zeit zu genießen. Und genau das tat sie.

Nun aber breitete sich ein schmerzhaftes Gefühl in ihrer Brust aus. Sie legte den Brief auf den Toilettentisch. Ihre Finger zitterten vom Lesen. Von der Art, ihn zu lesen. Eindrücke durchfluteten sie: Séverin, der Siegelwachs auf das Papier tropfen ließ. Das Leuchten in seinen violetten Augen.

Laila warf einen Blick über die Schulter zu dem jungen Mann auf ihrem Bett.

»Du musst jetzt leider gehen.«

 

EINPAARSTUNDENSPÄTER lief Laila durch die klirrend kalten Straßen von Montmartre. Weihnachten war zwar vorbei, aber der Zauber der winterlichen Feiertage noch nicht ganz verschwunden. Hinter vereisten Fensterscheiben blinkten bunte Lichter. Aus den Bäckereien quoll warmer Dampf, der einen Duft nach pain d’épices verströmte, saftigem Gewürzbrot, das mit bernsteinfarbenem Honig überzogen war. Die Welt verharrte in froher Erwartung auf der Schwelle zum neuen Jahr, und ständig fragte Laila sich, wie viel davon sie wohl noch lebend mitbekommen würde.

In der Morgensonne wirkte das scharlachrote Kleid mit den Onyxen und Rubinen am Kragen, das sie unter dem Mantel trug, ziemlich schrill. Wie in Blut getränkt. Doch damit fühlte sie sich für das gerüstet, was sie im Hotel L’Éden erwartete.

Laila hatte Séverin nicht mehr gesehen, seitdem er ohne Erlaubnis ihre Gemächer betreten und einen Brief gelesen hatte, der nicht für ihn bestimmt gewesen war. Wie anders wären die letzten Wochen verlaufen, wenn er ihn nicht in die Finger bekommen hätte? Wenn sie ihn gar nicht erst verfasst hätte?

Damals hatte sie nicht gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Die rohe Gewalt, mit der Tristan ums Leben gekommen war, schmerzte sie ebenso sehr wie die dunkle Seite in ihm, die er vor ihnen verborgen hatte. Das Geheimnis war eine zu schwere Bürde für sie gewesen. Sie hatte es nicht für sich behalten können. Und so hatte sie ihrem verlorenen Freund geschrieben, ihm erklärt, was sie herausgefunden hatte und dass sie ihn trotz allem liebte. Von Zeit zu Zeit war es ihr ein Bedürfnis, sich an diejenigen zu richten, die nicht mehr antworten konnten. Darin hoffte sie ein wenig Frieden zu finden.

Sie hatte ihre Gemächer nur für ein paar Minuten verlassen, bei ihrer Rückkehr jedoch Séverin dort angetroffen. Kurz setzte ihr Herz einen Schlag aus. Dann fiel ihr Blick auf den Brief in seiner verkrampften Hand, auf die weiß hervortretenden Knöchel und auf seine Augen, vor Schreck weit aufgerissen und unnatürlich schwarz – wie die Finsternis selbst.

»Wie lang hast du gedacht, das vor mir geheim halten zu können?«

»Séverin …«

»Das ist alles meine Schuld«, murmelte er.

»Unsinn«, erwiderte sie und machte einen Schritt auf ihn zu. »Woher hättest du davon wissen sollen? Er hat sich niemandem von uns anvertraut …«

Doch er wich zurück, seine Hände zitterten.

»Majnun.« Ihr versagte die Stimme beim Klang des Namens, den sie schon so lange nicht mehr benutzt hatte. »Quäl dich nicht. Er ist nun an einem besseren Ort und frei von all seinen Dämonen. Und das könntest du auch sein. Ohne zu sterben.«

Laila ergriff sein Handgelenk, ihre Finger streiften die Schwurmale, die ihre Armreife am Abend seines Geburtstags hinterlassen hatten. Sie hatte gewollt, dass er sie zu seiner Mätresse machte und sie über jeden Fortschritt bei der Suche nach der Göttlichen Lyrik in Kenntnis setzte. Doch den Schwur hatte sie ihm noch aus einem anderen Grund abgenommen. Er sollte wieder etwas anderes spüren als diese stete Taubheit. Und für einen kurzen Moment hatte sie angenommen, sie könnte der Schlüssel dazu sein. Seine grausamen Worte konnte sie nicht vergessen, aber da die Grausamkeit nur seinen eigenen Schuldgefühlen entsprungen war, würde sie ihm verzeihen – solange er sich selbst verzeihen konnte.

»Séverin, entscheide dich für das Leben«, hatte sie ihn angefleht.

Entscheide dich für mich.

Er wandte sich ihr zu, aber sein Blick ging geradewegs durch sie hindurch. Weil Laila nicht miterleben wollte, wie er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog, nahm sie sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn, sie richtig anzusehen.

»Du kannst nicht alle vor allem beschützen«, sagte sie. »Du bist auch nur ein Mensch, Séverin.«

Bei diesen Worten loderte es in seinen Augen, und in ihr flackerte ein Hoffnungsschimmer auf, der sogleich wieder erlosch, denn er entzog sich ihrem Griff. Ohne einen Ton zu sagen, verließ er das Zimmer. Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er die Suche nach der Göttlichen Lyrik wieder aufgenommen hatte. Als könnte er Tristan damit rächen und sich so von der Schuld befreien, dass er lebte, während sein Bruder gestorben war.

Laila schlang den Mantel enger um ihren Körper. Ihr Granatring blitzte auf. Es war nicht lange her, dass sie Zofia gebeten hatte, ihn für sie anzufertigen. Der Stein wirkte ungeschliffen und feucht, als wäre er kein Juwel, sondern ein in Gold eingefasstes Vogelherz. Obenauf prangte die Zahl 24. Noch vierundzwanzig Tage zu leben.

Zum ersten Mal ließ sie nun Zweifel an dieser Zahl zu.

Bisher war es die Erfüllung kleiner Träume gewesen, die sie aufgemuntert hatte – Nachmittage mit Zofia, Hypnos und Enrique, oder ein letzter Winterabend, an dem frischer Schnee die Straßen von Paris zuckerte und ihr Atem Rauchfahnen in die Luft malte. Manchmal bildete sie sich ein, so würde es aussehen, wenn sie starb. Wenn sich ihre Seele aus der Brust löste. Dann wüsste sie wenigstens, dass sich der Tod zwar kalt anfühlte, aber nicht wehtat.

Séverins Brief änderte alles.

Nach Tristans Tod hatte der Orden sie damit beauftragt, die Schätze des Gefallenen Hauses aufzuspüren. Das wiederum setzte jedoch voraus, dass sie den Schlafenden Palast fanden. Und bisher hatte er sich all ihren Versuchen, ihn ausfindig zu machen, widersetzt. Als Séverins Strom von Berichten schließlich versiegt war, hatte der Orden die Suche selbst in die Hand genommen. Für sie und die anderen hatte es demnach keine Winterversammlung mehr geben sollen. Ihr einziger Trost war gewesen, dass sie so wenigstens nicht Séverins Mätresse mimen musste.

Doch wie es nun aussah, käme sie nicht darum herum.

Mit einem Mal drang ein Geräusch zu Laila durch, das ihr zu folgen schien. Das beständige Klipp-klapp von Pferdehufen. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Eine indigoblaue Kutsche, versehen mit silbernen Ziselierungen, hielt in etwa anderthalb Meter Entfernung. Ein vertrautes Symbol – ein breiter Halbmond, der aussah wie ein listiges Grinsen – schimmerte auf der Tür, die auch sogleich aufschwang.

»Ich bin enttäuscht, dass du mich zu deinem Stelldichein gestern Abend nicht eingeladen hast«, erklang eine ihr wohlbekannte Stimme.

Aus der Kutsche lehnte sich Hypnos und warf ihr eine Kusshand zu. Laila lächelte, fing den Kuss auf und ging auf ihn zu.

»Dafür ist das Bett zu klein«, sagte sie.

»Ich hoffe, das trifft nicht auch auf deinen Gast zu«, erwiderte er und grinste anzüglich. Er zog einen Brief mit Séverins Siegel aus dem Sakko. »Wie ich vermute, wurdest auch du einbestellt.«

Zur Antwort hielt Laila ihren eigenen Brief hoch. Hypnos grinste und machte Platz für sie.

»Lass uns gemeinsam fahren, ma chère. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Laila spürte einen Stich in der Brust.

»Wem sagst du das«, gab sie zurück und stieg ein.

Enrique

Zum fünften Mal in dieser Minute strich Enrique Mercado López sich übers Haar und das blütenweiße Hemd. Er räusperte sich. »Meine sehr verehrten Herren Ilustrados, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie heute hier erschienen sind, um meinem Vortrag über antike Weltmächte beizuwohnen. Zur Veranschaulichung habe ich Ihnen eine Auswahl von Schmiedekunstobjekten aus aller Welt mitgebracht. Ich bin der Überzeugung, wir sollten uns bei unserem Streben nach der Unabhängigkeit der Philippinen von historischen Erkenntnissen leiten lassen. Formen wir mithilfe unserer Vergangenheit unsere Zukunft!«

Er hielt inne. Blinzelte. »Hmm … mithilfe unserer Vergangenheit … oder … der Vergangenheit?«

Er sah auf seine Unterlagen. Die Hälfte des Vortrags, den er über Wochen vorbereitet hatte, war angestrichen, durchgestrichen, unterstrichen oder komplett umgeschrieben.

»Der Vergangenheit«, entschied er und fügte eine weitere Änderung hinzu.

Dann ließ er den Blick durch den Lesesaal der Bibliothèque nationale de France schweifen.

Mit den runden Bleiglasfenstern in der Kuppeldecke und den geschwungenen Bögen aus filigranem Gitterwerk, die an Rippen riesiger Fabelwesen erinnerten, mit den buchgesäumten Wänden und den geschmiedeten Nachschlagewerken, die auf grazilen goldenen Regalen thronten und stolz ihre Seiten aufplusterten, war dies einer der schönsten Lesesäle, die er je gesehen hatte.

Doch bis auf Enrique war er menschenleer.

In der Mitte des Raumes schwebte eine große leuchtende Kugel und zeigte die Zeit an: halb zwölf.

Die Ilustrados waren zu spät. Viel zu spät. Um zehn hätte die Versammlung beginnen sollen. Hatten sie sich im Datum vertan? Oder waren die Einladungen verloren gegangen? Kaum vorstellbar. Er hatte die Adressen sorgfältig überprüft und sich den Erhalt bestätigen lassen. Aber ihn so mit Nichtachtung zu strafen, das läge ihnen fern … oder? Inzwischen hatte er seinen Wert als Historiker und Kurator doch sicherlich zur Genüge unter Beweis gestellt. Er hatte Artikel für La Solidaridad geschrieben und darin – wie er glaubte – eloquent dargelegt, weshalb die Kolonien ihren Kolonisten ebenbürtig waren. Zudem zählte zu seinen Gönnern nicht nur Hypnos, ein Patriarch des Ordens von Babel, sondern auch Séverin Montagnet-Alarie, der einflussreichste Investor von Paris und Besitzer des elegantesten Hotels in ganz Frankreich.

Enrique ließ seine Notizen sinken und stieg vom Podium hinab. Betrübt lief er zu dem in der Mitte des Raumes aufgebauten Tisch. Er war für die neun Mitglieder des inneren Kreises der Ilustrados gedeckt … zu denen bald ein zehntes gehören würde, wie er hoffte. Der Salabat genannte Ingwertee war abgekühlt und bald müsste er die Warmhalteplatten voll Afritada und Pancit zudecken. Das Eis im Sektkühler war nur mehr eine Pfütze.

Nachdenklich betrachtete Enrique das Arrangement. Dass die Ilustrados nicht erschienen waren, wäre vielleicht weniger schlimm, hätte er noch andere Gäste eingeladen. Er dachte an Hypnos und ihm wurde warm ums Herz. Ihn hatte er einladen wollen, aber beim kleinsten Anzeichen von zu viel Verbindlichkeit zog der gut aussehende Patriarch sich zurück, denn ihm gefiel die Grauzone zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung. Das Ende der Tafel zierte ein Blumenstrauß von Laila, die gewiss nicht aufgetaucht wäre. Ein einziges Mal hatte er sie vor zehn Uhr wecken wollen, doch sie hatte ihn angeknurrt und eine Vase nach ihm geworfen, die nur knapp an seinem Kopf vorbeigesegelt war. Als sie schließlich gegen Mittag die Treppe heruntergestolpert kam, hatte sie sich an nichts erinnern können. Daraufhin hatte Enrique beschlossen, der vormittäglichen Laila fortan aus dem Weg zu gehen. Blieb Zofia. Zofia hätte sicher gern teilgenommen und kerzengerade auf ihrem Stuhl gesessen, mit einem wissbegierigen Funkeln in den flammenblauen Augen. Derzeit befand sie sich jedoch auf der Rückreise von einem Familienbesuch in ihrer polnischen Heimatstadt.

In einem Anflug von Verzweiflung hatte er sogar erwogen, Séverin einzuladen, was ihm dann allerdings etwas zu unaufrichtig erschienen war. Zum einen hatte er diesen Vortrag unter anderem deshalb organisiert, weil er nicht für immer Séverins Historiker bleiben konnte. Zum anderen war Séverin … nicht mehr derselbe. Zwar machte Enrique ihm das nicht zum Vorwurf, doch auch ihm reichte es irgendwann, wenn man ihm stets die Tür vor der Nase zuschlug. Sich selbst redete er ein, es ginge nicht darum, Séverin zu verlassen, sondern darum, wieder am Leben teilhaben zu können.

»Ich habe es versucht«, murmelte er zum hundertsten Mal, »ich habe es wirklich versucht.«

Wie oft er das wohl wiederholen musste, bis die Schuldgefühle endlich nachließen? Trotz ausgiebiger Recherchen hatten sie keine Spur zum Schlafenden Palast gefunden, zu dem Ort, an welchem die Schätze des Gefallenen Hauses aufbewahrt wurden, darunter das Artefakt, das Séverin mehr als alles andere zu finden trachtete: Die Göttliche Lyrik. Dieses Werk in die Finger zu bekommen, würde dem Gefallenen Haus den Todesstoß versetzen. Denn dann würde dessen Plan, die Babelfragmente zusammenzufügen, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Sie mussten dieses Buch an sich bringen. Vielleicht hätte Séverin dann das Gefühl, Tristan gebührend gerächt zu haben.

Aber es sollte wohl einfach nicht sein.

Als der Orden beschlossen hatte, sich der Sache selbst anzunehmen, hatte Enrique Erleichterung verspürt. Tristans Tod ging ihm noch immer nah. Nie würde er seinen ersten Atemzug vergessen, sobald das Ableben seines Freundes zur schrecklichen Gewissheit geworden war. Angestrengt und stockend, als hätte er mit der Welt darum ringen müssen. Zu leben war ein Privileg. Und das gedachte er nicht mit dem Durst nach Rache zu vergeuden. Er wollte weitaus Bedeutsameres erreichen.

Nach dem tragischen Vorfall war Laila aus dem L’Éden ausgezogen. Séverin war so kalt und unzugänglich geworden wie ein Stein. Einzig Zofia war mehr oder weniger dieselbe, doch jetzt war sie nach Głowno gereist … geblieben war ihm Hypnos. Hypnos, der Enriques Vergangenheit gut genug verstand, um – vielleicht – Teil seiner Zukunft sein zu wollen.

»Hallo?«, meldete sich plötzlich eine Stimme.

Enrique fuhr herum, zupfte sein Sakko zurecht und setzte ein breites Lächeln auf. Womöglich waren seine Bedenken umsonst gewesen und sie waren tatsächlich alle spät dran … doch als die Gestalt näher kam, sackte er in sich zusammen. Das war kein Mitglied der Ilustrados. Nur ein Kurier, der ihm zwei Umschläge hinstreckte.

»Sind Sie Monsieur Mercado López?«

»Unglücklicherweise ja.«

»Die hier sind für Sie.«

Einer der Briefe kam von Séverin. Der andere von den Ilustrados. Mit klopfendem Herzen öffnete Enrique den zweiten Brief und überflog ihn. Heiße Scham durchflutete ihn.

… wir haben den Eindruck, diese Position liegt ein wenig außerhalb Ihres Kompetenzbereichs, Kuya Enrique. Das Alter erst verleiht uns Weisheit, und so ist uns bereits die Weitsicht gegeben, die Unabhängigkeit voranzutreiben und zu erkennen, wie wir sie erreichen. Sie sind ein Mann von kaum zwanzig Jahren. Woher nehmen Sie die Sicherheit, zu wissen, was Sie wollen? Mag sein, dass wir uns in friedlicheren Zeiten einmal genauer mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten beschäftigen werden. Doch für den Moment unterstützen Sie uns von dort, wo Sie jetzt stehen. Genießen Sie Ihre Jugend. Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …

Enrique wurde schwindelig. Er sank auf einen der Stühle. Seine halben Ersparnisse hatte er darauf verwendet, den Lesesaal zu mieten, Essen und Getränke zu organisieren und einige der Artefakte als Leihgabe aus dem Louvre hierhertransportieren zu lassen. Und wofür?

Die Tür flog auf. Enrique sah hoch – welche Hiobsbotschaft hatte der Kurier wohl noch zu überbringen? Doch es war nicht der Bote. Ganz und gar nicht. Enriques Puls schoss in die Höhe. Mit diesem Mund, der fürs verschmitzte Grinsen gemacht schien, und Augen, so klar wie gefrorene Feenteiche, marschierte Hypnos auf ihn zu.

»Hallo, mon cher.« Er gab ihm zwei Küsschen auf die Wangen.

Wohlige Wärme durchströmte Enrique. Vielleicht waren nicht all seine Träume töricht. Nur ein Mal wollte auch er umworben werden, jemandes erste Wahl sein. Unentbehrlich sein. Und nun stand Hypnos vor ihm.

»Falls du gekommen bist, um mich zu überraschen und dem Vortrag zu lauschen, weiß ich das sehr zu schätzen … du scheinst allerdings der Einzige zu sein.«

Hypnos blinzelte. »Dem Vortrag lauschen? Mais non. Es ist vor zwölf. Da bin ich doch normalerweise kaum Herr meiner Sinne. Ich bin hier, um dich abzuholen.«

Die wohlige Wärme verpuffte und rasch faltete Enrique seine Träume zusammen und verstaute sie wieder tief in seinem Inneren.

»Hast du denn den Brief nicht erhalten?«, fragte Hypnos.

»Ich habe mehr als genug Briefe erhalten«, murrte Enrique.

Hypnos öffnete den von Séverin und hielt ihn ihm vor die Nase.

 

EINPAARAUGENBLICKE später gesellte Enrique sich zu Laila in Hypnos’ Kutsche. Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter. Hypnos rutschte zu ihnen auf die Bank, ergriff seine Hand und streichelte sie mit dem Daumen.

»Wie ist es denn gelaufen?«, fragte Laila. »Hast du meine Blumen bekommen?«

Enrique nickte. In seinem Magen brannte noch immer die Scham. Die Ilustrados hatten ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass seine Ideen es nicht wert waren, gehört zu werden. Aber den Schatz des Gefallenen Hauses zu finden, dem Orden Die Göttliche Lyrik zurückzubringen … das könnte das Blatt noch einmal wenden. Abgesehen davon fühlte es sich irgendwie richtig an, auf eine letzte gemeinsame Akquisitionsmission zu gehen. Als würde er so nicht nur Tristans Andenken in Ehren halten, sondern auch auf befriedigende Weise mit diesem Kapitel seines Lebens – als Historiker des L’Éden und als Teil von Séverins Mannschaft – abschließen.

»Es ist keiner gekommen«, sagte er, doch seine Worte wurden von dem Geräusch der anfahrenden Kutsche auf dem Schotter verschluckt.

Sie verhallten ungehört.

Zofia

Während des letzten Jahres hatte Zofia Boguska zu lügen gelernt.

Im Dezember hatte sie den anderen erzählt, sie wolle Chanukka in ihrer polnischen Heimatstadt Głowno feiern, wo ihre Schwester Hela als Gouvernante für die Kinder ihres Onkels arbeitete. Doch das war nicht die Wahrheit. In Wahrheit lag Hela im Sterben.

Nun stand Zofia in voller Reisemontur vor der Tür zu Séverins Arbeitszimmer. Weder hatte sie das Gepäck in ihr Gemach gebracht, noch hatte sie den Mantel oder den veilchenfarbenen Hut abgelegt, der – wie Laila gesagt hatte – ihre Augen »hervorhob«, weshalb sie ab und an ängstlich ihre Lider betastete. Sie hatte nicht so bald wiederkommen wollen. Da Séverin keine neuen Akquisitionsmissionen angenommen hatte und ihre Fähigkeiten bei der Suche nach dem Buch Die Göttliche Lyrik bisher keine große Hilfe gewesen waren, war es auch gar nicht notwendig gewesen. Zwei Tage zuvor hatte sie jedoch einen Brief von Séverin erhalten, mit der Aufforderung, umgehend ins L’Éden zurückzukehren. Warum, hatte nicht darin gestanden.

»Fahr ruhig, Zosia, es geht mir schon viel besser«, hatte Hela gesagt und ihr einen Kuss auf den Handrücken gedrückt. »Du musst dich doch auch um dein Studium kümmern. Bekommst du nicht ohnehin Schwierigkeiten, weil du so lange nicht an der Universität warst?«

Zofia wusste nicht mehr, wie viele Lügen sie inzwischen erzählt hatte. Letzten Endes war ihr keine Wahl geblieben. Sie musste zurück, denn ihr Erspartes ging zur Neige. Und Hela hatte recht – ihr Zustand schien sich tatsächlich zu bessern. Vor einigen Tagen noch war sie von Fieberkrämpfen geschüttelt worden. Als sie wieder einmal ins Delirium gefallen war, hatte ihr Onkel nach einem Rabbi geschickt, der die Sterberituale durchführen sollte. Doch stattdessen war ein neuer Arzt gekommen. Er beharrte darauf, Zofia habe für seine Dienste gezahlt, und obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, bat sie ihn herein. Hoffnung ließ sich nicht von Statistiken beeindrucken. Einen Versuch war es wert. An diesem Abend verabreichte der Arzt Hela eine Arznei, von der er behauptete, sie sei nirgends sonst zu bekommen. Und er versprach, dass Hela leben würde.

Und das tat sie.

Am nächsten Tag kam Séverins Brief. Doch auch wenn Hela nun auf dem Weg der Besserung war, entschied Zofia, nicht dauerhaft in Paris zu bleiben. Sie wollte heimkehren und sich um ihre Schwester kümmern … es fehlten ihr lediglich die Mittel. Ihre gesamten Ersparnisse hatte sie für Helas Pflege aufgebraucht. Und für die Zahlungen an ihren Onkel, zum Ausgleich für die Zeit, die Hela seine Kinder nicht unterrichten konnte. Sollte sie sterben, würde er die restlichen Schulden jedoch »großzügig« verfallen lassen.

Schließlich gehörten sie zur Familie.

Und so war Zofia nach Paris zurückgekehrt. Sie wollte sich verabschieden. Außerdem würde sie ihre Laboreinrichtung verkaufen. Mit dem Erlös könnte sie Hela weiter pflegen.

Nun klopfte sie an Séverins Tür. Hinter sich hörte sie die eiligen Schritte seines Faktotums. »Mademoiselle Boguska«, zischte er leise, »sind Sie sicher, dass das nicht warten kann? Monsieur Montagnet-Alarie ist äußerst beschäf–«

Da öffnete sich die Tür und Séverin stand plötzlich vor ihr. Er warf seinem Bediensteten einen kurzen Blick zu und der Mann eilte den Flur hinunter. Zofia fragte sich, wie Séverin es schaffte, ohne Worte Befehle zu erteilen. Diese Art Macht würde sie selbst nie besitzen. Aber – sie umfasste ihr Kündigungsschreiben noch fester – wenigstens würde sie jemanden retten, den sie liebte.

»Wie war deine Reise?«, erkundigte sich Séverin und trat zur Seite, um sie einzulassen.

»Lang.«

Jedoch weit weniger schlimm, als sie hätte sein können. Séverin hatte seinem Brief ein Erste-Klasse-Ticket für ein privates Zugabteil beigelegt, sodass sie unterwegs mit niemandem hatte sprechen müssen. Im Abteil hatte es Lampen mit vielen Fransen gegeben und einen einfarbigen Teppich. Sie hatte beinahe die ganze Fahrt damit verbracht, laut Dinge zu zählen. Nicht nur, um sich zu beruhigen, sondern auch, um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, die vor ihr lag.

Abrupt streckte sie Séverin das Schreiben hin. »Ich muss zurück. Meine Schwester braucht mich. Ich kündige. Ich bin nur zurückgekommen, um mich von euch allen zu verabschieden.«

Séverin starrte das Dokument an.

»So wie ich das verstanden habe, wolltest du dir mit dieser Anstellung ein Vermögen aufbauen, mit dem du deiner Schwester das Medizinstudium finanzieren kannst. Ist das nicht länger dein Wunsch?«

»D…doch, aber …«

»Warum solltest du dann kündigen?«

Zofia fehlten die Worte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr Kündigungsgesuch nicht sofort annehmen würde. Immerhin hatte sie momentan nicht einmal eine richtige Aufgabe im L’Éden. Séverin hatte alle Akquisitionsmissionen auf Eis gelegt, nachdem sich die Suche nach dem Schlafenden Palast als fruchtlos erwiesen hatte. Es gab keine Arbeit für Zofia.

»Meine Schwester liegt im Sterben.«

Séverin verzog keine Miene.

»Und deshalb bist du nach Głowno gereist?«

Sie nickte.

»Warum hast du mich belogen?«

Zofia zögerte. Sie dachte an Tristans letztes Lachen und an Helas fiebrig gemurmelte Erinnerungen, an Chanukka gemeinsam mit der Familie, alle um den Tisch versammelt, während die Mutter mit der Schöpfkelle Eintopf verteilte und es nach Kerzenwachs vom Chanukkaleuchter roch.

»Weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte.«

Es gab noch einen weiteren Grund. In Głowno hatte Zofia gerade einen Brief an Laila und Enrique begonnen, da hatte Hela sie zurückgehalten. »Beunruhige sie nicht zu sehr. Nachher machen sie sich nur Sorgen, wer sich um dich kümmern muss, wenn ich nicht mehr da bin.« Was, wenn ihre Schwester recht hatte? Aus Scham, womöglich eine Bürde für die anderen zu sein, hatte sie nicht weitergeschrieben.

In Séverins Gesicht zuckte ein Muskel. Noch immer nahm er das Schreiben nicht entgegen. Zofia dachte daran, wie oft sie ihn Tristans Taschenmesser hatte drehen und wenden sehen, wie oft er vor Tristans Tür verweilte, ohne sie je zu öffnen, oder aus dem Fenster blickte, auf das, was einmal der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Und da kam es ihr in den Sinn. »Du verstehst mich.«

Séverin wandte sich abrupt ab. »Deine Schwester wird nicht sterben. Womöglich braucht sie dich trotzdem, aber ich brauche dich dringender. Es gibt einiges zu tun.«

Zofia runzelte die Stirn. Im ersten Moment fragte sie sich, wie Séverin sich Helas Genesung so sicher sein konnte, im nächsten überkam sie eine Woge der Freude. Ohne ihre Arbeit hatte sie sich rastlos gefühlt. Außerdem war sie nicht dafür geschaffen, Helas Stelle im Haus ihres Onkels zu übernehmen, wo ihr gesamter Lohn von den verbleibenden Schulden aufgezehrt würde.

»Ich habe heute Morgen deine Konten überprüft«, fuhr Séverin fort. »Du hast keinerlei Ersparnisse mehr, Zofia.«

Zofia öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Vor Ärger stieg ihr Hitze in die Wangen.

»Du … Dazu hattest du kein Recht. Das ist privat.«

»Nicht für mich. Begleite mich auf diese Mission und ich verdoppele dein Einkommen. Deine Schwester muss nicht weiter als Gouvernante arbeiten, du könntest in den nächsten Jahren bequem für euch beide sorgen. Ich werde sofort veranlassen, dass man ihr Anteile deines Gehalts schickt. Aber nur unter der Bedingung, dass du nicht nach Polen zurückkehrst. Die zusätzliche Summe bekommst du ausgezahlt, sobald der Auftrag erledigt ist.«

»Und ich … darf ich in der Zwischenzeit nichts von meinem Lohn behalten?«

Das gefiel ihr nicht. Sie musste sich ohnehin schon so sehr auf andere verlassen.

»Ich kümmere mich natürlich um deine Lebenshaltungskosten und um die Ausgaben für das Labor.«

»Was ist mit Goliath?«

Séverin wirbelte herum, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Was soll mit ihm sein?«

Zofia reckte das Kinn. Seit Tristans Tod hielt sie die giftige Vogelspinne sicher und geborgen in ihrem Labor. Nur für die Zeit ihrer Reise hatte sie Enrique darum gebeten, auf das Tier aufzupassen. »Eher lasse ich mich bei lebendigem Leibe verbrennen!«, war seine erste Reaktion gewesen. Dies hatte sich jedoch als Übertreibung herausgestellt, denn nach einer kleinen Bedenkzeit hatte er, wenn auch widerwillig, zugestimmt. Sie stellte sich gern vor, wie sehr Tristan sich darüber gefreut hätte.

»Er braucht auch Geld für Kost und Logis.«

Séverin wandte den Blick ab. »Ich kümmere mich darum. Werden wir uns einig?«

Zofia forschte in seinem Gesicht nach bekannten Mustern und Strukturen. Sie war einst in der Lage gewesen, ihn zu entschlüsseln, vielleicht aber auch nur, weil er es zugelassen hatte. Jetzt war er ein Fremder. Ob das eine der Folgen des Todes nahestehender Personen war? Andererseits hatten Hela und sie den Tod ihrer Eltern erlebt, hatten mit angesehen, wie ihr Zuhause und all ihre Besitztümer in Flammen aufgegangen waren. Trotzdem waren sie sich nicht fremd geworden. Zofia schloss die Augen. Hela und sie. Sie hatten einander. Séverin – selbst wenn er mit Blicken Befehle erteilen konnte – hatte niemanden. Ihr Ärger verrauchte.

Als sie die Augen öffnete, dachte sie an Helas mattes Lächeln. Ihretwegen würde ihre Schwester überleben. Zum ersten Mal verspürte Zofia einen Anflug von Stolz. Stets hatte sie sich auf Hela und so viele andere verlassen müssen. Nun würde sie ihre Schuld begleichen. Vielleicht war sie eines Tages auf niemanden mehr angewiesen.

»Ich werde persönlich veranlassen, dass man mir jede Woche mindestens einen Brief von deiner Schwester übermittelt. Auf meine Kosten«, fügte Séverin hinzu.

Zofia dachte an den Handkuss ihrer Schwester. Fahr ruhig, Zosia.

»Einverstanden.«

Séverin nickte und warf einen Blick auf die Uhr. »Dann geh am besten schon mal in die Sternwarte. Die anderen müssten jeden Augenblick hier sein.«

Séverin

Séverin wusste, dass man sich aller Merkmale, die einen Menschen ausmachten, entledigen musste, wenn man ein Gott werden wollte. Im Gespräch mit Zofia hatte er auch den letzten Funken Wärme in seinem Inneren erstickt und sich direkt etwas weniger menschlich gefühlt. Natürlich könnte er ihr das Geld für die erneute Rückreise in ihre Heimat geben. Tat er aber nicht.

Vor ein paar Tagen war ihm durch den Kopf geschossen, dass sie keinen Grund mehr hätte, nach Polen zurückzukehren, wenn ihre Schwester nicht wäre. Doch so kaltblütig war selbst er nicht. Stattdessen hatte er einen Arzt zum Haus ihres Onkels geschickt. Er versuchte sich davon zu überzeugen, dass das auch viel klüger war. Berechnender. Dass es nichts bedeutete. Und noch während er an dieser Sicht festhielt, musste er an ihre erste Begegnung denken.

Etwa zwei Jahre zuvor waren ihm Gerüchte über eine brillante jüdische Studentin zu Ohren gekommen, die man wegen Brandstiftung und Missbrauchs ihrer Schmiedekunstgabe der Universität verwiesen und ins Gefängnis gesperrt hatte. An dieser Geschichte schien ihm jedoch irgendetwas faul und so hatte er sich von seinem Kutscher zum Frauengefängnis bringen lassen. Zofia war scheu wie ein Fohlen, ihre auffallend blauen Augen wirkten eher animalisch als mädchenhaft. Da er es nicht über sich brachte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, nahm er sie mit ins L’Éden. Wenige Tage später berichtete ihm das Personal, sie schlafe nachts immer mit einem Bündel Laken auf dem Boden statt in dem Bett mit der Decke aus Schwanendaunen. Als er das hörte, wurde ihm warm ums Herz.

Dasselbe hatte er bei all seinen Ersatzvätern getan. Er und Tristan waren nie lange bei einem von ihnen geblieben, daher war es gefährlich, sich zu sehr an etwas zu gewöhnen. Auch wenn es nur ein Bett war. Séverin hatte daraufhin alles aus Zofias Zimmer entfernen lassen und ihr einen Prospekt in die Hand gedrückt. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich aussuchen, was sie davon gern haben wolle. Jedes Stück werde von ihrem Gehalt abgezogen, gehöre jedoch dann ganz allein ihr.

»Ich verstehe dich«, hatte er ihr zugeraunt.

Da hatte Zofia ihm zum ersten Mal ein Lächeln geschenkt.

 

ALSERSICH der Sternwarte näherte, hörte er Klavierspiel. Es war ein beflügelnder Klang, voll der Hoffnung. Wie angewurzelt blieb er stehen. Die Musik war überwältigend, und für einen kurzen, wundersamen Moment schien sie geradewegs von den Sternen zu kommen, wie die sagenhafte Sphärenmusik – der majestätische Rhythmus der kreisenden Planeten. Als sie verstummte, ließ er die angehaltene Luft aus seiner bereits schmerzenden Lunge strömen.

»Nicht aufhören, Hypnos!«, kam es von Laila.

Séverin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade lächelte, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sein Pulsschlag übertönte den Nachhall der Melodie. Zu lächeln fiel ihr leicht. Aber sie hatte schließlich auch nichts verloren. Sie mochte ein wenig enttäuscht darüber sein, dass sie Die Göttliche Lyrik nicht gefunden hatten. Jedoch hatte sie mit dem Buch nur die Neugier hinsichtlich ihrer Vergangenheit befriedigen wollen.

»Seit wann kannst du so gut Klavier spielen?«, fragte sie.

»So gut ist er nun auch wieder nicht«, brummelte Enrique.

Vor zwei Jahren hatte Enrique angefangen, das Klavierspiel zu erlernen. Sehr zum Verdruss aller anderen. Denn kurz darauf donnerten seine »Melodien« durch die Flure. Tristan hatte behauptet, ihm gingen die Pflanzen deswegen ein. Irgendwann hatte Zofia dann »aus Versehen« eine holzzersetzende Lösung über das Instrument geschüttet und seine Übungen damit ein für alle Mal beendet.

Wieder setzte die Musik ein und beschwor weitere Erinnerungen herauf. Séverin krallte die Fingernägel in die Handfläche. Lasst mich in Ruhe, flehte er seine Dämonen an. Sie verschwanden, hinterließen aber den vermeintlichen Duft von Tristans Rosen.

Dieser erinnerungsschwere Geruch brachte ihn ins Straucheln. Gerade noch rechtzeitig riss er den Arm hoch, um sich im robusten Türrahmen abzustützen. Abrupt erstarb die Musik.

Er blickte auf. Hypnos war über das Klavier gebeugt und hatte mitten in der Bewegung innegehalten. Laila saß kerzengerade auf ihrem Lieblingsplatz, der grünen Chaiselongue, Zofia auf ihrem Hocker, eine ungeöffnete Streichholzschachtel im Schoß. Und Enrique schritt nicht mehr auf und ab, sondern war vor seinen Aufzeichnungen zur Göttlichen Lyrik, die am Bücherregal hingen, stehen geblieben.

Vor Séverins innerem Auge schoben sich zwei Bilder übereinander.

Früher. Heute.

Früher hätte es Tee und Butterplätzchen gegeben. Gelächter. Langsam richtete er sich auf, ließ den Türrahmen los und zupfte seine Manschetten zurecht. Herausfordernd sah er die anderen an.

Niemand erwiderte seinen Blick. Bis auf Hypnos.

»Wie ich höre, hast du gute Neuigkeiten für uns, mon cher.«

Séverin nickte steif und deutete auf die Notizen am Bücherregal.

»Bevor ich anfange, fassen wir noch einmal zusammen, was wir bereits wissen …«

Hypnos seufzte. »Muss das sein?«

»Das letzte Mal ist lange her«, sagte Séverin.

»Knapp zwei Monate, um genau zu sein«, gab Laila spitz zurück.

Séverin sah sie nicht an. Stattdessen gab er Enrique ein Zeichen. Für einen Moment starrte Enrique ihn ausdruckslos an, dann begriff er. Er räusperte sich und deutete auf eine Skizze, die ein Hexagramm – das Emblem des Gefallenen Hauses – und eine goldene Honigbiene sowie den Turm von Babel zeigte.

»In den letzten Monaten haben wir versucht, Die Göttliche Lyrik ausfindig zu machen, ein uraltes Buch über das Geheimnis der Schmiedekunst. Mit dem darin enthaltenen Wissen soll man die Babelfragmente zusammenfügen können und – laut dem Gefallenen Haus – zu göttlicher Macht gelangen«, sagte Enrique. Er suchte Séverins Blick, als wollte er sichergehen, dass er auch auf dem richtigen Weg war. Séverin hob die Augenbrauen.

»Äh … zum Buch selbst gibt es nur wenige Informationen«, beeilte er sich zu sagen. »Die meisten davon stammen aus Legenden. Der einzig sichtbare Beleg für die Existenz des Buchs ist die verblasste Schrift auf einem Stück Pergament. Ein Tempelritter soll damals den Titel niedergeschrieben haben. Allerdings fehlen einige Buchstaben …«

Enrique zeigte ihnen eine Abbildung:

DIEGÖTTLICHELYR

 

»Der Überlieferung zufolge gibt es das Buch schon seit der babylonischen Sprachverwirrung«, fuhr er fort. Der altbekannte Glanz der Aufregung trat in Enriques Augen. »Angeblich haben ein paar Frauen die obersten Steine des Turms berührt, wodurch ihnen das Wissen der heiligen Sprache zuteilwurde. Diese Erkenntnisse hielten sie in einem Buch fest und machten es sich und ihren Nachfahren zur Aufgabe, die Geheimnisse darin zu hüten, damit niemand die heilige Sprache dazu missbrauchen könnte, den Turm von Babel wiederzuerrichten. Ist das nicht faszinierend?«

Enrique lächelte, seine Hand flog zur nächsten Skizze, auf der neun Frauen abgebildet waren.

»Man nannte sie die Verlorenen Musen, vermutlich in Anlehnung an die griechischen Göttinnen der Künste und Inspiration. Überaus passend, wenn man bedenkt, dass das Schmieden ebenfalls als göttliche Kunst betrachtet wird. In der Antike hat man den Musen zahlreiche Denkmäler gesetzt.« Er starrte wehmütig auf die Bilder. »Und über Die Göttliche Lyrik wird berichtet, es handele sich dabei nicht bloß um irgendein Buch, das jeder lesen kann, sondern man brauche besondere Fähigkeiten dafür, die ausschließlich an die Nachfahren der Verlorenen Musen vererbt würden.«

»Was für ein Schwachsinn«, spottete Hypnos und schlug wieder und wieder dieselbe Taste auf dem Klavier an. »Die Fähigkeit, ein Buch zu lesen, soll auf eine Blutlinie zurückzuführen sein? So funktioniert Schmiedekunst nicht. Die Gabe wird nicht vererbt. Sonst würde ich eine für die Geistschmiedekunst besitzen.«

»Mythen sollte man nicht rundheraus abtun«, widersprach Enrique leise. »Die meisten Mythen sind nur mit Spinnweben verklebte Wahrheiten.«

Hypnos’ Gesichtszüge wurden weicher. »Oh, aber natürlich, mon cher. Nichts läge mir ferner, als dein Handwerk zu verhöhnen.«

Er warf ihm eine Kusshand zu und Enrique … errötete. Séverin runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Hypnos fing seinen Blick auf und grinste schief.

Offenbar hatte er etwas verpasst.

Rasch lenkte Séverin seine Aufmerksamkeit wieder auf Enrique, der eine vergilbte Karte entrollte. Sie zeigte den südlichen Zipfel des indischen Subkontinents. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Laila sich beinahe wehmütig vorbeugte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.

»Zuletzt befand sich Die Göttliche Lyrik in Pondicherry, Indien«, sagte Enrique. »Laut den Dokumenten des Babelordens schickte man damals jemanden aus dem Orden los, um das Buch zu holen, doch als der Bote dort ankam, hatte bereits jemand das Artefakt im Namen des Ordens an sich genommen …«

»… woraufhin der Diebstahl für knapp zwanzig Jahre unter den Teppich gekehrt wurde und man behauptete, es wäre verschwunden«, fügte Hypnos hinzu.

Enrique nickte. »Dank Roux-Joubert wissen wir aber, dass wir Die Göttliche Lyrik am ehesten im Schlafenden Palast finden … und genau dort endet unsere Spur.« Er sah zu Séverin. »Es sei denn, du konntest tatsächlich in Erfahrung bringen, wie wir zum Palast gelangen.«

Früher war dieser Moment immer der beste gewesen – der Moment, in dem er etwas Neues enthüllte und dabei zusah, wie sich die Überraschung auf ihren Gesichtern abzeichnete. Er hatte mit Vorliebe geheimnisvolle Andeutungen auf ihre nächste Akquisition gemacht. Zum Beispiel hatte er Laila einmal eine über und über mit goldenen Rosen verzierte Torte backen lassen, weil sie kurz darauf in Griechenland nach der Hand des Midas gesucht hatten. Diesmal konnte er ihnen nicht einmal in die Augen sehen.

»Ja«, sagte er daher nur und blieb in der Tür stehen. »Die Koordinaten des Schlafenden Palasts werden nur von einer Tezcat-Brille offenbart, und wo die sich befindet, weiß ich.«

Zofia beugte sich interessiert vor. »Eine Brille?«

Da zerschnitt Lailas Stimme die Luft. »Und woher stammt dieses Wissen?«, fragte sie kühl.

Sie sah ihn nicht an, er sah sie nicht an.

»Von einem Informanten«, gab Séverin ebenso kühl zurück. »Noch dazu hat er mir eröffnet, dass sich der Schlafende Palast irgendwo in Sibirien befindet.«

»Sibirien?«, wiederholte Hypnos. »Dort … da soll es vor Geistern nur so wimmeln.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, als erwartete er, dass ihm sofort jemand beipflichtete. Die anderen starrten ihn jedoch nur mit ausdruckslosen Gesichtern an.

Er setzte nach: »Nun ja, das war noch vor meiner Zeit als Patriarch … Mein Vater erzählte mir, vor Jahren sei dort etwas Eigenartiges vorgefallen. Am Baikalsee soll man schreckliche Laute vernommen haben, geradeso als würden sich einige Mädchen die Seele aus dem Leib schreien. Das nahm derartige Ausmaße an und versetzte die dortigen Einwohner so sehr in Aufruhr, dass die russische Fraktion, Haus Dažbog, den Orden gebeten hat, sich der Sache anzunehmen. Mein Vater sandte daraufhin eine kleine Gruppe von Geistschmiedekünstlern aus. Er wollte herausfinden, ob irgendjemand unter fremdem Einfluss stand. Aber niemand konnte je irgendetwas feststellen.«

»Und dann hörte es einfach auf?«, fragte Laila.

Hypnos nickte. »Letzten Endes ja. Die Ortsansässigen waren überzeugt, dass dort Mädchen ermordet worden seien, aber man fand nie auch nur eine Leiche.« Mit dünner Stimme fügte er hinzu: »Ich hoffe sehr, der Schlafende Palast befindet sich nicht in Sibirien.«

Enrique setzte eine zerknirschte Miene auf. »Ich denke, schon allein der Name bestätigt es uns. Es ist nicht eindeutig geklärt, welchen Ursprung das Wort ›Sibirien‹ hat, aber es klingt verdächtig ähnlich wie das tatarische Wort sib ir für schlafendes Land. Daher auch der Schlafende Palast