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Die Ming-Dynastie wird zum Schlachtfeld für die Bruderschaft der Assassinen und den Templerorden in diesem Actionroman zu einem bisher unerforschten Teil des beliebten Assassin's-Creed-Universums. China, das 16. Jahrhundert. Die Assassinen sind fort. Zhang Yong, der unbarmherzige Anführer der Acht Tiger, schlägt aus dem Tod des Kaisers Kapital und eliminiert alle seine Gegner, sodass nun der Templerorden alle Macht inne hat. Shao Jun, die letzte Vertreterin ihres Clans, entkommt nur knapp dem Tod und hat keine andere Wahl, als aus ihrem Heimatland zu fliehen. Sie schwört, ihre einstmaligen Waffenbrüder zu rächen, und reist nach Europa, um vom legendären Ezio Auditore zu lernen. Nach ihrer Rückkehr ins Reich der Mitte reichen ihr Säbel und ihre Entschlossenheit allein nicht aus, um Zhang Yong zu eliminieren: Sie muss Verbündete um sich scharen und sich in den Schatten halten, um die Acht Tiger zu bezwingen.
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Seitenzahl: 504
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YAN LEISHENG
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON
HELGA PARMITER
Die deutsche Ausgabe von ASSASSINS CREED: DER MING-STURMwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteurund Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Stonehouse,Printausgabe gedruckt von GGP Media. Printed in Germany.
Titel der Originalausgabe:
ASSASSINS CREED: THE MING STORM
First published by Aconyte Books in 2020
Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd
Copyright © 2021 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Assassin’s Creed, the Assassin'sCreed logo, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks ofUbisoft Entertainment in the U.S. and/or other countries.
German translation copyright © 2021 by Cross Cult.
Print ISBN 978-3-96658-613-9 (November 2021)
E-Book ISBN 978-3-96658-614-6 (November 2021)
WWW.CROSS-CULT.DE
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
EPILOG
Aufgepeitscht vom Wind blühten Wellen auf der Oberfläche der Dünung auf wie zahllose Blumen aus blaugrünem Wasser.
Taki Choji bewunderte das wunderbare Funkeln von seinem Sitzplatz auf einem Felsen am Wasser und erinnerte sich an die Kanons, die er während seiner Ausbildung zum Mönch gelesen hatte, in denen die Augen Buddhas mit der Lotusblume verglichen wurden. Nachdem er im Alter von fünfzehn Jahren exkommuniziert worden war, hatte er sein Schwert in den Dienst eines Fürsten gestellt, bevor er ein herrenloser Ronin und dann ein Pirat geworden war. Er hatte seine Kindheit im Kloster in die Tiefen seines Geistes verbannt, um jede Form von Mitgefühl so gut wie möglich abzulegen. Was also weckte jetzt solche alten Erinnerungen?
Ein weißes Segel erregte seine Aufmerksamkeit. Er behielt es im Auge und rief: »Katana! Katana!«
Ein junger Mann lief zu ihm. »Ja, Vater?«
Der junge Mann, der noch die Kleidung eines Kindes trug, war ein Waisenkind, das Taki Choji zu Beginn seiner Gesetzlosenlaufbahn aufgelesen hatte. Damals hatte seine Bande nur fünf Mitglieder gezählt und nur kleine, einsame Handelsschiffe angreifen können, bis er eines Tages beschlossen hatte, das Schicksal herauszufordern, indem er ein großes, gestrandetes Schiff angegriffen hatte. Kaum hatte er das Schiff betreten, war ihm ein schrecklicher Gestank in die Nase gestiegen: Das Deck war mit den Leichen der Besatzung übersät gewesen, Opfer eines früheren Angriffs. Als Taki Choji das Schiff nach irgendetwas Wertvollem durchsucht hatte, hatte er einen kleinen Jungen entdeckt, der weder laufen noch sprechen konnte und vor Hunger und Durst halb tot war. Er schwang schwach ein Katana, als Taki Choji sich näherte. Das Kind hatte fünf oder sechs Tage zwischen verwesenden Leichen überlebt und schien immer noch entschlossen, sich einem neuen Piratenangriff zu stellen. Diese Charakterstärke hatte etwas in dem normalerweise emotionslosen Taki Choji entfacht und er hatte beschlossen, das Waisenkind zu adoptieren. Er hatte ihm den einfallslosen Namen Katana gegeben.
Mit seinen kaum sechzehn Jahren schien der Junge für die Seefahrt geboren zu sein. Seine Schwimmfähigkeiten und sein wildes Temperament, das durch das Leben als Pirat geprägt worden war, machten ihn zu einem unverzichtbaren Mannschaftsmitglied seines Adoptivvaters.
Taki Choji erhob sich und zeigte auf das kleine Segel am Horizont. »Katana, das ist wahrscheinlich Vorsteher Sun. Sag den anderen, sie sollen sich bereit machen.«
Der Jugendliche schirmte seine Augen ab, während er seinerseits das Meer mit Blicken absuchte. »Ist das nicht Wangs Schiff?«
»Nein, Wangs Segel sind grau.«
Taki Chojis Männer waren Vagabunden ohne Bindungen oder Ressourcen, aber er war etwas gebildeter. Er hatte gelernt, dass es in seinem Interesse war, möglichst wenig Unruhen an den Grenzen des Ming-Reichs zu verursachen. Zu diesem Zweck hatte er Abkommen mit einigen Küstendörfern geschlossen. Jeden Monat lieferten sie ihm einen Teil ihrer Ernte im Gegenzug dafür, dass sie in Ruhe gelassen wurden. Schließlich hatte er sich auf einer kleinen Insel mit einer Süßwasserquelle niedergelassen. Er erwartete, dass Sun, einer der örtlichen Stadtvorsteher, seinen Tribut in den nächsten Tagen entrichten würde.
Dennoch war es das Beste, auf der Hut zu bleiben. Diese Insel war seit einem Jahrzehnt Taki Chojis Stützpunkt: Sie war nicht nur die Heimat seiner Mannschaft, sondern besaß auch einen kleinen Pier, an dem kleine Boote sicher vertäut waren, sodass er kurzfristig in See stechen konnte. Er hielt immer Ausschau nach kaiserlichen Truppen, die keine moralischen Skrupel hätten, sich für einen Überraschungsangriff als Vorsteher Sun zu verkleiden. Der von Katana erwähnte Wang war ein weiterer Pirat, der die Meere zwischen Japan und dem Ming-Reich heimsuchte und sowohl Banditen als auch Händler zu seiner Flotte zählte.
Taki Choji graute vor dem baldigen Ende ihrer friedlichen Koexistenz. Sie hatten zum gegenseitigen Wohlstand vereinbart, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen einzumischen. In letzter Zeit war er jedoch in Geschäfte verwickelt gewesen, an denen auch Wang ein Interesse hatte, was bedeutete, dass ein zukünftiger Konflikt unvermeidlich war. Er war beruhigt, dass die sich nähernden Schiffe nicht die Farben Wangs trugen.
Taki Chojis Männer, etwa ein Dutzend Ronin, die aus dem Chaos dieser Zeit hervorgegangen waren, verbrachten ihre Zeit zwischen den Raubzügen mit Trinken und Spielen auf der Insel. Sie warteten sehnsüchtig auf jede Lieferung von Vorsteher Sun, nach denen sich die Tische unter Essen und reichlich Alkohol bogen. In Erwartung des bevorstehenden Festmahls ließen sie alles stehen und liegen und eilten zum Dock, um es zu beobachten.
Katanas Blick war fest auf das sich nähernde Schiff gerichtet und er murmelte: »Vater, das ist nicht Vorsteher Sun.«
»Wer ist es dann?«, fragte Taki Choji, dessen Sehkraft mit den scharfen Augen seines Adoptivsohns nicht mithalten konnte.
»Ein alter Mann mit blasser Haut … und ohne Bart.«
Der Piratenkapitän lächelte. Wenn es ein alter Mann war, gab es nichts zu befürchten. Vielleicht war Vorsteher Sun heute zu beschäftigt und hatte jemand anders geschickt, um an seiner Stelle den Tribut zu liefern. Sein umfangreiches Wissen über die Seefahrt sagte ihm, dass das Schiff nicht mehr als zehn Personen an Bord haben konnte, wenn man seinen Tiefgang betrachtete. Sollten die Neuankömmlinge feindliche Absichten hegen, wären er und seine Männer zahlenmäßig im Vorteil.
»Wir werden an Bord gehen und sehen, welchen Tribut sie mitgebracht haben«, verkündigte er.
In diesem Moment legte das Boot an. Kaum hatte sich der Steg herabgesenkt, betraten ihn Taki Choji, der Mann, der als seine rechte Hand fungierte, und sein Adoptivsohn, bevor irgendjemand von Bord gehen konnte. Obwohl Taki Choji in den vergangenen Jahren nur selten chinesischen Boden betreten hatte, war er immer in Kontakt mit der Küste geblieben und hatte gelernt, fließend Mandarin zu sprechen. In dieser Sprache sprach er, als er das Deck erreichte und sich mit zusammengepressten Händen zur Begrüßung verbeugte. »Darf ich fragen, was die ehrenwerten Besucher auf unsere Insel führt?«
Der alte, bartlose Mann, den Katana gesichtet hatte, stand am Bug des Bootes. Er näherte sich und verbeugte sich seinerseits. »Mein Name ist Zhang. Vorsteher Sun schickt mich, um Euch seinen Tribut zu entrichten. Habe ich die Ehre, mit Taki Choji zu sprechen?«
Zhangs Haltung war freundlich und obwohl sein Haar bereits weiß war, besaß er die klare Stimme eines jungen Mannes. Taki Choji schob den Gedanken beiseite und beeilte sich, zu antworten: »Ja, das bin ich. Ich danke Euch und bitte übermittelt Vorsteher Sun meine Dankbarkeit.«
Zhang reagierte nicht und bedeutete mehreren seiner Leute, eine große Holzkiste auf Rädern heranzubringen, die so hoch wie ein Mann und so breit wie zwei war. Sun hatte schon früher Fleisch und Getreide geschickt, aber nie etwas so Großes wie dies hier.
»Warum hat der Vorsteher diese Kiste geschickt? Wo ist unser Vieh?«, fragte Taki Choji erstaunt.
Immer noch lächelnd antwortete Zhang: »Bitte verzeiht uns. Vor zwei Monaten sind unsere Hühner an einem Fieber erkrankt, sodass wir nur gepökelte Fleischwaren anbieten können. Wir werden versuchen, das bei der nächsten Lieferung wiedergutzumachen.«
Obwohl die Kiste groß war, konnte sie nicht schwer sein, denn es waren nur zwei Männer nötig, um sie zu bewegen. Gereizt machte der Pirat seinen Unmut deutlich. »Jeden Monat muss Vorsteher Sun vierhundert Pfund Reis und Mehl und zweihundert Pfund Hühner und Eier abliefern. Wie soll das alles in diese Kiste passen?«
Zhang zog einen Messingschlüssel aus seiner Robe hervor. »Herr Taki kann sich selbst davon überzeugen, dass die versprochenen Mengen tatsächlich darin enthalten sind.«
Hätte er weiter auf ihre Schwierigkeiten hingewiesen oder versucht, sein Verständnis zu erwecken, hätte der Pirat bald sein Tachi gezückt. Aber er zügelte seine Wut, vielleicht besänftigt durch die ruhige Miene des alten Mannes, und reichte den Schlüssel an einen seiner Männer weiter.
»Waretsuku, komm und überprüfe den Inhalt dieser Kiste«, befahl er. Er wandte sich an den Kapitän des Bootes: »Herr Zhang, ich muss eine Weile bei Euch bleiben, wenn es Euch nichts ausmacht.«
Taki Choji befürchtete, dass der Mann fliehen würde, wenn man ihn unbeaufsichtigt ließ. Er könnte dann später die Menge der Waren, die die Banditen auszählten, bestreiten. Das würde ihn zwingen, diese Vereinbarung zu beenden, um nicht das Gesicht zu verlieren. Jetzt verstand er die Abwesenheit von Sun, der wohl hoffte, die Schuld auf Zhang abwälzen zu können, falls die Situation eskalierte. Wenn der Tribut nicht ausreichte, würde Taki Choji nicht zögern, den alten Mann als Geisel festzuhalten, bis der Vorsteher die fehlenden Güter lieferte.
Aber der Abgesandte trug einfach ein breites, furchtloses Lächeln auf den Lippen. »Ja, ja, natürlich.«
Die Kiste wurde, gehalten von einem Seil, vorsichtig den Steg hinuntergerollt, wo die Piraten sie übernahmen und in eines der Gebäude schoben. Zahlenmäßig der Besatzung des Bootes überlegen, bewegten sie sie so mühelos, dass Taki Chojis Zweifel wuchsen. Wenn sie die richtigen Mengen enthielt, musste es sich um irgendeine Art von Magie handeln. Bei näherer Betrachtung wirkte Zhang, als würde er etwas verbergen, sein Gesichtsausdruck war nahezu undurchdringlich.
Ein Mann mit blonden Haaren und blauen Augen tauchte aus dem Laderaum des Bootes auf.
Obwohl Taki Choji schon oft Fremde gesehen hatte, überraschte es ihn, hier einen zu treffen. Doch inzwischen begegnete man Männern aus dem Westen immer häufiger. Der Mann überquerte das Deck und sprach Zhang respektvoll an. »Verehrter Generalhauptmann, alles ist in Ordnung.«
Der ältere Mann nahm das schweigend zur Kenntnis, ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Taki Choji bemühte sich, den ungewöhnlichen Akzent zu verstehen, stellte aber überrascht fest, dass der Mann den Alten nicht beim Namen genannt hatte. Er befürchtete, dass die beiden irgendeinen hinterhältigen Trick planten, und massierte nervös sein Kreuz, wobei er seine Hand nahe an seinem Schwert hielt. Plötzlich ertönte hinter ihm ein Schrei.
Er war voller Panik und Schrecken. Nicht einmal eine Klinge in der Kehle eines der blutrünstigen Kriminellen unter Taki Chojis Kommando hätte so einen Schrei hervorgerufen. Er wandte den Kopf und verdrehte sich den Hals, als ein donnerndes Brüllen aus dem Lager ertönte. Das Zuschlagen einer Tür hallte wider. Eine schwarze Silhouette durchbrach das Dach des Gebäudes und stieg in die Luft. Sie sah aus wie ein Mann.
Die Dächer der Holzhäuser waren nicht sehr solide gebaut, gerade stabil genug, um Wind und Regen zu widerstehen, aber es war trotzdem unglaublich, dass sie so leicht durchbrochen werden konnten. Der Mann, der etwa zwölf Fuß in die Luft geflogen war, stürzte auf halbem Weg zwischen Lager und Dock zur Erde. Sein blutverschmierter, regloser Körper zeigte keinerlei Lebenszeichen.
Taki Choji betrachtete den toten Mann und holte tief Luft. Es war Fukuyama Waretsuku, sein Assistent. Er war Schwertkämpfer und beherrschte einen schnellen und präzisen Stil, der in keiner traditionellen Schwertkunstschule zu finden war. Sie hatten unter demselben Fürsten gedient, waren dann nach dessen Tod zu Wanderern geworden und schließlich zur See gefahren, um nie wieder einem anderen zu dienen. Waretsuku musste mindestens zweihundertzwanzig Pfund wiegen. Entweder war er mit so viel Kraft durch das Dach gesprungen, dass er sich in die Luft erhoben hatte – was äußerst unwahrscheinlich schien –, oder jemand hatte ihn geworfen, was übermenschliche Kraft erfordert hätte. Von einem Gefühl des Unbehagens gepackt, legte Taki Choji seine Hand auf den Knauf seines Tachi und nahm eine defensive Haltung ein.
»Wer seid Ihr?«, rief er, zog sein Schwert in einer fließenden Bewegung aus der Scheide und richtete es auf den Fremden, bereit, ihn zu töten, wenn die Antwort ihn nicht zufriedenstellte.
Da sich die Situation gegen ihn wendete, musste er zuerst zuschlagen. Mit dem Schlag des buddhistischen Mönchs, einer geheimen Schwerttechnik, würde er dem Westler mit der unverständlichen Sprache im Handumdrehen ein Ende bereiten.
Wieder erhoben sich Schreie aus dem Lager, aber sie waren weniger panisch und enttäuschten den älteren Mann sichtlich.
Taki Choji hatte gelernt, im Kendo-Stil zu kämpfen, seine Fähigkeiten aber über die Jahre auf See verfeinert. Beim Schlag des buddhistischen Mönchs bewegte sich die Klinge von rechts nach links, wobei ihre brutale Kraft durch die Stärke ihres Trägers erhöht wurde – beim Angriff auf ein Schiff benutzte Taki Choji sie, um Gegner von der Schulter bis zur Hüfte in zwei Hälften zu spalten.
Er griff den Fremden ohne Vorwarnung an, doch der Mann hatte bereits mit seiner rechten Hand nach seinem linken Handgelenk gegriffen und zog eine rasiermesserscharfe Klinge hervor, die nicht breiter als ein Finger war. Der Westler drehte sich blitzschnell und antwortete mit einem kraftvollen Stoß, der Taki Choji durchbohrt hätte, wäre er nicht einen halben Fuß außer Reichweite gewesen.
Der Pirat nutzte die Überraschung seines Gegners und versuchte, ihm mit seinem Tachi den Schädel zu spalten, wurde aber von Zhangs Schwert mit einem lauten, metallischen Klirren geblockt, als dieser in den Kampf eingriff. Nachdem er nur um Haaresbreite davongekommen war, war das Gesicht des Fremden aschfahl geworden.
Zhang hatte ebenfalls eine dünne Klinge, im Stil derer, die man in den Zentralebenen Chinas fand. Taki Choji erwartete, dass diese zarten Waffen unter der Wucht seiner Angriffe zerbrechen würden, aber sie hielten stand. Seine Angriffskraft verpuffte bei Zhangs wendigen Kontern.
Der Pirat war erstaunt über die Schnelligkeit und das Talent des scheinbar gebrechlichen und ruhigen alten Mannes, der allmählich die Oberhand gewann. Wie um ihn aus dieser Falle zu retten, ertönte ein Knurren und ein Schatten fiel plötzlich über den Kopf des Kapitäns.
Es war Katana, der seine namensgebende Waffe gezogen hatte, sobald er seinen Adoptivvater in Schwierigkeiten gesehen hatte. Taki Chojis Männer waren alle Experten im Umgang mit Säbel oder Schwert, und der junge Mann hatte, statt nur eine bestimmte Schule zu studieren, von allen gelernt und einen zusammengewürfelten Stil entwickelt, der seiner Geschwindigkeit und seiner leichten Statur angepasst war. In seinen Händen war die kurze Klinge, eine furchterregende Waffe, die in der Vergangenheit bereits sechs Männern das Leben genommen hatte.
Während Zhang damit beschäftigt war, Taki Chojis Schwert in Schach zu halten, nahm er mit einem Aufblitzen von Überraschung in den Augen wahr, wie der Junge einen flinken Sprung machte, um zuzuschlagen. Stahl blitzte vor dem Gesicht des alten Mannes auf und er parierte die Klinge im letzten Moment. Katana ignorierte die Vibration, die seinen Arm hinaufzuckte, aber Zhang packte die kurze Klinge zwischen zwei Fingern, drehte sie und schlug seine Handfläche gegen das Herz des Jungen.
Die Bewegung mochte harmlos erscheinen, doch Katana spürte sofort, wie ihm die Kraft vollständig entzogen wurde. Zhang übernahm die Kontrolle über seine Druckpunkte und zog den jungen Mann sanft zu sich heran. Ein wenig mehr Druck würde sein Opfer dazu bringen, Blut zu spucken und zusammenzubrechen. Er ließ Taki Chojis Schwert frei und der Pirat sprang schnell einige Schritte zurück.
Beim Anblick seines Adoptivsohns, der am Rande des Todes stand, flehte er: »Herr Zhang, bitte habt Erbarmen!«
Diese Reaktion hatte der Hauptmann von dem grausamen und gnadenlosen Piraten nicht erwartet.
»Wie bitte?«
Mit seiner Hand, die er immer noch gegen Katanas Brust drückte, konnte er den jungen Mann jederzeit töten. Der arrogante Jugendliche, der zwar gelähmt war, aber immer noch sprechen konnte, hätte sich nie vorstellen können, durch die Hände eines alten Mannes zu sterben, ohne auch nur einen einzigen Treffer gelandet zu haben. Trotz seiner Angst war er allerdings noch nicht bereit aufzugeben und protestierte lautstark, als er hörte, dass sein Adoptivvater seine Kapitulation anbot. »Vater! Mach dir keine Sorgen um mich, töte ihn!«
Das Gesicht von Taki Choji war erbleicht. Er, der noch nie Emotionen gezeigt hatte, der sich noch nie jemandem gebeugt hatte, hatte während des kurzen Austauschs schnell seine aussichtslose Lage erkannt. Wenn es um sein Leben gegangen wäre, wäre er lieber gestorben, als sich zu ergeben, aber das Leben von Katana war zu kostbar, um es aus Stolz zu opfern. Wie hatte dieser Mann ihn in eine solche Situation bringen können, unfähig, auch nur die kleinste Bewegung zu machen?
»Herr Zhang, bitte, lasst uns gehen, und wir werden Euer Land unbehelligt lassen. Und solltet Ihr wegen der illegalen Waren gekommen sein, kann ich Euch sagen, wo sie versteckt sind«, sagte der Bandit in resigniertem Ton.
Taki Choji hatte schon lange aufgehört zu zählen, wie viele Schiffe er überfallen hatte. Er tötete wahllos, ohne Rücksicht auf das Flehen der Kaufleute, und Katanas Leben war das Einzige, das ihm etwas bedeutete. Er nahm an, dass Zhang angegriffen hatte, um die Kontrolle über den illegalen Handel zu erlangen, in den er verwickelt war. Also wollte auch Wang ins Geschäft einsteigen und hatte diesen Mann vorgeschickt.
Der alte Mann starrte ihn einen Moment lang an, bevor er sich dem Fremden zuwandte, der immer noch blass war, nachdem die Klinge des Piraten ihn beinahe enthauptet hätte. »Wäre dieser Mann für uns von Nutzen?«
Der Westler nickte. »Er ist stark. Er wird nützlich sein.«
Taki Choji verstand nicht, was vor sich ging, aber als er diese blauen Augen sah, die ihn von Kopf bis Fuß musterten, kochte sein Blut vor Angst und Wut.
Zhang stieß ein kurzes Lachen aus. »Herr Taki, dieser junge Mann ist Euer Sohn, nicht wahr? Legt die Waffen nieder, ergebt Euch und ich lasse Euch beide leben.«
Taki Choji war wütend. Seine Waffe niederzulegen bedeutete, sein Leben aufzugeben. Aber wenn er nicht aufgab, würde sein Sohn dafür leiden müssen. Er biss die Zähne zusammen und warf einen letzten Blick auf sein Tachi.
Er wollte es gerade loslassen, da sprang Katana in die Luft, getrieben von der Wut über die Kapitulation seines Vaters. Der junge Mann war unter harten, unbeugsamen Männern aufgewachsen, die ganze Besatzungen massakrierten, selbst wenn diese sich ergaben. Für sie war Kapitulation niemals eine Option, egal unter welchen Umständen. Seine mangelnde Erfahrung hinderte ihn auch daran, den deutlichen Unterschied zwischen seinen und Zhangs Fähigkeiten zu erkennen.
Als er merkte, dass sein Entführer durch seinen Vater abgelenkt war, hatte er tief Luft geholt, seinen Brustkorb zusammengezogen und gehofft, dass dies ausreichen würde, um dem Druck der Handfläche des Hauptmanns auf seine Brust zu entkommen und seinen Zug zu machen.
Katana dachte, dieser Umklammerung zu entkommen würde ausreichen, um den Spieß umzudrehen. Doch kaum hatten seine Füße den Boden verlassen, zerdrückte eine zehn Pfund schwere Keule seine Kehle. Bevor er überhaupt begriff, was geschah, ergoss sich ein Blutstrom aus seinem Mund und sein Körper wurde nach hinten geschleudert.
Taki Choji, der gerade sein Tachi hatte loslassen wollen, war untröstlich, als er den tödlichen Schlag erkannte. Unter normalen Umständen war seine leidenschaftslose Art seine größte Stärke. Sie trug dazu bei, die Sicherheit seiner Gefährten und damit ihre Loyalität zu gewährleisten. Der Tod seines Sohnes jedoch versetzte ihn in blinde Wut. Ohne nachzudenken, griff er erneut nach seiner Waffe und wirbelte sie herum, um seinen Angriff vorzubereiten.
Er hatte vor, die Windmühle auszuführen, einen seiner blutigsten Schläge. Doch zu seiner großen Überraschung verschwand Zhang vor seinen Augen und tauchte wie von Zauberhand wieder auf. Gleichzeitig explodierte brennender Schmerz in seiner Brust. Die beiden Männer waren plötzlich miteinander verbunden – durch eine Klinge, die im Herzen des Piraten steckte.
Das Wirbeln seines Schwertes hatte nicht ausgereicht, um Taki Choji vor diesem unglaublichen Angriff zu schützen, und er war in die Falle getappt. Verängstigt und verzweifelt blickte er auf den alten Mann und auf das Gesicht, aus dem die Freundlichkeit verschwunden und extremer Kälte gewichen war. Sein dünnes Schwert hatte das Herz des Banditen durchbohrt, aber die Klinge, die in der Wunde steckte, verlangsamte die Blutung und hielt ihn noch ein paar Augenblicke am Leben. Lange genug, um zu keuchen: »Wer … seid Ihr?«
Diese drei Worte erschöpften seinen letzten Atemzug.
Der Hauptmann runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was für eine Verschwendung.« Er zog die Klinge aus dem Körper seines Opfers. Ein Blutstrahl sprudelte aus der Wunde, dem Mund und den Nasenlöchern von Taki Choji, als sein Körper schließlich zu Boden sackte.
»Ich bin Zhang Yong, Generalhauptmann der zwölf Bataillone der kaiserlichen Garde«, sagte er leise.
Der Sterbende riss plötzlich die Augen auf, als hätte er einen elektrischen Schlag versetzt bekommen. Er kannte diesen Namen: Es war der Name des mächtigsten Eunuchen im Land, des Anführers der Armee des Kaiserreichs. Er hätte gern gefragt, warum eine Person von solcher Wichtigkeit seine Zeit mit niederen Piraten verschwendete. Was war der Grund für all das?
Er würde jedoch nie eine Antwort auf diese Fragen bekommen, da sein Leben hier endete.
Zhang Yong betrachtete die Leiche und murmelte: »Es tut mir leid, Pyros, ich habe die Ware beschädigt.«
Der Westler blickte ehrfürchtig auf die Leiche des Piraten, der ihn beinahe getötet hätte, bevor der Hauptmann ihn mit beunruhigender Mühelosigkeit niedergeschlagen hatte. Er wollte darauf hinweisen, dass der junge Mann, den er mit dem schweren Schlag niedergestreckt hatte, ebenfalls erstklassige Ware gewesen war, doch er wurde von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen.
Das Haupttor zum Lager schwang auf und gab den Blick auf ein Dutzend Männer frei, die drängelten und übereinander hinwegtrampelten, um hinauszugelangen.
Die Menge der verängstigten, blutrünstigen Piraten glich einer Horde Wölfe, die wie verschreckte, dem Licht ausgesetzte Kakerlaken auseinanderliefen. Die Nachzügler drehten sich verzweifelt um, um das Tor zu schließen.
Einer von ihnen stemmte seinen Rücken gegen das Tor, um zu verhindern, dass es sich wieder öffnete, und rief nach Taki Choji, nicht wissend, dass sein Kapitän tot war. »Boss! Boss! Drinnen, da ist ein …«
Eine riesige, blutige Faust schoss durch gebrochene Rippen hervor.
Das Lagertor war aus dem Deck eines Schiffes gebaut und an ganzen Baumstämmen befestigt worden. Es war solider konstruiert als die Dächer der Baracken und es erforderte in der Regel erhebliche Anstrengungen, um es zu öffnen. Irgendwie war gerade eine Faust hindurchgestoßen, die den ungeschützten Piraten, der davorgestanden hatte, getötet und seine Rippen wie Zweige zerschmettert hatte. Der grausame Anblick versetzte die Piraten in Panik und sie zerstreuten sich in alle Richtungen.
Ein weiterer schwerer Schlag war zu hören und das Tor platzte wie unter einem unerbittlichen Orkan auf. Dahinter kam eine dunkle Gestalt zum Vorschein.
Die Gestalt war ein Mann, nicht groß, gekleidet in blutgetränkte Lumpen, als hätte er gerade darin gebadet. Seine fahle Haut, blaugrau wie ein Bluterguss, und seine seelenlosen Augen verrieten die unmenschliche Kraft, die ihn beseelte. Schnell wie der Wind traf seine Faust einen fliehenden Piraten. Er schlug weniger kraftvoll zu als beim Durchstoßen des Tors, aber der Schlag reichte aus, um den Banditen vor sich herfliegen und halb tot auf den Boden krachen zu lassen.
Die Piraten hatten die Kiste, in der sich dieses Wesen befand, das halb Monster, halb Mensch war, mitten ins Lager geschleppt. Sobald es frei war, hatte es begonnen, sie zu töten, ohne sich um ihre Schwerthiebe zu scheren. Jetzt war es draußen, hatte zwei weitere Opfer gefordert und schien entschlossen, sich noch weitere zu holen, während die Piraten ihrer Urangst verfielen. Die Insel bot wenig Hoffnung auf Zuflucht jenseits des Docks und des Lagers …
Voller Entsetzen rief einer von ihnen: »Wir sind ohnehin dem Untergang geweiht, greift gemeinsam an!«
In diesem Moment sah er Taki Choji am Boden liegen und war hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht, seinem Anführer zu helfen, und der dringenden Notwendigkeit, sich dieses Monsters zu entledigen. Er entschied sich für die zweite Option. Wider Erwarten entdeckte er seine Kommandofähigkeit und befahl dem Dutzend Männer, die noch am Leben waren, sich zu versammeln und dem Feind entgegenzutreten.
Zhang Yong war überrascht von der fatalistischen Entschlossenheit dieser Japaner, die selbst im Angesicht des sicheren Todes noch die Kraft fanden, mit Disziplin zu kämpfen. Er seufzte und wandte sich an Pyros: »Glaubt Ihr, dass unser Yuxiao gewinnen kann?«
Mit den Fingern am Handgelenk beobachtete der Fremde die Szene aufmerksam, während er seinen Puls maß. »Ich fürchte … nicht«, antwortete er. »Ich denke, es wird zwei Überlebende geben.«
Ein markerschütternder Schrei erhob sich aus der Schar der Angreifer. Einer der Piraten hatte seine Axt in der Schulter des monströsen Kriegers versenkt, der ihn am Bein packte und dieses mit bloßen Händen ausriss, als würde er eine Keule von einem Brathähnchen abreißen. Statt sie zur Flucht zu veranlassen, trieb das schiere Entsetzen über diese Tat die Banditen jedoch dazu, sich mit neuer Entschlossenheit auf ihren Gegner zu stürzen.
Zhang Yong schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Ihr seid zu ehrgeizig, Pyros. Es werden noch fünf oder sechs übrig sein.«
Nur acht Piraten hielten noch durch, robuste Kämpfer, die ihr Bestes gaben, obwohl sie mit dem Rücken zur Wand standen. Der Eingang zum Lager war eine blutige Arena, in deren Zentrum das Monster, in dessen Schulter eine Axt steckte, überlegen zu sein schien. Einer der letzten Banditen, die noch standen, schaffte es irgendwie, der Kreatur mit einem waghalsigen Sprung – den er eigentlich nicht hätte überleben können – den Kopf abzuschlagen. Der übermenschliche Kämpfer konnte zwar trotz der Wunde in der Schulter weiterkämpfen, doch dieser Schlag war sein Ende.
Die sechs überlebenden Piraten kamen wieder zu Atem und wandten sich dem Boot zu. Der alte Mann musste noch furchterregender sein als der Gegner, den sie gerade überwunden hatten, immerhin hatte er Taki Choji besiegt, aber es war klar, dass nichts sie nach diesem entsetzlichen Kampf abschrecken würde.
Der Hauptmann und der Ausländer wurden auf dem Boot von einem Dutzend Kämpfer begleitet.
»Tötet sie!«, rief ein Pirat barsch.
Er war es, der die verbliebenen Banditen zu ihrem Sieg geführt hatte. Auf seinen Befehl hin bewegten sie sich auf den Landungssteg zu, während Zhang Yong ebenfalls rief: »Tötet sie!«
Die Matrosen legten ihre Gewehre an und feuerten gemeinsam, als die Angreifer versuchten, das Schiff zu entern. Vier Piraten fielen, nur zwei standen noch, einer wurde an der Schulter getroffen. Anstatt sich aber durch Nachladen angreifbar zu machen, zogen die Matrosen ihre Schwerter, sprangen hinunter und kreisten die Banditen ein, die versuchten, ihre mächtigen Angriffe abzuwehren.
Ein teilnahmsloser Zhang Yong betrachtete das Massaker vom Bug des Bootes aus. Das Blut, das aus Taki Chojis Mund lief, hatte zu seinen Füßen eine kleine Lache gebildet, aber für den alten Mann schien die Leiche wie die Taue und Anker auf dem Schiff nur ein Teil der Szenerie zu sein. Er schenkte ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ein Anflug von Enttäuschung huschte über sein Gesicht. »Sagt mir, Pyros, unser verbesserter Soldat war nicht so stark wie beim letzten Mal, oder?«
»Wenn man dem Puls glauben darf, ist Beelzebubs Kraft viel geringer als die des Imperators.« Er hielt inne. »Wir müssen eingestehen, dass wir wieder einmal versagt haben.«
Das Ungeheuer, das der Fremde Beelzebub genannt hatte, hatte dreizehn der einundzwanzig Piraten ausgelöscht, bevor es überwältigt worden war. Obwohl es ein Akt spektakulärer Grausamkeit gewesen war, war es nicht so unbesiegbar gewesen, wie der Name vermuten ließ.
»Ja«, antwortete Zhang Yong. »Dreißig tapfere Krieger fielen in kürzester Zeit gegen den Imperator. Ohne die Vorläuferschatulle haben wir einen toten Punkt erreicht.«
Dieser Fehlschlag war nicht ihr erster. Pyros schwieg einen Moment, dann fragte er: »Ehrwürdiger Generalhauptmann, sollen wir weitermachen?«
»Wir werden gewiss nicht aufhören.«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. »Wenn wir keine Fehler machen, wird die Schatulle bald uns gehören.«
Der erstaunte Pyros schauderte. »Ist sie nicht immer noch im Besitz von Ezio Auditore?«
Der alte Mann sah auf den letzten lebenden Piraten hinunter, dessen kriegerische Fähigkeiten sicherlich bemerkenswert waren. Während er zwei Matrosen zwang, auf Abstand zu bleiben, indem er ihre Angriffe mit seinem Langschwert parierte, stach ihm ein anderer mit seiner Klinge in den Rücken. Der Pirat schrie auf und versuchte sich zu wehren, aber die Verletzung schränkte seine Bewegung ein. Er taumelte und fiel zu Boden.
»Nach meinen letzten Informationen befindet sich die Schatulle nicht mehr in Ezios Händen«, fuhr Zhang Yong fort.
»Er hat sie nicht mehr?« Pyros zitterte. Seine Gruppe hatte lange Zeit erfolglos versucht, Ezio zu eliminieren, in der Hoffnung, diesen unbezahlbaren Schatz zu erlangen, ein Kunststück, das bis jetzt fast unmöglich schien.
Zhang Yong fuhr fort: »Die letzte Person, die Ezio getroffen hat, war … die kaiserliche Favoritin.«
Pyros war noch überraschter. Obwohl er aus Europa kam, wusste er weniger über die dortigen Ereignisse als dieser alte Chinese. Er runzelte die Stirn. »Ich finde es schwer zu glauben, dass sie zurückgekehrt ist, nachdem sie so viel Mühe auf sich genommen hat, um nach Europa zu fliehen.«
An Land trennten die Matrosen die Toten von den noch Atmenden, bevor sie den Leichenhaufen in Brand setzten. Bald würde dieses Piratenversteck, das mehr als zehn Jahre zuvor errichtet worden war, nur noch Asche sein und niemand würde je von dem Massaker erfahren, das gerade stattgefunden hatte.
»Diejenigen, die der Hölle entkommen sind, werden unweigerlich zurückkehren«, murmelte Zhang Yong.
Als letzte Überlebende der Bruderschaft der Zentralebene hatte Shao Jun geschworen, zurückzukehren und Rache zu nehmen.
Zhang Yongs Lächeln war geheimnisvoller als je zuvor. Da er wusste, dass dieser Tag kommen würde, hatte er die Haijin, die neue maritime Politik der Isolation, unterstützt, diese Expedition gegen die Piraten organisiert und sogar die zuvor harmonische Beziehung zu Japan gebrochen. Wenn Shao Jun zurückkehrte, würde sie ein Schiff eines Vasallenstaates wie Annan, Malakka oder Ryukyu nehmen müssen und sofort von einem der in ihren Häfen stationierten Informanten entdeckt werden.
Dann musste der alte Mann sie nur noch töten, die Schatulle an sich nehmen und die Welt würde zu seinem Spielball.
Zhang Yong liebkoste seinen Anhänger, ein kleines Stück fein geschnitzter Jade. Die eine Seite zeigte ein Muster aus verschlungenen Adern, die an Wasserpflanzen erinnerten, während auf der anderen Seite das chinesische Schriftzeichen Dao, der Weg, abgebildet war.
»Die Übereinstimmung mit der Natur heißt Weg.«
Er hatte diese Worte des Konfuzius schon als Kind auswendig gelernt und rezitierte sie mit leiser Stimme. Ein heller Funke brannte noch immer in seinen Augen, trotz seines betagten Alters. Er hielt an den Ambitionen seiner Jugend fest und sein größter Traum war greifbar wie nie zuvor.
»Ist das wirklich A-Qiangs Elternhaus?«
Shao Jun glaubte, die Stimme ihrer Freundin in der düsteren Gasse zu hören, durch die ein eisiger Wind wehte. Obwohl sie wusste, dass es nur ihre Einbildung war, drückte sie unwillkürlich das Bündel, das sie in den Armen hielt, an sich, während sie mit Blicken die Umgebung absuchte.
Oben auf den baufälligen Mauern waren zerbrochene Ziegel mit Unkraut bewachsen und schienen trotz des milden Klimas unter der Meeresbrise vor Kälte zu zittern. Die Präfektur Quanzhou war einst ein berühmter Hafen und unter den Song und Yuan die maritime Hauptstadt des Reiches gewesen. Nach der Verlegung des Verwaltungszentrums nach Fuzhou acht Jahre zuvor und der strengen Haijin-Politik, die die Zahl der Schiffe, die den Hafen anlaufen durften, begrenzte, war es mit ihr rapide bergab gegangen. Innerhalb weniger Jahre hatte sich kein einziges Schiff mehr ihren Ufern genähert. Die Zeiten, in denen sich Schiffsrumpf an Schiffsrumpf gedrängt hatte, waren vorbei und von der fröhlichen Betriebsamkeit der Vergangenheit war nichts mehr übrig. Dieses Quanzhou existierte nur noch in ihren Erinnerungen.
Ihr Herz war schwer von unermesslicher Bitterkeit und sie erkannte, dass ihr Land nicht mehr dasselbe war.
Sie erinnerte sich an die Jahre, die sie im kaiserlichen Harem verbracht hatte. A-Qiang war bei ihrer Ankunft ein schüchternes junges Mädchen gewesen. In der Einsamkeit ihres zurückgezogenen Lebens in der Verbotenen Stadt waren sie schnell zu Freundinnen und Vertrauten geworden. Vereint hatten sie unter Dutzenden von rivalisierenden Mädchen gestanden, die um die Gunst des Kaisers wetteiferten, ohne genau zu wissen, was das bedeutete.
A-Qiang hatte oft von der Heimat ihrer Kindheit gesprochen: die Meeresbrise, die Karpfen im See, die indischen Korallenbäume, das buddhistische Kloster. Eingesperrt im Harem war die junge Shao Jun fasziniert von diesen Beschreibungen Quanzhous, was erklärte, warum sie diesen Ort für ihre Rückkehr gewählt hatte. Indem sie das Elternhaus ihrer Freundin besuchte, löste sie auch das Versprechen ein, das sie ihrer Freundin gegeben hatte. Leider schien jedoch nichts und niemand hier in der Lage zu sein, ihren Erinnerungen neues Leben einzuhauchen.
»A-Qiang, du musst inzwischen eine kaiserliche Gemahlin sein und du bist wahrscheinlich nicht erpicht darauf, zu entdecken, was für eine Geächtete ich geworden bin.«
Während sie ihren Gedanken nachhing, fiel ein dunkler Schatten auf sie und fragte mit leiser Stimme: »Kleine Schwester, kannst du mir einen Gefallen tun?«
Mit einem langen Messer bewaffnet stand der Mann arrogant da und versperrte ihr den Weg. Die Stimme von Zhu Jiuyuan, der Die Kunst des Krieges rezitierte, stieg in ihrer Erinnerung auf: »Verweile nicht auf gefährlichem Boden.«
Die Gasse schien diese Definition zu erfüllen, sodass jeder Kampf ebenso unausweichlich wie tödlich sein würde. Aber in einer ausweglosen Situation musste man sicher sein, dass die eigenen Fähigkeiten denen des Gegners weit überlegen waren, wenn man einen Kampf beginnen wollte.
Sie fragte sich, ob die Person, die ihr den Weg versperrte, zu den Acht Tigern gehörte, der Gruppe, die ihr nach Florenz gefolgt war und Meister Zhu getötet hatte. Sie war kaum an Land und schon entdeckt worden. Das verhieß nichts Gutes.
»Und wie kann ich dir helfen?«, fragte sie mit gespielter Gleichgültigkeit.
Der Mann brach in Gelächter aus. »Kleine Schwester, du hast gerade ein Boot verlassen, mit einer schwer aussehenden Tasche … Die Tiger des Meeres haben dich schon eine Weile beobachtet. Gib mir deine Sachen und ich lasse dich leben. Wenn nicht … he he!«
Er ließ sein langes Messer herumwirbeln, wobei er es in dem engen Raum kunstvoll handhabte. Er hatte das Angebot, sie zu verschonen, nur gemacht, weil er bereits vorhatte, sie zu töten.
»Du würdest jemanden am helllichten Tag ermorden?«, sagte Shao Jun. »Du hast keinen Respekt vor den Gesetzen dieses Landes!«
»Welches Gesetz?«, brüllte der Mann. »Ich bin das Gesetz!«
Dieser bösartige, grausame Räuber, der behauptete, ein Mitglied der Tiger zu sein, dachte, er könne die kleine Shao Jun allein angreifen. Seit seiner Kindheit war er in den Kampfkünsten ausgebildet worden und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ausländische Reisende in den Straßen von Quanzhou auszurauben, wo niemand ihn herauszufordern wagte. Er lebte allein und hatte keine Familie, sein Leben bedeutete ihm wenig, da er nichts zu verlieren hatte. Überrascht, dass diese vermeintlich leichte Beute sich ihm entgegenstellte, schlug seine Irritation schnell in Wut um.
Der Straßenkampf in den Gassen mit all seinen Beschränkungen war seine Spezialität. Er schlüpfte durch diese engen Räume wie eine Schlange, seine Waffe immer griffbereit. Sein Messerkampfstil war von Generationen von Fischern entwickelt worden, um die Nutzlosigkeit der klassischen Stile auf kleinen, sich ständig bewegenden Booten zu verbessern. Der Bandit hatte die Techniken genau studiert und täglich geübt, bis er sie beherrschte. Diese Umgebung war sein bevorzugtes Terrain, ein Ort, an dem er sicher sein konnte, dass sein Opfer keine Chance zur Flucht hatte.
Dann schien das Mädchen sich vor seinen Augen zu verflüchtigen, gerade als er zuschlagen wollte.
Eine unglaubliche Bewegung! War das Magie? Ein plötzlicher Luftzug kühlte seinen Nacken, gefolgt von einem heftigen Schmerz. Er stürzte nach vorn, ließ sein Messer fallen und ging zu Boden. Als er auf der Erde lag, dachte er, seine Zeit sei endlich gekommen, bevor er merkte, dass der Schmerz verschwunden war. Er berührte seinen Hals, war beruhigt, kein Blut zu ertasten, und stand auf.
Die Gasse war unter normalen Umständen schon menschenleer, doch nun wirkte sie noch dunkler als je zuvor. Wo war das Mädchen hin? Sie musste einen gefährlichen Sprung ausgeführt haben, um hinter ihm zu landen. Er hob seine Waffe auf und massierte seinen Hals. Dort einen Treffer zu kassieren hätte tödlich enden können. Er hatte nur überlebt, weil sie ihn mit der Ferse getroffen hatte. Er wäre ein toter Mann gewesen, hätte ihn ein Absatz ihres Stiefels an derselben Stelle getroffen.
Mit einer Mischung aus Aufregung und Verblüffung bekam der Mann, der mehr als genug kaltblütige Morde verübt hatte, eine Gänsehaut, als ihm klar wurde, dass jede falsche Bewegung seine letzte sein könnte.
Er hatte Glück, dass der Boss nicht in Quanzhou war, um von dieser Sache zu hören. Er ging zum anderen Ende der Gasse, um nachzusehen und sich zu vergewissern, dass niemand Zeuge seiner Demütigung geworden war, da hörte er hinter sich eine Stimme murmeln: »Chen Qilang, warte dort einen Moment.«
Er erstarrte, als er die leise und doch klare, durchdringende Stimme erkannte. Er reckte den Hals, atmete einige Male durch und drehte sich dann langsam um. »Boss?«
»Hast du dich der Person gestellt, von der ich dir erzählt habe?«
Obwohl er unsicher war, bejahte er die Frage.
Als unabhängiger Verbrecher hatte Chen Qilang bisher immer nur aus eigenem Antrieb gehandelt und nach eigenem Gutdünken getötet. Dann hatte er im Frühjahr des vergangenen Jahres den Boss getroffen und versucht, ihn wie üblich in einer Gasse in die Enge zu treiben, aber seine schlangenartige Technik hatte nichts genützt. Die Konfrontation wendete sich schnell gegen ihn und so hatte er zugestimmt, eine einfache Mission im Austausch für sein Leben auszuführen: eine junge Frau, deren Beschreibung man ihm gegeben hatte, zu töten, sobald er sie fand. Shao Jun war jedoch nicht das verletzliche Kind gewesen, das er erwartet hatte. Nur der Göttin Mazu war es zu verdanken, dass er noch atmete – obwohl er nicht wusste, wie lange noch, denn die Stimme des Bosses war eisig.
Chen Qilang beeilte sich zu erklären: »Boss, die Kleine beherrscht sehr fortgeschrittenes Kung-Fu, ich …«
»Ich habe gesehen, wie es ablief – du hast es nicht einmal versucht!«
»Bitte versteh…«
Ein plötzlicher Schmerz in seinem Magen unterbrach ihn mitten im Satz.
Als er nach unten blickte, zog der Boss gerade ein Messer mit nadelartiger Klinge aus seinem Bauch. Es war das Letzte, was er sah, bevor sein ganzer Körper erstarrte.
Ohne ein Zeichen von Emotion hatte der Boss mit einer Bewegung zugestochen, die viel schneller war, als all seine Messerwirbel und Schlangenschritte je hätten sein können. Dann stieg er über seinen Körper hinweg, als wäre er nichts weiter als ein Baumstamm oder ein Steinhaufen. »Also, kaiserliche Hure, du bist meinen Jägern entkommen und hast es geschafft, zurückzukehren.«
Ihre Zeit im Westen hatte ihre Kampffähigkeiten eindeutig verbessert. Er würde sich weiter damit befassen und einen Gegner finden müssen, der es mit ihren Fähigkeiten aufnehmen konnte, wenn die Zeit gekommen war.
Der Mund des Mannes verzog sich zu einem schiefen Grinsen, bevor er ein kurzes Lachen ausstieß. »Komm, Pang Chun, wir gehen!«, rief er einer Silhouette hinter sich zu.
Pang Chun hatte schweigend zugesehen, wie er Chen Qilang getötet hatte. »Natürlich«, antwortete er mit einer ruckartigen Verbeugung. »Onkel Gao, sollen wir es Onkel Yu sagen?«
»Ihm was sagen?«
Verstand Pang Chun nicht, dass sein Meister sich persönlich darum kümmern wollte? Der Generalhauptmann hatte ihm zwar befohlen, mit Onkel Yu zusammenzuarbeiten, aber er wollte seinem Rivalen einen solchen Sieg nicht schenken.
Da er sich nicht traute, mehr zu sagen, nickte Pang Chun einfach.
Die Präfektur von Shaoxing war einst als Kuaiji bekannt. Der Legende nach hatte dort, genauer gesagt in Shaoxing, Kaiser Yu der Große seine Lehnsherren versammelt, nachdem er die Gewässer in der Gegend, die bis dahin unter häufigen Überschwemmungen gelitten hatte, gebändigt hatte. Die historischen Dokumente hielten fest:
Nachdem er die Überschwemmungen eingedämmt hatte, versammelte Yu der Große seine Lehnsherren, um ihre Leistung zu bewerten. Er starb und wurde an diesem Ort begraben. Und so nahm die Stadt den Namen Kuaiji an, was Versammlung bedeutet.
Sie war schon immer für ihre Pracht und Kultiviertheit bekannt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren Studenten aus dem ganzen Land angereist, um an der Universität am Berg Wolong zu studieren, die von Fan Zhongyan, einem großen Politiker und Literaten der Song-Dynastie, gegründet worden war. Später leitete der gefeierte Neokonfuzianer Zhu Xi dort Konferenzen und stärkte den Ruf der Institution als Zentrum der klassischen Gelehrsamkeit, bevor sie unter den Yuan ihr Prestige verlor.
Zwei Jahre zuvor hatten der Präfekturmagistrat von Shaoxing und der Bezirkskommandant die Einrichtung renoviert und die Halle der Hohen Tugend und den Pavillon der großen Klassiker errichtet. Meister und Studenten versammelten sich in großer Zahl und die neue Jishan-Universität erstrahlte in neuem Glanz, der größer war als je zuvor. Jedes Jahr versammelten sich dort mehr als vierhundert Gelehrte aus den entferntesten südlichen Regionen und den entlegensten Gegenden des Nordens.
Der Aufseher war ein hagerer alter Mann von sechzig Jahren namens Wu. Seine Aufgabe war es, das Gebäude instand zu halten, aber da er in der berühmtesten Universität der bekannten Welt arbeitete, fühlte er sich auch der Lehre verpflichtet. So studierte er die Vier Bücher und die Fünf Klassiker, obwohl er zur Unterhaltung auch andere Werke genoss.
Er war gerade in eine neue Fassung von Die Geschichte der drei Reiche von Jiang Daqi vertieft, deren Seiten fast neu waren. Der alte Wu hatte sich bis zum zehnten Kapitel durchgelesen, einem Höhepunkt der Geschichte, wo Zhu Geliang das Komplott von Zhou Yu vereitelt, und war so gefesselt, dass er fast nicht hörte, wie sich ein Besucher zu erkennen gab. Die Jishan-Universität, eine überzeugte Verfechterin der universellen Bildung, öffnete ihre Türen für jeden Studenten, solange er sich auswies. Der Aufseher hob nicht einmal den Kopf, sondern deutete nur auf das Register neben sich.
»Unterschreibt hier«, sagte er einfach.
Das Kratzen der Feder auf dem Papier drang an sein Ohr. Er legte den Finger auf die Stelle »Pfeile mit Booten aus Stroh erbeuten«1 und hob schließlich den Kopf, um zu fragen: »Welchen Meister sucht Ihr?«
Doch da war niemand. Hatte er sich das eingebildet? Um sich zu beruhigen, sah er ins Register und fand dort einige Worte in feiner Schrift geschrieben: Suche einen Freund.
Die meisten Studenten schrieben einfach ihren Namen in das Register, da ihre handschriftlichen Unterschriften kompliziert und oft unleserlich waren, um Fälschungen zu verhindern. Wu fragte sich, warum dieser mysteriöse Besucher seine Identität vor ihm geheim gehalten hatte, aber er war nicht neugierig genug, um im Inneren der Gebäude zu suchen. Er verfluchte die hinterhältigen Kinder, die oft kamen, um ihm Streiche zu spielen, und wandte sich dann wieder den Rivalitäten von Zhu Geliang und Zhou Yu zu.
Der alte Aufseher wusste natürlich nicht, dass es sich um den Geheimcode der Bruderschaft der Zentralebene handelte. Gegründet von Wei Yu – dem Mann, der den ersten Kaiser von China ermordet hatte – war diese weltliche Organisation, deren Name sich viele Male geändert hatte, so subtil wie ein Windhauch. Ihre Mitglieder waren so zahlreich und ihre Operationen so geheim, dass sie sich manchmal in der Gegenwart des anderen aufhalten konnten, ohne es zu ahnen. Um der Fehlbarkeit von Decknamen entgegenzuwirken, die zu leicht aufgedeckt werden konnten, hatte ein alter Meister die geniale Idee dieser verschlüsselten Signaturen gehabt. Die Leute waren oft fasziniert von diesen scheinbar nicht nachvollziehbaren Phrasen, von denen jede eine Bedeutung hatte, die neue Mitglieder bei ihrer Initiation lernten.
Shao Jun war diejenige, die sich gerade in die Matrikel eingetragen hatte, aber statt die Gebäude zu betreten, kletterte sie auf einen Baum an der Nordseite des Berges Wolong, von dem aus sie die Universität gut beobachten konnte. Damit befolgte sie die letzten Anweisungen, die man ihr kurz vor dem Tod ihres Meisters gegeben hatte.
Würde der letzte Mentor der Bruderschaft wirklich nach ihr suchen?
Schließlich gab es keine Garantie, dass er den Acht Tigern entkommen war. Sie hatte es zwar mit ihrem Meister nach Europa geschafft, aber er war in Venedig getötet worden und ohne Ezio Auditore wäre sie in Florenz verloren gewesen.
Das Geräusch von Flügeln störte die nächtliche Stille. In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, was für ein Vogel es war. In ihren Mantel gehüllt wurde sie eins mit der Nacht, bis sie fast unsichtbar war.
Wohin sollte sie jetzt gehen?
Sie erinnerte sich, als es sei es gestern gewesen, an den Frühlingstag im kaiserlichen Harem, an dem sie von dem Mentor, den sie heute Abend zu treffen hoffte, rekrutiert worden war. Nach dem brutalen Tod des Kaisers hatte Chaos im Palast geherrscht, alle Ausgänge waren versiegelt worden und die junge Konkubine Shao Jun war völlig verwirrt. Obwohl sie im Harem eingesperrt gewesen war, hatte sie ein einfaches, glückliches Leben geführt. Zhengde hatte sie als Spielgefährtin betrachtet und sie oft mitgenommen, um den Würdenträgern Streiche zu spielen oder die Eunuchen zu necken. Die von Onkel Zhang ausgebrütete Verschwörung wurde erst später aufgedeckt und auch sie wäre ausgelöscht worden, wenn der Mentor nicht eingegriffen hätte. Er hatte sie in die Bruderschaft eingeführt und ihr Stiefel mit versteckten Dolchen gegeben. Dann vertraute er sie Zhu Jiuyuan an, bevor er verschwand. Sie wusste nichts über seine Identität oder seine Beweggründe und noch weniger über seine derzeitige Situation, vorausgesetzt, er war überhaupt noch am Leben.
Meister Zhu war nach Italien geflohen, um Zhangs wachsendem Einfluss zu entgehen, aber der Eunuch hatte ihn mit seiner schier grenzenlosen Reichweite aufgespürt. In China hatte er alle Mitglieder der Bruderschaft der Zentralebene überwältigt … bis auf den Mentor.
Als Zhu ihr mit seinem letzten Atemzug mitgeteilt hatte, dass der Mentor noch lebte, glaubte Shao Jun, Hoffnung gefunden zu haben, die den Weg aus der Dunkelheit erhellen würde. Es würde mehr als nur ein Streichholz brauchen, um die Glut wieder zu entfachen, aber mit dem Mentor hätte sie vielleicht eine Chance, die Bruderschaft wieder aufzubauen.
Das Laub zu ihrer Linken bebte fast unmerklich, ein Detail, das ihr entgangen wäre, wenn die Nacht nicht so ruhig gewesen wäre.
»Meister, seid Ihr das?«, wagte sie heiser zu fragen.
Ein kalter Schimmer blitzte ihr plötzlich entgegen, wie ein Licht. Wie …
… ein Schwert!
Shao Jun zog blitzschnell ihre Waffe. Jeder, der unbemerkt so nah herankommen konnte, musste gefährlich sein. Als er sprang, erriet sie anhand seiner Bewegungen, dass er zwar kein Mitglied der Acht Tiger war, aber zumindest einer von Zhang Yongs Handlangern.
Sein Schwert schwang mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihren Füßen vorbei. Der Ast, auf dem sie stand, brach plötzlich durch. Sie wäre von ihrem Ast gefallen, hätte sie nicht bereits einen anderen unter sich erspäht. Mit einem Zweifingergriff nahm sie Schwung, katapultierte sich in die Luft und ergriff mit einer Pirouette einen höher liegenden Ast.
Shao Jun war schnell, aber ihr Angreifer war schneller. Nachdem er den ersten Ast abgeschlagen hatte, trennte er schnell den zweiten ab, auf dem sie gerade gelandet war, und begann, mit weiten Schlägen die Luft zu durchschneiden. Da ihre Beine in Gefahr waren, hatte Shao Jun keine Zeit, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Als er merkte, dass er die Oberhand hatte, lachte der Mann. Er hatte den Befehl, Shao Jun zu folgen und sie nicht zu töten, aber da er entdeckt worden war, fand er es gerechtfertigt, sie zu verletzen. Er fragte sich grausam, ob sie den Verlust beider Beine überleben würde. Aber während die Klinge durch die Nacht in alle Richtungen blitzte, schnitt sie weit mehr Rinde als Fleisch.
Holzspäne flogen. Die Klinge streifte an Shao Juns Füßen vorbei und bohrte sich in den Baumstamm wie ein Messer in Butter. Einen Moment lang blieb sie dort stecken, eine Gelegenheit, die die junge Frau schnell ausnutzte, um ihr eigenes Schwert auf den Mann zu richten. Er reagierte mit erschreckender Geschwindigkeit und zog mit Mittel- und Zeigefinger den in seinem Ärmel verborgenen Dolch. Sie wich davor zurück wie ein kleines Tier und er parierte ihren Schlag in letzter Sekunde mit einem metallischen Klirren. Seine verzweifelte Abwehrbewegung, hastig und auf unsicherem Boden ausgeführt, ließ ihn vom Baum stürzen.
Wie ein Schachspieler, der gerade einen Fehler in einem Schlüsselspiel gemacht hatte, war er gezwungen, seine Strategie neu zu bewerten. Ohne sein Schwert und mit einer Gegnerin, die ihm vom Baum aus drohte, wäre der Versuch, sie zu erreichen, einem Selbstmord gleichgekommen. Es war besser, mit den Füßen auf festem Boden zu bleiben und auf die Gelegenheiten zu warten, die sich bieten würden, wenn sie herunterkam. Er zog eine Klinge aus seinem linken Ärmel, bereit, seine beiden Dolche zu benutzen. Er hoffte, den nächsten Schlag mit dem einen Dolch zu parieren und dann sofort mit dem zweiten zuzustoßen. Das war seine einzige Chance, zu gewinnen.
Die Klingen prallten aufeinander. Shao Jun schwang ihr Schwert mit ungewöhnlicher Kraft, aber der Mann war zu sehr mit der Suche nach einer Gelegenheit beschäftigt, seinen linken Dolch zwischen ihre Rippen zu stoßen, um darüber nachzudenken. Er hatte ihr genug Platz gelassen, um auf den Boden zu springen, aber sie schien ihren Baum nicht verlassen zu wollen.
»Stirb, Hure!«, stieß er mühsam hervor. Obwohl Shao Jun geschickter war, als er es sich vorgestellt hatte, hatte sie ihre Grenzen. Sie würde nicht die Oberhand gewinnen können, solange er auf dem Boden und sie oben im Baum blieb. Um ehrlich zu sein, dachte er sogar, er könne seinen Dolch jeden Moment zwischen ihre Schulterblätter stoßen.
Doch er war es, der einen scharfen Schmerz in seiner linken Schulter spürte, wo das Schwert der jungen Frau gerade mit unerwarteter Geschwindigkeit einen Treffer gelandet hatte. Obwohl die Wunde nicht tödlich war, hinderte sie ihn daran, seinen Arm zu benutzen. Unfähig, sich zu schützen oder auf dieser Seite anzugreifen, biss er die Zähne zusammen, wich aber nicht zurück.
Der Kampf war für ihn nun aussichtslos geworden. Im Bewusstsein, dass er auf einer Seite wehrlos war, beschloss er, alles in einen letzten entscheidenden Angriff zu legen. Wie ein altes Sprichwort sagte: »Wenn die gegnerischen Kräfte dir ebenbürtig sind, macht der Mut den Unterschied.« Der wütende Mann war bereit, alles auf diesen Gedanken zu setzen. Seine absolute Konzentration erlaubte es ihm, seine Wunde zu ignorieren und nur an eines zu denken: seinen Gegner zu töten. Er sprang geradewegs nach oben zu Shao Jun, um seine Waffe in ihr Herz zu stoßen, doch der Hieb ging ins Leere.
Unmöglich! Er fluchte. Die junge Frau flog durch die Luft wie ein übernatürlicher Geist.
»Aah!«, schrie er, als seine rechte Schulter den Kuss des Stahls spürte. Nun völlig außer Gefecht gesetzt, taumelte er zwei Schritte zurück, unfähig, sich sicher auf den Beinen zu halten. Sein Gesicht war eine Mischung aus Entschlossenheit und sinnloser Wut.
Shao Jun glitt federleicht zum Fuß des Baumes. Obwohl sie ein paar Sekunden zuvor noch in der Luft zu schweben schien, war es keine Magie, sondern das Seil des Wurfpfeils, den ihr der ehemalige Kaiser Zhengde gegeben hatte, als er sie ins Leopardenviertel geschickt hatte. Es war mehrere Meter lang, weich wie Seide und ebenso dünn und haltbar und konnte ein Gewicht von bis zu zweihundert Pfund tragen. Die junge Frau verwendete den Wurfpfeil jetzt schon so lange, dass er für sie wie eine Verlängerung ihres Arms war. Als der Mann zum Angriff ansetzte, hatte sie ihn bereits in einem hohen Ast verankert, wodurch sie die Oberhand gewinnen konnte. Ihr beeindruckender Gegner war keine Bedrohung mehr.
Sie zögerte, ihn zu töten. Seit Zhu Jiuyuans Tod hatte sie schon viele Leben genommen, aber die Verwundbarkeit des Raubtiers, das nun zu ihrer Beute geworden war, bereitete ihr Unbehagen. Er hatte dagegen keine solchen Skrupel und machte sich aus dem Staub.
Shao Jun konnte ihn nicht entkommen lassen. Sie sprang vorwärts und fing ihn ab, wobei sie ihm halbherzig ihr Schwert in den Rücken stieß. Die Spitze der Klinge durchschlug die Schulter des Mannes, sodass er stolperte und zum Fuß eines Kampferbaums rollte. Sie schickte sich an, ihn zu erledigen, da erregte ein Lichtblitz von der anderen Seite des Baumes ihre Aufmerksamkeit.
Ein zweiter Angreifer hatte auf den richtigen Moment gewartet, um zuzuschlagen, völlig gleichgültig gegenüber dem Schicksal seines Komplizen. Er nutzte das Überraschungsmoment, um Shao Jun anzugreifen, wodurch sie gezwungen wurde, von dem Mann am Boden abzulassen.
Trotz ihrer ungewöhnlichen Beweglichkeit war es zu spät, um der Reichweite des Schwertes des Angreifers zu entkommen. Ihr blieb nur, ihren Körper fast unmenschlich zu verbiegen, um von dem hinterhältigen Angriff nicht in zwei Teile geschnitten zu werden. Kalter Schweiß überzog ihren Rücken.
Es war nicht das erste Mal, dass sie es mit Mördern zu tun hatte, die von den Acht Tigern angeheuert worden waren. Derjenige, der Meister Zhu in Venedig getötet hatte, war ihr nach Florenz gefolgt und hätte auch sie getötet, wenn sie nicht von Ezio Auditore ausgebildet worden wäre. Der Mann vor ihr schien noch geschickter zu sein. Wenn er sie erreichte, war sie erledigt. Die Klinge streifte ihre Taille und Shao Jun hatte das Gefühl, als verlangsame sich die Zeit: Der Wind wehte leiser, ein Blatt stand reglos in der Luft, ein diffuses Licht erschien plötzlich und ein Schwert tauchte wie aus dem Nichts auf, um den Schlag abzufangen, der sie entzweigeschnitten hätte.
Die junge Frau hörte den Aufprall der Klingen nicht, aber sie sah die Funken, die bei ihrem Zusammentreffen sprühten. Sie nutzte die kurze Verschnaufpause und trat einige Schritte zurück, um zu Atem zu kommen. Die beiden Silhouetten tauschten mehrere Sekunden lang krachende Schläge aus, dann hörte plötzlich alles auf.
Sie kam wieder zu Atem und sowohl sie als auch der Mann, den sie verletzt hatte, waren wie gebannt von dem schattenhaften Duell. Die Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber derjenige, der sich hinter dem Baum versteckt hatte, war der kleinere der beiden. In der Verwirrung fühlte sie sich an einen Kampf zwischen einem Engel und einem Dämon erinnert.
Der Angreifer der Acht Tiger brach zusammen und wurde ohne viel Aufhebens erledigt. Shao Jun konnte endlich aufatmen. Von Angst gepackt rappelte sich der Verletzte auf, um seine irre Flucht fortzusetzen. Sein Fluchtversuch wurde jedoch von einem für das Auge kaum wahrnehmbaren Schlag vereitelt und er fiel zu Boden. Als er die Erde berührte, funkelte ein Licht in seiner Hand und schoss in den Himmel, bevor es in tausend Funken explodierte.
Ein Feuerwerk!
Shao Jun spürte, wie ihr Herz stehen blieb. Der Mann, der sie gerettet hatte, zog sein Schwert aus dem Körper unter dem Baum und wischte es an der Kleidung des toten Mannes ab, bevor er sich der jungen Frau zuwandte. »Kaiserliche Favoritin, Gao Fengs Männer werden bald mit Verstärkung eintreffen. Mir nach!«, sagte er leise.
Gao Feng war einer der toten Männer? Doch diese Fragen würden erst einmal warten müssen. Ein kleiner Trupp von Männern kletterte den Abhang am Fuße des Berges hinauf, wo eine Lichterkette funkelte. Shao Jun folgte dem Fremden schnell in die entgegengesetzte Richtung, in den dichten Wald des Wolong, durch den es keine Wege gab.
Dann traf es sie wie ein Blitz. Er … er war es! Der Mentor! Derjenige, der sie in die Bruderschaft eingeführt hatte!
Seine Stimme war älter, aber sie klang wie die, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Und er hatte sie »kaiserliche Favoritin« genannt, genau wie der alte Kaiser, obwohl der Titel offiziell mit ihm gestorben war. Sie war gerührt und aufgeregt zugleich. Es war der Mentor, der sie gerettet hatte, als sie noch eine Jugendliche war, der sie in die Bruderschaft eingeführt hatte, ohne ihr jemals sein Gesicht zu zeigen oder seine Identität preiszugeben. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen und sogar daran gezweifelt, dass er noch lebte, als sie den Geheimcode in die Matrikel der Universität geschrieben hatte. Und doch war er gekommen. Shao Jun fühlte sich, als hätte sie nach einer Ewigkeit auf See endlich Land erreicht.
Ihr Weg führte sie zu einer Lichtung, in deren Mitte sich eine große Lärchenkiefer mit dichten Ästen erhob.
»Junges Mädchen, wir können hier ohne Sorge einen Moment ausruhen. Sie werden uns hier nicht finden«, erklärte er mit leiser Stimme.
Shao Jun schob sich durch das Blattwerk und fand eine aus verschlungenen Ästen gebildete Grotte, die das Mond- und Sternenlicht nicht erreichte. Sie ging weiter hinein und verbeugte sich, mit einem Knie auf der Erde und der linken Hand auf ihrer Brust. »Meister, bitte nennt mich kleine Schwester, wie früher.«
So zeigten die jungen Rekruten der Bruderschaft ihren Respekt vor den Älteren. Als er sie aus den Klauen der Acht Tiger gerettet hatte, war sie kaum mehr als ein Kind gewesen, daher war dieser Spitzname nur natürlich.
Eine Flamme loderte in der Dunkelheit auf, als der Mentor ein kleines Feuer anzündete, in dessen Licht Shao Jun ein schlankes Gesicht mit einem spitzen Bart erkennen konnte. Er sah sie an und lachte liebevoll. »Du bist erwachsen geworden, also ziehe ich es vor, dich ›junges Mädchen‹ zu nennen. Du weißt, dass wir in der Bruderschaft nicht viel Wert auf offizielle Ränge legen, also kannst du mich einfach Yangming nennen.«
Shao Jun zitterte. Yangming? Dieser ziemlich gewöhnliche Name traf sie wie ein Schlag.
Als sie ihr zurückgezogenes Leben in den Tiefen der Verbotenen Stadt gelebt hatte, hatte sie Gerüchte über einen Yangming gehört. Aber sie konnte nicht sicher sein, dass diese Person mit der Bruderschaft in Verbindung gestanden hatte, es konnte auch nichts weiter als Zufall sein.
Der Mentor selbst beantwortete ihre stumme Frage. »Ich bin auch als Wang Shouren bekannt. Junges Mädchen, die letzten zwei Jahre müssen schwierig gewesen sein.«
Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war sie kaum vierzehn Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später hatte der Tod des Kaisers den Palast in ein völliges Chaos gestürzt, er war verschwunden und hatte sie in der Obhut von Meister Zhu zurückgelassen. In den fünf Jahren, die seither vergangen waren, war sie ans andere Ende der Welt gereist und hatte immense Herausforderungen gemeistert, die ihre Kindheit in die hintersten Winkel ihres Geistes verdrängt hatten. Es schien, als sei sie seit der Nacht, in der Meister Zhu ermordet worden war, um ein ganzes Jahrzehnt gealtert, was ihrer jugendlichen Unschuld ein Ende gesetzt hatte.
»Mentor, wie seid Ihr der Bruderschaft beigetreten?«, fragte sie zögernd.
Hätte er nicht vor ihr gestanden, hätte sie nicht geglaubt, dass er noch lebte. Aber jetzt war er da und sie versuchte, einige Fragen zu beantworten, die sie seit ihrer ersten Begegnung verfolgten.
Das Feuer erlosch. In der Dunkelheit hörte sie, wie Meister Yangming einige Schritte machte.
»Ich werde dir alles erzählen, wenn es so weit ist. Zuerst müssen wir einen sicheren Ort für die Nacht finden.« Er sah zum Himmel. »Junges Mädchen, Zhang Yong hat dich jetzt im Visier. Was hast du vor?«
»Er wird sicher Männer hinter mir herschicken. Ich muss so schnell wie möglich weg.« Sie hielt einen Moment inne und fügte hinzu: »Ich muss in die Hauptstadt zurückkehren.«
1Eine berühmte Passage aus Die Geschichte der drei Reiche, die von einer der genialen Strategien Zhu Geliangs berichtet, bei der er, statt Pfeile zur Verteidigung seines verwüsteten Landes herzustellen, Boote aus Stroh vor den Feind schickt, wo sie Tausende von feindlichen Pfeilen aufnehmen, die er dann einsammelt, um sie bei seinem Angriff zu verwenden. Der moderne Ausdruck »Pfeile mit Booten aus Stroh erbeuten« kann also bedeuten: »Die Ressourcen des Feindes gegen ihn verwenden.«
Yu Dayong, der Gouverneur von Nanjing, erzitterte beim Anblick der Leiche auf dem Tisch.
Es war Gao Feng, Aufseher des Kaiserhofs und Leiter des Ministeriums für öffentliche Arbeiten2. Was noch wichtiger war: Er war auch der Schüler des einflussreichsten Mannes im Reich, Zhang Yong, gewesen und hatte diesen höchst beneidenswerten Rang erklommen, obwohl er erst vierunddreißig Jahre alt war. Der alte Meister hatte viel mehr Vertrauen in diesen »Kleinen Teufel« als in Yu Dayong. Aber jetzt war sein Mitschüler nicht mehr als ein lebloser Körper.
Der Gouverneur schwankte zwischen Freude und Traurigkeit. Als Mitglied der Acht Tiger sollte er wie ein Bruder trauern. Andererseits konnte der frühe Verlust eines so bedeutenden Rivalen nur zu seinen Gunsten sein, vor allem, wenn er nachweislich keine Rolle dabei gespielt hatte. Gao Feng hatte sich entschieden, allein zu handeln – entgegen den Befehlen, die sie erhalten hatten. Er hatte seinen Gegner unterschätzt und dafür mit seinem Leben bezahlt.
»Onkel Yu!«, rief Mai Bing von der Tür her.
Der Eunuch hatte ihm jahrelang gedient. Noch jung im Geiste begriff er sofort, dass sein wankelmütiger und opportunistischer Meister die Situation ausnutzen wollte, um sich in Zhang Yongs Gunst einzuschleichen.
»Was gibt es, Mai Bing?«
»Onkel Zhang ist hier«, antwortete er mit leiser Stimme.
»Welcher Onkel Zhang?«