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Wer die Götter herausfordert, dem ist echt nicht zu helfen ... Eine Unheilsbotschaft versetzt die Anderwelt in Aufruhr: Pfeil und Bogen des Liebesgottes sind verschwunden! Und ausgerechnet Aru wird beschuldigt, sie gestohlen zu haben! Um ihre Unschuld zu beweisen (und ganz nebenbei das Universum zu retten – schon wieder!), macht sie sich auf die Suche nach dem Dieb. Die Spur führt Aru in ein magisches Unterwasserreich – und zu einer legendären Schatzkammer. Kann sie die göttlichen Waffen dort aufspüren? Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin Band 2: Jaguarmagie "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt Band 5: Der Trank der Unsterblichkeit "Tristan gegen die Götter" von Kwame Mbalia Band 1: Mythenweber
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Seitenzahl: 412
Im Glossar findest du viele nützliche Erklärungen zu Begriffen, die in diesem Buch vorkommen, sowie Hinweise zu deren Aussprache.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2023 Ravensburger Verlag
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „Aru Shah and the Song of Death“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint der Disney Book Group.
Copyright © 2019 by Roshani Chokshi
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency.
All Rights Reserved.
Übersetzung: Katharina Orgaß
Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung einer Illustration von Melanie Korte und Bildern von © Katikam/Adobe Stock und © malkani/Adobe Stock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51157-0
ravensburger.com
In der Reihe „Rick Riordan Presents“ sind erschienen:
Zane gegen die Götter
Sturmläufer
Feuerhüter
Schattenspringer
Sikander gegen die Götter
Das Schwert des Schicksals
Aru gegen die Götter
Die Wächter des Himmelspalasts
Im Reich des Meeresfürsten
Das Geheimnis des Wunschbaums
Ren gegen die Götter
Die Fortsetzung zu
Zane gegen die Götter
erscheint ab Herbst 2023!
Für meine Großeltern,
Vijya, Ramesh, Apolonia und Antonio,
die so viel auf sich nahmen, als sie die Meere überquerten.
Ich habe euch lieb.
Aru Shah hatte einen riesengroßen Donnerkeil. Und sie hätte ihn nur zu gern eingesetzt.
Aber dann wären die Zombies auf sie aufmerksam geworden, die über den Nachtbasar streiften.
„Heute ist ein ätzender Samstag!“ Mini drückte ihre göttliche Waffe wie ein Kuscheltier an sich.
Arus Seelenvater war der Donnergott. Er hatte ihr einen Donnerkeil geschenkt, der Vajra hieß. Minis Seelenvater war der Todesgott und sein Geschenk an seine Tochter war ein magischer Danda-Stab namens ToDa.
Die beiden Mädchen kauerten unter einem Verkaufstisch vor den Kühlschränken mit Eis und gefrorenen Träumen. Die panischen Anderweltbewohner ließen ihre Tüten und Taschen fallen und rannten schreiend davon. Nur ein stierköpfiger Rakshasa zog einem Zombie ein Netz Tomaten über den Schädel.
Aus dem Lautsprecher an der Decke blökte es: „ACHTUNG, ACHTUNG! UNGEBETENER DÄMONENBESUCH! BITTE VERLASSEN SIE DEN NACHTBASAR. ACHTUNG, ACHTUNG …“
Aru musste sich schwer beherrschen, nicht aufzuspringen. Doch sie waren nicht zum Kämpfen hergekommen. Sie waren auf der Suche nach der Diebin, die den Anderwelt-Alarm ausgelöst und wahrscheinlich auch die Zombies hereingelassen hatte.
Blöderweise war die Diebin gleichzeitig eine ihrer Pandava-Schwestern.
Das bedeutete, dass sie – genau wie Aru und Mini – die Reinkarnation eines der fünf sagenhaften, zur Hälfte göttlichen Brüder aus der Hindu-Mythologie war. Vor ein paar Stunden hatten Aru und Mini schon einen kurzen Blick auf sie geworfen. Das Mädchen hatte einen großen goldenen Bogen samt Pfeil bei sich gehabt und Buh (Arus und Minis Freund und Helfer in Taubengestalt) hatte verkündet: „Das war eure Schwester.“
„Aru!“, zischte Mini.
„Pssst! Sonst entdecken uns die Zombies!“
„Äh … schon passiert.“
Zwei bleiche Hände packten den Tisch und warfen ihn um. Helles Sonnenlicht und gleißendes Mondlicht ergossen sich auf die Mädchen, denn der Himmel über dem Basar war in eine Tag- und eine Nachthälfte unterteilt. Weil Aru geblendet die Augen zusammenkniff, konnte sie das Gesicht des Zombies nicht richtig erkennen. Der Zombie brach ein Tischbein ab („HAST DU SIE NOCH ALLE?“, zeterte der Tisch) und schwang es drohend.
Doch Aru hatte ihren Donnerkeil und wusste sich zu wehren.
Sie schleuderte Vajra wie einen Speer. Die Waffe schlug dem Zombie das Tischbein aus der Hand. Als er zurücktaumelte und gegen einen Kühlschrank stieß, hagelten Eispackungen auf ihn herab.
„Schnell weg!“, rief Mini.
Vajra kehrte in Arus Hand zurück und sie rannte los.
Der Nachtbasar war in hellem Aufruhr. Die Zombies kippten einen Verkaufsstand nach dem anderen um. Die meisten Budenbesitzer ergriffen die Flucht, aber die Waren wehrten sich nach Kräften. Ein Stand mit magischen Blumen ließ seine Halloween-Kürbisse explodieren und in der Abteilung für Küchenbedarf prügelten Holzlöffel auf die Angreifer ein. Als ein paar Zombies ein Gefäß mit Glasperlen ausleerten und vergnügt auf dem Inhalt herumschlitterten, schnauzte sie ein Yaksha an: „ERST BEZAHLEN! ABER GLAUBT NICHT, DASS IHR SAMSTAGSRABATT KRIEGT!“
„Er verfolgt uns!“, rief Mini warnend.
Tatsächlich kam der Zombie, der den Tisch umgeworfen hatte, mit langen, staksigen Schritten hinter ihnen her und schubste dabei die lebendigen Einkaufswagen weg, die aufgescheucht durch die Gänge sausten.
„Warum laufen Zombies eigentlich immer so komisch?“, fragte Aru. „Ist das Vorschrift oder was?“
Rasch verwandelte sie Vajra in ein Blitzenetz. Doch als sie es über den Zombie warf, glitt es von ihm ab. Hatte sie im Laufen schlecht gezielt? Das Netz hatte seine Wirkung noch nie verfehlt! Es kehrte zu ihr zurück und verwandelte sich in ein Armband um ihr Handgelenk.
Vor den Kühltruhen mit Pizzas und magischem Allerlei hielt Mini an, weil eine Schar Einkaufswagen sich ängstlich aneinanderdrängte und ihnen den Weg versperrte.
„Da!“, rief sie.
Am Ende des Ganges erspähte Aru das fremde Pandava-Mädchen. Die Diebin. Sie hatte die Gestalt eines blauen Riesenwolfs angenommen, trug Pfeil und Bogen im Maul und flüchtete.
„Halt! Bleib stehen!“, rief Mini.
Doch sie konnten die Verfolgung nicht aufnehmen. Vor ihnen fauchten die Einkaufswagen wie zornige Raubkatzen, hinter ihnen kam der Zombie immer näher.
„Kannst du uns nicht unsichtbar machen?“, wandte sich Aru an Mini. „Dann können wir uns vielleicht an dem Typen vorbeischleichen.“
In der Pandava-Ausbildung hatte Mini gelernt, mithilfe von ToDa einen Tarnschild zu erzeugen, der einen unsichtbar werden ließ. Leider beherrschte sie den Trick noch nicht richtig. Trotzdem führte sie den Stab im Bogen durch die Luft und schuf ein violett leuchtendes Kraftfeld um sich und Aru, das aber sofort flackernd wieder erlosch.
Die Pandava-Diebin war weg.
Hinter Aru und Mini knurrte es dumpf. Aru drehte sich um und verwandelte ihr Armband wieder in den Donnerkeil. Der hochgewachsene Zombie war schon ganz nah heran. Sein langer weißer Kittel stand offen, die unbekleidete Brust lag frei. Über seine Herzgegend zogen sich blasse Narben. Aber nicht wie von einer Verwundung, sondern eher wie ein Spinnennetz aus Raureif, das über die Haut kroch. Noch verstörender waren die emaillierten Knöpfe des Kittels. Sie hatten die Form von Zähnen und auf der Brusttasche prangte ein gestickter Schriftzug:
Dr. med. dent. Ernst Warren
SCHÖN WEIT AUFMACHEN!
„Ist das ein Zombie-Zahnarzt?“, fragte Aru erstaunt.
„Meine Tante ist Zahnärztin“, entgegnete Mini. „Ein seelenloser Beruf, sagt sie immer.“
„Dann passt das ja.“
Was der Zombie offenbar als Beleidigung auffasste, denn er stürzte sich mit kehligem Gebrüll auf die Mädchen.
Doch Arus und Minis wochenlange Pandava-Ausbildung war nicht umsonst gewesen. Blitzschnell stellten sie sich Rücken an Rücken hin und zückten ihre Waffen. Als der Zombie sie packen wollte, schlug ihm Mini mit ToDa die Füße weg. Er fiel hin und Aru verwandelte Vajra in ein Seil, das ihn an Händen und Füßen fesselte.
Mini strahlte Aru an, doch dann wurde ihr Blick plötzlich panisch.
„Ganz ruhig“, sagte Aru. „Zwei gegen einen hat doch super geklappt.“
„Und was ist mit zwei gegen zwanzig?!“
Hinter den verwüsteten Auslagen und Ständen kamen mindestens zwanzig Untote hervor. Alle trugen die gleiche ausdruckslose Miene zur Schau, ihre offenen Kittel entblößten frostige Spinnennetze über der Herzgegend. Ihr gefesselter Kollege streifte das magische Seil ab und es kehrte zu Aru zurück.
Minis nächstes Kraftfeld erlosch genauso schnell wie das erste. „Unsere Waffen funktionieren nicht!“, sagte sie verzweifelt.
Aru hätte ihr gern widersprochen, aber leider hatte Mini recht. Wie konnte das sein? Nichts kam gegen göttliche Waffen an – außer andere göttliche Waffen.
Als ein Schatten über sie hinwegglitt, blickten die Mädchen auf. Es war Buh. Er trug ein graues Fläschchen in den Zehen.
„Das sind meine Pandavas!“, herrschte er die Zombies an.
Er ließ das Fläschchen vor den beiden Mädchen auf den Boden fallen, wo es zersprang. Grauer Rauch quoll aus den Scherben und nahm den Zombies die Sicht. Buh drehte bei und rief Aru und Mini zu: „Schnell – lauft hinter eurer Schwester her!“
Tolle Schwester!, dachte Aru. Sie hat uns das Ganze doch erst eingebrockt!
„Und was ist mit dir, Buh?“, fragte Mini hastig.
„Macht euch um mich keine Sorgen. Ich bin eine große, gefährliche Taube. Sucht eure Schwester!“
Aru schwang das magische Seil wie ein Lasso und fing einen Einkaufswagen ein. Er fauchte wütend und stellte sich auf die Hinterräder, konnte sich aber nicht befreien. Rasch kletterten Aru und Mini hinein.
„Hüh!“ Aru benutzte das Seil als Zügel.
Der Einkaufwagen schnaubte, dann preschte er los. Mini lehnte sich heraus und stieß einen großen Kistenstapel um, damit die Zombies aufgehalten wurden.
„Bis ich das von meinem Taschengeld abbezahlt habe, dauert es Jahre!“, rief sie Aru über die Schulter zu.
Aru lenkte den Wagen nach rechts, dorthin, wo das Pandava-Mädchen verschwunden war. Am Ende des Ganges führte ein unbefestigter Weg zu einem Stadion. Hier trainierten die übrigen Anderwelt-Schüler manchmal. Allerdings hatten Aru und Mini sie noch nicht kennengelernt. Aru stellte sich gern vor, dass Mini und sie gesondert unterrichtet wurden, weil sie Pandavas waren. Mini dagegen vermutete, dass sie Förderunterricht bekamen, weil ihnen die anderen weit voraus waren.
Als sie im Stadion ankamen, prügelten sich dort zwei Mädchen um einen goldenen Bogen samt Pfeil. Das eine Mädchen war die Gestaltwandlerin von vorhin. Sie hatte braune Haut und glänzende braune Haare. Außerdem war sie ungewöhnlich groß, aber nicht schlaksig, sondern kräftig gebaut. An den muskulösen Armen trug sie mehrere Metallarmreifen übereinander.
Und das andere Mädchen? Als Aru noch einmal hinsah, blieb ihr die Spucke weg.
„Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Mini.
Das andere Mädchen war …
Aru.
„Bist du das?“ Mini klang verwundert und leicht verunsichert.
Die echte Aru zeigte empört auf die falsche Aru. „Ich würde niemals eine Jeansjacke zu einer Jeans anziehen.“
„Stimmt.“ Mini schob ihre heruntergerutschte Brille hoch.
Das Pandava-Mädchen war ungemein reaktionsschnell. Aru wurde beim Zuschauen ganz neidisch. Sie wich den Hieben ihrer Gegnerin geschickt aus und landete selbst immer wieder gut gezielte Schläge. Schließlich verwandelte sie sich in einen riesigen blauen Jaguar (unfair!) und sprang die falsche Aru an. Doch die beförderte die Raubkatze mit einem Schwinger gegen die Stadionwand. Der Jaguar blieb reglos liegen und verwandelte sich mit blauem Aufblitzen in das Mädchen zurück.
Schwer atmend hob die falsche Aru Pfeil und Bogen auf und schnippte mit den Fingern. Die Zombies, die immer noch den Nachtbasar zerlegten, hielten wie auf Kommando inne.
Aru traute ihren Augen nicht. Die Monster gehorchten der falschen Aru?
„Offenbar ist sie eine Rakshasi“, sagte Mini im Flüsterton.
In der Ausbildung hatten sie gelernt, dass manche Rakshasas – mythische Wesen mit Tierköpfen – sich als Götter, Dämonen oder Menschen tarnten. Als Arus offenbar auch. Aber warum wählte eine Rakshasi ausgerechnet ihre Gestalt?
„Wer sich so anzieht, gehört garantiert zu den Bösen“, erwiderte Aru.
Vajra verwandelte sich aufblitzend in den Donnerkeil und ToDa wurde zum violetten Speer. Doch als Aru und Mini auf die falsche Aru losgehen wollten, flammte grellweißes Licht auf und ließ sie zurückweichen.
Die falsche Aru drehte sich nach der echten um und zeigte ihr triumphierend den Stinkefinger. Das war nicht nur dreist, sondern versetzte auch die Zombies wieder in Angriffsmodus. Noch ein weißes Aufflammen und die falsche Aru verschwand mit Pfeil und Bogen, hinterließ aber ein Abschiedsgeschenk.
Hohe Flammen loderten rings um Aru und Mini auf. Schwarzer Rauch verdeckte die anrückenden Zombies.
„Hilf uns, Buh!“, schrie Mini.
Doch keine Taube erschien am Himmel. Und das fremde Pandava-Mädchen war immer noch bewusstlos.
Da spürte Aru über sich den Luftzug gewaltiger Schwingen. Vier Wächter – die himmlischen Beschützer der jeweiligen Pandava-Generation – kamen vom Himmel herabgeschwebt. Aru atmete auf, ärgerte sich aber gleichzeitig. Hätten die Wächter nicht früher eingreifen können?
Der Affengott Hanuman erschien in riesenhafter Größe. Seine Wangen wirkten verdächtig aufgebläht. Die hinreißende Apsara Urvashi trug ein schwarzes Tanktop mit der Aufschrift: TANZEN IST MEINE SUPERKRAFT. Zwei weitere Mitglieder des Wächterrates folgten den beiden: ein Riesenbär mit einer Krone auf dem Kopf und eine finster blickende alte Frau, die von der Hüfte abwärts eine Schlange war. Die Alte war fast noch gruseliger als die Zombies.
„SCHIRMT EUCH AB!“ Plötzlich war Buh wieder da.
Rasch warf Aru ein großes Netz über Mini, sich selbst und – auch wenn sie es eigentlich nicht verdient hatte – das ohnmächtige fremde Mädchen. Anschließend erzeugte Mini ein Kraftfeld, das alle drei umgab und diesmal zum Glück hielt. Im nächsten Augenblick prasselten dicke Wasserstrahlen wie aus Feuerwehrschläuchen auf den Flammenkreis nieder. Das Wasser kam aus Hanumans Maul. Anscheinend hatte er einen ganzen See ausgeschlürft. Das Feuer erlosch zischend.
Als sich der Dampf verzog, erwartete Aru, scharenweise pitschnasse Zombies zu erblicken, sah aber nur die traurigen Überreste des Nachtbasars. Stände und Regale lagen in Trümmern, der Nachthimmel hing in Fetzen. Ein paar Budenbesitzer kündigten lautstark an, sich an ihre Versicherungen wenden zu wollen.
Die Zombies waren wie vom Erdboden verschluckt.
„Das war schrecklich“, sagte Mini hustend.
„Stimmt. Die Monster …“
„Und der Qualm erst!“ Mini kramte ihr Asthmaspray aus dem Rucksack. „Ich war schon kurz vor einem Anfall.“
„Aber wieso?“
„Na ja, die Luft strömt in der Lunge durch feine Röhrchen. Sie heißen Bronchiolen und bei Asthma sind sie dauerentzündet, was dazu führt, dass –“
„Ich meine nicht dein Asthma, sondern die Zombies! Wo sind sie auf einmal hin? Können sich so viele Untote einfach in Luft auflösen?“
Mini hustete wieder. „Wenn sie einen Befehl befolgen, schon. Zum Beispiel den Befehl eines magischen Bogens.“ Sie deutete mit dem Kinn auf das nunmehr waffenlose Pandava-Mädchen.
Als Aru und Mini zu dem Mädchen hinliefen, landeten hinter ihnen die Wächter.
Aru kniete sich neben die Bewusstlose und rüttelte sie unsanft. „Wach auf!“
Mini fasste nach dem Handgelenk des fremden Mädchens und sah auf die Armbanduhr. „Der Puls ist bei siebzig und kräftig. Sehr gut.“
Das Mädchen blinzelte erst und riss dann die braunen Augen weit auf.
„Setz dich schön langsam hin“, mahnte Mini mit ihrer besten Ich werde mal Ärztin-Stimme. „Du hast dir den Kopf angeschlagen. Kannst du scharf sehen?“
Wieso ist sie so nett zu jemandem, der uns den ganzen Samstag ruiniert hat?
„Ich sehe alles wunderbar“, sagte das Mädchen grimmig. „Vor allem die Diebin vor mir. Gib mir sofort mein Eigentum zurück!“
„Die Diebin bist ja wohl du!“, konterte Aru. „Aber die Rakshasi, die wie ich ausgesehen hat, hat deine Waffen mitgenommen. Ich bin nämlich die echte Aru, damit das klar ist. Oder trage ich Jeans plus Jeansjacke?“ Sie zeigte auf ihre Kleidung.
Das Mädchen schlug nach ihren Händen. Die Berührung durchzuckte Aru wie ein Stromstoß.
Dann wirbelte ein Windstoß die lose Erde auf und entführte das Mädchen in die Lüfte.
Wenn Aru so etwas passiert wäre, hätte sie um Hilfe gerufen, aber das fremde Mädchen lächelte bloß und breitete die Arme aus. Würde sie jetzt verkünden: „Alle werden mich lieben und verzweifeln?“ Aber vielleicht kannte sie die Herr der Ringe-Filme ja nicht.
Hellblaues Licht umwogte sie und über ihrem Kopf drehte sich plötzlich eine Fahne, das Attribut des Windgottes Vayu. Sehr eindrucksvoll, das musste sogar Aru zugeben. Und die fremde Pandava schien nicht mal überrascht, dass ihr Vater sie anerkannt hatte! Sie zuckte nicht mit der Wimper, als der Wind sie wieder absetzte und ein blau leuchtender großer Knüppel, der an die Keule eines Steinzeitmenschen erinnerte, neben ihr zu Boden fiel. Sie hob die Waffe einfach auf, schwang sie über die Schulter und kam zurückgestapft.
Wieso legt ihr Seelenvater ihr seine Gabe einfach so zu Füßen? Mini und Aru hatten erst das ganze Totenreich durchqueren müssen, bevor sich die Gaben ihrer Väter in etwas Brauchbareres als einen Tischtennisball und einen Taschenspiegel verwandelt hatten.
Total ungerecht!
Erst jetzt nahm Aru wahr, dass sie Publikum hatten. Am Rand des Nachtbasars drängten sich Standbesitzer und Kunden und verfolgten gespannt das Geschehen.
Mini stellte sich vor Aru und hob beschwichtigend die Hände. „Jeder kann sich mal irren. Trotzdem haben wir dir das Leben gerettet. Warum bist du dann jetzt sauer auf uns?“
Das Mädchen blieb nicht stehen. „Logisch bin ich sauer! Ihr habt mir Pfeil und Bogen geklaut. Wo sind sie?“ Ihr Magen knurrte vernehmlich. „Außerdem hab ich Hunger“, setzte sie hinzu.
„Vielleicht bist du unterzuckert“, sagte Mini. „Das passiert schnell und dann ist man total reizbar. Willst du ein Snickers?“ Sie holte einen Riegel aus dem Rucksack und hielt ihn der Pandava hin.
Aru war froh, dass der Windgott seine Tochter ein gutes Stück von ihr und Mini entfernt abgesetzt hatte. Trotzdem traf die beiden eine Bö, als das fremde Mädchen die Keule jetzt wie einen Baseballschläger schwang. Obwohl sich Aru und Mini sofort breitbeinig hinstellten, wurde Mini hochgehoben und weggetragen. Das Snickers fiel ihr aus der Hand und sie protestierte: „Aber ich hab dir doch was Süßes angebooooten!“
Zum Glück ließ die Bö sie nach ein paar Metern wieder fallen und sie landete auf dem Hintern.
„Sie hätte sich sonst was brechen können!“, wandte sich Aru ärgerlich an die Pandava.
„Na und?“, gab die Tochter des Windgotts patzig zurück.
Vajra wurde zum Blitzschwert mit knisternder Klinge.
„Willst du mir drohen, Diebin?“
„Die Diebin bist du!“
Hanuman und Urvashi kamen angelaufen. „Friedlich, Kinder!“
Ein Zuschauer rief: „Hurra, Zickenkrieg!“
Ein anderer forderte: „Pack sie bei den Hörnern!“
„Sie hat doch gar keine Hörner“, wandte jemand Drittes ein.
„SCHLUSS JETZT, BRYNNE!“, donnerte Hanuman. „Sonst sag ich’s Vater.“
„LEG DAS SCHWERT WEG, ARU!“, gellte Buh.
Im nächsten Augenblick riss ein Wirbelwind Aru in die Höhe. Sie ruderte hilflos mit den Armen und schaute nach unten, was ein Fehler war. Die anderen waren so klein wie Ameisen.
Dann stürzte sie in die Tiefe. Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, bekam sie noch mit, wie zwei gewaltige Hände sie packten.
Als Aru wieder zu sich kam, schwebte sie in einer Glaskugel zwischen den Wolken. Dann riss der Himmel unter ihr auf und ihr wurde flau im Magen. Hunderte Meter unter sich erblickte sie die farbenfrohen (wenn auch verwüsteten) Buden des Nachtbasars und die letzten Rauchschwaden, die von dem gelöschten Feuerkreis aufstiegen. Über ihr war nur Himmel. Hanuman hatte sie in die Glaskugel gesperrt wie einen ungezogenen Hamster ins Laufrad.
Dann bin ich jetzt eben ein Hamster, dachte sie trotzig.
Sie begann, auf der Stelle zu laufen. Vielleicht würde sich die Kugel ja fortbewegen. In der Ferne grollte Donner. War das ein Tadel ihres Göttervaters?
„Brynne hat aber angefangen!“, rief sie laut.
Es donnerte wieder. Als würde jemand entgegnen: „Sicher?“
Als der Wind eine große graue Wolke zerstreute, erblickte Aru zwei weitere schwebende Kugeln. In der einen hockte Mini im Schneidersitz und las ein Buch. Als sie Aru entdeckte, winkte sie ihr zu. Brynne war in der anderen Kugel eingeschlossen.
„Lasst mich raus!“, brüllte sie, aber es klang dumpf. Als sie mit der Faust gegen die Kugelwand schlug, bekam das Glas Sprünge.
Was du kannst, kann ich auch, dachte Aru und hämmerte auf ihre Kugel ein. Ein stechender Schmerz schoss ihren Arm hoch. „AUA, AUA!“, jammerte sie und rieb sich die Hand.
Mini zog nur kopfschüttelnd die Augenbrauen hoch.
Aru besann sich auf die telepathische Verbindung mit ihrer Seelenschwester. Doch diesmal spürte sie noch eine zweite Verbindung. Die zu Mini war glatt und weich wie Samt, die andere rau und stachlig. Es musste die Gedankenverbindung zu dem fremden Mädchen sein. Aru würde den Teufel tun, sich mit ihr zu verständigen!
Hast du das gesehen?
Dass du dir fast die Hand gebrochen hättest? Ja.
WIE HAT SIE DAS GEMACHT?
Vielleicht ist sie ja die Reinkarnation von Bhima dem Starken. Dann kann sie sogar Eisenstangen zerbeißen. Wobei das gefährlich sein kann, wenn man nicht gegen Tetanus geimpft ist.
Bhima der Starke war der zweitälteste Pandava-Bruder und ein Sohn von Vayu … Brynne wäre dann Hanumans Halbschwester. Das würde auch seine Warnung erklären: „Sonst sag ich’s Vater.“
Als ihr Seelenvater sie davongetragen hatte, war Brynne kein bisschen überrascht gewesen. Sie wirkte so selbstbewusst wie eine echte Pandava. Und sie kämpfte wie eine voll ausgebildete Heldin.
Wieder packte Aru der Neid. Dann fiel ihr etwas ein. Bevor sie ohnmächtig geworden war, hatte sie eine kühle Hand auf der Stirn gespürt und jemand hatte in ihren Erinnerungen geblättert wie in einem Stapel Karteikarten.
Wer war das gewesen?
Sie ließ sich auf den Boden der Hamsterkugel sinken. Mini kam nicht infrage. Trotz ihrer Pandava-Verbindung konnte Aru sie jederzeit von ihren Gedanken ausschließen. Aber vorhin war jemand gewaltsam in ihr Hirn eingedrungen und Aru hatte sich nicht dagegen wehren können. War das etwa Brynne gewesen?
Mini zeigte jetzt nach unten und bewegte die Lippen: Guck runter!
Unter ihnen hatte sich der Wächterrat im sogenannten Himmelspalast versammelt. Der Wolkenboden des prächtigen Saales war geädert wie Marmor. Es gab einen Halbkreis aus goldenen Thronsesseln und einen runden Tisch, der in der Mitte schwebte. Aru stand wieder auf und lief so lange auf der Stelle, bis ihre Kugel näher heran war. Jetzt konnte sie einigermaßen verstehen, was die Wächter redeten.
Wie üblich waren nicht alle anwesend. Die schöne Urvashi trank einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche, die aber, wie Aru durch das durchsichtige Plastik erkannte, statt Wasser offenbar Sonnenschein enthielt. Neben ihr hockte Buh auf der Lehne seines Thronsessels. Hanuman war im eleganten weißen Smoking gekommen und auf dem vierten Thron saß der Bärenkönig Jambavan. Seine Krone schien aus funkelnden Sternen zu bestehen.
Wer auf dem fünften Thron Platz genommen hatte, konnte Aru nicht erkennen, weil ihr eine Wolke die Sicht nahm. Doch als sie von innen gegen die Kugel stieß, bewegte die sich ein Stück und Aru erblickte die alte Naga-Frau.
Die meisten Anderweltgeschöpfe besaßen ewige Jugend oder alterten zumindest superlangsam. Die Nagini jedoch hatte runzlige braune Haut und ihre eingefallenen Lippen wirkten so verkniffen, als hätte sie vergessen, wie man lächelte. Der Tisch verdeckte ihren Unterkörper, aber Aru hatte ja schon gesehen, dass sie zur Hälfte eine Schlange war. Auf dem Kopf trug sie ein kostbares Diadem aus Mondsteinen und Aquamarinen. Was gut passte, denn Nagas waren Schatzhüter. Seltsam nur, dass in der Mitte ihrer Stirn kein großer Edelstein prangte.
„ … ein ernssstes Vergehen!“, sagte die Nagini zischelnd. „Pfeil und Bogen stammen aus dem Naga-Schatz! Nur jemand mit außergewöhnlichen Kräften schafft es, sich an Takshaka vorbeizuschleichen. Zum Beispiel ein Pandava. Takshaka ist zwar blind, aber ihm entgeht nichts.“
Die Nagini deutete auf den Naga-Mann, der neben ihrem Thron stand. Er wirkte zugleich jugendlich und Ehrfurcht gebietend alt. Sein braunes Gesicht und die Brust waren voller Brandnarben, die Augen milchig weiß. Auf seiner Stirn schimmerte ein dunkelblauer Edelstein. Angeblich waren die Edelsteine auf der Stirn der Schlangenwesen auch irgendwie der Sitz ihres Herzens. Umso merkwürdiger, dass auf der Stirn der alten Nagini nur eine vertiefte weiße Narbe zu sehen war.
„Das Mädchen wurde mit Kamadevas Pfeil und Bogen gesehen“, fuhr die Nagini fort. „Sie muss zur Rechenschaft gezogen werden.“
Kamadeva … Deva bedeutete Gottheit. Demnach waren Pfeil und Bogen göttliche Waffen. Kein Wunder, dass Vajra und ToDa vorhin versagt hatten. Göttliche Waffen konnten nicht gegeneinander kämpfen. Am liebsten hätte Aru Brynne zugerufen: „Geschieht dir ganz recht, dass du Ärger kriegst!“
„Aru hat nichts damit zu tun“, sagte Buh.
Moment mal, wieso ich?!
Brynne futterte in ihrer Glaskugel das Snickers, das Mini ihr gegeben hatte. Sie grinste Aru schadenfroh an, doch das Grinsen erlosch, als sie hörte, was die Nagini entgegnete.
„Aru kann sehr wohl etwas dafür und Brynne genauso. Beide wurden mit den gestohlenen Waffen gesichtet.“
„Von wem denn, bitte schön?“, konterte Buh. „Der ganze Nachtbasar war magisch verräuchert. Ich wette, eine Rakshasi steckt hinter der Sache. Immerhin war die Diebin eine Gestaltwandlerin. Das ist gerade dir sicher nicht entgangen, oder, Königin Ulupi?“
Ulupi? Aru kannte den Namen aus dem Mahabharata, dem alten Sanskrit-Epos über den Krieg zwischen den Pandavas und ihren Cousins. Ulupi war nicht nur eine legendäre Schlangenprinzessin, sondern auch eine der Gemahlinnen des Pandava-Bruders Arjuna. Nach seinem Tod in der Schlacht hatte sie ihn wieder zum Leben erweckt, hieß es. Was danach aus ihr geworden war, wusste Aru nicht.
Du warst seine Lieblingsgemahlin. Ich muss es wissen, denn seine Seele lebt in mir weiter, hätte sie gern gerufen. Da willst du mich doch bestimmt nicht umbringen!
Doch Ulupis Liebe zu Arjuna erstreckte sich anscheinend nicht auf seine Reinkarnationen.
„Ich bleibe bei meiner Meinung“, erwiderte die Schlangenkönigin barsch. „Und von dir lasse ich mir gar nichts sagen, Subala! Dein Spitzname war einst ‚Meisterbetrüger‘, stimmt’s? Jetzt, wo der Schläfer erwacht ist und ein Heer um sich versammelt, sollten wir vielleicht mal überprüfen, ob du den Devas wirklich treu ergeben bist.“
Buh gurrte beleidigt und Aru und Mini sprangen in ihren Kugeln empört auf. Buh zu verdächtigen, war unfair. Einst war er der hinterlistige Shakuni gewesen, der König von Subala, aber er hatte seine Taten bereut und war Aru und Mini stets ein treuer Freund gewesen.
Hanuman peitschte mit dem Schwanz. „Deine letzte Bemerkung war unsachlich, Ulupi. Abgesehen davon hatten die jungen Pandavas bei mir Unterricht, als der Alarm losgegangen ist. Sie können Pfeil und Bogen gar nicht gestohlen haben.“
Der Naga-Mann ergriff das Wort. „Wir haben erst Alarm geschlagen, als wir den Diebstahl entdeckt haben, nicht, alsss er stattgefunden hat. Ebensssogut könnte dein angeblicher Unterricht ein Alibi für die beiden sein.“
Hanuman wollte etwas entgegnen, doch Ulupi ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Takshaka hat recht. Die Lage ist verzwickt. Bis jetzt ist es keinem von uns gelungen, den Schläfer zu orten. Dabei ist er eindeutig für die sich häufenden Dämonenvorfälle verantwortlich. Vielleicht ist der Dieb von Kamadevas Waffen ja sein Komplize. Und dass die Pandavas auf unserer Seite sind, steht keineswegs fest. Wenn der unvermeidliche Krieg ausbricht, wird nichts mehr so sein, wie es scheint. So wurde es vorausgesagt.“
„Die Pandavas erwachen nur, wenn Gefahr droht“, hielt Hanuman mit seiner Bassstimme dagegen. „Und sie sind auf jeden Fall auf unserer Seite.“
„Ach ja?“, kam es von Takshaka. Als er die blinden Augen auf Aru richtete, wurde ihr beklommen zumute. Würde er gleich verkünden, dass alles ihre Schuld war? Aru hatte den Schläfer seinerzeit aus der Lampe im Museum befreit. Und als sie Gelegenheit gehabt hatte, ihm den Garaus zu machen, hatte sie ihn entkommen lassen. Er war weiterhin auf freiem Fuß und verfolgte seinen Plan, die Götter zu stürzen.
Trotzdem konnte sie nicht nachvollziehen, wie die Wächter auf die Idee kamen, dass Mini und sie ihnen womöglich feindlich gesinnt waren. Normalerweise verbrachten sie die Samstage gemütlich zusammen auf dem Sofa. Diesen Samstag jedoch hatten sie sich zum Nachtbasar aufgemacht und gegen eine Horde durchgeknallter Zombie-Zahnärzte gekämpft. War das jetzt der Dank?
Urvashi hob die Hand und drehte sie hin und her. Aru wurde durchgeschüttelt, als ihre Kugel mit einem Ruck in den Sinkflug ging.
„Lass gut sein, Ulupi“, sagte die schöne Nymphe. „Alle anderen verbürgen sich für die Mädchen. Außerdem hast du ihre Gedanken gelesen, sodass –“
„Ich hab’s versucht“, fiel ihr Ulupi ins Wort. „Bei Pandavas ist das nicht so einfach. Ich hatte nur teilweisen Zugriff und bin nicht überzeugt, dass sie unschuldig sind.“
Aru wurde heiß und kalt. Es war Ulupi gewesen, die in ihrem Hirn gewühlt hatte! Hatte die Nagini etwa auch mitbekommen, dass sie neulich vor dem Badezimmerspiegel „Thriller“ gesungen und dazu wie Michael Jackson getanzt hatte?
„Wie gesagt, ich bleibe bei meiner Meinung“, sagte Ulupi verkniffen.
Urvashi sah wütend aus, doch sogar sie wagte es nicht, sich der Schlangenkönigin zu widersetzen.
„Außerdem gibt es ja noch einen anderen Zeugen“, schob Ulupi nach.
Über Takshakas Gesicht huschte ein Schatten … oder bildete sich Aru das nur ein? Während ihre Kugel tiefer sank, schaute sie sich suchend im Himmelspalast um. Zum Glück entdeckte sie nirgends einen magischen Screenshot von ihrem Tanz vor dem Spiegel. Einen zweiten Zeugen allerdings auch nicht.
Die Glaskugel landete auf einem elastischen Nebelteppich und verpuffte. Damit Aru nicht abstürzte, erschienen Wolkenpantoffeln an ihren Füßen. Auch die beiden anderen Kugeln verpufften und gaben Mini und Brynne frei.
Brynne sah jetzt nicht mehr schadenfroh aus. Eher bestürzt. Sie starrte Aru an, als wäre ihr plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.
„Ihr seid die anderen Pandavas?“, fragte sie ungläubig.
„Ta-daaaa!“, machte Aru spöttisch.
„Aber ich habe doch gesehen, wie du Pfeil und Bogen geklaut –“
„Und ich habe gesehen, wie du mit Waffen durch die Gegend gelaufen bist, die garantiert nicht deine eigenen waren!“
„Soll das heißen, dass ich eine Diebin bin?“
„Ich bin jedenfalls keine!“
Brynne musterte Aru von oben bis unten, dann grinste sie wieder. „Das glaube ich dir sogar. Die Diebin, mit der ich gekämpft habe, hatte eine Pandava-Ausbildung. Du siehst mir nicht so aus.“
Hallo?!
„Wir sind ausgebildet“, widersprach Mini.
„Und zwar zum Töten!“, setzte Aru rasch eins drauf.
„Stimmt.“ Mini machte einen Schritt auf Brynne zu, stolperte aber. Ohne Wolkenpantoffeln wäre sie kopfüber abgestürzt. So schwankte sie nur hin und her wie ein Blatt im Wind.
Brynne verdrehte nur die Augen. „Huh – jetzt hab ich aber Angst.“
„Achtung!“, zischte Buh. Alle drei drehten sich um. Der Tisch war verschwunden, die Thronsessel bildeten jetzt einen Halbkreis um die drei Mädchen. Aru war froh, dass sie diesmal nicht im Schlafanzug war. Allerdings wäre es ihr lieber gewesen, ihr Rucksack wäre nicht knallviolett und darauf stünde nicht in Großbuchstaben HAKUNA MATATA!
„Unser Urteil ist gefällt“, sagte Ulupi.
„Wartet doch mal …“, fing Aru an, doch Takshaka peitschte mit dem Schlangenschwanz und zischte: „Etwasss mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“
Sogar Buh warf Aru einen strafenden Blick zu. Ihr schoss das Blut in die Wangen und sie machte sich ganz klein. Als sie zu der Nagini hinüberschielte, hatte sich Ulupi auf ihrem smaragdgrünen zusammengeringelten Schwanz wie auf einem Kissen niedergelassen.
„Der Diebstahl und die Entweihung von Kamadevas Pfeil und Bogen werden ernste Konsequenzen für die irdische Welt haben“, begann die Schlangenkönigin.
Klar doch, dachte Aru verächtlich. Alle werden „Zombie-Apokalypse!“ schreien und durchdrehen. Dann wird das Internet zusammenbrechen und das ist dann wirklich der Weltuntergang.
„Wer die Waffen entwendet hat, entführt immer mehr Menschen und verwandelt sie in die Wesen, denen ihr vorhin begegnet seid.“
Das hatte Aru nicht erwartet. Die Zombies waren Entführungsopfer?
„Wenn niemand die Waffen zurückholt, müssen die Betroffenen auf immer und ewig Herzlose bleiben.“
Herzlose? Aru schluckte und dachte an die Narben auf der Brust der Zombies. Hatte man ihnen etwa …?
Ulupi sprach weiter. „Die Pandavas müssen ihre Unschuld beweisen.“ Als sie sich vorbeugte, funkelte ihr Diadem so gleißend, dass Aru die Augen zusammenkneifen musste. „Hiermit seid ihr dazu verurteilt, Pfeil und Bogen innerhalb von zehn Tagen nach irdischer Zeitrechnung wieder zurückzubringen. Wenn ihr scheitert, hat das seinen Preis. Dann werden alle eure Erinnerungen an die Anderwelt gelöscht. Ihr werdet vergessen, dass ihr Pandavas wart, und eure Pandava-Seelen schlummern wieder ein. Obendrein werdet ihr aus der Anderwelt verbannt. Für immer.“
Aru stockte der Atem.
Erinnerungen gelöscht …
Keine Pandavas mehr …
Für immer verbannt …
Wenn sie die Waffen nicht zurückbrachten, mussten sämtliche in Herzlose verwandelten Menschen Zombies bleiben! Ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Und wenn die aktuellen Pandavas verbannt wurden, wer sollte dann den Schläfer aufhalten?
Mini schien genauso geschockt zu sein. Aru kam noch ein schrecklicher Gedanke. Wenn sie alles vergaßen, würde sie sich nicht mal mehr an Mini erinnern! Überhaupt würde alles, was sie erlebt hatte, erbarmungslos gelöscht. Ihre magischen Fähigkeiten, das Gefühl, zum ersten Mal irgendwo dazuzugehören … Bloß weil ihnen Ulupi nicht glauben wollte.
Das durfte nicht passieren!
Das Vajra-Armband knisterte elektrisch und ein heißer Druck in der Brust nahm ihr den Atem. Buhs Thron hatte sich inzwischen in einen schwebenden goldenen Ast verwandelt. Von dort aus winkte er ihr hektisch mit den Flügeln, als wollte er sagen: „Tu’s nicht!“ Aru ignorierte die Warnung. Sie machte den Mund auf …
Doch jemand kam ihr zuvor.
„Spinnt ihr?“, sagte Brynne.
Sie hatte Tränen in den Augen und war kreidebleich.
„Das ist nicht witzig. Es ist meine Aufgabe, in der Anderwelt für Recht und Gesetz zu sorgen“, gab Ulupi eisig zurück.
Die übrigen Wächter machten ernste Gesichter. Obwohl Aru stinkwütend war, spürte sie, dass Ulupi aus ihrem Amt keine persönliche Befriedigung zog.
Nur Takshakas Mundwinkel kräuselten sich belustigt. „Finden die Pandavas Königin Ulupi grausam?“, sagte er. „Ihre Stimme hat den Ausschlag dafür gegeben, dasss ihr eure Unschuld beweisen dürft. Das Foto des Zeugen konnte mich nicht täuschen.“ Seine gespaltene Zunge schnellte in Brynnes Richtung. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hinterlistig Asura-Abkömmlinge sein können, selbst wenn sie gleichzeitig Pandavas sind.“
Brynnes Unterlippe zitterte, doch sie riss sich zusammen und funkelte den Schlangenkönig böse an.
Brynne hatte also ein Asura-Erbteil. Darum konnte sie auch die Gestalt wechseln. Das beherrschten nur Asuras und Rakshasas. Diese Wesen waren nicht zwangsläufig böse, aber auch nicht unbedingt vertrauenswürdig. Aru hatte schon öfter erlebt, dass Anderweltbewohner ihnen gegenüber argwöhnisch oder offen feindselig waren.
Aber wenn Brynne tatsächlich die Diebin war, würde sie sich dann jetzt so aufregen? Und die falsche Aru war wirklich sehr überzeugend gewesen. Auch wenn Aru (die echte) es sich ungern eingestand, es war möglich, dass Brynne nur die echte Diebin hatte überwältigen wollen.
Doch als Aru diese Überlegungen telepathisch Mini mitteilte, antwortete die nur kurz und knapp: Ich glaube nicht, dass sie die Diebin ist.
„Keine Sorge, Pandavas“, fuhr Takshaka fort. „Wenn ihr scheitert, kommen neue Krieger nach. So wichtig seid ihr nicht.“
So wichtig seid ihr nicht, hallte es in Arus Ohren wider. Sie war nicht so wichtig …
„Du irrst dich!“, entgegnete sie.
Mini schniefte und nickte bestätigend. „Wir werden es euch zeigen!“
Ulupi musterte die Mädchen, als sähe sie die drei zum ersten Mal. Ihr Blick blieb an Aru hängen und sie sagte: „Eine sonderbare Wahl für die Reinkarnation einer derart imposanten Seele.“ Es klang so müde, als sehnte sie sich schon seit fünftausend Jahren nach einem Nickerchen. „Mein Urgroßenkel ist so alt wie du.“
Aru riss verblüfft die Augen auf.
Vielleicht war das verkehrt, denn Ulupis Miene verdüsterte sich.
„Was ist?“, fauchte sie. „Hast du gedacht, bloß weil mein Sohn mit Arjuna in der Schlacht gefallen ist, trauere ich bis an mein Lebensende? Mitnichten! Ich hatte ein Königreich, um das ich mich kümmern musste. Untertanen, die zu mir aufschauten. Ich war nicht nur jemandes Gemahlin!“
Aru schaute erst zu Brynne und dann zu Mini hinüber. Mini zuckte die Achseln.
„Ich habe doch gar nicht behauptet, dass du –“, setzte Aru an.
„Ich hatte so viele Ehemänner, wie das Jahr Tage hat. Und so viele Kinder, wie es Blumen auf der Welt gibt!“
„Das sind aber ganz schön viele, oder?“
Mini mischte sich ein. „Legst du vielleicht Eier? Anders kommt das sonst rein rechnerisch nicht hin. Eine Schildlaus produziert über zehntausend Eier auf einmal. Wahnsinn, oder? Warum haust du mich denn, Aru?“
Ulupis Gesichtsausdruck besagte unmissverständlich, dass sie nicht danach gefragt werden wollte, ob sie Eier legte.
Buh verließ seinen Ast und flatterte vor den Mädchen auf der Stelle. „Die Kinder wollen nicht respektlos sein, Eure Majestät. Sie sind noch sehr, sehr jung. Abertausende Jahre jünger als Ihr, sodass –“
Ulupis Augenbrauen schossen in die Höhe. „Abertausende Jahre?!“
„Äh … das soll natürlich nicht heißen, dass Ihr alt seid, obwohl Ihr das seid, aber nicht auf dieselbe Art und Weise wie –“
„Schluss mit dem müßigen Geschwätz.“ Ulupi richtete sich hoch auf. „Ich habe mein Urteil verkündet. Ihr habt zehn Tage, Pandavas. Wenn ihr die Diebesbeute zurückbringt, kehren die Herzlosen in ihren vorigen Zustand zurück. Wenn ihr mit leeren Händen kommt, werdet ihr verbannt.“
Takshaka bückte sich und riss den Wolkenfußboden auf. Anscheinend war dort ein Tor zum Naga-Reich, denn Ulupi glitt hindurch und war verschwunden. Takshaka ließ sich mehr Zeit. Wieder richtete er die blinden Augen auf die Mädchen und obwohl er ja nichts sah, erschauerte Aru und beschwor instinktiv Vajra als Donnerkeil in ihre Hand.
„Viel Glück“, sagte Takshaka. Es klang nicht, als würde er es ernst meinen.
Dann verschwand auch er und ließ Aru und Mini mit einer neuen Mission zurück … und mit einer neuen Schwester.
Die übrigen Ratsmitglieder steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.
Brynne schwang ihre Windkeule über die Schulter. „Okay“, sagte sie. „Ich betrachte es als Ehre, unsere Namen reinwaschen zu dürfen. Ihr beiden bleibt einfach hier und –“
„Vergiss es!“, fiel ihr Aru ins Wort. „Mini und ich haben schon Erfahrung mit so was.“ Sie schwenkte Vajra. „Wir sind Profis. Du bleibst hier.“
„‚Profis‘ ist vielleicht ein bisschen übertrieben“, sagte Mini halblaut.
Urvashi schnippte mit den Fingern und wandte sich an Brynne: „Du ziehst nicht allein los.“
„Wieso denn nicht? Ich habe eine abgeschlossene Anderwelt-Ausbildung. Für mich ist die Sache ein Klacks!“
Aru entgegnete wohlweislich nicht, dass Mini und sie seit einer Weile Förderunterricht bekamen. „Na und?“, sagte sie stattdessen. „Ausbildung hin oder her – soweit ich mich erinnere, hast du uns noch nie beigestanden.“
Brynne wurde rot. „Aber nur, weil …“ Sie unterbrach sich und ballte die Fäuste. „Egal.“
„Wollen wir uns nicht lieber vertragen?“, sagte Mini beschwichtigend. „Drei Köpfe sind immer besser als einer. Außer man hat einen Craniopagus parasiticus, aber das passiert nur vier Leuten von zehn Millionen.“
Buh landete auf Arus Schulter, doch als Aru ihn streicheln wollte, pickte er nach ihrer Hand. „Ihr seid nicht nur zu dritt.“
„Du kommst natürlich auch mit“, sagte Aru sofort. „Ohne dich sind wir aufgeschmissen.“
„Das wird wohl nicht gehen“, erwiderte Buh bedauernd und drehte sich nach den verbliebenen Wächtern um. Urvashi hatte Tränen in den Augen, Hanumans Miene war undurchdringlich. „Wie es aussieht, muss ich so lange in Untersuchungshaft bleiben, bis meine Loyalität feststeht.“
Aru packte wieder die Wut. „Das können sie nicht machen!“, sagte sie energisch. „Du hast nichts verbrochen.“
Buh schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich habe aber erwirkt, dass jemand anders euch begleiten darf“, fuhr er fort. „Es ist der Zeuge der Wächter. Seine Ehrlichkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Ihm habt ihr es zu verdanken, dass nicht alle Wächter euch für Diebinnen halten.“
„Das ist ja ganz nett, aber wir wollen niemand anderen dabeihaben“, gab Aru zurück. „Wir wollen dich.“
„Wir kennen diesen Zeugen doch gar nicht“, ergänzte Mini.
Buh hielt den Flügel hoch. „Hab schon verstanden. Also: Er ist ein hochbegabter Schüler und meisterlicher Fechter, der sich in der Anderwelt und auch mit allem anderen hervorragend auskennt. Das verdankt er seiner halb göttlichen Herkunft. Und weil er unser Schüler ist, ist es seine Pflicht, den aktuellen Pandavas im Auftrag der Devas zur Seite zu stehen. Er wurde überprüft und für diese Aufgabe freigestellt.“
Wie aufs Stichwort öffnete sich ein Tor in den Wolken. Strahlende Sonne durchflutete den Himmelspalast.
Aru betrachtete sich selbst als „Filmfreak“ (was natürlich nicht bedeutete, dass sie verrückt war). Bollywood-Filme waren ihr Spezialgebiet. Sie folgten alle einem festen Schema. Immer wurde irgendwer geohrfeigt, immer brach irgendwer in Tränen aus und fast immer war das Happy End eine Hochzeit. Ach ja, und wenn es zwischen zwei Personen funkte, wehten ihre Haare plötzlich im Wind.
Ein kräftiger Wind kam auf. Aber nur, weil Brynne die Keule heruntergefallen war. Aru verschluckte sich trotzdem an dem Luftzug und musste husten, worauf ihr Mini erschrocken auf den Rücken schlug, was aber nichts half. Mitten in ihrem Hustenanfall entglitt Aru Vajra.
„Oh-oh!“, machte Brynne.
Der Donnerkeil sauste unkontrolliert durch die Luft, bevor er mit Schwung Arus Kopf traf. Sie ging in die Knie. „Aua! Heute ist echt nicht mein Tag.“
In dem ganzen Durcheinander erschien ein Junge. Er war groß, hatte hellbraune Haut und kam auf die Mädchen zu. Dichte schwarze Locken fielen ihm in die Stirn und er trug einen dunkelgrünen Kapuzenpulli, verwaschene Jeans und rote Sneaker. Über seiner Schulter hing eine professionell aussehende Kamera.
„Darf ich euch euren Begleiter vorstellen?“, wandte sich Buh an seine drei Schützlinge. „Das ist Aiden Acharya.“
Aiden? So wie der attraktive Typ mit den Grübchen, der neu auf Arus Schule war? Der Junge, dem sie in einem unseligen Sprechanfall verraten hatte, dass sie wusste, wo er wohnte? Jetzt sah er Aru in die Augen … und gleich wieder weg.
Als Aru Vajra fester umklammerte, durchzuckte sie ein elektrischer Schlag. Nein, sie träumte nicht. Von wegen: Heute ist echt nicht mein Tag.
Der heutige Tag ist gestrichen!
Aru war nicht verliebt. So viel stand fest. Sie wollte bloß nicht wie jemand rüberkommen, der sich die Haare mit der Gabel kämmte und glaubte, dass Eier auf Bäumen wuchsen oder ähnlichen Quatsch. Das war alles. Schließlich war ihr Gegenüber jemand, der gut roch, große dunkle Augen hatte und schon nach kurzer Zeit in der Schule so beliebt war, wie Aru selbst es nie sein würde. Nicht mal dann, wenn sie bis zum Ende des Schuljahrs jeden Tag einen lebendigen Elefanten und eine Torte mitbringen würde.
„Ich hab’s ja gewusst, dass du kommst!“, jubelte Brynne und boxte Aiden spielerisch.
Er zuckte zusammen und grinste schief. „Klar doch.“ Dann hielt er sein Handy hoch. „Hier – ein Foto von dir und der Diebin, die sich in Aru verwandelt hatte. Im Hintergrund sieht man die echte Aru.“
Der Schnappschuss hielt Brynne und die falsche Aru in Kampfhaltung fest. Hinter ihnen verzog die echte Aru das Gesicht, als hätte sie einen Niesanfall. Na toll.
„Ich dachte, das würde als Beweis ausreichen, aber die Wächter haben mir nicht geglaubt“, fuhr Aiden verlegen fort. „Kriege ich trotzdem Lasagne als Belohnung?“
Brynne lachte. „Klar, wenn Gunky welche übrig lässt.“
Aru und Mini wechselten einen Blick. Offenbar waren Brynne und Aiden befreundet. So gut, dass sie sich Lasagne teilten und beide jemanden namens Gunky kannten.
Brynne sah verwundert zwischen Aru und Aiden hin und her. „Woher weißt du denn, wie sie heißt?“
Aidens Blick war schwer zu deuten. „Sie, äh, geht auf meine Schule und wohnt gegenüber von uns.“
„Das ist das Mädchen von gegenüber?“ Als Brynne sich zu Aru umdrehte, funkelten ihre Augen mutwillig. „Du bist die gruselige Stalkerin, die zu ihm gesagt hat: ‚Ich weiß, wo du wohnst‘?“ Sie lachte schallend.
Warum konnten Arus Wolkenpantoffeln nicht verpuffen, sodass sie in die Tiefe plumpste? Auf Aidens Wangen erschienen rote Flecken. Er behauptete aber nicht, dass Aru es nicht gewesen war. Alles, was sie vielleicht für ihn empfunden hatte, verflog schlagartig.
Aiden Acharya war für sie gestorben. So wie der ganze heutige Tag.
„Ich war müde“, erwiderte sie. „Da redet man manchmal dummes Zeug. Vergiss es einfach.“
„Das war noch gar nichts!“, schob Mini nach. „Aru redet eine Menge dummes Zeug. Aber man gewöhnt sich dran.“
„Schönen Dank auch, Mini.“
Buh schaute von einem zum anderen und brummelte etwas. Es hörte sich wie: „Ich kenne diese Kinder nicht!“
Urvashi erhob sich von ihrem Thron. „Es ist so weit.“
Auch Hanuman stand auf. „Verabschiedet euch.“
„Ich muss los“, wandte sich Buh an die Mädchen. „Tja, unsere Bekanntschaft war von kurzer Dauer.“
Aru wurde schwer ums Herz. Sie mussten die gestohlenen Waffen unbedingt zurückerobern! Sie wollte ihr Pandava-Leben auf keinen Fall aufgeben und Buh sollte nicht für ein Verbrechen büßen, dass er gar nicht begangen hatte. Auch wenn er in seinem früheren Leben Unheil angerichtet hatte – inzwischen war er wie ein Familienmitglied. Manchmal erzählte er Aru sogar Gutenachtgeschichten. Allerdings nannte er sie „Abendvorträge“ und weigerte sich, mit „Es war einmal“ anzufangen.
Als Urvashi eine Handbewegung machte, erschien in der Luft eine goldene Stange.
„Was ist das?“, fragte Mini misstrauisch.
Urvashi pflückte Buh von Arus Schulter. Die Stange schwebte zu ihm hinüber und legte sich auf seinen Nacken. Dann knickten die Enden ab und klemmten seine Flügel fest.
„Das dürft ihr nicht!“, entfuhr es Aru und Mini gleichzeitig.
Urvashi wich ihren entrüsteten Blicken aus. „Es geht nicht anders. Das Gesetz besagt, dass alle eventuellen Komplizen bis zum Beweis ihrer Unschuld in Untersuchungshaft müssen.“
„Ihr habt ihm ja nicht mal erklärt, dass er das Recht hat, die Aussage zu verweigern und seinen Anwalt anzurufen!“ Zum Glück hatte Aru schon eine Menge Krimiserien gesehen.
Leider ließen sich Hanuman und Urvashi davon nicht beeindrucken.
Hanuman legte Aru die große Hand auf die Schulter. „Wenn ihr vier die Waffen zurückbringt und die Herzlosen erlöst, kommt er frei. Mehr können wir für euch nicht tun, weil ihr ebenfalls Verdächtige seid. Gesetz ist nun mal Gesetz.“
„Augenblick noch.“ Mini wühlte in ihrem Rucksack. „Hier, einen für den Weg.“ Sie hielt Buh einen Keks hin.
Seine Miene hellte sich auf. „Ein Oreo! Liebes Mädchen. Danke.“
Mini steckte ihm den Keks in den Schnabel.
Dann sprach Urvashi ein paar unverständliche Worte und Buh löste sich in Luft auf.
„Wo wird er hingebracht?“, wollte Aru wissen.
„Keine Sorge. Es wird ihm dort gut gehen“, antwortete Hanuman nur.
Aru sagte nichts mehr. Mini drückte ihren Rucksack an sich und Aiden zupfte an seinem Kameragurt. Auch in der Schule sah man ihn kaum je ohne Kamera. Er war zwar nur eine Klasse über Aru, also in der Achten, machte aber so gute Bilder, dass die Schülerzeitung sie veröffentlichte. Wenn er so begabt ist, hätte er ja wohl ein überzeugenderes Foto von Brynnes Kampf mit der falschen Aru machen können!, dachte Aru ärgerlich.
Hanuman schaute Brynne an. Die wurde sofort ganz ernst und nahm die Keule von der Schulter.
„Brynne.“
„Bhai.“
„Bhai“ bedeutete „Bruder“.
„Vor dir liegt eine große Aufgabe“, sagte Hanuman.
„Das ist mir klar.“
Mini nickte bestätigend. „Das ist uns allen klar.“
„Denkt dran“, sagte Hanuman in seinem Hört auf mich, denn ich bin oberschlau-Ton, „Familienstreit bringt niemanden weiter.“
„Hey, das ist doch aus einem Song von Jay-Z: Nobody wins when the familiy feuds!“, rutschte es Aru heraus.
Aiden lachte, aber ein böser Blick von Brynne ließ ihn verstummen.
Hanuman peitschte mit dem Schwanz. „Wie bitte? Unsinn! Obwohl … kann schon sein, dass ich den Song irgendwo aufgeschnappt habe. Aber egal. Am besten geht ihr jetzt nach Hause und packt eure Sachen. Anschließend meldet ihr euch bei Urvashi im Magazin für Magische Ausrüstung. Dort bekommt ihr alles, was euch für eure Unternehmung noch fehlt.“
Davon hatte Aru noch nie gehört. War das eine Art Kaufhaus?
Urvashi ließ mit einer Handbewegung ein Tor erscheinen. „Ich habe schon mit deiner Mutter gesprochen, Aiden. Sie hat ein paar Sachen für dich zu Brynne gebracht. Von ihrem Haus aus kommt ihr beide besser weg.“
„Eigentlich ist es ja ein Penthouse“, berichtigte Brynne die schöne Nymphe.
Aru verdrehte die Augen.
„Danke, Masi“, wandte sich Aiden an Urvashi.
Hmm … das warf ein paar Fragen auf. Erstens: Wenn Aiden nicht überrascht war, dass Brynne in einem Penthouse wohnte (Angeberin!), war er offenbar schon öfter dort gewesen. Zweitens: War Urvashi denn seine Tante? Mit Masi sprach man normalerweise die Schwester der Mutter an, aber Aiden konnte unmöglich Urvashis Neffe sein. Urvashi und ihre drei Schwestern waren Elite-Apsaras. Sie durften sich nicht mit Sterblichen vermählen. Andererseits hatte Buh gesagt, dass Aiden halb göttlich war. Wie passte das alles zusammen?
„Los, komm“, sagte Brynne ungeduldig. „Wenn wir uns mit dem Packen beeilen, können meine Onkel noch Lasagne für uns machen. Ich verhungere.“ Ohne sich von Aru und Mini zu verabschieden, verschwand sie durch das Tor.
Aiden schien unschlüssig. „Hat meine Mutter noch etwas gesagt?“, wandte er sich an Urvashi. „Wenn sie mich braucht, kann ich auch erst noch bei uns vorbeischauen.“
Urvashis strenge Züge wurden weicher. „Lieber nicht. Du weißt doch, wie schwer sie es momentan hat. Aber ich soll dir ausrichten, dass sie dich lieb hat.“
„Okay“, sagte Aiden. Doch er sah nicht glücklich aus und verabschiedete sich von Aru und Mini, ohne sie anzusehen. „Bis nachher dann.“
Aru sprang aus dem Maul des Steinelefanten, der im Museum für Altindische Kunst und Kultur in der Eingangshalle stand. Weil es schon 19 Uhr war, war niemand mehr da. Aru konnte kurz die Augen zumachen und tief durchatmen. Es roch nach polierten Bronzefiguren und den kandierten Fenchelsamen, die ihre Mutter den Besuchern zum Naschen hinstellte. Es roch nach Zuhause.
Wobei sich Aru hier in letzter Zeit nicht besonders geborgen gefühlt hatte.
Als sie die Augen wieder öffnete, musste sie an den Kampf denken, der in der Eingangshalle stattgefunden hatte. An den Kampf mit dem Schläfer, ihrem … Dad. Die Vorstellung, dass er ihr leiblicher Vater war, überforderte sie immer noch, und wenn sie schlief, hatte sie manchmal Albträume von ihm. Am schrecklichsten war, wie durch und durch böse er bei ihrer Begegnung gewesen war – und wie zugewandt und freundlich früher. Im Totenreich hatte Aru eine Vision davon gehabt, wie er nach ihrer Geburt am Bett ihrer Mutter gesessen hatte, in einem T-Shirt mit der Aufschrift FRISCHGEBACKENER PAPA! Bestimmt hatte er Aru als Baby im Arm gehalten. Und sie geliebt … jedenfalls ganz kurz.
„Alles in Ordnung?“
Aru riss sich zusammen. Mini hatte ja gefragt, ob sie mitkommen dürfe. „Klar!“, schwindelte sie.
„Soll ich dir packen helfen?“
„Das kann ich auch allein.“
„Ich könnte dir ein Erste-Hilfe-Set zusammenstellen. Oder deiner Mutter im Haushalt helfen. Oder –“
„Warum wolltest du eigentlich nicht zu dir nach Hause?“, fiel ihr Aru ins Wort.
„Das habe ich doch gar nicht gesagt.“
„Aber du verhältst dich so.“
„Ich will mich nicht mit dir streiten!“
„Dann sag doch einfach, was los ist“, gab Aru zurück.
Mini seufzte. „Ich mag meine Eltern und sie haben mich auch gern, aber sie …“
„Setzen dich unter Druck?“
„Ein bisschen.“
Aru war schon ein paarmal bei Mini gewesen. „Ein bisschen“ war total untertrieben. Minis Eltern hatten ihr einen straffen Pandava-Plan verordnet. Jeden Tag drei Kilometer joggen! Vitamine! Kein Internet nach 20 Uhr! Außerdem sollte Mini später auf ein Elite-College gehen und an einer Elite-Uni Medizin studieren.
„Wenn sie mitkriegen, dass wir vielleicht verbannt werden, rasten sie aus“, setzte Mini hinzu.
„Aber dafür kannst du doch nichts.“
„Das ist egal. Sie denken dann bestimmt, dass alles ganz anders gelaufen wäre, wenn mein Bruder der Pandava wäre.“
Aru zuckte die Achseln. „Wenn sie dich stressen, sagst du einfach, dass du immerhin nicht beim Würfelspiel dein Königreich verloren hast und deswegen alle im Wald hausen müssen.“
„Hä?“, machte Mini verständnislos.
„So ist es Yudhishthira ergangen. Also dir vor einer Ewigkeit. Was Fehler angeht, hat er die Latte ganz schön hochgelegt. Also reg dich wieder ab.“
Arus Mutter hatte ihr die Geschichte erzählt. Der älteste Pandava-Bruder hatte beim Würfelspiel verloren. Daraufhin hatte man die gesamte Familie aus dem Palast geworfen und in den Wald verbannt. Aru stellte sich vor, wie Yudhishthira beim Abendessen verkündete: „Hey Leute, ich habe gute und schlechte Neuigkeiten. Wer von euch zeltet gern?“