Aru gegen die Götter, Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums (Rick Riordan Presents) - Roshani Chokshi - E-Book

Aru gegen die Götter, Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums (Rick Riordan Presents) E-Book

Roshani Chokshi

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Beschreibung

Wer die Götter herausfordert, dem ist echt nicht zu helfen ... Ein Krieg zwischen Göttern und Dämonen droht die Anderwelt ins Chaos zu stürzen. Um das zu verhindern, soll Aru eine Prophezeiung finden, die den Göttern einen entscheidenden Vorteil verschaffen könnte. Doch sie ist zu spät - der weltenverschlingende Schläfer hat sich die Prophezeiung bereits selbst zunutze gemacht! Nun gibt es nur noch eine Hoffnung: Aru muss den sagenhaften Baum der Wünsche finden, um das Unheil abzuwenden … Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin Band 2: Jaguarmagie "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt Band 5: Der Trank der Unsterblichkeit "Tristan gegen die Götter" von Kwame Mbalia Band 1: Mythenweber

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Im Glossar findest du viele nützliche Erklärungen zu Begriffen, die in diesem Buch vorkommen, sowie Hinweise zu deren Aussprache.

 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

 

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2023 Ravensburger Verlag

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel „Aru Shah and the Tree of Wishes“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint der Disney Book Group.

Copyright © 2020 by Roshani Chokshi

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency.

All Rights Reserved.

Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung einer Illustration von Melanie Korte und Bildern von © Katikam/Adobe Stock und © malkani/Adobe Stock

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Katharina Orgaß

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

 

ISBN 978-3-473-51172-3

ravensburger.com

 

Aru gegen die Götter

Die Wächter des Himmelspalasts

Im Reich des Meeresfürsten

Das Geheimnis des Wunschbaums

Die Magie der goldenen Stadt

 

Sikander gegen die Götter

Das Schwert des Schicksals

Der Zorn der Drachengöttin

 

Zane gegen die Götter

Sturmläufer

Feuerhüter

Schattenspringer

 

Ren gegen die Götter

Nachtkönigin

 

Weitere Bände sind in Vorbereitung

 

Für meine Eltern May und Hitesh,die Wert darauf legten, dass wir die „wahrheitsgetreuen“Versionen von Mythen und Märchen kennen.Danke für dieses wundervolle Trauma.Ich habe euch lieb.

Aru Shah ist nicht Spider-Man

Aru Shah hatte einen riesengroßen Donnerkeil. Und sie hätte ihn nur zu gern eingesetzt.

„Tu’s nicht, Shah!“, sagte ihr Freund Aiden eindringlich. „Wenn du die Zielpersonen mit einem Stromschlag aus Vajra umbringst, können wir unsere neue Pandava-Mission vergessen!“

„Reg dich ab.“ Aru gab sich Mühe, cool zu klingen. „Mein Vater ist der Gott des Gewitters. Da werde ich ja wohl mit Elektrizität umgehen können.“

„Gestern hast du mit einer Gabel im Toaster rumgestochert“, hielt Aiden dagegen.

„Aber nur ganz kurz. Außerdem hatte das blöde Ding mein Frühstück gekidnappt.“

Ein Windstoß traf Arus Hinterkopf und sie drehte sich um. Ein großer Adler mit saphirblauem Gefieder kam angeflogen. Als der Vogel landete, verwandelte er sich mit blauem Aufleuchten in Brynne, die Tochter des Windgottes und Arus Seelenschwester.

„Keine Sichtung der Zielpersonen“, meldete Brynne. „Und ich schließe mich Aiden an. Was Elektrizität betrifft, traue ich dir nicht.“

„Mit dir habe ich überhaupt nicht geredet!“, konterte Aru ärgerlich.

„Aber ich habe alles gehört. Ich sage nur: Adlerohren.“

Mini, die Tochter des Todesgottes, stand neben Aiden. Sie drückte ihren Todes-Danda (den sie liebevoll ToDa nannte) an sich und schaute sich immer wieder nervös um. „Bei deinem Gestocher mit der Gabel hättest du dir selber einen Stromschlag holen können“, wandte sie sich vorwurfsvoll an Aru. „Und dann wärst du –“

„Gestorben?“, sagten Aiden, Aru und Brynne wie aus einem Mund.

Mini verschränkte trotzig die Arme. „Eigentlich wollte ich sagen: vielleicht ins Koma gefallen. Oder du hättest einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder Verbrennungen erlitten. Und ja, gestorben wärst du möglicherweise auch.“

Brynne verdrehte die Augen. „Der Toaster ist doch jetzt egal. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Zielpersonen befreien können. Es eilt.“

Die drei Pandavas und Aiden standen vor dem hell erleuchteten Riesenrad im Stadtzentrum von Atlanta. Ringsum ragten die Wolkenkratzer der Skyline auf. Autos schoben sich hupend durch den Feierabendverkehr. Niemand achtete auf die vier Kinder mit ihren magisch leuchtenden Waffen.

Ihr affenköpfiger Lehrer Hanuman und Buh, ihr Mentor in Taubengestalt, hatten ihnen eröffnet, dass in einer der Riesenrad-Gondeln zwei Personen saßen, die Hilfe brauchten. Wie sie aussahen, wussten die Pandavas nicht, aber eine davon hatte seherische Fähigkeiten.

Seit Jahrhunderten wartete die Anderwelt auf die Verkündung einer wichtigen Prophezeiung, die angeblich darüber entschied, wer im Krieg der Devas, der Götter, gegen die Asuras siegen würde. Der aktuelle Anführer der Asuras war der Schläfer. Wobei Prophezeiungen laut Buh so eine Sache waren. Sie offenbarten sich ausschließlich in Anwesenheit bestimmter Personen, meistens jener, auf die sie sich bezogen. Buh war felsenfest überzeugt, dass nur entweder die Pandavas oder aber die Komplizen des Schläfers diese spezielle Prophezeiung hören konnten. Und dass es darauf ankam, dass die gegnerische Seite sie nicht zu hören bekam.

Der Winter ging dem Ende zu. Seit der letzten Mission der Freunde, die sie auf den Grund des Milchozeans geführt hatte, war viel passiert. Inzwischen war Aru vierzehn. Sie war ein Stück gewachsen, so wie auch ihre Haare, die ihr jetzt über die Schultern reichten. Seit Neuestem passten ihr sogar die Schuhe ihrer Mutter (auch wenn sie weiterhin am liebsten barfuß lief). Im schwindenden Abendlicht schimmerten die Blüten der Hartriegelbäume, als hätten sich Sterne an den Ästen verfangen. Die Kirschbäume am Straßenrand warfen schon ihre rosafarbenen Blütenblätter ab und der feuchte Pollenstaub auf dem Boden sah wie Blattgold aus.

„Ich bin alle Gondeln abgeflogen, aber manche sind nicht erleuchtet und verschlossen“, sagte Brynne. „Wieso versteckt sich jemand, der in die Zukunft blicken kann, ausgerechnet auf einem Riesenrad?“

„Und dann noch auf einem, das momentan nicht in Betrieb ist“, ergänzte Aiden.

„Vielleicht, weil er oder sie einen noch besseren Blick haben will?“, entgegnete Mini.

„Egal. Wir müssen das Ding in Gang setzen, damit wir an die verschlossenen Gondeln rankommen“, sagte Brynne. „Wenn ich das Riesenrad mit einem Sturm anschiebe –“

„Dann kippt es womöglich um!“, fiel ihr Aru ins Wort.

„Und wenn du Vajra einsetzt, werden die Insassen womöglich gegrillt!“, konterte Brynne.

„Es muss noch eine andere Lösung geben“, sagte Mini beschwichtigend.

Aiden nickte. „Wenn Brynne das Riesenrad mit ihrer Keule langsam in Bewegung setzt, könnte ich eine Gondel nach der anderen überprüfen und –“

„Für langsam haben wir keine Zeit!“, unterbrach ihn Aru.

„Und wenn wir beide hochklettern und ich die Gondeln mit ToDa checke?“, schlug Mini vor.

„Vergiss es“, erwiderte Aru. „Sehe ich etwa aus wie Spider-Man?“

„Na ja, dein Schlafanzug …“

Brynne schnaubte verächtlich.

„Welcher Schlafanzug?“, wollte Aiden wissen.

„Themawechsel!“, hätte Aru am liebsten gerufen, sagte aber stattdessen rasch: „Meinetwegen versuchen wir’s.“

Brynne grinste breit und hob ihre Windkeule. Gleißend blaues Licht schoss aus der göttlichen Waffe. Metall quietschte und knarrte und das Riesenrad fing gemächlich an sich zu drehen.

„Los!“, kommandierte Brynne.

Das Riesenrad war mindestens sechzig Meter hoch, die Gondeln drehten sich zusätzlich um sich selbst. Als Aru die Stufen zum Podest erklomm, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie zog sich an der untersten inneren Speiche hoch. Weil es vorhin geregnet hatte, waren die Metallstreben glitschig. Unter normalen Umständen hätte Aru niemals in eine derart waghalsige Kletterpartie eingewilligt. Doch ihr Training kam ihr zugute und außerdem waren an den Sohlen ihrer magischen Pandava-Schuhe Saugnäpfe erschienen, die einen Absturz verhinderten.

Die drei Pandavas hatten sich die ganze Woche über auf diesen Einsatz vorbereitet. Ihnen war bewusst, was auf dem Spiel stand. Die Dämonenvorfälle in der Menschenwelt häuften sich zunehmend. Doch derjenige, der hinter dem Ganzen steckte, der Schläfer, war untergetaucht. Er war Arus Vater und sie hätte ihn gern nur als das Monster gesehen, das er eindeutig war. Doch sie musste immer wieder daran denken, wie er sie als Neugeborenes liebevoll im Arm gehalten hatte – auch wenn es vielleicht nur eine Stunde lang gewesen war.

Ihre Konzentration ließ nach, ihre Hand rutschte ab. Als sie nach unten schaute, schlug ihr kalter Wind ins Gesicht. Die Straßenlaternen glichen Lichterketten aus kleinen Sternen, die Baumkronen erinnerten an zerkochten Brokkoli.

„Alles in Ordnung?“, rief Mini. Sie stand auf der Speiche unter Aru.

Ganz ruhig, Shah.

Sie hatten das alles gründlich geübt.

Es war zu schaffen.

„Klar.“ Aru zwang sich zu lächeln und kletterte weiter.

Der nächste kalte Windstoß wehte ihr das Haar in die Augen.

Du kletterst gerade an einem echt hohen Riesenrad hoch, redete sie sich gut zu. So was können nur SUPERHELDEN. Und Ryan Gosling in Wie ein einziger Tag. Aber vor allem Superhelden.

„Superheldinnen!“, korrigierte sie sich halblaut und griff nach der nächsten Metallstrebe.

Dann fing sie leise zu singen an. Die Hände taten ihr weh und sie klapperte mit den Zähnen. Als sie den Kopf wandte, stellte sie fest, dass sie mit den Wolkenkratzern auf Augenhöhe war.

„Singst du?“, fragte Mini verwundert.

Aru verstummte sofort. „Quatsch.“

„Es hat sich angehört wie: Spider-Man, Spider-Man … macht was immer ein Spider-Man macht. Aber so geht der Song gar nicht.“

„Du hast dich verhört, weil dir der Wind um die Ohren pfeift.“

Mini, die gelenkiger war als Aru und Brynne zusammen, überholte sie.

„Ich dachte, du hast Höhenangst“, sagte Aru.

„Hab ich ja auch. Ich habe vor vielem Angst, aber Konfrontationstherapie hilft. Vielleicht gehen wir ja alle zum Fallschirmspringen, wenn ich achtzehn werde.“

„Wir?!“

„Da! Das muss die erste verschlossene Gondel sein.“

Die gläserne Kabine war groß genug für zwei Personen. Anders als die meisten übrigen Gondeln war sie dunkel. Als Aru und Mini bis vor die rote Tür balanciert waren, stellten sie fest, dass sie sich nicht öffnen ließ. Um die Hände frei zu haben, hatte Aru ihren Donnerkeil in ein Armband verwandelt. Jetzt wurde das Armband zum elektrisch geladenen Blitzspeer. Der Strom ließ ihren ganzen Arm kribbeln.

Nicht zu doll, ermahnte sie sich.

Das Schicksal der gesamten Anderwelt hing von ihnen ab. Aru zielte und warf …

Klirr!

Als der Speer die Angeln traf, schwang die Gondeltür quietschend auf. Dahinter war … gähnende Leere. Mini zückte den in einen Taschenspiegel verwandelten ToDa. In dieser Form entlarvte er Trugbilder und Tarnungen.

„Fehlanzeige“, verkündete sie.

Arus Speer kehrte in ihre Hand zurück. „Dann weiter.“

Sie machten kehrt und balancierten zur Nabe des Riesenrads zurück. Dann zogen sie sich auf die Speiche vor der nächsten unbeleuchteten Gondel hoch und tappten sie entlang. Die Saugnäpfe unter Arus Schuhen verursachten schmatzende Geräusche. Wieder öffnete sie mit ihrem Speer die Tür und Mini checkte mit dem Spiegel das Innere der Kabine.

„Auch niemand“, sagte sie enttäuscht.

Mit der dritten dunklen Gondel war es dasselbe. Als die Tür der vierten aufging, wäre Aru vor Schreck fast hintenübergefallen. Ihr baumelte ein Paar Sneaker entgegen, das mit den Schnürsenkeln an einem Sitzgurt festgebunden war.

Doch es war nur ein dummer Scherz, den sich der letzte Insasse der Gondel erlaubt hatte.

Die Tür schwang mit dumpfem Knall wieder zu.

Aru schaute nach oben. Nur noch eine einzige unbeleuchtete Gondel war übrig. Sie bekam Herzklopfen. Als sie die Augen schloss, glaubte sie zu hören, wie ihr die Dunkelheit unausgesprochene Prophezeiungen zuraunte. Die Luft fühlte sich auf einmal kälter und irgendwie aufgeladen an.

„Letzte Chance!“, sagte Aru gedämpft.

Um besser sehen zu können, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, wobei sich ihre Saugnäpfe von der Speiche lösten. Als sie mit dem Speer ausholte, ging plötzlich ein Ruck durch das Riesenrad. Aru verlor den Halt und bekam gerade noch mit einer Hand die nächstbeste Speiche zu fassen. Ihre Füße baumelten in der Luft.

Mini schrie auf und klammerte sich verzweifelt fest.

Von unten meldete sich Brynne telepathisch. Dämonen! Sie haben uns entdeckt. Passt auf euch auf!

Aru tastete vergeblich mit den Füßen umher. Doch als der nächste Ruck durch das Riesenrad ging, gelang es ihr, die Knie um die Speiche zu haken. Sie hievte sich mühsam hoch, dann stand sie auf. Ihre Beine waren wie Gummi, aber ihre Schuhsohlen saugten sich wieder fest.

Sie riskierte einen Blick in die Tiefe … und bereute es sofort. Die Dämonen hatten Mini und sie entdeckt!

„Geht’s wieder?“, rief sie Mini zu. „Wir müssen uns beeilen!“

Mini war sichtlich in Panik, nickte aber. Aru balancierte zur Gondel. Die sah genauso leer aus wie die vorigen, aber die Luft darum herum flimmerte verdächtig. Mini klappte den Taschenspiegel zu.

Hier ist auf jeden Fall jemand, sagte sie telepathisch. Das können nur die Zielpersonen sein. Sollen wir sie warnen, bevor wir die Tür aufbrechen?

Aru schüttelte den Kopf. Vielleicht sitzt der Entführer ja mit drin.

Dann zähle ich bis drei.

Aru nickte.

Eins … zwei … drei!

Aru schleuderte ihren Speer. Er traf die Türangeln und kehrte zu ihr zurück. Als die Tür ächzend aufschwang, kam dahinter ein Gewirr aus schwarzen Schlingpflanzen zum Vorschein, die sich wie lebendige Schlangen wanden.

„Lass die Seherin frei!“, rief Mini. „Und keine faulen Tricks. Wir sind bewaffnet!“

Aru schwenkte ihren Speer und wollte eben anfügen: „Und gefährlich!“, doch da ruckte das Riesenrad wieder und sie brachte nur „Und gefäääähr-aaaah!“ heraus.

Die Schlingpflanzen beruhigten sich. Ein grüner Lichtstrahl drang hindurch, als hätte ein zottiges Monster ein Auge geöffnet.

„Gefäääähr-aaaah? Was soll das denn sein?“, fragte eine helle Stimme verächtlich.

„Bist du die Seherin?“, übertönte Mini den heulenden Wind.

Kurze Stille.

„Kann schon sein.“

Obwohl ihre Saugnäpfe sie sicherten, schwankte Aru hin und her. Als sie die Arme ausbreitete, um das Gleichgewicht zu halten, verwandelte sich der Blitzspeer wieder in das Armband. „Dann komm mit uns, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Wieder Stille.

Dann in überheblichem Ton: „Nein danke. Uns geht’s gut hier.“

„Echt jetzt?! Und dafür sind wir zu euch hochgeklettert? Ihr könntet euch ruhig bedanken! Was wollt ihr eigentlich in der Gondel?“

Hinter dem Lianengewirr wurde getuschelt.

„Wir mussten uns verstecken“, antwortete dann eine zweite, freundlichere Stimme. „Bist du Aru?“

„Äh … ja?“

Die Lianen teilten sich und zwei Mädchen mit brauner Haut kamen zum Vorschein. Sie waren mindestens drei, vier Jahre jünger als Aru und sahen einander zum Verwechseln ähnlich. Die eine trug ein Blumenkleid und darüber einen Blazer aus glänzendem Stoff. In ihrer kunstvollen Flechtfrisur aus zahllosen Zöpfchen steckte ein kleines Diadem. Die andere hatte eine dunkle Jeans und ein Streifenshirt an und trug die Haare in zwei schulterlangen Zöpfen. Aru erkannte die beiden auf Anhieb wieder. Sie hatte sie bereits im Traum gesehen.

„Ihr!“, entfuhr es Mini ungläubig, ehe Aru etwas sagen konnte. „Ich habe von euch geträumt!“

Aru drehte sich verblüfft nach ihrer Seelenschwester um. „Du auch?“

Das Mädchen mit dem Diadem im Haar entgegnete naserümpfend: „Wir haben allen Pandavas einen Besuch abgestattet.“

„Darüber können wir uns nachher unterhalten“, entgegnete Aru rasch. „Jetzt müsst ihr mitkommen.“

Das Mädchen kniff misstrauisch die eisblauen Augen zusammen. „Erst müsst ihr uns befreien. Das hast du doch in deiner Vision gesehen, stimmt’s, Sheela?“

„Mm-hm“, machte Sheela geistesabwesend und zählte an den Fingern ab: Drei, zwei, eins.

„Wer hält euch denn gefa-“, setzte Mini an, doch da schepperte die Speiche über ihnen.

Ein stierköpfiger Rakshasa hing kopfüber davon herab und stieß ein fürchterliches Gebrüll aus. Das Mädchen mit dem Diadem hüstelte und zeigte auf ihn.

„Er hier.“

Meine Schuhe!

Der stierköpfige Rakshasa ließ sich fallen und landete auf der Speiche, auf der die Mädchen standen.

„Die Prophezeiung gehört zum glorreichen Plan des Schläfers“, knurrte er. „Aber wenn ihr mir die Seherin ausliefert, bin ich vielleicht so nett und lasse euch am Leben.“

„Vielleicht?“, gab Aru zurück. „Hört sich nicht nach einem fairen Angebot an.“

Der Rakshasa lachte. „Du hast sowieso keine Wahl, Kleine. Rück die Seherin raus!“

Aru warf unauffällig einen Blick auf ihr magisches Armband. Wenn der Dämon noch ein Stückchen näher kam, dann …

Jemand stöhnte. Es war Sheela. Sie krümmte sich und hielt sich den Bauch. Ihre eisblauen Augen leuchteten auf. „Nikita! Gleich kommt’s!“

Nikita packte ihre Schwester am Arm. „Sicher?“

Sheela zitterte jetzt. „J-ja …“

„Dann halt’s zurück!“

Der Rakshasa grinste hämisch. „Los, sprich! Was siehst du?“

Nein, nein, nein, schoss es Aru durch den Kopf. Er durfte die Prophezeiung nicht hören!

„Sag nichts!“, rief sie Sheela zu.

FESTHALTEN!, kommandierte Brynne telepathisch.

„Festhalten!“, rief Mini den Zwillingen zu und kauerte sich hin.

Mit einer Handbewegung erzeugte Nikita vor der Gondeltür einen Schutzschild aus schwarzen Lianen.

Aru bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Wie hatte Nikita das gemacht?

„Aru!“, schrie Mini.

Eine Windbö drückte Aru gegen die Gondelwand. Schnell hielt sie sich an der nächstbesten Liane fest. Als sie aus dem Augenwinkel tief unter sich die Straße sah, wurde ihr ganz anders. Mini hielt sich an einer Metallstrebe fest und verwandelte ToDa vom Taschenspiegel in den Danda, um ebenfalls einen Schutzschild zu erzeugen. Violettes Licht schoss aus dem Stab, doch der Rakshasa war auf einmal verschwunden.

Der Wind legte sich und Brynne fragte telepathisch: Hab ich ihn weggepustet?

Du hättest beinahe mich weggepustet!, erwiderte Aru.

Ich hatte doch gesagt, dass ihr euch festhalten sollt!

Hab ich ja!

Ein kehliges Knurren ertönte. Aru überlief es eiskalt. Auf der Speiche, auf der Mini und sie standen, erschien eine Reihe Vertiefungen, als würde jemand die Finger hineinkrallen.

Der Rakshasa materialisierte sich wieder. Er hielt sich nur mit einer Hand fest. „Euch werde ich’s zeigen!“

Mit der freien Hand schleuderte er ein s-förmiges Stück Onyx nach Aru. Das Wurfgeschoss verformte sich im Flug. Schwarze Schatten quollen heraus und nahmen Aru die Sicht. Doch als Mini ToDa schwang, vertrieb ein violetter Lichtstrahl die Finsternis. In seinem Schein sah Aru, wie sich ein schwarzer Schattenstrang um Minis Knöchel wickelte und ein zweiter Anstalten machte, unter die Saugnäpfe an ihren Schuhen zu kriechen.

„Pass auf, Mini!“, rief Aru. Sie wollte Vajra aktivieren, doch da stürzte Mini schon schreiend und mit rudernden Armen in die Tiefe. Kurz entschlossen sprang Aru hinterher. Die eisige Luft raubte ihr den Atem.

Über ihnen rief der Rakshasa lachend: „Tschüssi, Pandavas!“

Du bist eben von einem Riesenrad gesprungen – SPINNST DU?, ging es Aru im Fallen durch den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen und ballte die Faust. „Vajra!“

Ihr Handgelenk wurde heiß, als sich das magische Armband löste und sich in ein Hoverboard aus Blitzen verwandelte. Die Luft knisterte elektrisch, das Board schob sich unter Arus Füße. Sie machte die Augen wieder auf und sauste los.

Fünf Meter unter ihr trudelte Mini unaufhaltsam in Richtung Boden. Ihre panischen Gedanken kamen telepathisch auch bei Aru an.

TUT MIR LEID, DASS ICH GESTERN KEINE ZAHNSEIDE BENUTZT HABE. ICH VERGESSE ES NIE WIEDER, VERSPROCHEN! UND IN ZUKUNFT ESSE ICH AUCH IMMER MEIN GEMÜSE AUF! BITTE, BITTE, BITTE –

Schau nach oben!, rief ihr Aru telepathisch zu.

Mini gehorchte und streckte die Hand aus, aber Aru bekam sie nicht zu fassen. Der Boden kam immer näher. Man sah schon die Straßenlaternen und die roten Rückleuchten der Autos.

Aru beschleunigte und das Hoverboard bot seine letzten Reserven auf. Es gelang ihr, Mini zu sich hochzuziehen. Ihre Schwester klammerte sich an sie und das Board sauste wieder am Riesenrad empor.

„Was machen wir denn jetzt?“, rief Mini. „Sheela kann die Weissagung nicht mehr lange zurückhalten und dann war alles umsonst! Der Wächterrat wird –“

Sie schnappte entsetzt nach Luft. Aru folgte ihrem Blick. Der Rakshasa hatte ein riesiges Schwert erscheinen lassen und hackte damit auf die Lianen ein. Wenn er Sheela entführte, war die Anderwelt verloren!

Auf einmal schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen. Aru nahm ihre Umgebung überscharf wahr: das kalte Licht der fernen Sterne, die Hackgeräusche, sogar den metallischen Geruch des Gewitters, das vor ein paar Stunden stattgefunden hatte.

„Ich habe mir etwas überlegt“, wandte sie sich gedämpft an Mini. „Kannst du Sheelas Gondel genauso aussehen lassen wie alle anderen?“

Statt einer Antwort drückte Mini ihre Schulter.

Als Nächstes verständigte Aru Brynne telepathisch: Wir brauchen noch eine Windbö.

Nichts lieber als das!, lautete die freudige Antwort.

Unter ihnen leuchtete es blau auf. Gleichzeitig befahl Mini flüsternd: „Tarnen!“ Die Luft funkelte violett, als würde jemand mit gefärbtem Zucker um sich werfen. Das Riesenrad drehte sich wieder – erst langsam und dann immer schneller, bis die Lichter verschwammen und die Gondel der Zwillinge nicht mehr von den anderen zu unterscheiden war. Der Rakshasa verlor das Gleichgewicht und schlug sich den Stierkopf an, als er über die Speichen in die Tiefe purzelte.

„Fertig machen zum Landen!“, rief Aru Mini zu und ließ das Hoverboard in den Sturzflug gehen. Als sie gelandet waren, kamen Brynne und Aiden sofort angelaufen. Brynne hob ihre Keule wie einen Taktstock und das Riesenrad hielt quietschend an.

Der Rakshasa war ein Stück weiter weg auf den Boden geknallt. Jetzt setzte er sich schwerfällig auf und hielt sich den Schädel. „Netter Versuch“, knurrte er und rappelte sich hoch. „Ich weiß trotzdem, wo die beiden sind.“

Aiden wollte mit seinen Krummsäbeln auf ihn losgehen, aber Brynne hielt ihn zurück. Der Dämon humpelte zur untersten Gondel hinüber. Aru verwandelte das Hoverboard in den Speer und zielte.

Als Mini ihr zunickte, holte sie tief Luft und schleuderte die Waffe auf den Türgriff der Gondel. Als der Rakshasa den Griff packte, bekam er einen Stromschlag. Aufjaulend brach er in die Knie. Nachdem der Speer zu Aru zurückgekehrt war, richteten Aiden, Brynne und Mini ihre Waffen auf den Dämon.

Der Rakshasa drückte den Arm an die Brust. Die Tür der qualmenden Gondel war herausgesprengt, die Kabine dahinter war leer.

„Was habt ihr mit der Seherin gemacht?“, brüllte der Dämon und kam taumelnd auf die Füße. „Ich muss die Prophezeiung haben!“

Er holte wieder mit seiner Onyx-Waffe aus, doch Aru kam ihm zuvor und warf ein Blitzenetz über ihn. Es hüllte ihn von Kopf bis Fuß ein, sodass er auch das Schwert nicht zücken konnte.

„Tja, jetzt sitzt du in der Falle. So ein Pech aber auch“, sagte Mini spöttisch und ließ ToDa kreisen. Ein schimmerndes Kraftfeld umgab den Rakshasa zusätzlich.

„Und dann dieser blöde Wind!“ Brynne schwang ihre Keule und schickte eine eisige Bö in seine Richtung.

„Und zum Schluss fällst du auch noch auf die Schnauze!“ Aiden ließ grinsend einen blau leuchtenden Säbel über den Asphalt schlittern.

Der Rakshasa rutschte auf der Klinge aus, schlug sich den Kopf an einer Telefonsäule an und verlor mit einem letzten Aufbrüllen das Bewusstsein.

Aru, Brynne und Mini ließen die Waffen sinken und liefen zu ihm. Das Netz zog sich noch einmal kräftig zu, bevor es zu Aru zurückkam und wieder zum Armband wurde.

„Das. War. Super!“, sagte Mini.

„Falsch“, entgegnete Brynne. „Wir. Sind. Super!“ Sie deutete mit dem Kinn auf drei weitere bewusstlose Rakshasas, die Aiden und sie schon vorher außer Gefecht gesetzt und an den Straßenrand geschleift hatten.

„Stimmt“, gab Aru widerstrebend zu.

„Äh … war da nicht noch was?“, mischte sich Aiden ein. „Die Seherin? Die superwichtige Prophezeiung?“

Mini zeigte auf die dritte Gondel über der untersten, qualmenden und Brynne setzte das Riesenrad mit einem leichten Windstoß wieder in Gang. Als es anhielt, schwenkte Mini ToDa. Die Luft vor der betreffenden Gondel wellte sich, als würde jemand einen Vorhang beiseiteziehen. Dahinter kam die von schwarzen Lianen überwucherte Glaskabine zum Vorschein, in der es grünlich flackerte.

„Ihr könnt rauskommen!“, rief Aru.

Das grüne Licht erlosch schlagartig. Die Lianen zogen sich leise schmatzend zurück wie feuchte Fangarme. Aru war plötzlich ungeheuer stolz. Sie hatten es tatsächlich geschafft! Sie hatten die Zwillinge befreit, die Dämonen bezwungen und dafür gesorgt, dass der Schläfer die Prophezeiung nicht zu hören bekam. Der Wächterrat würde staunen!

Zwei Tage vor ihrem Aufbruch hatte Aru mitbekommen, wie Buh sie und ihre Freunde energisch verteidigt hatte: „Den Pandavas ist keine Mission zu schwer! Dafür lege ich meinen Flügel ins Feuer!“

Keine Sorge, Buh. Dein Flügel muss nicht verkokeln.

Und als Arus Blick auf ihr Spiegelbild in einer Regenpfütze fiel, fand sie, dass sogar ihre Haare richtig gut aussahen. Noch ein Grund zur Freude.

Aiden kam zu ihr hinüber. Wie üblich hatte er Schattenfell gezückt, seine Kamera. Moment mal … richtete er sie etwa auf Aru?! Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie von tausend glühenden Nadeln gepikt. Das hört sich jetzt vielleicht schmerzhaft an, aber in Wahrheit war es seltsam angenehm. Sie strich sich das Haar hinters Ohr und posierte so, dass Vajra besser ausgeleuchtet war.

„Aru?“, sagte Aiden.

Sie ignorierte ihn.

Der Trick, beim anderen Geschlecht gut anzukommen, bestand darin, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Das hatte ihr Urvashi verraten.

„Aru!“, wiederholte Aiden.

„Hmm?“

„Kannst du kurz weggehen? Dann kriege ich das Riesenrad besser drauf.“

Arus Hochstimmung verflog jäh. Sie trat beiseite und im selben Augenblick öffnete sich die Gondel. Nikita, die stylishere der Zwillinge, kam mit erhobenem Kopf heraus. Sheela wankte hinterher. Ihr Gesicht war blass und schweißbedeckt.

„Schön langsam“, mahnte Mini. „Ihr seid ganz schön durchgeschüttelt worden. Vielleicht wird euch schwindlig. Oder schlecht.“

Sie hielt Sheela hilfsbereit die Hand hin, aber Nikita stellte sich sofort vor ihre Schwester und verscheuchte Mini wie eine lästige Fliege.

„Pfoten weg!“, fauchte sie.

„Wie bitte?“, sagte Brynne empört. „Wir haben euch gerettet!“

Sheela hielt sich wieder stöhnend den Bauch. Sie torkelte auf Brynne zu und blieb dicht vor ihr stehen.

„Kommt was?“, fragte Brynne gespannt. „Ich meine die Prophezeiung.“

„Geh lieber ein Stück zur –“, setzte Aiden an.

BUUÄCH! Sheela kotzte in hohem Bogen auf Brynnes magische Sneaker.

„Äh … zu spät“, konnte sich Aru nicht verkneifen zu sagen.

Aiden machte ein Foto.

Brynne sah aus, als würde sie am liebsten das Riesenrad auf die entgegenkommenden Autos schleudern. „Bist du verrückt geworden? Weißt du nicht, wer wir sind?“, schnauzte sie Sheela an.

„Ihr seid Pandavas“, übernahm Nikita die Antwort und ergriff die zitternde Hand ihrer Schwester. „Wir auch.“

Keine neuen Freundinnen

Aru traute ihren Ohren nicht.

Noch mehr Pandavas? Klar hatte sie gewusst, dass es noch zwei weitere gab – aber mussten sie ausgerechnet jetzt auftauchen?

Buh würde in Ohnmacht fallen, wenn er erfuhr, dass er ab jetzt fünf von ihnen beaufsichtigen musste. Er hatte sich schon beklagt, dass er Nahrungsergänzungsmittel einnehmen müsste, weil sein Gefieder vor lauter Stress vorzeitig grau wurde. Aru hatte ihn darauf hingewiesen, dass er bereits grau war (schließlich war er eine Taube), aber das war gar nicht gut angekommen.

„Hat euch euer Göttervater schon anerkannt?“, erkundigte sich Mini.

„Natürlich nicht.“ Brynne pustete sich mit der Windkeule die Schuhe sauber. „Sonst hätte er die beiden doch mit Waffen oder so ausgestattet.“ Zur Verdeutlichung hob sie ihre göttliche Keule und wandte sich an die Zwillinge: „Hat sich euer Seelenvater überhaupt schon zu erkennen gegeben?“

Nikita und Sheela schüttelten die Köpfe.

„Wie kommt ihr dann drauf, dass ihr Pandavas seid? Vielleicht habt ihr einfach nur übernatürliche Fähigkeiten. Außerdem seid ihr viel zu jung. Und Pandavas mit prophetischen Fähigkeiten kommen in den Legenden nicht vor.“

„Weibliche Pandavas auch nicht!“, konterte Nikita giftig.

„Volltreffer“, entschlüpfte es Aru.

„Also echt, Aru!“, sagte Brynne ärgerlich. „Die beiden sind doch höchstens … acht.“

„Wir sind zehn!“, widersprach Nikita empört.

„Toll.“

Um Nikitas Diadem wanden sich plötzlich blutrote Rosen. Die Dornen zeigten in Brynnes Richtung.

„Okay, okay!“ Aru ging rasch dazwischen. „Lassen wir die piksigen Blumen mal beiseite …“

„Giftige Blumen“, berichtigte Sheela sie und fuhr mit der Hand durch die Luft oberhalb der Rosen.

„Und da gehst du so dicht ran?“ Mini war hörbar entsetzt. „Du könntest –“

„Momentan können wir alle jeden Augenblick sterben“, fiel ihr Aiden ins Wort. „Ob die beiden nun Pandavas sind oder nicht, der Wächterrat wird das schon klären. Viel wichtiger ist doch, was wir mit den Typen machen.“ Er deutete mit dem Krummsäbel auf die vier reglosen Rakshasas.

Aru wurde beklommen zumute. Rakshasas bekamen auch in bewusstlosem Zustand alles mit. Wenn sie die vier laufen ließen, lieferten sie dem Schläfer womöglich entscheidende Informationen. Er durfte auf keinen Fall erfahren, dass sich ihnen zwei weitere mögliche Pandavas angeschlossen hatten. Und schon gar nicht, dass eine davon die Seherin war, die über sein Schicksal entscheiden konnte.

Wieder ließ ein kalter Windstoß Aru frösteln. Inzwischen war es Nacht geworden. Falls der Schläfer seine Krieger zurückerwartete, würde er sich wundern, wo sie blieben.

Oder er würde Verstärkung schicken.

Sie mussten sich entscheiden. Sofort.

„Ich bin dafür, dass wir die Rakshasas in den Himmelspalast mitnehmen“, sagte sie. „Dann kann sich der Rat mit ihnen befassen.“

„Dann würden wir den Feind ja freiwillig auf unser Gebiet lassen!“, wandte Brynne ein. „Vergiss es, Shah.“

„Aber die vier wissen zu viel“, gab Mini zu bedenken.

Brynne brummte nur. „Na gut“, hieß das in Brynne-Sprache.

„Ich bin auch dafür“, sagte Aiden. „Aber wie kriegen wir sie dorthin? Auf dem Nachtbasar herrschen strenge Sicherheitsvorschriften. Weil die Zwillinge noch nicht zwölf sind, dürfen sie ohne Genehmigung der Wächter kein magisches Tor benutzen. Das heißt, wir müssen uns ein magisches Funkloch suchen, und ich habe keine Ahnung, wie weit weg das nächste ist.“

Brynne hielt zwei Finger hoch. „Eins Komma eins fünf Kilometer“, verkündete sie. Als Tochter des Windgottes besaß sie einen untrüglichen Orientierungssinn. „Das sind nur zehn Minuten zu Fuß.“

„Aber in einem magischen Funkloch wird Vajra nicht funktionieren“, gab Aiden zu bedenken. „Und ToDa und deine Gogo auch nicht, Brynne. Du bist zwar echt stark, aber vier ausgewachsene Rakshasas kannst sogar du nicht tragen.“

„Wart’s ab!“ Brynne krempelte die Ärmel hoch.

„Kommt nicht infrage!“, entgegnete Mini energisch. „Du würdest dich bloß überanstrengen und womöglich wachen sie zwischendurch auf.“

Ratlose Stille trat ein. Dann räusperte sich Sheela und tippte ihre Schwester an.

„Verstehe. Ja, das könnte klappen“, sagte Nikita.

Sheela strahlte.

„Ich übernehme.“ Nikita trat einen Schritt vor. Als sie die Hand ausstreckte, strömte grünes Licht aus ihren Fingerspitzen. Der Gehsteig erzitterte, das Unkraut zwischen den Betonplatten spross in die Höhe, wurde dichter und verflocht sich zu vier Kissen. Dann erschienen flaumige Pusteblumen (oder Wunschblumen, wie Aru sie gern nannte) und schwollen zu Rädern an, die sich unter die grünen Kissen schoben. Aus Nikitas Diadem schlängelten sich Lianen, brachen ab und wickelten sich um die vier Rakshasas, sodass sie gefesselt waren. Anschließend zerrten die Lianen die Bewusstlosen auf die vier Rollwagen. Zu guter Letzt wuchs noch aus jedem Wagen eine kräftige, mit kleinen weißen und rosafarbenen Blüten geschmückte Ranke als Zugseil.

„Bitte sehr!“, sagte Nikita selbstzufrieden. „Für sicheren Transport wäre gesorgt. Und hübsch sieht es auch aus.“

Zehn Minuten später machte sich Aru ernsthaft Sorgen um die Einwohner von Atlanta. Kein Passant zuckte mit der Wimper, als die Kinder vier menschenförmige Lianenknäuel durch die Innenstadt zogen.

„Kommt es euch auch komisch vor, dass niemandem etwas komisch vorkommt?“, wandte sie sich an die anderen.

Brynne zuckte nur die Achseln. „Ich bin aus New York. Das ist noch gar nichts.“

„Vielleicht sehen uns die Leute bloß nicht?“, meinte Mini. „Schließlich ist es dunkel.“

„Oder sie wollen uns nicht sehen“, entgegnete Aiden. „Weil sie sich sonst eingestehen müssten, dass es Dinge gibt, die sie bis jetzt nicht für möglich gehalten haben.“

An der nächsten Ecke ließen ein paar Motorradfahrer ihre Maschinen aufröhren.

Aru beschloss, Minis Theorie auf die Probe zu stellen. „Coole Bikes!“, rief sie ihnen zu. „Ich hab ’nen Dämon!“

„Sind wir nicht alle von irgendwas besessen?“, brüllte einer der Typen zurück. Er hatte einen imposanten neongrün gefärbten Schnurrbart. „Schönen Abend noch!“ Er brauste davon.

Aru wollte eben einen Witz über das kleine Geplänkel machen, da sah sie, dass die Zwillinge die Köpfe zusammensteckten.

„Ist schon in Ordnung, Nikki“, sagte Sheela mit gesenkter Stimme.

„Nein!“, widersprach ihre Zwillingsschwester. „Wir wollen das schon so lange und jetzt –“ Sie verstummte und auch die roten Rosen auf ihrem Diadem schlossen die Blüten, als würden sie sich auf die Zunge beißen.

Aru blieb stehen und sah ihre Freunde fragend an.

„Ist dir noch schlecht, Sheela?“, fragte Mini fürsorglich und hielt ihr die Hand hin.

Sheela lächelte überrascht. Dann streckte sie zaghaft ebenfalls die Hand aus, aber Nikita ging dazwischen.

„Ich kümmere mich schon um sie“, fauchte sie.

„Aber Nikki –“

„Nein!“

Aru mischte sich ein. „Ich kann verstehen, dass ihr misstrauisch seid. Aber wir sind auf eurer Seite.“

Sheela strahlte sie an, aber Nikita knurrte: „Das sagen alle.“

Brynne, die weitergegangen war, deutete auf eine Fußgängerbrücke. „Da drunter ist das Funkloch.“

Unter der Brücke war es stockdunkel, aber im Schein einer Straßenlaterne erkannte Aru blaue Plastiktonnen und löchrige Schlafsäcke.

„Äh … hat einer von euch schon Erfahrungen mit magischen Funklöchern gemacht?“, fragte Mini.

„Ich. Ein Mal“, sagte Aiden.

„Stimmt, das habe ich in deinem Traum gesehen“, bestätigte Sheela.

Aru erschrak. Wussten die Zwillinge etwa auch über ihren immer wiederkehrenden Albtraum Bescheid? Den Traum, in dem sie von ihren Schwestern verstoßen wurde?

Doch Sheela schüttelte den Kopf. „Keine Angst, Aiden. Wir verraten niemandem, dass du im Traum –“

KLAPPE!, schoss es Aru durch den Kopf. ICH WILL’S NICHT WISSEN!

„Haben euch eure Eltern nicht beigebracht, dass man nicht petzen soll?“, sagte Brynne barsch.

Sheela erwiderte mit zitternder Unterlippe: „Unsere Eltern sind –“

Doch Nikita warf ihr einen warnenden Blick zu, und ehe Aru nachhaken konnte, sagte Aiden: „Wir können rüber!“

Sie packten die Zuglianen der Rakshasa-Wagen und liefen über die Straße. Im gelben Lichtkreis der Laterne hielten sie an. Etwa anderthalb Meter vor dem Schatten der Fußgängerbrücke war das Licht wie mit dem Messer abgeschnitten. Die Brücke selbst bebte unter der Last der Autos, aber die feuchtkalte Luft darunter roch so muffig, als hätte sich hier schon ewig nichts mehr bewegt. Normalerweise flimmerte vor magischen Toren die Luft oder man spürte ein Vibrieren, als hätte jemand eine unsichtbare Saite angeschlagen. Hier jedoch nahm Aru nichts dergleichen wahr.

Ihr magisches Armband rutschte hin und her, als sei ihm unbehaglich zumute.

„Wir sind ja gleich da“, sagte Aru beruhigend.

Nikita zeigte auf die Liane an Brynnes Rollwagen. „Pass auf, dass sie nicht reißt. Wenn wir drüben sind, kann ich sie nicht mehr flicken.“

Aru drehte sich nach dem ausgeknockten Dämon um, den sie selbst hinter sich herzog. Wie lange würden die Rakshasas noch bewusstlos bleiben?

Als sich die kleine Truppe wieder in Bewegung setzte, verformte sich der lang gestreckte Schatten der Brücke. Er zog sich zu einem Rechteck zusammen, dann löste er sich vom Boden und richtete sich zu einem Tor auf.

Sheelas eisblaue Augen leuchteten. „Lasst uns durchgehen“, sagte sie, aber sie klang ganz seltsam, als hätte sich eine zweite Stimme über ihre eigentliche gelegt. „Jetzt!“

Im magischen Funkloch

Hinter dem Tor sah es völlig anders aus, als Aru erwartet hatte.

„Fast wie auf dem Nachtbasar“, sagte Brynne.

Tatsächlich erstreckte sich hinter dem Schattentor unter der Brücke eine Art Parallelversion der Anderwelt – allerdings wirkte alles so düster und deprimierend wie in einem Weltuntergangsfilm. Ob der Himmel hier genau wie über dem Nachtbasar in Tag und Nacht unterteilt war? Aru schaute nach oben. Nein, es herrschte nur eintöniges, kaltes graues Zwielicht ohne Sterne oder zartes Morgenrot. Aru fröstelte unwillkürlich.

Auf dem Funkloch-Markt herrschte geschäftiges Treiben, allerdings waren die Besucher längst nicht so farbenfroh gekleidet wie die auf dem Nachtbasar. Bei manchen lugten Federn aus dem Ausschnitt oder ihre Hörner waren zu Stümpfen abgesägt, als wollten sie ihre wahre Natur verschleiern. Und alle wirkten bedrückt.

Graue Verkaufsstände mit verschrumpelten magischen Früchten hoppelten durch die Menge. Dazwischen boten Händler ihre Waren feil, zum Beispiel Fläschchen mit trüben Billigträumen. In den Außenwänden der Markthalle gab es eine Menge niedrige, abgeschabte Türen. Nur eine Tür am hintersten Ende stach heraus. Sie bestand aus Stahl und war etwa fünfzehn Meter hoch. Mindestens hundert Leute standen davor Schlange.

„Das ist das Tor zur Anderwelt“, erläuterte Aiden. „Es erkennt von allein, wer hindurchdarf.“

Als die Pandavas näher kamen, sahen sie, dass vor dem Tor ein niedriges Glaspodest aufgebaut war. Es war ungefähr so groß wie ein Esstisch und die Vordersten in der Warteschlange stiegen nacheinander hinauf. Jedes Mal leuchtete das Podest rot auf und die Betreffenden zogen mit noch bedrückteren Mienen als ohnehin schon wieder ab.

„Das Tor spürt, dass es Verbannte sind“, erklärte Aiden.

Ein Stück weiter weg stand ein hellhäutiger Mann in einem weißen Anzug. Er hielt eine Schriftrolle in die Höhe und rief den Wartenden zu: „Tretet näher, ihr Hoffenden, und unterschreibt den Vertrag! Ihr kennt die Gerüchte – uns steht ein Krieg bevor. Die Devas brauchen euch!“ Er vollführte eine schwungvolle Geste. „Es geht nur um ein einziges Jahr eures Lebens. Überlegt es euch! Wer für die Devas kämpft, dem erlauben sie vielleicht, nach Hause zurückzukehren.“

„Alles Schwindel“, sagte Aiden. „Das sind bloß leere Versprechungen.“

„Man kann aus der Anderwelt verbannt werden?“, fragte Nikita erschrocken. „Wieso?“

„Zum Beispiel, wenn man gegen die Schweigepflicht verstößt. Oder sich mit den falschen Leuten einlässt.“ Aiden schaute zu Boden. „Oder sich in die Falschen verliebt.“

Bestimmt sprach er von seiner Mutter Malini. Sie war einst eine Elite-Apsara gewesen, hatte aber durch die Heirat mit einem Sterblichen ihr Anrecht auf die Anderwelt verwirkt. Letztes Jahr hatte sie sich von Aidens Vater scheiden lassen. Aiden fand es schrecklich, dass sie für eine Beziehung, die nicht gehalten hatte, alles geopfert hatte.

Brynne legte ihrem Freund den Arm um die Schultern, drückte aber so fest zu, dass Aiden schmerzgepeinigt das Gesicht verzog. „Komm!“, sagte sie. „Wir müssen uns hinten anstellen.“

Aru zögerte. Die Warteschlange wurde immer länger. „Warum versuchen sie es überhaupt, wenn sie schon vorher wissen, dass sie nicht reinkommen?“

Aiden lächelte flüchtig. „Weil jeder Hoffnung braucht.“

Die sechs liefen ans Ende der Warteschlange und zogen die Rakshasa-Wagen hinter sich her. Das war gar nicht so leicht. Der Boden der Markthalle bestand aus unebenem, gestampftem Lehm und sie mussten im Gedränge ständig ausweichen. Wenigstens achtete auch hier niemand auf sie. Alle hatten genug mit ihrer eigenen Last zu tun, ob sie nun seelisch oder körperlich war.

Schließlich hatten sie das Ende der Schlange erreicht und stellten sich an. Sheelas eisblaue Augen flackerten und sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Ein jäher Magiestoß traf Aru und ließ sie erschauern. Aber wie war das in einem magischen Funkloch möglich? Sheela hütete eine machtvolle Prophezeiung, das schon, aber das hier fühlte sich anders an – als stünde man neben einem sich zusammenbrauenden Sturm.

Auch Nikita spürte es. „Sheela!“ Sie schüttelte ihre Schwester.

Die Magie verflog, als hätte jemand ein Schraubglas zugedreht. Doch auf einmal blickten die stumpfen Augen der verbannten Anderweltler hellwach. Sie drehten sich nach Sheela um und musterten sie argwöhnisch.

„Wir müssen so schnell wie möglich hier weg!“, raunte Aru ihren Gefährten zu. Die Warteschlange schob sich vorwärts, aber für Aru hätte es gern zügiger gehen können.

Mini fühlte ihrem Rakshasa den Puls. „Immer noch bewusstlos, aber nicht tot“, meldete sie.

Und was machen wir, wenn die Dämonen aufwachen, bevor wir in der Anderwelt sind? Aru wurde immer unruhiger.

Aiden vertrieb sich die Wartezeit damit, die Umgebung und die anderen Schlangestehenden zu fotografieren.

„Was soll das?“, fragte ein Paar vor ihnen ärgerlich.

Aiden ließ die Kamera sinken. „Ich arbeite an einer Porträtserie über Ungerechtigkeiten im Universum.“

Die beiden machten erst große Augen, dann stellten sie sich in Positur. „Wenn das so ist …“

„Ich werde auch ungerecht behandelt!“, rief jemand anders. „Mich kannst du auch fotografieren!“

Wieder jemand anders wollte wissen: „Postest du die Bilder auf Instagram?“

Aiden knipste eifrig, aber Sheela konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

„Halte durch. Wir sind gleich da“, redete ihre Zwillingsschwester ihr gut zu.

Dann war nur noch ein Mann vor ihnen. Wie allen anderen wurde ihm der Zutritt verwehrt.

Die Pandavas waren an der Reihe. Als Aru an der Liane ihres Rollwagens zog, machte es Rrrratsch! und die Fesseln des bewusstlosen Dämons lockerten sich.

„Die Pflanzenmagie lässt nach“, stellte Mini bestürzt fest.

Im nächsten Augenblick ging sämtlichen Pusteblumen-Rädern die Puste aus und sie waren platt. Brynne ließ ihren Wagen einfach stehen und wälzte ihren Rakshasa vor sich her.

„Wir müssen die Dämonen auf das Podest legen!“, sagte Aiden eindringlich.

„Aber sie haben doch gar nicht alle gleichzeitig Platz“, wandte Aru ein.

Brynne wuchtete ihren Dämon hinauf. „Wir … tun einfach so … als wären sie … Pfannkuchen!“, schnaufte sie.

Mit Aidens Hilfe stapelte sie die vier Rakshasas übereinander und verschnürte sie mit den dicksten Lianen, die noch nicht gerissen waren. Das Ergebnis sah wie das scheußlichste Weihnachtsgeschenk der Welt aus.

„Wenn wir sie durchs Tor schleifen, müssen wir aufpassen, aber die Ranken müssten eigentlich halten“, setzte Brynne hinzu. Dann erklomm sie den Stapel und stemmte die Hände in die Hüften.

Bloß schade, dass sie nicht „UNTERHALTE ICH EUCH NICHT?“ rief wie Russell Crowe in Gladiator. Aber vielleicht war das jetzt nicht angebracht.

Die anderen Pandavas und Aiden traten einen Schritt zurück. Das Glaspodest leuchtete gelb auf und ein goldener Steg schob sich heraus. Er war ungefähr fünf Meter lang und reichte bis vor das Stahltor. Das grün blinkende Licht über dem Tor bedeutete vermutlich, dass es offen war.

„Und jetzt wir!“, rief Aiden. „Macht schnell!“

Brynne sprang von den verschnürten Dämonen herunter und schleifte sie den Steg entlang. Die anderen stiegen rasch auf das Podest. Als es wieder gelb aufleuchtete, betraten auch sie den Steg und halfen Brynne, die Dämonen weiterzuzerren. Die Zwillinge folgten ihnen, wobei Nikita ihre Schwester stützen musste.

„Zieht!“, kommandierte Aiden.

Die Lianen rissen schon ein. Vielleicht hielten sie ja, wenn sie schneller machten.

Da ertönte aus der Menge hinter ihnen ein lauter Ausruf.

„Das Tor geht gleich auf!“

Die Wartenden stürmten los und versuchten, ebenfalls auf den Steg zu gelangen, doch der hinderte sie mit Stromstößen daran.

In ihrer Verzweiflung klammerten sich die Hoffenden an alles, was sie zu fassen bekamen. Ein Mann packte Aru am Ärmel. Sie konnte ihn abschütteln, indem sie den Arm hochriss – aber dabei riss die Liane in ihrer Hand endgültig durch.

Aiden ließ seine eigene Liane los und lief um den Dämonenstapel herum, um ihn von hinten anzuschieben.

„Zurück! Ihr werdet sowieso nicht durchgelassen!“, rief Brynne der Menge zu.

„Das kannst du gar nicht wissen!“, widersprach eine blasse Frau mit Katzenaugen. „Jeder verdient die Chance, nach Hause zu dürfen!“

Ein anderer Verbannter zerrte an Arus Hosenbein. Sie fiel hin und schlug sich den Kopf an. Als sie sich herumrollte und aufstehen wollte, fiel ihr Blick auf das Gesicht eines bewusstlosen Rakshasas.

Nur … dass er nicht mehr bewusstlos war. Ein rotglühendes Auge starrte sie an.

Der ganze Dämonenstapel fing jetzt an, sich gegen die Fesseln zu wehren. Magische Lianen hätten ihn vielleicht zusammengehalten, gewöhnliche Schlingpflanzen jedoch würden über kurz oder lang nachgeben. Als Aru reflexartig Vajra aktivieren wollte, reagierte die göttliche Waffe nicht. Das Armband um ihr Handgelenk schien in Tiefschlaf gefallen zu sein.

Das Tor war schon ganz nah. Wenn die Pandavas erst in der Anderwelt waren, würden ihre übernatürlichen Fähigkeiten zurückkehren und die Prophezeiung wäre in Sicherheit.

Doch als Aru die Hand nach der Klinke ausstreckte, ließ ein gellender Schrei sie innehalten.

„Dämonen!“

Mit lautem Gebrüll schüttelten zwei Rakshasas ihre Fesseln ab. Die Menge stob auseinander.

„Habt ihr Gören im Ernst geglaubt, ihr könnt uns gefangen nehmen?“, fauchte der eine Dämon, zog ein Messer aus dem Ärmel und ließ es herumwirbeln. Dann musterte er das Anderwelt-Tor finster. „Und uns an diesen abscheulichen Ort entführen?“

„Überlasst uns das Mädel mit der Prophezeiung“, knurrte der zweite Dämon.

„Niemals!“, entgegnete Brynne.

Aru stellte sich rasch vor Nikita, die immer noch ihre Zwillingsschwester stützte. „Lauft durch!“, rief sie ihr zu.

Nikita nickte, doch da fing Sheela krampfhaft zu zittern an und klappte endgültig zusammen. Ihre Augen leuchteten hell und ihre Stimme klang wieder wie zwei Stimmen auf einmal, eine uralte und eine ganz junge, als sie anhob:

„DIE BETROGENEN DIE WELT BEDROH’N,

SIE FORDERN IHREN UNSTERBLICHEN LOHN …“

„Sie spricht! Schnapp sie dir!“, rief der Rakshasa seinem Artgenossen zu.

Aru wollte sich auf die Dämonen stürzen, aber Brynne hielt sie zurück und deutete mit dem Kinn auf die zerrissenen Schlingpflanzen am Boden. Aru und Mini bückten sich und ergriffen das Ende einer Liane, Brynne packte das andere. Dann liefen sie los und brachten die beiden Dämonen mit der Ranke zu Fall.

Als sich die Ungeheuer schwerfällig aufrappelten, holte Mini den Taschenspiegel heraus. Seine Magie war zwar deaktiviert, doch sie fing das Licht damit ein, sodass die Dämonen geblendet wurden.

„Los!“, brüllte Aiden.

Er schnappte sich Nikita und öffnete mit der freien Hand das Tor. Brynne nahm Sheela auf die Arme und Aru ergriff Minis Hand. Der Steg bebte unter ihren hastigen Schritten.

Doch da schnappte Sheela auf einmal hörbar nach Luft. Grelles Licht umfloss sie und ließ sie aus Brynnes Armen in die Höhe schweben.

„Hiergeblieben!“, schrie Brynne.

Sheela schwebte vor dem Tor.

„Na los, Kleine!“, brüllten die Rakshasas. „Verkünde uns die Zukunft!“

Sheelas Kopf fiel in den Nacken.

„DIE BETROGENEN DIE WELT BEDROH’N,

SIE FORDERN IHREN UNSTERBLICHEN LOHN …“

„Wir müssen sie durchs Tor ziehen!“, sagte Aiden.

Aiden und Nikita hielten das Tor auf, Brynne, Mini und Aru bildeten eine Kette. Aru machte einen Satz und bekam Sheelas Fuß zu fassen. Sie zog sie so weit nach unten, dass ihr Mini die Arme um die Taille schlingen konnte. Dann schleifte Brynne alle drei durch das Tor zum Nachtbasar.

Als die Rakshasas hinterherstürmen wollten, drückte Aiden von der anderen Seite gegen das schwere Tor, während Mini, deren Danda jetzt wieder funktionierte, die verbliebene Öffnung mit einem Kraftfeld versperrte. Auch Vajra erwachte wieder zum Leben. Aru schleuderte den Donnerkeil nach einem Dämon und traf ihn vor die Brust. Aufheulend taumelte das Ungeheuer zurück.

Doch es war trotzdem zu spät.

Aru lief es kalt den Rücken hinunter, als der vollständige Wortlaut der Prophezeiung aus Sheela herausbrach.

„DIE BETROGENEN DIE WELT BEDROH’N,

SIE FORDERN IHREN UNSTERBLICHEN LOHN.

EIN SCHATZ IST NICHT ECHT, ABER NOCH VOR ORT,

DER ANDRE WOMÖGLICH FÜR IMMER FORT.

AUCH EINER SCHWESTER IST NICHT ZU TRAU’N,

DOCH IM HERZEN DES GANZEN IST DER BAUM.

OHNE IHN KANN MAN IM KRIEG NICHT OBSIEGEN,

WER IHN NICHT FINDET, MUSS UNTERLIEGEN.

IN NUR FÜNF TAGEN WIRD ER VERGEH’N,

UND ALLER GEWINN IST DANN UNGESCHEH’N.“

Vajra kam zu Aru zurück. Das Stahltor fiel zu. Wieder nicht schnell genug.

Aru sah den Rakshasa breit grinsen. „Danke schön, Kinder!“, rief er höhnisch und machte einen Freudensprung.

Dann schloss sich das Tor.

Schlimmer, als zum Schulleiter zu müssen

Die Zeit schien sich zu verlangsamen.

Ihre Mission war gescheitert.

Der Wächterrat hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Die Komplizen des Schläfers durften die Prophezeiung auf gar keinen Fall hören. Aru war ganz elend zumute.

Aus dem Augenwinkel sah sie etwas leuchten. Es waren die Schnürsenkel ihrer Spezialsneaker. Na super. Wenn die Schnürsenkel flackerten, hatten die Wächter sie geortet und jemand war auf dem Weg zu ihnen.

„Was machen wir denn jetzt?“, jammerte Mini.

„Wir sind nicht allein schuld.“ Brynne drehte sich zu Sheela um. „Warum konntest du die Prophezeiung nicht noch ein paar Sekunden zurückhalten?!“

Nachdem Sheela die Weissagung ausgesprochen hatte, war sie erneut zusammengebrochen.

Nikita half ihr gerade, sich aufzusetzen. „Alles okay?“

Sheela sah sich benommen um, dann gähnte sie laut und strahlte in die Runde. „Mir geht’s viel besser!“

Brynne verlor die Beherrschung. „Besser? Ist dir nicht klar, was du angerichtet hast?“

Aiden legte ihr die Hand auf den Arm. „Ganz ruhig, Brynne.“

Sheela legte blinzelnd den Kopf schief. „Äh … nein?“

„Und was ist mit der Prophezeiung?“, knurrte Brynne.

„Ach, das meinst du!“, sagte Sheela. „Ich bin ein bisschen kosmische Energie losgeworden und jetzt ist alles wieder im Lot. Die Zukunft zu kennen, ist manchmal, wie wenn man zu viel gegessen hat. Man bekommt Bauchweh und muss sich hinlegen. Aber ich hab’s noch mal hingekriegt.“

„Von wegen!“, fauchte Brynne.

Sheela sah sie verständnislos an.

„Sie hat das doch nicht mit Absicht gemacht!“, nahm ihre Schwester sie in Schutz und half ihr aufstehen. „So läuft das mit ihren Prophezeiungen immer.“

„Ein Pandava muss sich stets und ständig im Griff haben“, konterte Brynne. „Aber vielleicht seid ihr eben doch keine Pandavas.“

„Wie meinst du das?“ Jetzt wurde auch Nikita sauer.

„Ist doch klar“, sagte Sheela gelassen. Anscheinend war sie nicht so gekränkt wie ihre Zwillingsschwester oder zeigte es nicht.

„Wie auch immer“, mischte sich Aiden ein, „auf jeden Fall war alles umsonst.“

Mini stupste Aru an. „Mach doch was!“

Nikita streckte die Hand aus. Schwarze Lianen sprossen aus ihrem Handgelenk, wickelten sich um Brynnes Knöchel und rissen sie zu Boden.

„Du kleines –“ Brynne schwang ihre Keule. Ein Windstoß schleuderte Nikita nach hinten.

„Hört auf!“, rief Aru.

Doch Nikita stürmte schon wieder auf Brynne zu. Vielleicht wollte sie ihrer Gegnerin die Waffe entreißen, vielleicht war sie auch gestolpert, auf jeden Fall berührten sich die Hände der beiden. Ein Knistern wie von einem kaputten Radio ließ Aru innerlich vibrieren. Der Himmel riss auf. Zwei breite Lichtstrahlen, ein grüner und ein silberner, trafen die Zwillinge und entführten sie in die Luft.

In den Wolken konnte Aru die Umrisse zweier Götter ausmachen. Sie hatten Pferdeköpfe und beugten sich vor, als würden sie die Pandavas über den Rand einer riesigen mit Sonnenlicht gefüllten Schüssel beobachten. Nikita schwebte in dem grünen Leuchten zu dem linken Gott empor. Er war von rosigem Morgenlicht umflossen, vom verheißungsvollen Strahlen des neuen Tages. Sheela wurde von dem silbernen Leuchten zu dem Gott rechts emporgetragen. Ihn umgab der feuerrote Widerschein des Sonnenuntergangs. Dahinter erahnte man das geheimnisvolle Funkeln nächtlicher Sterne.

Nikitas und Sheelas Seelenväter waren die Ashvin-Zwillinge. Damit waren die Mädchen Reinkarnationen ihrer mythischen Söhne Nakula und Sahadeva. Diese beiden waren ebenfalls Zwillinge und für ihre Schönheit, ihre Meisterschaft im Reiten und Bogenschießen sowie ihre Klugheit bekannt. Außerdem waren sie die Ärzte der Götter. Hanuman, der ein Halbgott war und eine Leidenschaft für Wrestling hegte, schaute oft in ihrer Praxis vorbei, wenn ihm mal wieder das Kreuz wehtat.

„Man muss sich um seinen Körper kümmern“, pflegte er zu sagen. „Man hat nur den einen.“

„Stimmt das denn?“, hatte ihn Aru mal gefragt. „Ich meine, Arjuna wird schließlich andauernd wiedergeboren. Da hat er inzwischen doch mindestens fünf Körper gehabt!“

Hanuman hatte das gar nicht lustig gefunden.

Nikita und Sheela schwebten wieder abwärts. Anders als Mini, Brynne und Aru hatten sie keine göttlichen Waffen erhalten. Dafür trug jeder Zwilling jetzt etwas Kleines, Leuchtendes am Hals, das dort festgewachsen zu sein schien. Bei Nikita war es ein grünes Herz, bei Sheela ein silberner Stern.

Nikita landete und ging – nein, schritt triumphierend – auf Brynne zu. „Also gut“, sagte sie herablassend. „Ich nehme deine Entschuldigung an.“

„Ich habe mich doch gar nicht entschuldigt!“

„Wahrscheinlich hast du mich in diesem Outfit einfach nicht als Pandava erkannt.“

Als Nikita ihr Kleid berührte, wanden sich blühende Jasminzweige um den Stoff und bildeten eine Art Reifrock mit einer prächtigen Schleppe. Um ihren Hals spross ein hoher Kragen aus duftigen rosafarbenen Azaleenblüten. Sie funkelte Aru, Mini und Brynne vernichtend an.

Aru schaute an ihrem eigenen langärmligen grünen T-Shirt mit dem Schriftzug NÖ! und ihrer Jeans herunter. Mini war wie üblich von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet („weil Schwarz nicht so schnell dreckig wird“) und Brynne trug einen kurzen blauen Jumpsuit, der ein bisschen wie eine Schürze aussah und auf den HANGRY gestickt war.

„Dafür schreckt eure Kleidung Feinde ab“, sagte Sheela höflich.

„Danke“, erwiderte Aru ironisch. „Jungs dann vermutlich auch.“

Sheela befühlte den Stern an ihrem Hals. Dass ihr Vater sie anerkannt hatte, schien sie nicht aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet. Immerhin konnte sie in die Zukunft blicken.

Verstand sie ihre eigene Prophezeiung eigentlich? Okay, die Komplizen des Schläfers hatten sie auch gehört, aber wenn Aru und ihre Freunde die rätselhaften Worte deuten konnten, wären sie trotzdem im Vorteil.

Besonders eine Zeile beschäftigte Aru. Auch einer Schwester ist nicht zu trau’n …

Welche Schwester war damit gemeint? Was sollte es bedeuten, dass man ihr nicht trauen durfte? Und warum hatte Sheela dabei Aru angeschaut, als könnte sie in sie hineinsehen und hätte etwas Bedrohliches entdeckt?