Aspergers Kinder - Edith Sheffer - E-Book

Aspergers Kinder E-Book

Edith Sheffer

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Beschreibung

Wien 1938: Der Arzt Hans Asperger beschreibt Symptome bei Kindern, die er unter die Diagnose "autistische Psychopathie" fasst. Er hatte bei Patienten Schwächen im sozialen Verhalten beobachtet. Im selben Jahr ziehen die Nationalsozialisten in Wien ein. Asperger sollte bald verantworten, dass Kinder, die er für "nicht sozial integrierbar" hielt, in der Anstalt Am Spiegelgrund zu "Euthanasie"-Opfern wurden. Edith Sheffer, Mutter eines von Autismus betroffenen Kindes, hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Diagnose begeben. Sie zeigt, welche Wertvorstellungen Asperger geprägt haben und welche Entwicklung die Diagnose genommen hat. Ihr berührendes und eindrucksvolles Buch wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus und auf das Asperger-Syndrom.

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Seitenzahl: 534

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Edith Sheffer

Aspergers Kinder

Die Geburt des Autismus im »Dritten Reich«

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Asperger’s Children: The Origins of Autism in Nazi Vienna bei W.W. Norton & Company, New York.

Über das Buch

Wien 1938: Der Arzt Hans Asperger beschreibt Symptome bei Kindern, die er unter die Diagnose »autistische Psychopathie« fasst. Er hatte bei Patienten Schwächen im sozialen Verhalten beobachtet. Im selben Jahr ziehen die Nationalsozialisten in Wien ein. Asperger sollte bald verantworten, dass Kinder, die er für »nicht sozial integrierbar« hielt, in der Anstalt »Am Spiegelgrund« zu »Euthanasie«-Opfern wurden.

Edith Sheffer, Mutter eines von Autismus betroffenen Kindes, hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Diagnose begeben. Sie zeigt, welche Wertvorstellungen Asperger geprägt haben und welche Entwicklung die Diagnose genommen hat. Ihr berührendes und eindrucksvolles Buch wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus und auf das Asperger-Syndrom.

Vita

Edith Sheffer ist Historikerin am Europe Center der Stanford University in Kalifornien, USA. 2011 erschien von ihr Burned Bridge: How East and West Germans Made the Iron Curtain.

FÜR MEINEN SOHN ERIC

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1 Auftritt der Experten

Kapitel 2 Die Diagnose der Klinik

Kapitel 3 NS-Psychiatrie und sozialer Geist

Kapitel 4 Menschenleben auf dem Index

Kapitel 5 Tödliche Theorien

Kapitel 6 Asperger und das Tötungssystem

Kapitel 7 Mädchen und Jungen

Kapitel 8 Das tägliche Leben mit dem Tod

Kapitel 9 Im Dienst der »Volksgemeinschaft«

Kapitel 10 Die Abrechnung

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1: Auftritt der Experten

Kapitel 2: Die Diagnose der Klinik

Kapitel 3: NS-Psychiatrie und sozialer Geist

Kapitel 4: Menschenleben auf dem Index

Kapitel 5: Tödliche Theorien

Kapitel 6: Asperger und das Tötungssystem

Kapitel 7: Mädchen und Jungen

Kapitel 8: Das tägliche Leben mit dem Tod

Kapitel 9: Im Dienst der »Volksgemeinschaft«

Kapitel 10: Die Abrechnung

Nachwort

Auswahlbibliografie

Einleitung

Was ist der Unterschied zwischen einem Schmetterling und einer Fliege? »[D]er Schmetterling wächst nicht im Zimmer auf wie die Fliege«, erklärt Harro. Die Frage ist Teil eines Intelligenztests. Harro möchte mehr über die Fliege erzählen:

[Die Fliege] hat eine gaaanz andere Entwicklung! […] Die Fliegenmutter legt viiiele Eier in eine Dielenritze hinein und dann in ein paar Tagen kriechen Maden heraus; ich hab das einmal in einem Buch gelesen, da erzählt der Fußboden – ich muss mich halbtot lachen (!), wenn ich dran denk: »Was guckt da heraus aus dem Tönnchen, ein riesiger Kopf mit einem winzigen Körper und einem Rüssel wie ein Elefant?« Und dann nach ein paar Tagen verpuppen sie sich wieder und dann kriechen auf einmal ganz herzige kleine Fliegen heraus.1

Der achtjährige Harro lebt gemeinsam mit anderen Kindern ebenfalls in einem Kokon, abgeschirmt in der Heilpädagogischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik in Wien. Wie die eigenartig geformten Larven fallen diese Kinder auf. Ihre eigentümlichen Wesenszüge stoßen im »Dritten Reich« auf Ablehnung, und die Ärzte und Krankenschwestern in der Abteilung bemühen sich, die Psyche der Kinder zu korrigieren. Hans Asperger, der Leiter der Abteilung, ist der Meinung, mit dem »volle[n] Einsatz des liebenden Erziehers« sei es möglich, dafür zu sorgen, dass »auch solche Menschen ihren Platz in dem Organismus der sozialen Gemeinschaft« fänden.2

Asperger spricht über die einzigartigen Persönlichkeiten der Kinder, die er behandelt, und nimmt für sich in Anspruch, seine Methode ihren individuellen Bedürfnissen anzupassen. Er wählt einen ganzheitlichen Ansatz. Die Kinder gehen im eleganten, geräumigen Widerhofer-Pavillon verschiedensten Aktivitäten nach: Sie betreiben Sport, spielen Theater, musizieren. Asperger setzt sich mit den Kindern hin und krümmt seinen hochgewachsenen Körper, um sich seinen kleinen Patienten anzupassen. Sein aufmerksamer Blick fängt sämtliche Nuancen ihres Verhaltens ein, das er in seiner Habilitationsschrift beschreiben wird. Der Fall des achteinhalb Jahre alten Harro zählt zu den Fallstudien, aus denen Asperger eine neue Diagnose ableitet: die »autistische Psychopathie«.

Harros Schule hat die Universitäts-Kinderklinik um eine Beurteilung des Jungen gebeten. Aus dem Bericht der Schule geht hervor, dass Harro selten Anweisungen befolgt. Er widerspricht den Lehrern, macht seine Hausaufgaben nicht und beklagt sich über den Unterricht, der ihm »viel zu dumm« scheint. Er wird immer wieder zum Ziel des Spotts seiner Klassenkameraden und reagiert auf geringste Provokationen sehr aggressiv: Kleinigkeiten versetzen ihn derart in Wut, dass er andere Jungen attackiert und verletzt. Er krabbelt während des Unterrichts auf allen Vieren durch das Klassenzimmer, und es gibt sogar Berichte darüber, dass es zu »argen sexuellen Spielereien mit anderen Knaben« einschließlich von »Coitusversuchen« gekommen ist. Dabei hat seine Lehrerin den Eindruck, dass er »könnte, wenn er wollte«. Aber Harro ist in allen Fächern durchgefallen und muss das Schuljahr wiederholen.3

Es fällt den Betreuern in der Heilpädagogischen Abteilung schwer, Harro zu testen. Er verweigert oft die Mitarbeit und scheitert an gewöhnlichen Aufgaben. Auf der anderen Seite beweist der Junge in bestimmten Bereichen für sein Alter ungewöhnliche Fähigkeiten. So wählt er beispielsweise beim Rechnen eigene Lösungswege. Wie viel ist 47 weniger 15? »[E]ntweder 3 dazugeben und zu dem, was weg soll, auch 3 dazugeben, oder erst 7 weg und dann 8.« Asperger gelangt zu der Überzeugung, dass diese »besondere Originalität des Denkens und Erlebens« Jungen wie Harro »besondere Leistungen im späteren Leben« ermöglichen werden.4

Das Problem sieht Asperger darin, dass es Harro an sozialem Empfinden mangelt. Der Arzt beobachtet, dass sich der Junge von Gruppen oft absondert und in der Abteilung »nie warm, zutraulich, fröhlich« ist. Harro nimmt nicht am sozialen Leben teil, er spielt nicht mit den anderen Kindern, sondern sitzt lieber teilnahmslos mit einem Buch in einer Ecke. Er versteht keinen Spaß, »auch wenn dieser sich gar nicht gegen ihn richtet; er ist »ganz humorlos«. Sein Blick ist »oft ganz verloren und abwesend«, er ist »sehr arm an Mimik und Gestik«; dazu passt seine »allgemeine Steifheit und Ungeschicklichkeit«.5

Asperger gelangt zu dem Schluss, dass Harro unter einer »autistischen Psychopathie« leidet. Aufgrund seiner Intelligenz ist er jedoch im »günstigen« Bereich des autistischen Spektrums anzusiedeln. Das bedeutet, dass seine Persönlichkeit korrigiert werden kann, womit es ihm möglich sein sollte, sich in den »Organismus der sozialen Gemeinschaft« einzufügen. Kinder wie Harro können nach Ansicht Aspergers »soziale Integration« lernen und in spezialisierten technischen Berufen »sozialen Wert« haben.6 Diese Kinder brauchen seiner Einschätzung nach eine individuelle Betreuung, um ihr kognitives und emotionales Wachstum anzuregen. Asperger kann ihre Schwierigkeiten nachvollziehen, er sieht ihr Potenzial und preist ihre Einzigartigkeit.

Dies ist das wohlwollende Bild, das wir uns heute von Hans Asperger machen. Aber dieses Bild stellt nur eine Seite seiner Arbeit dar. Asperger verteidigte »erziehungsfähige« autistische Kinder, die er unterstützen wollte. Gleichzeitig äußerte er sich geringschätzend über Kinder, die er für stärker behindert hielt. Und abfällige Äußerungen über die Psyche eines Menschen konnten im Dritten Reich ein Todesurteil sein. Tatsächlich waren die Urteile Hans Aspergers über einige Kinder Todesurteile.

Harro bestand Aspergers Tests, aber mit dem Etikett der »autistischen Psychopathie« unterschätzte der Arzt diesen Jungen. Asperger behauptete, autistische Kinder passten nicht richtig in die Welt und wirkten, als seien sie »vom Himmel gefallen«. Doch Harro war keineswegs gefallen. Wie die Fliege, die er so schön beschrieb, suchte er einfach seinen eigenen Weg:

[D]ie Fliege ist viel geschickter und kann auf glitschigem Glas hinaufspazieren und auf die Wand hinaufklettern. […] Gerade gestern habe ich eine gesehen, die hat ganz kleine Klauen auf den Füßen und auf den Enden winzige Häkchen; wenn sie fühlt, dass sie ausglitscht, dann hängt sie sich mit den Häkchen ein.7

Es geht hier jedoch nicht um die Geschichte eines Jungen. Es geht auch nicht um die Kinder am »günstigeren« Ende von Aspergers autistischem Spektrum. Vielmehr geht es in diesem Buch um all jene Kinder, die dem Diagnoseregime der NS-Psychiatrie ausgeliefert wurden. Es geht darum, wie die Psychiater in der NS-Zeit den Verstand dieser Kinder beurteilten und über ihr Schicksal entschieden. In medizinischen Diagnosen kommen auch die Wertvorstellungen, Befürchtungen und Hoffnungen einer Gesellschaft zum Ausdruck. In diesem Buch werden wir die albtraumhafte Welt betrachten, in der die Diagnose »Autismus« entstand, und wir werden sehen, dass etwas, was heute wie eine außergewöhnliche Idee wirkt, das Produkt einer Gemeinschaft war: Aspergers Diagnose der »autistischen Psychopathie« hatte ihren Ursprung in den Wertvorstellungen und Institutionen des Dritten Reichs.

Der Begriff »Autismus« wurde im Jahr 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt, der den Terminus zur Beschreibung schizophrener Patienten verwendete, die keine Beziehung zur Außenwelt herstellen konnten. Hans Asperger und Leo Kanner, ein in Österreich-Ungarn geborener Arzt, waren die Ersten, die den Autismus als eigene Diagnose zur Beschreibung bestimmter Charakteristika des sozialen Rückzugs verwendeten; andere hatten Kinder mit ähnlichen Merkmalen beschrieben, diese Patienten jedoch als schizoid eingestuft. Im Lauf der Jahre wuchs das Interesse der Psychiater an Kindern, die sich anscheinend von ihrer Umwelt isolierten. Zur Einstufung solcher Kinder wurden verschiedene Begriffe geprägt.8

Kanner, der 1924 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, wo er am Johns Hopkins Hospital arbeitete und zum Vorreiter der amerikanischen Kinderpsychiatrie wurde, veröffentlichte im Jahr 1943 eine Arbeit über den Autismus mit dem Titel »Autistic Disturbances of Affective Contact«.9 Im selben Jahr legte Hans Asperger in Wien seine Habilitationsschrift »Die ›Autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter« vor, die 1944 veröffentlicht wurde. Kanner beschrieb Kinder, die ihm relativ ähnlich schienen: Sie waren durchweg sozial und emotional in sich gekehrt und auf Objekte und Rituale fixiert, zeigten repetitives Verhalten und wiesen ein eingeschränktes Sprachvermögen sowie erhebliche kognitive Einschränkungen auf. Diese Form der Störung wird heute als »klassischer« Autismus bezeichnet. Die Mediziner in den Vereinigten Staaten wandten jahrzehntelang Kanners eng gefasste Definition an, und noch im Jahr 1975 war der Autismus eine relativ seltene Diagnose, die bei einem von etwa 5000 Kindern gestellt wurde.

Asperger fasste seine Diagnose der »autistischen Psychopathie« sehr viel weiter und wendete sie auf Kinder mit geringeren Einschränkungen an, zum Beispiel auf solche, die sich gut ausdrücken konnten und in der Lage waren, eine normale Schule zu besuchen. Seine Diagnose blieb fast vier Jahrzehnte lang weitgehend unbekannt – bis die führende britische Psychiaterin Lorna Wing seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1944 entdeckte und die von ihm geschilderte Störung 1981 unter der Bezeichnung »Asperger-Syndrom« bekannt machte. Das Konzept brach sich in psychiatrischen Kreisen Bahn; im Jahr 1994 nahm die American Psychiatric Association (APA) die von Asperger beschriebene Störung in die vierte Auflage ihres Diagnosehandbuchs DSM auf (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-IV). Da das Asperger-Syndrom zusehends als »hochfunktionaler« Autismus betrachtet wird, nahm die APA die Diagnose 2013 aus DSM-V heraus und fasste sie als eine von mehreren Varianten unter die allgemeine Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung«. Auf internationaler Ebene ist das Asperger-Syndrom jedoch weiterhin eine eigene Diagnose und wird in der maßgeblichen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), als solche geführt.10

Die Einführung von Aspergers Arbeit änderte in den neunziger Jahren die Vorstellung vom Autismus. Die Psychiater begannen den Autismus als Spektrumstörung zu betrachten, die bei Kindern mit sehr unterschiedlichen Merkmalen diagnostiziert werden konnte. Kanner hatte erheblich behinderte Kinder beschrieben, die Sprachschwierigkeiten hatten und kaum mit anderen Menschen interagieren konnten. Nun wurde die Diagnose auf sozial ungelenke Mathematikgenies ausgeweitet.

Die Zahl der Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen schoss in die Höhe. Die spezifischen medizinischen, genetischen und Umweltursachen für diesen Anstieg sind sehr umstritten, aber die meisten Fachleute sind sich darin einig, dass er zumindest teilweise auf die Erweiterung der Diagnosekriterien zurückzuführen ist. Nach Angabe der United States Centers for Disease Control and Prevention (CDC) wurde im Jahr 1985 bei einem von 2500 Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung festgestellt. Zehn Jahre später wurde sie bei einem von 500 Kindern diagnostiziert. Als Aspergers Erkenntnisse im Lauf der Zeit allgemeine Anerkennung fanden, stieg die Zahl der Diagnosen auf eine bei 150 Kindern im Jahr 2002, 2016 wurde bereits bei einem von 68 Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung festgestellt.11 Die Spezialisten führen diesen rasanten Anstieg auf eine größere Sensibilität für Probleme in der kindlichen Entwicklung und eine objektive Zunahme der Symptome zurück.

Die Kriterien der American Psychiatric Association für die Diagnose einer Störung aus dem Autismus-Spektrum beruhen auf der Arbeit Hunderter Psychiater, aber wir finden darin immer noch den Nachhall von Vorstellungen und sogar eine Sprache, die vor siebzig Jahren entwickelt wurden. Asperger erklärte seinerzeit, die Grundstörung der »autistischen Psychopathen« sei »eine Einengung der Beziehungen zur Umwelt«, und laut dem Diagnosehandbuch DSM-V sind »bleibende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion« ein wesentliches Diagnosekriterium. Asperger definierte die »autistische Psychopathie« auch als »eine Einengung auf das eigene Selbst (Autismus), eine Einschränkung der Beziehungen zur Umwelt«.12

Da Asperger das Autismus-Spektrum erweiterte, halten ihm viele Leute zugute, er habe die Verschiedenheit der betroffenen Kinder erkannt und gewürdigt. Er wird oft als Vorreiter der Neurodiversität gefeiert. Indem Lorna Wing in den achtziger Jahren seine Theorie aus dem Jahr 1944 in die öffentliche Diskussion einführte, trug sie tatsächlich zur Anerkennung der Einzigartigkeit jedes individuellen Patienten bei. Nun ist es aber an der Zeit, Klarheit darüber zu gewinnen, dass die Dinge, die Hans Asperger tatsächlich schrieb und tat, Produkte der NS-Psychiatrie und der Gesellschaft waren, in der er lebte.

Das Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, eine bestimmte Person anzuklagen oder die begrüßenswerte Diskussion über die Neurodiversität zu untergraben, die durch Aspergers Arbeit angeregt wurde. Vielmehr geht es mir darum, im Interesse der Neurodiversität zu Vorsicht zu mahnen und zu zeigen, wie Diagnosen von gesellschaftlichen und politischen Kräften geprägt werden können, wie schwierig es sein kann, den Einfluss dieser Kräfte zu erkennen, und wie schwer es ist, ihnen zu widerstehen.

Hans Asperger wird oft als mitfühlender, progressiver Arzt dargestellt, der im Dritten Reich unberührt vom politischen Geschehen seiner Forschung nachging und das NS-Regime ablehnte. Tatsächlich war er ein gläubiger Katholik und trat nie in die NSDAP ein. Er steht auch in dem Ruf, behinderte Kinder vor der Verfolgung durch den NS-Staat gerettet zu haben. Viele Leute glauben, er habe die besonderen Fähigkeiten betroffener Kinder und ihren potenziellen Wert für die Gesellschaft in technischen Berufen hervorgehoben, um sie vor dem »Euthanasieprogramm« des Regimes zu bewahren. Demnach war Aspergers Autismusdiagnose so etwas wie eine psychiatrische Schindlers Liste.13 Nach dem Untergang des Dritten Reichs behauptete Asperger selbst, er habe Widerstand gegen das Regime geleistet und sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Kinder vor der Vernichtung im NS-Euthanasieprogramm zu bewahren.14

Die in den Archiven erhaltenen Dokumente erzählen eine ganz andere Geschichte. Aus den Akten geht hervor, dass sich Asperger auf verschiedenen Ebenen an der systematischen Tötung von Kindern in Wien beteiligte. Er arbeitete eng mit den führenden Köpfen im Kindereuthanasieprogramm zusammen und schickte als Inhaber zahlreicher Posten im NS-System Dutzende Kinder in die Pflegeanstalt »Am Spiegelgrund«, wo Hunderte als behindert oder »asozial« eingestufte Kinder ermordet wurden.15

Es ist schwierig, Aspergers Rolle im Kindereuthanasieprogramm mit seinem Ruf in Einklang zu bringen, er habe sich sein Leben lang für behinderte Kinder eingesetzt. Beides lässt sich belegen. Ein genaues Studium der erhaltenen Aufzeichnungen über Aspergers Arbeit zeigt, dass sein Verhalten zwiespältig war. Asperger unterschied zwischen Kindern, die er für erziehbar hielt, weshalb er ihnen das Potenzial zur »sozialen Integration« zusprach, und solchen, die er für unverbesserlich hielt. Er sprach sich für eine intensive und individualisierte Betreuung von Kindern aus, bei denen er Fähigkeiten erkannte. Auf der anderen Seite ordnete er die Internierung von Kindern an, die in seinen Augen keinen Nutzen für die »Volksgemeinschaft« hatten – oder schickte sie sogar in die Tötungsanstalt »Am Spiegelgrund«. Asperger war nicht der Einzige, der sich so verhielt. Führende Kollegen in der NS-Medizin sprachen sich für eine einfühlsame und intensive Betreuung von Kindern aus, die für die »Volksgemeinschaft« gerettet werden konnten, und verlangten gleichzeitig die Beseitigung jener, die sie für unverbesserlich hielten.

Das janusköpfige Verhalten Aspergers offenbart auch den Charakter des Dritten Reichs. Das nationalsozialistische Projekt zur Umgestaltung der Menschheit beinhaltete sowohl Behandlung als auch Beseitigung: Abhängig von ihren Mängeln konnten manche Menschen korrigiert werden, sodass sie den Ansprüchen des NS-Regimes genügten. All jene, bei denen das nicht möglich war, mussten ausgelöscht werden.

Es war leicht, neue Gruppen zu definieren, die verfolgt und getötet werden mussten. Die Verantwortlichen hielten sich nicht an unabänderliche, gesichtslose Regeln, sondern entwickelten laufend neue Etiketten und elastische Kategorien. In diesem Diagnoseregime war ein Teil der Menschen, bei denen Defekte beobachtet wurden, umzuerziehen, damit sie den Standards des NS-Regimes entsprachen: Beispielsweise waren Juden an sich unverbesserlich, aber bestimmte Menschen mit slawischer Herkunft konnten germanisiert werden. »Arbeitsscheuen« konnte man beibringen, arbeitsam zu werden. Asperger nahm ähnliche Unterscheidungen vor und erklärte, Autisten mit »günstiger« Prognose könnten dazu gebracht werden, sich »sozial zu integrieren«, und in einigen Fällen hielt er es sogar für möglich, ihre »besonderen Fähigkeiten« zu nutzen.16

Um eine homogene »Volksgemeinschaft« aufzubauen, musste die Zahl jener Menschen erhöht werden, die das Regime für wünschenswert hielt, während unerwünschte Individuen ausgesondert werden mussten. Die Absicht, das Gemeinwesen zu säubern, mündete in den Holocaust – die Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden im größten Völkermord der Geschichte – sowie zu zahlreichen anderen systematischen Vernichtungsprogrammen. Der NS-Staat tötete mehr als 200.000 vermeintlich behinderte Menschen, 220.000 Sinti und Roma und große Gruppen der osteuropäischen und sowjetischen Bevölkerung, darunter 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene.

Bei der Beseitigung unerwünschter Menschen orientierten sich die Verantwortlichen an »wissenschaftlichen« Prinzipien der »Rassenhygiene«. »Problematische« Wesenszüge wurden minderwertigen Erbanlagen und physiologischen Mängeln zugeschrieben. Das Regime versuchte, anhand biologischer Kriterien zu bestimmen, wer zur »Volksgemeinschaft« gehörte und wer nicht, weshalb Historiker das Dritte Reich als »Rassenstaat« bezeichnet haben.17 Die »Rasse« war zweifellos ein Organisationsprinzip des NS-Regimes. Aber die Bezeichnung kann in die Irre führen, suggeriert sie doch eine klare Abgrenzung der Definitionen und Programme.

In der Realität fielen die Entscheidungen darüber, welche Menschen auszusondern waren, in einem Prozess von Versuch und Irrtum. Die Definitionen waren elastisch, die Maßnahmen uneinheitlich: Sie änderten sich abhängig von Zeitpunkt, Ort und Akteuren. Sogar die scheinbar klare Definition dessen, wer als Jude zu betrachten war, hing von der Anwendung der komplizierten Kriterien in den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 und später vom Ergebnis der Debatten über das Schicksal von »Mischlingen« oder »Halbjuden« ab. Den Behörden war auch nicht klar, wie viele biologisch »minderwertige« Individuen es eigentlich gab: Die Schätzungen schwankten zwischen einer Million und 13 Millionen Menschen (das heißt einem Fünftel der deutschen Bevölkerung).18 Auch die Menschen, die als nicht gesunde Arier verfolgt werden sollten, wurden willkürlich ausgesucht: »Asoziale« und »Arbeitsscheue« (zum Beispiel Kriminelle, Arbeitslose, Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte), Homosexuelle, politische Gegner (insbesondere Kommunisten und Sozialisten) und religiöse Dissidenten (zum Beispiel Zeugen Jehovas). Die Entscheidung darüber, wer zu verhaften, zu deportieren oder zu töten war, lag oft bei einzelnen Personen und Behörden, die eigene Klassifikationen vornahmen.

In diesem Buch wird das NS-Regime unter einem neuen Gesichtspunkt betrachtet und als Diagnoseregime untersucht. Der Staat war besessen von der Kategorisierung der Bevölkerung und sortierte die Bürger nach »Rasse«, politischen Ansichten, Religion, Sexualität, Kriminalität, Erbanlagen und biologischen Mängeln. Diese Etiketten dienten dann als Grundlage für die Verfolgung und Vernichtung von Menschen. Der Nationalsozialismus wird normalerweise an seinen gewalttätigen Ergebnissen gemessen, aber wenn man die Verursachungskette zurückverfolgt, zeigt sich, dass diese Ergebnisse vom ursprünglichen Akt der Diagnose abhingen. Die nationalsozialistische Eugenik wurde eingesetzt, um das Menschsein neu zu definieren und zu katalogisieren. Die fortschreitende Kategorisierung der Defekte gab dann den Anstoß zu staatlich organisierter Verfolgung und Vernichtung.19

Besondere Aufmerksamkeit galt der Psyche. In der NS-Zeit aktive Ärzte beschrieben mindestens dreißig neurologische und psychiatrische Diagnosen, die noch heute nach ihnen benannt sind.20 Da die geistige Gesundheit von zahlreichen Faktoren wie Erbanlagen, physiologischer Gesundheit, familiärem Status, Klassenzugehörigkeit und Geschlecht abhing, stellte der Verstand den Knotenpunkt der NS-Eugenik dar. Den Neuropsychiatern kam eine entscheidende Rolle in der medizinischen Säuberung der Gesellschaft, in der Entwicklung der Zwangssterilisierung, in Menschenversuchen und in der Tötung jener zu, die als behindert eingestuft wurden.21

Der Zugang der NS-Psychiatrie zur Beobachtung und Behandlung von Kindern war umfassend. Um statt einzelnen Symptomen die gesamte Persönlichkeit eines Kindes beurteilen zu können, musste sich der Psychiater ein umfassendes Bild von Verhalten und Wesen des Patienten machen. Daher mussten die betroffenen Kinder genau beobachtet werden, wobei auch geringfügige Verhaltensabweichungen festgestellt wurden, was das Tor zu neuen Diagnosen aufstieß.

Was genau wurde diagnostiziert? In Aspergers Kreisen wurden Rasse und Physiologie als notwendige Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zur »Volksgemeinschaft« betrachtet. Darüber hinaus brauchte der Mensch jedoch auch Gemeinschaftsgeist: Jedes Individuum musste die Vorstellungen der Gruppe teilen, und sein Verhalten musste den Erfordernissen des Kollektivs entsprechen. Die Überlebensfähigkeit des deutschen Volkes hing davon ab, dass sich die Individuen als Bestandteil der Gemeinschaft fühlten. Die Faszination vom sozialen Zusammenhalt verdeutlicht die zentrale Rolle faschistischer Ideale im Nationalsozialismus.22

Da die Zugehörigkeit zur »Volksgemeinschaft« von größter Bedeutung für das NS-Regime war, wurden die kollektiven Emotionen Teil der nationalsozialistischen Eugenik. Ein Mangel an Geselligkeit wurde neben ethnischer Zugehörigkeit, politischen Überzeugungen, Religion, Sexualität, Kriminalität und Physiologie ein weiterer Grund für die Verfolgung von Menschen. Asperger und seine Kollegen verwendeten den Begriff des »Gemüts«, um zu beschreiben, was für Menschen ihnen vorschwebten. Das »Gemüt«, das im 18. Jahrhundert ursprünglich ein Synonym von »Seele« gewesen war, wurde in der NS-Kinderpsychiatrie zur Beschreibung der metaphysischen Fähigkeit zu sozialen Bindungen verwendet. Das Individuum musste Gemüt besitzen, um eine Verbindung mit dem Kollektiv herstellen zu können, und die Integration ins Kollektiv war ein wesentlicher Bestandteil des faschistischen Empfindens. Die nationalsozialistischen Psychiater begannen Kinder auszusondern, denen es ihrer Meinung nach an Gemüt mangelte, was zur Folge hatte, dass sie schwächere soziale Bindungen herstellten und den Erwartungen des Kollektivs nicht entsprechen konnten. Die Psychiater entwickelten verschiedene Diagnosen wie die »Gemütsarmut«, lange bevor Asperger 1944 die »autistische Psychopathie« beschrieb – die er ebenfalls als Mangel an Gemüt definierte.23

Die Geschichte von Aspergers Arbeit zeigt, dass einzelne Ärzte entsprechend den Kriterien des nationalsozialistischen Diagnoseregimes in einem sehr flexiblen Prozess neue Kategorien von Defekten entwickelten. Indem wir uns am Paradigma eines Diagnoseregimes orientieren, beschränken wir uns nicht auf die Vernichtungsvorhaben des NS-Staats, sondern können uns dem übergeordneten Vorhaben der Vervollkommnung eines bestimmten Menschentyps zuwenden. Das Ziel des NS-Regimes war es, Menschen zu beurteilen und umzugestalten. Dieses Vorhaben war nicht auf rassische und körperliche Merkmale beschränkt, sondern erstreckte sich auf das Denken und Fühlen der Menschen. Mit Blick auf ein Persönlichkeitsmodell wurden mentale und emotionale Normen entwickelt.

Medizin und Psychiatrie in anderen Teilen der Welt waren diesem Vorhaben damals nicht völlig unähnlich; der Unterschied war, dass das Diagnoseregime im Dritten Reich im Schatten des Todes funktionierte und den Tod als Behandlungsoption beinhaltete. Die Zunahme der Diagnosen führte zu einer Radikalisierung, die in die Vernichtung all jener mündete, die als »lebensunwert« eingestuft wurden, weil sie keinen Nutzen für die »Volksgemeinschaft« hatten. Die Maßnahmen wurden als »Euthanasie« bezeichnet, obwohl diese Bezeichnung falsch war, denn die große Mehrheit der getöteten Menschen war körperlich gesund und litt nicht unter unheilbaren Krankheiten. Viele Kinder wurden zu Opfern, weil ihr Verhalten als problematisch betrachtet wurde oder weil Zweifel an ihrem gesellschaftlichen Nutzen bestanden – insbesondere in der sogenannten Heilanstalt »Am Spiegelgrund« in Wien, wo Asperger und seine Kollegen zahlreiche Kinder hinschickten. In der NS-Psychiatrie musste ein Kind angepasst, »erziehbar« und »arbeitsfähig« sein, damit es als »gemeinschaftsfähig« eingestuft werden konnte. Auch der familiäre Hintergrund und die Klassenzugehörigkeit wirkten sich aus. Ein Kind landete eher in einer Tötungsanstalt, wenn es unehelich geboren worden war, wenn der Vater abwesend war oder die Mutter mehrere Kinder hatte und im Verdacht stand, die Kinderaufzucht nicht bewältigen zu können. Mit anderen Worten: Im Kindereuthanasieprogramm wurde die soziale Zugehörigkeit zu einer medizinischen Frage. Soziale Überlegungen wurden zu eugenischen Kriterien.

Im Programm zur Tötung »behinderter« Kinder schritt der NS-Staat erstmals zum systematischen Massenmord. In der »Kindereuthanasie« ging das Regime von rassehygienischen Maßnahmen wie der Sterilisation von »Erbkranken« zur massenhaften Vernichtung von Menschen über. Dieses Euthanasieprogramm war anders als spätere Vernichtungsprogramme als gesetzlicher, permanenter Bestandteil des NS-Gesundheitswesens konzipiert. Zum Beispiel wurden die mehr als 200.000 Opfer der Erwachseneneuthanasie, die bis 1941 im Rahmen der »Aktion T4« (benannt nach der Adresse des Hauptquartiers in der Tiergartenstraße 4 in Berlin) und von da an inoffiziell durchgeführt wurde, wahllos getötet, während in der Kindereuthanasie eine genaue Beobachtung und Beurteilung jedes einzelnen Falles vorgesehen war. Dieses Programm war auch kleiner: Ihm fielen zwischen 5000 und 10.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer, darunter 789 am Spiegelgrund (Steinhof), der zweitgrößten Tötungsanstalt im Deutschen Reich.

Im Kindereuthanasieprogramm tritt die persönliche Dimension der Vernichtung zutage. Die Ärzte untersuchten die Kinder, die sie anschließend zum Tod verurteilten. Die Krankenschwestern wechselten persönlich die Bettwäsche und fütterten die Kinder, die sie töteten. Sie kannten die Namen, Gesichter, Stimmen und Persönlichkeiten ihrer Opfer. Normalerweise wurden die Kinder in ihrem Bett getötet. Es war ein langsamer, qualvoller Tod: Man ließ Kinder verhungern oder verabreichte ihnen hochdosierte Barbiturate, damit sie krank wurden und schließlich starben, normalerweise an Lungenentzündung. In der Kindereuthanasie fand die Tötung in Interaktion zwischen Tätern und Opfern statt, was sich auf die Entwicklung und Eskalation des Programms auswirkte.

Wo – wenn überhaupt – kann die Grenze der Komplizenschaft gewöhnlicher Menschen in einem kriminellen Staat gezogen werden? Die Beteiligten wurden in marginalen und zentralen Aspekten bewusst und unbewusst in die Mordsysteme verwickelt. Hans Asperger war weder ein fanatischer Anhänger noch ein überzeugter Gegner des Regimes. Sein Verhalten ist exemplarisch für dieses Abdriften in die Mittäterschaft. Er gehörte jener undefinierbaren Mehrheit der Bevölkerung an, die sich der nationalsozialistischen Herrschaft abwechselnd anpasste und unterwarf, die unterdrückt wurde und ihre Beteiligung auf ein Mindestmaß reduzierte, die zustimmte und sich mit dem Regime aussöhnte. In Anbetracht dieses widersprüchlichen Verhaltens ist es umso verblüffender, dass die Handlungen von Millionen Menschen, die unter individuellen Umständen individuellen Beweggründen gehorchten, in ihrer Gesamtheit so ungeheuerliche Verbrechen hervorbrachten.

Es ist fast unmöglich, die mörderischen Aspekte der NS-Herrschaft von jenen zu trennen, die es nicht waren. In den 37 Kindereuthanasieanstalten im Deutschen Reich wurden keineswegs nur medizinische Fachleute zu Mittätern. Betreuer, Wartungspersonal, Köche und Reinigungskräfte sorgten dafür, dass die Tötungszentren funktionierten. Buchhalter, Versicherungsangestellte, Mitarbeiter von Pharmaunternehmen und städtische Beamte unterstützten ihre Tätigkeit. Lkw-Fahrer, Straßenbahnfahrer, örtliche Ladeninhaber und Lebensmittelhändler hielten den Betrieb aufrecht. All diese Menschen hatten Familien und Nachbarn, mit denen sie über die Geschehnisse sprachen. Auch viele Eltern, deren Kinder in den Anstalten festgehalten wurden, wussten von dem Programm. Einige retteten ihre Kinder aus den Tötungszentren, andere lieferten sie aus.

Da die Euthanasiemorde an Kindern und Erwachsenen auf dem Gebiet des Reichs stattfanden, wussten viele gewöhnliche Bürger, was in den Anstalten geschah. Die Nachbarn kannten den Geruch des Qualms, der aus den Kaminen der Krematorien aufstieg. Hunderttausende hörten, dass Freunde und Angehörige unter verdächtigen Umständen gestorben waren. Gesunde Menschen fanden nach ihrer Einlieferung innerhalb weniger Wochen einen angeblich natürlichen Tod.

Die sich häufenden Nachrichten über die Euthanasiemorde löste eine Welle der Empörung aus – insbesondere der Bischof von Münster prangerte die Verbrechen an –, was dazu führte, dass Hitler die »Aktion T4« im August 1941 für offiziell beendet erklärte.24 Die Aktion T4 war das einzige Massenmordprogramm, das in der NS-Zeit auf massiven Widerstand bei der deutschen Bevölkerung stieß. Dieser mutige Widerstand war lobenswert, deutet zugleich jedoch auf ein verstörendes Phänomen hin: Die Bürger protestierten gegen die Tötung von Landsleuten, nicht aber gegen die Ausrottung jener, die nicht der »Volksgemeinschaft« angehörten. Die Beendigung der Aktion T4 zeigt zudem, dass massive Proteste gegen andere Vernichtungsprogramme möglicherweise ebenfalls gewirkt hätten. Allerdings wurde die dezentralisierte Tötung angeblich behinderter Erwachsener unter strengerer Geheimhaltung fortgesetzt und kostete Hunderttausende Menschenleben.

Überall im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich wurden weitere systematische Mordprogramme durchgeführt. Im von deutschen Truppen besetzten Europa gab es mehr als 42.000 Lager, in denen unerwünschte Menschen festgehalten wurden, darunter 980 Konzentrationslager, 1150 jüdische Ghettos, 500 Bordelle, in denen Frauen zur Prostitution gezwungen wurden, 1000 Kriegsgefangenenlager und 30.000 Zwangsarbeitslager. Dazu kamen Tausende Auffang- und Transportzentren.25 Die Zahlen überfordern unsere Vorstellungskraft: Wenn an Betrieb und Versorgung jedes dieser 42.000 Lager nur 100 Personen beteiligt waren (eine offenkundig viel zu niedrig angesetzte Zahl), waren mehr als vier Millionen Menschen in der Vernichtungsmaschinerie beschäftigt. In diesem Buch zeige ich, wie sich mörderisches Denken und Handeln in Medizin und Gesellschaft festsetzten und ausbreiteten. Indem wir den Spuren Hans Aspergers und seiner Kollegen folgen, können wir die kleinen Entscheidungen nachvollziehen, die sich zu dieser Geschichte verdichteten.

Wie andere Menschen im Dritten Reich improvisierte Hans Asperger bei der Entscheidungsfindung: Er verteidigte Kinder, die in seinen Augen in die »Volksgemeinschaft« integriert werden konnten, während er Kinder, bei denen er eine Eingliederung für unmöglich hielt, in den Tod schickte. Die Verknüpfung von Helfen und Schaden macht die anscheinend widersprüchlichen Rollen und Absichten gewöhnlicher Menschen besser verständlich und führt uns vor Augen, wie die Diagnose im Dritten Reich über das Schicksal von Menschen entschied.

In diesem Buch untersuche ich, wie die nationalsozialistischen Wertvorstellungen und die Ereignisse in der NS-Zeit Hans Aspergers Vorstellung von der »autistischen Psychopathie« prägten. Ich spüre den Ursprüngen dieser Diagnose nach und verknüpfe Aspergers Denken und Handeln mit der Umwelt, in der er lebte. Indem wir Aspergers Person aus dem Gewirr der Ereignisse hervorheben, können wir sowohl die Entstehung der NS-Psychiatrie als auch die Ursprünge der Massenvernichtung im Kindereuthanasieprogramm nachvollziehen. Diese Geschichte beraubt den Autismus seiner geheimnisvollen Aura der Unvermeidlichkeit und sollte uns helfen, uns von dieser Unvermeidlichkeit zu befreien. Die Diagnose tauchte nicht sui generis als fertiges Gebilde auf, sondern sie entwickelte sich Stück für Stück; sie wurde von den Werten und Interaktionen von Psychiatrie, Staat und Gesellschaft geformt.

Das Verständnis dieser Zusammenhänge kann neues Licht auf das Konzept des Autismus werfen und uns die Auseinandersetzung mit seinen kulturellen Verzweigungen im 21. Jahrhundert erleichtern.

Kapitel 1 Auftritt der Experten

Hans Asperger war überzeugt, den kindlichen Verstand besser zu verstehen als jeder andere, und er glaubte, berufen zu sein, den kindlichen Charakter formen zu können. Er wollte das »innerste Wesen« eines Kindes erkunden.1 Seine Tochter berichtet, er habe sich gerne mit dem Türmer Lynkeus aus Goethes Faust verglichen, der während seiner Nachtwache singt:

Zum Sehen geboren,Zum Schauen bestellt,Dem Turme geschworen,Gefällt mir die Welt.

Von seinem Büro in der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik ließ er wie der Türmer den Blick über die Welt schweifen. Asperger war bekannt dafür, dass er eine Vorliebe für literarische Floskeln hatte und häufig aus der deutschen Literatur und klassischen griechischen und lateinischen Werken zitierte. Zudem prägte er eigene Bonmots. Er drückte sich gewählt und förmlich aus und sprach von sich selbst in der dritten Person.2 Er war ein selbstgewisser Mann, überzeugt, weise wie Lynkeus zu sein und den »Kosmos« rund um sich zu verstehen.

Hans Asperger stammte aus dem rund 80 Kilometer nördlich von Wien gelegenen Hausbrunn. Diese landwirtschaftlich geprägte Gemeinde lag im Herzen des Habsburgerreichs in einem kleinen Tal unweit der March, die heute die Grenze zur Slowakei bildet. Er war am 18. Februar 1906 als erstes von drei Kindern zur Welt gekommen. Das zweite Kind starb kurz nach der Geburt, sein vier Jahre jüngerer Bruder Karl sollte im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion fallen.

Hans Asperger wurde »mit viel Liebe, ja Selbstentäußerung von meiner Mutter, mit großer Strenge von meinem Vater« aufgezogen. Der Vater, Johann Asperger, stammte aus einer Bauernfamilie. Er war zur Berufsausbildung nach Wien gegangen, hatte als Buchhalter jedoch die frustrierende Erfahrung gemacht, mit seiner Ausbildung an Grenzen zu stoßen. Sein Sohn glaubte, der Vater habe stets vorzügliche Noten und tadelloses Verhalten von ihm erwartet, weil er wollte, dass sein Sprössling die Träume verwirklichte, die ihm selbst versagt geblieben waren. Obwohl Hans die hohen Erwartungen erfüllte, lehnte er die strengen Erziehungsmethoden seines Vaters später ab: »Ich habe es bei meinen Kindern nicht so gehalten und bei keinem meiner Patienten so gehalten.«3

Seine Einstellung zum Leben war romantischer als die seines Vaters. Als Kind war er nach eigener Aussage ein »wilder Leser«, dessen Begabungen in Fremdsprachen, Literatur (vor allem klassischer Literatur), Geschichte und Kunst lagen. Im Lauf der Jahre legte er sich eine Privatbibliothek von zehntausend Büchern zu und gelangte dank unersättlicher Lektüre zu »fortschreitender geistiger Reife«. Mit der Zeit gab das geschriebene Wort »strahlend seinen Sinn preis […], man könnte auch sagen, es kommt einem nach, es holt einen ein oder man holt es ein«.4

Die deutsche Jugendbewegung bot Asperger die Chance, der Enge seines strengen Elternhauses und der Schule zu entkommen. In der kameradschaftlichen Atmosphäre der Jungengruppen machte er spirituell befreiende Erfahrungen. Er genoss die Wanderungen und das Bergsteigen mit den »Fahrenden Scholaren« im konservativen katholischen Bund Neuland, den er sein Leben lang unterstützte. Die Gemeinschaftserfahrung im Bund Neuland prägte seine Vorstellungen von Erziehung und sozialen Bindungen. Später erinnerte er sich: »Geprägt weiß ich mich vom Geist der Deutschen Jugendbewegung, die eine der edelsten Blüten des deutschen Geistes war.« Noch im Jahr 1959 pries er diese Jugendbewegung als »weithin befruchtend [und] formbildend«.5 Seine Liebe zu Ausflügen bewahrte er sich sein Leben lang. Er unternahm Wanderungen, bestieg das Matterhorn und führte Jungengruppen durch die Wälder, wobei er sich unterwegs oft Gedanken notierte. Beim Bergsteigen lernte er auch seine Frau Hanna Kalmon kennen, mit der er fünf Kinder hatte.6

In geschlossenen Räumen war Asperger nach Aussage seiner Zeitgenossen gehemmt, kühl und distanziert. Heute wird über die Frage debattiert, ob Asperger an Asperger litt – ob er also selbst Merkmale des nach ihm benannten Syndroms aufwies. Wie wir sehen werden, ist es schwierig, einen Menschen anhand der Kriterien einzuschätzen, die Asperger im Jahr 1944 in seiner Definition der »autistischen Psychopathie« festhielt, und rückblickend ist das vollkommen unmöglich. In jedem Fall ist es in Anbetracht der harschen Kritik, die seine Definition des Syndroms enthält, sehr unwahrscheinlich, dass Asperger diese Diagnose bei sich selbst gestellt hätte. Allerdings deutete er an, dass er zumindest einige Symptome des Syndroms aufwies: Ein erfolgreicher Wissenschaftler, erklärte er, brauche einen »Schuss Autismus«.7

Asperger siedelte seine wissenschaftliche Berufung in jungem Alter an. Er beschrieb seine Erfahrung beim Sezieren einer Mäuseleber in der Schule in der dritten Person:

Die Leber wurde in ihren Lagebeziehungen geklärt und dann herausgenommen. Da gäbe es an der Oberfläche ein kleines weißes Hügelchen. Der Schüler schnitt es an – und zum großen Erstaunen kroch ein etwa zwei Zentimeter langer, wurmförmiger Parasit heraus. Das aber faszinierte den Schüler, der ich war […] wie da Leben in einem anderen Leben lebt, wie beide zusammen in engen gegenseitigen Beziehungen existieren. Sollte man dem nicht auf die Spur kommen? […] Und mir ist in diesem Moment klar geworden, das musst du studieren, da muss es weitergehen. Das war damals sehr ungewöhnlich, dass jemand in der 2. Klasse Gymnasium weiß, er wird Medizin studieren.8

Der große, schlaksige junge Mann hatte große Pläne, als er 1925 im Alter von neunzehn Jahren seinen Heimatort Hausbrunn verließ und sich auf den Weg nach Wien machte, wo er Medizin studieren wollte. Sein welliger blonder Haarschopf war an den Schläfen kahl geschoren, was seinem kantigen Gesicht gemeinsam mit der Drahtbrille zusätzliche Härte verlieh. In Wien erlebte Asperger den außergewöhnlichen Wandel der Metropole, der sein Leben prägen sollte. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war die Stadt zu einer Brutstätte sozialer Unrast, politischer Konflikte und wirtschaftlicher Katastrophen geworden. In diesem turbulenten Umfeld wurden Aspergers Vorstellungen von der kindlichen Entwicklung geprägt, die Geschichte dieses Mannes ist ohne die Verwandlung Wiens nicht zu verstehen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Wien die Kulturhauptstadt Europas, die Geburtsstätte der Moderne, wo in Kaffeehäusern, Salons und Schulen das künstlerische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Leben miteinander verschmolzen. Die großen kulturellen Leistungen wurden aus einem tiefen Kulturpessimismus geboren: Figuren wie Sigmund Freud, Gustav Klimt, Egon Schiele und Arthur Schnitzler suchten nach Antworten auf die verbreitete Furcht vor moralischem Niedergang, industriellen Umwälzungen und Staatsversagen.9

Im Wien der Zwischenkriegszeit bewahrheiteten sich all diese Befürchtungen. Die Stadt war vom wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ruin bedroht. Wien hatte unter den Folgen des Ersten Weltkriegs schwer zu tragen. Zwar war es nicht direkt von Zerstörungen betroffen, aber die Bevölkerung litt unter Hunger, von der Not ausgelösten Unruhen und allgemeiner gesellschaftlicher Unrast. Bei Kriegsende strömten Hunderttausende Flüchtlinge und Soldaten aus dem gesamten Habsburgerreich in die Stadt; viele von ihnen waren verwundet, krank und unterernährt. Der massenhafte Zustrom verschärfte die Nahrungsmittelknappheit und den Wohnungsmangel. Tuberkulose und Spanische Grippe breiteten sich aus.

Die schwache Nachkriegsregierung war nicht in der Lage, die Krise zu bewältigen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie am 11. November 1918 rief die Nationalversammlung eine demokratische Republik aus. Das neue politische System sah sich mit beängstigenden Herausforderungen konfrontiert, und es war nicht klar, ob die Demokratie unter diesen Bedingungen überhaupt überleben konnte. Durch die Friedensvereinbarungen mit den Siegermächten verlor das zerschlagene Habsburgerreich den Großteil seines Territoriums und seiner Bevölkerung: Übrig blieb Österreich mit seinen 6,5 Millionen deutschsprachigen Einwohnern – einem Achtel der Bevölkerung des Habsburgerreichs. Dem Land war es untersagt, sich mit den übrigen deutschen Ländern zusammenzuschließen.10

Zudem verlief ein tiefer Graben zwischen dem überwiegend linken und kosmopolitischen Wien, das ein Drittel der österreichischen Bevölkerung stellte, und den konservativen ländlichen Gebieten. Bei der ersten Gemeinderatswahl im Mai 1919 errangen die Sozialdemokraten einen Erdrutschsieg, womit Wien die einzige europäische Stadt mit mehr als einer Million Einwohner war, die eine sozialistische Regierung hatte. So verdiente sich die Stadt den Spitznamen »Rotes Wien«. Die austromarxistischen Sozialisten wollten einen demokratischen Sozialismus errichten und die Gesellschaft nicht durch eine gewaltsame Revolution, sondern durch stetige staatliche Regulierung umgestalten. Aber der konservative ländliche Raum schlug eine andere Richtung ein als die progressive Hauptstadt. Beide Seiten wollten keine Einmischung der anderen dulden. Wien verwandelte sich in ein eigenes Bundesland, damit das sozialistische Rathaus die Metropole wie einen Staat im Staat regieren konnte.

Obwohl die Sozialdemokraten eine stabile Mehrheit hatten und fest entschlossen waren, eine demokratische Gesellschaft zu errichten, nahmen die inneren Konflikte in der Hauptstadt zu. Wirtschaftskrise und Hyperinflation zerstörten die Sparguthaben, große Teile der Bevölkerung glitten in Armut ab. Der Wert der Österreichischen Krone schmolz rasch zusammen: Musste man 1919 noch sechs Kronen für einen Dollar bezahlen, so kletterte der Wechselkurs bis 1922 auf 83.000 Kronen pro Dollar. (Schlimmer war die Lage in Deutschland, dessen Währung von 8,2 Mark pro Dollar im Jahr 1919 auf 4,2 Billionen Mark pro Dollar im Jahr 1923 abstürzte.) Die politische Lage verschlechterte sich ebenfalls: Die Sozialisten mussten sich nicht nur mit der konservativen Christlichsozialen Partei auseinandersetzen, sondern das über die radikalen Eingriffe empörte »Schwarze Wien« versuchte, die Republik zu zerstören. Die antisozialistische und antisemitische Rechte verfocht einen reaktionären und autoritären Klerikalismus und lehnte die Demokratie grundsätzlich ab.11 Die Oppositionsparteien bauten paramilitärische Gruppen auf, die enttäuschte Kriegsveteranen anwarben und Waffenlager anlegten. Auf den Straßen Wiens kam es zu Protestmärschen, Kundgebungen und blutigen Zusammenstößen.

Die Wiener Bevölkerung machte sich nicht nur Sorgen über die Stabilität der neuen Republik, sondern auch über ihre eigenen Überlebenschancen. Die vom Krieg zermürbten Menschen schienen kaum in der Lage, Krisen und Auflösungserscheinungen zu überstehen: Ausgemergelte Frauen standen für Lebensmittel Schlange, auf den Straßen lungerten rachitische Kinder herum. Um eine gesunde und vitale Nation zu errichten, brauchte man eine gesunde und vitale Bevölkerung.

Um die Bürger für die neue sozialistische Gesellschaft zu gewinnen, leitete die Wiener Stadtregierung ein großes und gewagtes Wohlfahrtsexperiment ein.12 Der verantwortliche Stadtrat Julius Tandler wollte einen »neuen Menschen« schaffen. Er war überzeugt, dass ein geordnetes und hygienisches Milieu die gesundheitliche Verfassung der Bevölkerung verbessern werde; durch eine umfassende Volksfürsorge könne der Staat eine starke Nation schmieden.

Das in jener Zeit entwickelte »Wiener System« galt als eines der fortschrittlichsten Wohlfahrtssysteme in der westlichen Welt. Tandler wurde international gefeiert und besuchte zahlreiche Länder, die sich für die in Wien entwickelte Sozialpolitik interessierten. Obwohl die Demokratie in der ehemaligen habsburgischen Metropole unter denkbar ungünstigen Umständen entstanden war, wurde das dort entwickelte Sozialwesen wider Erwarten weltberühmt.

Das Wiener Wohlfahrtskonzept beruhte auf der Eugenik, die zu jener Zeit in vielen Ländern als wissenschaftlicher Zugang zur Bevölkerungsplanung galt und im gesamten politischen Spektrum Anhänger hatte: unter Linken ebenso wie unter Konservativen, unter Klerikalen genauso wie unter Feministinnen. Tandler zum Beispiel war Sozialist und Jude. Die Verfechter der Eugenik wollten den Verwerfungen in der modernen Gesellschaft mit rationalen Programmen und einer systematischen Bevölkerungsplanung begegnen. Die neuen Sozialsysteme in Europa und den Vereinigten Staaten beruhten auf einer »positiven« und einer »negativen« Eugenik. Mit den »positiven« Eingriffen sollten die Gesundheit und die Fortpflanzung wünschenswerter Bevölkerungsgruppen gefördert werden. Mit den »negativen« Interventionen sollte die Zahl der nicht wünschenswerten Menschen verringert werden, was man erreichen wollte, indem man sie von der Fortpflanzung abhielt, ihnen Sozialdienste vorenthielt und gegebenenfalls auch extremere Maßnahmen ergriff. Im Wien der zwanziger Jahre hatten beide Methoden ihre Anhänger.

Um die positive Eugenik zu verwirklichen, bemühten sich die Stadtväter um eine Regeneration der Bevölkerung an mehreren Fronten. Das Rathaus ließ zahlreiche Sozialwohnungen bauen, um die gesundheitliche und materielle Situation von Arbeiterfamilien zu verbessern, die in unhygienischen und überfüllten Unterkünften hausten: Zwischen 1923 und 1934 entstanden mehr als 380 Wohnblöcke, in denen 220.000 Menschen – ein Zehntel der Bevölkerung Wiens – Platz hatten. In den großen Wohnkomplexen fanden die Mieter moderne sanitäre Einrichtungen, gut beleuchtete Wohnungen und begrünte Höfe vor. Die Mieten entsprachen etwa vier Prozent eines Arbeiterlohns. Die Stadtverwaltung bekämpfte Krankheiten mit der Einrichtung von Kliniken und kostenlosen medizinischen Untersuchungen in Kindergärten und Schulen. Da Tuberkulose und Rachitis besonders verbreitet waren, wurde den Kindern die Möglichkeit gegeben, auf neu errichteten Spielplätzen, auf öffentlichen Sportplätzen sowie in mehr als zwanzig neuen öffentlichen Schwimmbädern und Sommerlagern auf dem Land an der frischen Luft zu spielen. Um den Bildungsstand der Jugend zu verbessern und die Kinder von der Straße zu holen, wurden Tagespflegestätten und Schulhorte eingeführt; die Zahl der öffentlichen Kindergärten stieg um mehr als das Doppelte auf 55. Die Vorhaben der Stadtregierung waren extrem ehrgeizig, doch, obwohl sich die praktische Durchführung als komplizierter erwies als die Entwicklung utopischer Vorhaben, wurden viele Ziele erreicht.

Diese lobenswerten Bemühungen gingen allerdings mit bedenklichen Bestrebungen einher. Die österreichische Eugenik wird von vielen Historikern wohlwollender beurteilt als ähnliche Bewegungen in anderen europäischen Ländern, was nicht zuletzt daran liegt, dass die katholische Bevölkerungsmehrheit Maßnahmen wie Zwangssterilisationen verhinderte. Außerdem wird das Vorgehen des Roten Wien von den autoritären Maßnahmen unterschieden, die Mitte der dreißiger Jahre vom Ständestaat und später vom NS-Regime ergriffen wurden. Doch die Architekten der verschiedenen Regierungssysteme verfolgten viele gemeinsame Ziele, und die Kontinuität der eugenischen Modelle ist unübersehbar.13

Julius Tandler zum Beispiel befürwortete die Zwangssterilisierung von »minderwertigen« Menschen, zu denen er all jene zählte, die unter Erbkrankheiten litten, körperlich oder geistig behindert waren oder kriminelle Neigungen hatten. Er sprach auch offen über die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« und verfocht damit ein Konzept, mit dem das NS-Regime später die Ermordung von Menschen rechtfertigte, die als untauglich eingestuft wurden.14 Die Vorstellung, man könne die Bevölkerung von unerwünschten Elementen reinigen, war in der Wiener Politik also lange vor der Herrschaft der Nationalsozialisten verbreitet.

Mit der Ausbreitung der eugenischen Wohlfahrtspolitik in den zwanziger Jahren hielten soziale Ängste Einzug in die medizinische Sphäre. In Wien, einer ungewöhnlich großen Metropole inmitten eines ansonsten ländlich geprägten Landes, waren die Menschen verstörenden Entwicklungen der modernen Gesellschaft ausgesetzt. Die öffentliche Wohlfahrt sollte die mit der Verstädterung einhergehenden Übel – Armut, überfüllte Unterkünfte, verdreckte Straßen, Sittenverfall – eindämmen, indem die Familien, die körperliche Gesundheit und das Verhalten der Menschen reguliert wurden.15 In den staatlichen Initiativen wurde die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse als Pathologie betrachtet, die es zu heilen galt. Der Staat legte an den Maßstäben der Mittelschicht ausgerichtete Normen für das Zusammenleben fest. Und er griff immer häufiger in das Privatleben der Bürger ein.

Die wohl radikalsten eugenischen Eingriffe im Roten Wien waren in der Sozialarbeit zu beobachten: Die Stadtverwaltung mischte sich zunehmend in die Aufzucht und Betreuung der Kinder ein. Die Eingriffe gingen über eine materielle Unterstützung hinaus und wurden auf Erziehung und Charakter ausgeweitet. Hans Aspergers Methode hatte ihren Ursprung in diesen weitreichenden Maßnahmen, die ein Netz von Kliniken, Sonderschulen, Besserungsanstalten und Kinderheimen zwecks staatlicher Beaufsichtigung der Kinderaufzucht hervorbrachten. Natürlich waren nicht alle mit diesem Zugang und der zugrunde liegenden Ideologie einverstanden. Aber die meisten Staatsbeamten, Pädagogen, Ärzte, Psychoanalytiker und Psychiater befürworteten ein umfassendes, interventionistisches Wohlfahrtssystem.

Bis zum Ersten Weltkrieg war die öffentliche Sozialpolitik auf vereinzelte korrigierende Eingriffe beschränkt gewesen. Die katholische Kirche und private wohltätige Einrichtungen hatten eine Armenhilfe organisiert, um die Not benachteiligter Menschen zu lindern, und Behörden und Gerichte hatten Kinder, die als problematisch eingestuft wurden, in Gefängnisse und Heime gesperrt, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Doch im Lauf der Zeit wurden derartige Hilfs- und Disziplinarmaßnahmen durch eine präventive Fürsorge ersetzt.16 Der Staat baute eine Armee eigens geschulter Sozialarbeiter auf, um das Leben benachteiligter Kinder mit umfassenden Maßnahmen zu begleiten, damit niemand mehr durch den Rost fiel.

Der Staat verlangte nun ab dem ersten Tag ein Mitspracherecht bei Fortpflanzung und Kindererziehung. Nach der Geburt eines Kindes besuchten Sozialarbeiter die Eltern, um ihnen Ratschläge zu Ernährung und Pflege zu geben und sicherzustellen, dass das Kind unter angemessenen Bedingungen aufwuchs. Da mittellose Familien ihre Babys oft in Zeitungspapier einwickelten, erhielt jede Mutter eine Babyausstattung. Dazu kamen ein Wochengeld sowie laufende Beratung und medizinische Kontrollen daheim und in Kliniken.

Die Sozialdienste beobachteten die familiären Verhältnisse. Mit besonderer Sorge wurden uneheliche Kinder und solche beaufsichtigt, deren Mütter arbeiten gehen mussten. Wenn die Sozialarbeiter herausfanden, dass eine Familie ihr Kind vernachlässigte, oder aus den Schulberichten des Jugendamts von der Existenz eines Problemkindes erfuhren, wurden den betroffenen Familien wiederholte Inspektionsbesuche abgestattet. Der Staat sicherte sich wachsenden Einfluss auf die Definition dessen, was bei Kindern und in ihren Elternhäusern als »normal« zu betrachten war. Hielten die Behörden die Bedingungen für inakzeptabel, so konnten sie ein Kind seiner Familie wegnehmen, um es in einer Pflegefamilie oder einem Kinderheim unterzubringen oder in eine Besserungsanstalt zu stecken. Die staatlichen Sozialdienste wuchsen und nahmen wachsenden Einfluss auf das Leben der Bürger.

An der Wiener Universitäts-Kinderklinik arbeitete ein 32 Jahre alter idealistischer Kinderarzt, der die forschen Eingriffe der Behörden mit wachsender Sorge beobachtete. Erwin Lazar hatte den Eindruck, dass die städtischen Beamten und die Richter oft willkürlich nach eigenem Gutdünken über das Schicksal von Kindern entschieden und Empfehlungen abgaben, ohne das kindliche Verhalten wirklich zu verstehen. Der Arzt wollte die Behörden dazu bewegen, sich Rat bei Experten für die kindliche Entwicklung zu holen, bevor sie ein Kind ins Heim steckten oder einsperrten. Lazars Ziel war es, den medizinischen Spezialisten Einfluss auf die wuchernde Bürokratie der Stadtverwaltung zu sichern, um die Entscheidungen über das Kindswohl auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Er bemühte sich um den Aufbau einer spezialisierten Abteilung in der Kinderklinik, die dieses Expertenurteil abgeben sollte (die Leitung dieser Abteilung übernahm später Asperger).

Lazar verfolgte ein kühnes Vorhaben. Er wollte eine neue Disziplin auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung ins Leben rufen: die Heilpädagogik. Diese Disziplin sollte zahlreiche Felder umspannen und ein »Novum« darstellen, »dessen Errichtung ein lang erstrebtes Ziel der Pädagogik, der Psychologie und der wissenschaftlichen Medizin in gleichem Maße darstellt«.17 Die Heilpädagogik sollte sämtliche Aspekte der kindlichen Gesundheit und Psyche sowie die familiären Umstände berücksichtigen, um eine umfassende Beurteilung zu ermöglichen. Das Feld der Heilpädagogik gab es in Deutschland, der Schweiz und Österreich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, aber diese Disziplin war auf die Sonderschulerziehung beschränkt.18 Einer der Ärzte in Lazars Team, Georg Frankl, lehnte diese Schule, deren wichtigster österreichischer Vertreter zu jener Zeit Theodor Heller war, als nicht fundiert ab und erklärte, dass »von der Heilpädagogik als Wissenschaft nicht viel mehr vorhanden war als Begriff und Name«.19 Lazar wollte die auf die Sonderschulerziehung beschränkte Disziplin aus dieser Nische herausholen und zu einer ganzheitlichen medizinischen Psychiatrie weiterentwickeln.

Lazars Vorstellung von der Heilpädagogik ist nicht leicht zu definieren: Sie umfasste neben der therapeutischen Pädagogik auch Orthopädagogik und Förderunterricht. Er ging von der Biologie aus. Der Begriff des Heilens deutete auch auf eine spirituelle Komponente hin, was die Heilpädagogik von der in den Vereinigten Staaten vorherrschenden Konzentration auf psychische Hygiene und Anleitung unterschied. Tatsächlich sahen Aspergers Kollegen ihre Mission in der »kindlichen Seelsorge«.20

Für sein heilpädagogisches Projekt bemühte sich Lazar um die Unterstützung von Clemens von Pirquet. Dieser visionäre Forscher, der internationale Anerkennung für seine Beiträge zur Immunologie genoss, leitete von 1911 bis 1929 die Wiener Universitäts-Kinderklinik und machte sie zu einer weltweit führenden Einrichtung auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Ein Kollege verglich Pirquets Visiten mit einer »Show« und berichtete, sie hätten so viele ausländische Besucher angelockt, dass die Klinik darüber nachgedacht habe, eine mehrsprachige Führung daraus zu machen.21 Pirquet setzte sich auch für soziale Anliegen ein. Als die Kinder Wiens nach dem Ersten Weltkrieg unter Hunger und Mangelernährung litten, übernahm er die Leitung der von der American Relief Administration organisierten Lebensmittelhilfe, die jeden Tag bis zu 400.000 Mahlzeiten bereitstellte.22 Pirquet war progressiv, setzte sich für die internationale Zusammenarbeit ein und unterstützte den beruflichen Aufstieg von Frauen und Juden. Er war offen für Experimente: Beispielsweise ließ er das Dach des Krankenhausgebäudes in eine »Freiluftabteilung« umwandeln, damit die Kinder bei jeder Witterung an der frischen Luft spielen und Kraft schöpfen konnten. Und Pirquet zeigte sich aufgeschlossen, als Lazar im Jahr 1911 mit seiner ungewöhnlichen Idee für eine Heilpädagogische Abteilung an ihn herantrat.23

Abb. 1: Die Universitäts-Kinderklinik in Wien.

Die Heilpädagogik passte gut zum in Wien gewählten multidisziplinären Zugang zur Sozialarbeit und verwandelte sich rasch in einen zentralen Bestandteil des Systems. Lazars Abteilung entwickelte sich zu einer der drei großen diagnostischen Kliniken Wiens (die beiden anderen waren der Psychologische Dienst des Jugendamts und der Pädagogische Dienst beim Stadtschulrat). Schulen, Wohlfahrtsämter und Gerichte schickten problematische Kinder in Lazars Klinik und baten um Empfehlungen dazu, ob diese Kinder psychologisch betreut, in einer Pflegeanstalt betreut oder in eine Jugendhaftanstalt gebracht werden sollten. Obwohl die Heilpädagogische Abteilung zur Kinderklinik gehörte, wurde sie von der für die Grundschulen zuständigen Abteilung des k. u. k. Bildungsministeriums finanziert. Und die Abteilung warb in den Schulzeitungen für ihre Dienste. Es war ein ehrgeiziges Unterfangen, in dem es darum ging, die medizinischen Experten in den Mittelpunkt eines Netzwerks staatlicher Einrichtungen zu rücken.24

Abb. 2: Die »Freiluftabteilung« auf der Dachterrasse der Kinderklinik im Jahr 1921.

Lazar bemühte sich hartnäckig, die Heilpädagogik in die staatlichen Strukturen zu integrieren. Die Kinderklinik bot Kurse für Sozialarbeiter, Lehrer und Ärzte an. Und sie hatte Modellcharakter innerhalb des Wiener Wohlfahrtssystems, denn die Stadt richtete auch in ihren Kinderheimen »Heilpädagogische Abteilungen« ein, die Kinder aufnahmen, beobachteten und Diagnosen stellten.25 Im Auftrag verschiedener Behörden organisierte Lazar mehrere Kinderheime neu, entwarf Bestimmungen des Jugendstrafrechts und beriet von 1918 bis 1925 das Gesundheitsamt des neuen Ministeriums für Volksgesundheit. Zu einer Zeit, als in den Schulen noch die körperliche Züchtigung üblich war, setzte er sich für eine Abschaffung der Prügelstrafe ein.26

Die Heilpädagogik diente dem vorrangigen Ziel der Wohlfahrtspolitik, das in der Sozialisierung der Kinder bestand. Es wurden verschiedene Zugänge gewählt, aber es ging immer darum, die »Gemeinschaftsfähigkeit« der Kinder zu fördern. Man wollte der Pflichtvergessenheit und Kriminalität vorbeugen und Kinder großziehen, die in der Lage sein würden, ein wirtschaftlich produktives und gesetzestreues Leben zu führen. Und man wollte ihnen einen Sinn für ihre Verpflichtungen gegenüber der Gruppe, Regeltreue und Integrität vermitteln. Es war ein Bildungsprojekt zur Förderung der emotionalen und Verhaltensstabilität.

Lazar interessierte sich insbesondere für »dissoziale« Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Er hielt es für wichtig, zwischen »endogenen« und »exogenen« Ursachen von Fehlentwicklungen zu unterscheiden: Die Dissozialität von Kindern konnte in seinen Augen entweder innere (physische oder psychische) Ursachen haben oder auf äußere Einflüsse wie Krankheiten oder ein schädliches Milieu zurückzuführen sein. In endogenen Fällen versuchten die Ärzte in Lazars heilpädagogischer Abteilung, zwischen »den psychischen und physischen Defekten von Verwahrlosten und Kriminellen« zu unterscheiden.27 Lazar interessierte sich für die physiologischen Details und untersuchte als Erstes die Genitalien eines Kindes, um Jungen, deren Hoden nicht hinuntergewandert waren, direkt an einen Chirurgen zu überweisen.28

Abb. 3: Ein Spielzimmer in der Kinderklinik, 1921.

Der Arzt Josef Feldner beschrieb Lazars außergewöhnliche Fähigkeit, das Wesen von Menschen auf Anhieb richtig zu beurteilen und »ihre Lebenskurve von Anfang zu Ende« zu sehen. Mit »verblüffender Sicherheit«, berichtete Feldner, habe Lazar »die meisten Kinder gesehen, die je einem Menschen zu sehen möglich war« – Tausende im Lauf von zwei Jahrzehnten. Doch einige Beamte in den Sozialdiensten und im Jugendgericht zweifelten an der Präzision seiner »Blitzdiagnosen«, in denen er »das Wesen, mögliche Verhalten, die Zukunft von Kindern und Jugendlichen« beurteilte.29 Unter Lazars Leitung wurde bei rund einem Drittel der beurteilten Kinder die Diagnose »Dissozialität« gestellt; bei einem Fünftel wurden »Lern- und Leistungsstörungen« festgestellt, und bei 30 Prozent lautete die Diagnose »disziplinarische Störung«. Trotz seines Idealismus konnte Lazars Urteil vernichtend ausfallen. »Sentimentalität lag ihm nicht«, wie es seine Mitarbeiter ausdrückten, und es kam vor, dass er ein Kind als »moralisch geschädigt«, »degeneriert« oder sogar als »Abfall« bezeichnete.30

Die Arbeit der Heilpädagogischen Abteilung wies unter Lazar sowohl liberale als auch autoritäre Elemente auf. Lazar wollte die Kinderbetreuung verbessern, aber in diesem Bemühen weitete er unwissentlich ein System aus, das im Lauf der Zeit genutzt werden sollte, um »dissoziale« Kinder zu kontrollieren und zu verurteilen.

Bei der Wahl seiner Terminologie folgte Lazar den Trends in der Entwicklungspsychologie der Zwischenkriegszeit, in der soziale und medizinische Urteile zusammenflossen. Die Eugenik bot die Möglichkeit zur biologischen Betrachtung der sozialen Organisation und hatte vielfältige Auswirkungen auf die Wiener Wohlfahrtspolitik – von psychologischen Auslesetests bis zur Sterilisation.31 Je häufiger die Sozialarbeiter die Experten zurate zogen, um herauszufinden, wie sie mit Kindern umgehen sollten, desto häufiger wurde abweichendes Verhalten als pathologisch eingestuft. Die verschwommene Terminologie trug dazu bei, die Grenzen zwischen sozialen und medizinischen Urteilen zu verwischen. Etiketten wie »Verwahrlosung«, »Gefährdung«, »Asozialität« oder »Erziehungsschwierigkeiten« kamen in sehr unterschiedlichen Fällen zum Einsatz. Das betroffene Kind konnte krank, aufsässig, von den Eltern vernachlässigt, in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt oder einfach arm sein. Der Mangel an »Gemeinschaftsfähigkeit« wurde zu einer soziomedizinischen Störung. Derartige Etiketten hatten auch erhebliche praktische Auswirkungen. Die Sozialarbeiter verwendeten sie in den Überschriften und Kurzfassungen ihrer Berichte und verankerten sie auf diese Art in Anamnesen und Diagnosen.32

Diese Urteile begleiteten ein Kind durch den Prozess der Expertentests und Beurteilungen in Kliniken und Fürsorgeeinrichtungen. Die gravierendste potenzielle Konsequenz war, dass ein Kind seinen Eltern weggenommen wurde, was tatsächlich immer häufiger geschah. Im Jahr 1936 wurden jeden Tag durchschnittlich 21 Kinder von ihren Familien getrennt und in die Obhut der Kinderübernahmestelle (KÜST) gegeben.33 Abhängig von der Beurteilung konnte ein Kind bei einer Pflegefamilie untergebracht oder in eines der vielen Kinderheime, Sonderschulen oder Besserungsanstalten der Stadt eingewiesen werden. Viele Betreuer hatten durchaus gute Absichten, aber die staatlichen Heime waren trostlose Orte, in denen die Kinder oft misshandelt wurden. Selbst wenn sie keiner Gewalt seitens der Betreuer oder anderer Jugendlicher ausgesetzt waren, litten sie dort unter Mangelernährung oder Vernachlässigung. Sie und ihre Familien mussten feststellen, dass Personen in neuen Berufen nun große Macht über ihr Leben hatten.

Die Kindesentwicklung war eine politisch komplexe Frage, in der die Rechte des Kindes und seiner Familie gegen das abzuwägen war, was die Experten als gesellschaftliches Interesse betrachteten. Doch die staatliche Aufsicht über die Kinderaufsicht fand im gesamten politischen Spektrum Unterstützung. Fachleute mit unterschiedlichem Hintergrund experimentierten mit Eingriffen, die liberale und autoritäre Elemente aufwiesen und Methoden sowohl der positiven als auch der negativen Eugenik beinhalteten. Progressive und Sozialisten waren der Meinung, eine stabile demokratische Gesellschaft könne nur errichtet werden, wenn der Staat die Pflege und Erziehung der neuen Generationen in die Hand nehme. Moralisten aus der Mittelschicht wollten den Armen bürgerliche Normen einimpfen. Katholische und konservative Fachleute wollten die Fortpflanzung und ein traditionelles religiöses Familienideal fördern.34 Wien hatte sich in einen Schmelztiegel für Ideen verwandelt, in dem eine Vielzahl von Pädagogen, Kinderärzten, Psychiatern und Psychoanalytikern in Schulen, Gerichten, Kliniken und einem wachsenden Sozialsystem unterschiedliche Theorien anwandte.

Welches auch immer die politischen Ziele sein mochten, fest steht, dass die staatlichen Eingriffe in die Familie die Situation von Kindern verbessern, andererseits aber auch katastrophale Folgen haben konnten, als Österreich in den Faschismus schlitterte und im Dritten Reich aufging.

Die Psychoanalyse leistete wichtige Beiträge zur Erforschung der Kindesentwicklung in Wien. In der Stadt gab es zahlreiche Pioniere der Psychoanalyse, denen das Wohl der Jugend am Herzen lag, darunter August Aichhorn, Charlotte Bühler, Helene Deutsch, Anna Freud, Hermine Hug-Hellmuth und Melanie Klein. Wie Anna Freud erklärte: »Damals in Wien waren wir alle begeistert, energiegeladen: Es war, als würde ein neuer Kontinent entdeckt, und wir waren die Entdecker und hatten eine Chance, etwas zu verändern.«35

Auch Sigmund Freud befürwortete soziale Eingriffe. In seiner Rede vor dem 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im Jahr 1918 verkündete er: »So wie der Arme mittlerweile das Recht auf lebensrettende Hilfe durch die Chirurgie hat, sollte er auch das Recht auf Beistand für seinen Geist haben.«36 Auf Freuds Betreiben eröffneten Psychoanalytiker in den zwanziger und dreißiger Jahren in mehreren europäischen Städten, darunter Berlin, Zagreb und London, Ambulatorien, in denen sich mittellose Personen einer kostenlosen Analyse unterziehen konnten.

Wenn wir von der Psychoanalyse hören, haben wir oft das Bild eines Patienten aus der Oberschicht vor uns, der in einer eleganten Praxis auf einem Sofa liegt, aber in der Realität sahen die Wiener Psychoanalytiker eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin, auch den benachteiligten Einwohnern der Stadt zu helfen. Das im Jahr 1922 gegründete Psychoanalytische Ambulatorium bot eine kostenlose Betreuung sowie ein Ausbildungsprogramm an, und die Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung widmeten ein Fünftel ihrer Zeit unentgeltlich den Patienten des Ambulatoriums. Ihr Ziel war es, die Gesellschaft zu verändern, indem sie die psychische Gesundheit der Menschen wiederherstellten. Zu den Mitarbeitern zählten Alfred Adler, Bruno Bettelheim, Helene Deutsch, Erik Erikson, Anna Freud, Erich Fromm, Carl Jung und Melanie Klein.37 Die Psychoanalytiker verfolgten auch zahlreiche andere Initiativen. Beispielsweise arbeitete August Aichhorn mit verhaltensauffälligen und straffällig gewordenen Jugendlichen, für die er 1918 ein staatlich finanziertes Betreuungszentrum in Oberhollabrunn einrichtete, wo er mit Lazar zusammenarbeitete. Alfred Adler gründete mehrere Beratungszentren in Wien, in denen er nicht nur Kinder betreute, sondern auch ihre Eltern und Lehrer beriet.38

Auf diesem Experimentierfeld blühte der Gedankenaustausch zwischen Psychoanalytikern und Psychiatern, obwohl sich die theoretischen Zugänge beider Disziplinen unterschieden: Die Psychoanalytiker konzentrierten sich auf das Innenleben ihrer Patienten und die Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, während sich die Psychiater auf die physiologischen Erkenntnisse und insbesondere auf die Neurologie stützten.39 Aber in den eng verwobenen Einrichtungen Wiens fand ein reger formaler und nicht formaler Austausch zwischen den Disziplinen statt. Die Fachleute wechselten zwischen den Schulen, Kliniken und Organisationen hin und her und hatten auch in ihrer Tätigkeit für die städtischen Sozialdienste beruflich miteinander zu tun. Im Lauf der Zeit knüpften die Psychoanalytiker ein engeres soziales Netz, und ihre Disziplin zog eine wachsende Zahl jüdischer Fachleute an. Die Psychoanalyse wurde sogar als »jüdische Wissenschaft« bezeichnet. Aber die Entwicklung sowohl der Psychiatrie als auch der Psychoanalyse ist undenkbar ohne die wechselseitige Beeinflussung der beiden Disziplinen.40

Zu den Orten, an denen Psychiatrie und Psychoanalyse einander begegneten, zählte die vom Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg geleitete Psychiatrisch-Neurologische Klinik der Wiener Universität im Allgemeinen Krankenhaus.41 Obwohl der Psychiater Wagner-Jauregg die Psychoanalyse ablehnte, förderte er einen regen und unvoreingenommenen Gedankenaustausch in seiner Klinik. Die Psychiater, die zu Beginn ihrer Laufbahn durch das Krankenhaus geschleust wurden, vertieften nicht nur ihre psychiatrischen und neurologischen Kenntnisse, sondern machten auch Bekanntschaft mit Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Pädagogik. Einige dieser Psychiater wandten sich der Modedisziplin der Psychoanalyse zu. Der regelmäßige Zustrom von Psychiatern in die Psychoanalyse war eine Gewähr dafür, dass das Gespräch zwischen den beiden Disziplinen nicht zum Stillstand kam.42

Erwin Lazar war in Wagner-Jaureggs Klinik ausgebildet worden und hatte kurze Zeit dem dortigen Ärzteteam angehört. Bei der Gründung seiner Heilpädagogischen Abteilung konnte Lazar auf die Unterstützung Otto Pötzls zählen, der Wagner-Jauregg als Leiter der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik nachfolgte; Pötzl war einer der drei Unterzeichner, die sich bei der medizinischen Fakultät der Universität Wien für Lazars Projekt einsetzten.43

Die Psychoanalytiker konnten Lazars Heilpädagogik jedoch wenig abgewinnen. Obwohl er für sich in Anspruch nahm, sich auf Freuds und Adlers Theorien zu stützen, sahen viele Psychoanalytiker kaum Verbindungen und lehnten seinen Zugang ab. Lazars Mitarbeiter Georg Frankl verteidigte die Abteilung gegen den Vorwurf der Psychoanalytiker, die Heilpädagogik sei »systemlos« und »unoriginell« und stelle lediglich »ein Mosaik aus zahlreichen Splittern anderer Wissenschaften« dar.44

Helene Deutsch, eine angesehene Psychoanalytikerin, hatte nur schlechte Erinnerungen an ihre Tätigkeit in Lazars Abteilung, in der sie zu Beginn ihrer Laufbahn gearbeitet hatte. Sie beklagte sich über Lazars intuitiven, »anarchischen« Zugang zur Beurteilung der kindlichen Psyche und bezeichnete seine Methode als »wirres Gemisch von Tests«. Die Atmosphäre in der Abteilung empfand Deutsch als furchtbar, Lazar war in ihren Augen eine »lächerliche Karikatur«.45

Doch obwohl das Verhältnis zu den tonangebenden Wiener Psychoanalytikern und Psychiatern gespannt war, gab es Überschneidungen zwischen Lazars Abteilung und diesen Kreisen. Unter Aspergers Leitung isolierte sich die Heilpädagogische Abteilung zusehends von den prominenten Vertretern diese beiden Disziplinen und arbeitete getrennt von den Netzwerken, für die Wien berühmt war. Die Distanzierung begann, als die Universitäts-Kinderklinik dem progressiven Idealismus der zwanziger Jahre den Rücken kehrte und sich dem Autoritarismus zuwandte.