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Die alte Mongolei ist der Schauplatz des neuesten epischen Abenteuers im preisgekrönten Assassin's Creed-Universum, in dem die Assassine Shao Jun gegen eine finstere Verschwörung kämpft. Die Bruderschaft der Assassinen wurde vom chinesischen Kaiser so gut wie ausgerottet. Es ist keine leichte Aufgabe, den Orden zu seinem früheren Ruhm zurückzuführen, aber es ist Shao Juns Pflicht und ihre beste Chance zu überleben. Als sie erfährt, dass ein alter Feind in den Besitz eines mächtigen Artefakts gekommen ist, mit dem er alle verbliebenen Attentäter in den Tod locken will, eilt Shao Jun in die Mongolei. Dort wird sie in die politischen Intrigen zwischen dem mongolischen Königshaus, einem im Exil lebenden Prinzen und den tödlichen Spannungen zwischen der Mongolei und China hineingezogen. Doch als sie entdeckt, dass ein noch finstererer Akteur hinter den Intrigen steckt, der Monster für eine brutale Übernahme der Region erschafft, schwört Shao Jun, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dies zu verhindern.
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Seitenzahl: 298
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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
EPILOG
Die scharfen Spitzen des Riffs durchbrachen die ölige Wasseroberfläche gelegentlich wie Zähne und drohten jedes dahintreibende Schiff zu durchbohren. Den einheimischen Fischern war die Gefahr wohlbekannt und dieses Gebiet seit Jahren tabu – nur Piraten und einige verwegene Handelsschiffe wagten sich hinein. Und doch ankerte in respektvollem Abstand ein kleines Boot vor dem Riff. An Bord befanden sich zwei Frauen in Männerkleidung und ein ziemlich reif wirkender Junge. Dieser saß am Bug und beobachtete aufmerksam die Wellen.
Sein langes Schweigen stimmte die jüngere, etwa zwanzigjährige Passagierin A-Qian sorgenvoll. Sie wandte ihr dunkelhäutiges Gesicht ihrer etwas älteren Begleiterin Shao Jun zu. Diese legte seit Beginn der Reise ein unerschütterliches Gemüt an den Tag und nickte ruhig. Dass der Junge nicht reagierte, lag einfach daran, dass es nichts Aufregendes gab. Doch genau in diesem Moment drehte er sich zu ihnen um und rief aus: »Ich spüre es!«
Erleichterung funkelte in Shao Juns Augen.
»Was ist los, Xiao Gui?«, fragte sie. Die liebevolle Anrede »xiao« diente dazu, ihn zu beruhigen.
»Unter der Oberfläche befindet sich ein Hügel mit einem Hohlraum … und darin stehen zwei Türme!«
Selbst er schien erstaunt zu sein.
»Beschreibe mir alles.«
»Sie sind aus Metall und sehr hoch … aber teilweise eingestürzt, als wären sie irgendwie geschmolzen«, fügte er gestenreich hinzu.
»Bist du sicher, kleine Schwester?«, fragte Shao Jun ihre junge Freundin A-Qian eifrig.
»Ja, sie ist nah«, antwortete sie nach kurzer Überlegung leise.
Vor einigen Jahren hatte die Insel Dai Yu an dieser Stelle gestanden, bis der Ausbruch ihres Vulkans auch die letzten Spuren ihrer geheimnisvollen Vergangenheit ausgelöscht hatte. Sogar Shao Jun, die diese fantastischen Türme mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte sich nicht einmal in ihren Träumen an deren Aussehen erinnern. Aber Bai Guis kurze Beschreibung rief ihr alles wieder ins Gedächtnis.
Shao Jun ließ sich zwar nichts anmerken, war aber von einer seit Langem nicht mehr empfundenen Aufregung erfüllt. Bai Gui konnte die Überreste der Vorläufer spüren. Er war unglaublich mutig wie intelligent und verstand praktisch alles. Eine so unendliche Weisheit hatte sie bisher nur bei Wang Yangming erlebt. Der junge Mann besaß das Potenzial, das Erbe des ehrwürdigen Meisters nicht nur anzutreten, sondern ihn sogar zu übertreffen.
Die Gesellschaft des Geistes würde weiterbestehen, davon war sie überzeugt.
Ein Schuss war zu hören und eine blaue Rauchwolke stieg einige Li entfernt in den Himmel. Die Passagiere in dem kleinen Boot hätten diese Warnsignale bei rauer See niemals wahrgenommen. Da sich Schiffe nur selten in diese tückischen Gewässer wagten, verweilte man am besten nicht zu lange, wenn von einem die Kanonen abgefeuert wurden.
»Hisst die Segel!«, befahl Shao Jun und begann, den improvisierten Anker zu lichten – einen großen, mit einem Tau umwickelten Stein.
A-Qian hatte das Licht der Welt an der Küste erblickt und mehr Zeit auf dem Meer als an Land verbracht, sodass ihr solche Boote nicht fremd waren. Bai Gui sah, wie sie sich abmühte, die schweren Segel zu hissen, und eilte ihr zu Hilfe.
»Lass mich dir helfen, große Schwester!«
»Nenn mich nicht so«, erwiderte sie.
»A-Qian …« Er zögerte einen Moment, dann fügte er »Tante Qian« hinzu. Sein Zögern brachte die junge Frau zum Lächeln.
»›Du weißt doch, sind die Namen nicht korrekt, stimmt die Sprache nicht mit der Wahrheit der Dinge überein, nicht wahr?‹«
Der junge Mann warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf Shao Jun und begann, den entsprechenden Abschnitt aus den Gesprächen des Konfuzius zu rezitieren:
»›Sind die Namen nicht korrekt, stimmt die Sprache nicht mit der Wahrheit der Dinge überein. Stimmt die Sprache nicht mit der Wahrheit der Dinge überein, können Dinge nicht erfolgreich abgeschlossen werden. Können Dinge nicht erfolgreich abgeschlossen werden, werden Anstand und Musik nicht gedeihen. Wenn Anstand und Musik nicht gedeihen …‹«
»Du musst nicht alles rezitieren, ich sehe doch, dass du deine Lektion gelernt hast!«, unterbrach sie ihn. Es war ihr etwas peinlich, dass sie nicht ganz so gelehrt war. »Aber vergiss bitte nicht, mich Tante Qian zu nennen, ja?«
»Ja, Tante Qian.«
Die fügsame Antwort des Jungen und sein offensichtliches Unverständnis entlockten A-Qian ein Lächeln. Doch während sie miteinander sprachen, verhedderte sich ihr Seil mit der Umlenkrolle, sodass das Segel nur halb entfaltet war. Sie war an derartige Hürden gewöhnt und kletterte auf den Mast, um das Seil zu entwirren. Kaum hatte sie ihre Aufgabe beendet, donnerte in der Ferne ein weiterer Schuss. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab, kniff sie zusammen und sah zu den kämpfenden Schiffen. Dann sprang sie auf einmal hinunter an Deck.
Shao Jun hatte gerade den Anker eingeholt und bemerkte ihr aufgeregtes Verhalten.
»Was ist los, A-Qian?«
»Große Schwester, das Schiff … Es ist das Schiff meines Bruders!«
»Tiexin?«
A-Qian nickte eifrig.
Ihr Bruder Huan Wangquan wurde Tiexin genannt – »Feuerherz«. Er hatte seine Laufbahn als Händler halblegaler Waren im Ostchinesischen Meer begonnen. Als das Kaiserreich die Gewässer für tabu erklärte, änderten sich jedoch die Umstände und er war Pirat geworden. Shao Jun hatte ihn durch Yangming kennengelernt, der ihn dazu überredet hatte, bei der Zerstörung von Zhang Yongs Stützpunkt auf der Insel Dai Yu zu helfen. Doch als er sich dem puren Horror dort gegenübergesehen hatte, hatte er seine Schwester dem sicheren Tod überlassen.
A-Qian hatte ihr Leben riskiert, um ihren Bruder Shao Jun zu retten, sich danach an die Seite ihrer großen Schwester begeben und ihn seitdem nicht mehr gesehen. Viele Jahre waren vergangen, doch sie empfand immer noch widersprüchliche Gefühle. Einige Bande lassen sich nicht so einfach auflösen.
Shao Jun stand jetzt am Bug und konnte die Flaggen der beiden Schiffe erkennen, deren Besatzungen miteinander kämpften. Die Flagge des weiter entfernten Schiffs zeigte die fünf Berggipfel von Wufeng, dem Fischerklan Tiexins. Und die andere …
»Das ist das Banner des Blauen Monds!«, platzte es geradezu aus ihr heraus.
»Du kennst es, große Schwester?«
»Ja, es gehört einem alten Freund!«
Shao Jun betrachtete schweigend die Schiffe. A-Qian, die unbedingt mehr erfahren wollte, wagte erst nach einer Weile, sie zu stören.
»Würde meine große Schwester in Betracht ziehen, meinem Bruder zu helfen?«, fragte sie.
Tiexin hoffte zunächst auf Hilfe durch die Crew des kleinen Boots, das er vorhin gesehen hatte. Vielleicht teilte sie seinen Hass auf die Schifffahrtsbehörden. Doch je näher er kam, desto überzeugter war er, es nicht mit Piraten zu tun zu haben. Er stöhnte enttäuscht auf.
»Ich erkenne das Boot nicht«, murmelte sein eingeschworener Schwertbruder Ye Zongman neben ihm.
Am Tag zuvor hatten sie noch geglaubt, ein leichtes Ziel vor sich zu haben: ein imposantes Handelsschiff aus Korea oder von den Ryūkyū-Inseln, beladen mit exotischen Waren und bemannt mit Matrosen ohne Kampferfahrung. Kurzum: den Traum eines jeden Piraten. Doch kaum begannen sie zu entern, erkannten sie ihren Irrtum: Sie hatten ein Schlachtschiff der einheimischen Marine vor sich. Auf der Stelle änderten sie ihren Kurs und hielten schnurstracks auf ihr Versteck zu. Sie warteten nicht einmal auf diejenigen, die das gegnerische Deck bereits bestiegen hatten. Später, viel später würden japanische Verbündete Tiexin dabei helfen, sich eines holländischen Schiffs zu bemächtigen, das es mit jedem Schiff der Marine aufnehmen konnte. Doch im Moment befand er sich an Bord einer flüchtenden Dschunke, die Artilleriebeschuss nichts entgegenzusetzen hatte.
Das Marineschiff konnte es zwar an Schnelligkeit nicht mit ihnen aufnehmen, sie aber unerbittlich verfolgen, ohne allzu weit zurückzufallen, und tat das während der Nacht und am nächsten Morgen auch. Den kontrollierten Schüssen nach wollten die Soldaten ihr Schiff nicht versenken, sondern die Piraten lebend fangen. Doch in diesem Moment schlug eine Kanonenkugel ein und zerstörte einen großen Teil des Hecks.
Unruhe ergriff die Besatzung, als sie die drohende Niederlage spürte. Ye Zongman hatte eine enge Beziehung zum Kapitän und ihre Vertrautheit ließ sie wie ein Mann handeln. Doch nach dem verhängnisvollen Versuch, das Kriegsschiff zu entern, waren sie nun gleichermaßen machtlos und unfähig, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Flucht oder Kampf … Beides schien zum Scheitern verurteilt. Welche andere Wahl hatten sie?
»Bruder Tiexin«, rief Xu Weixue, ein anderer Vertrauter, »diese dreckigen Köter werden uns auslöschen!«
»Nimm Kurs auf die kleine Barke«, sagte Tiexin schlicht.
»Und wenn sie den Köder nicht schlucken?«, wisperte Ye Zongman, der die Absichten seines Gefährten erraten hatte.
Der antwortete ihm mit einem nervösen Lächeln: »Dann sorgen wir dafür, dass es sie teuer zu stehen kommt!«
Eigentlich vermied er es, unschuldige Zivilisten in seine Geschäfte hineinzuziehen, aber jetzt ließ Tiexin sich auf ein verzweifeltes Spiel ein: Er wollte die Passagiere des kleinen Bootes als Geiseln nehmen, um das kaiserliche Patrouillenschiff zur Umkehr zu zwingen. Doch selbst dann gab es keine Garantie, dass das Schlachtschiff sie ziehen lassen würde. Wer immer diese unbekannten Eindringlinge waren und egal welcher Nationalität sie angehörten, sie brachen Gesetze und könnten einer Begnadigung für unwürdig befunden werden.
Xu Weixue nickte.
»Verstanden, großer Bruder Tie, ich …«
»Ähm? Was machen die da?«, unterbrach Ye Zongman.
Das bescheidene Segelboot suchte nicht das Weite, sondern hielt direkt auf seine Verfolger zu. Doch dies war nur die erste einiger Überraschungen, wie Xu Weixue schnell feststellte, als er die Passagiere ausmachen konnte.
»Da! Ist das … A-Qian?«
Die intelligente junge Frau war der erklärte Liebling der Bande der Geächteten gewesen, einschließlich der Brüder des Kapitäns. Die meisten der Acht Himmlischen Könige waren während des Angriffs auf die Insel Dai Yu umgekommen oder verletzt worden und Tiexin ging davon aus, dass seine jüngere Schwester von den Wellen verschlungen worden war. Trotz seiner Hartherzigkeit fühlte sich der Pirat für ihren Tod verantwortlich und hatte ihren Verlust bitterlich beweint. Jetzt beugte er sich aufgeregt über die Reling und versuchte, sie selbst zu erspähen. Da war sie! Trotz der Männerkleidung erkannte er unterhalb des Segels augenblicklich A-Qian. Aber gerade als er nach ihr rufen wollte, hielt er inne, denn er erkannte auch die Person an ihrer Seite.
Shao Jun!
Genau wie befürchtet hatte sie ihr Leben nicht als Staub auf dem Meeresgrund beendet … Was genau bedeutete ihre Rückkehr? Und warum hielt sie auf das Patrouillenschiff zu? Sie war alles andere als eine Regierungsagentin …
Die hiesigen Küstenwachen waren eher daran gewöhnt, dass Menschen vor ihnen flohen, als in diesen verbotenen Gewässern auf sie zukamen. Daher teilten sie Tiexins Verwirrung. Doch diese aus dem Nichts aufgetauchte Nussschale mit den wenigen Menschen an Bord stellte ja wohl keine Gefahr dar. Schüsse blieben aus, und als sich die beiden Schiffe berührten, trat ein Soldat ans Heck des kaiserlichen Schiffs und warf einen misstrauischen Blick auf die Neuankömmlinge.
»Wir sind die kaiserliche Garde!«, rief er. »Nennt uns eure Namen und den Grund für eure Anwesenheit hier!«
»Dieser bescheidene Bürger bittet darum, Hauptmann Hu sehen zu dürfen«, antwortete Shao.
Der Soldat hielt sie für einen Mann und war von ihrer Jugend, ihrer Anmut und ihrem bestimmenden Ton überrascht.
»Woher kennst du Hauptmann Hu?«, fragte er lammfromm, besänftigt durch die namentliche Erwähnung seines Vorgesetzten.
Während er sprach, setzte die junge Frau auf das andere Schiff über, indem sie mit geschmeidigen, flinken Bewegungen an dessen Rumpf emporkletterte und eine in der Spitze ihres Stiefels verborgene Klinge als Halt benutzte. Etwas so Außergewöhnliches hatte der Soldat noch nie gesehen. Seine Hand wanderte reflexartig zum Dolch an seinem Gürtel.
»Wer zum Teufel bist du, mein Freund?«, rief er mit einer Autorität, die nur ihn selbst beeindruckte.
»Ich habe Eure Flagge erkannt. Bitte sagt Hauptmann Hu, dass ihn ein alter Bekannter sprechen möchte.«
So etwas war dem Soldaten noch nie untergekommen und er war verblüfft über die ruhige, selbstsichere Gelassenheit des mysteriösen Fremden. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, stammelte nur vor sich hin, nickte und schlich davon. Die Kanonen des Patrouillenschiffs waren auf Wufengs Dschunke gerichtet, aber der Feuerbefehl stand noch aus. Vom Deck aus betrachtete Tiexin grübelnd ihre schwarzen Mündungen und Shao Juns Silhouette. Auf einmal überkam ihn Angst. Was führte diese kleine Viper im Schilde? Als sie aufgefordert wurde, eine Kabine zu betreten, kochte der Pirat geradezu vor Zorn.
Das Vertrauen seiner Männer zu Kapitän Hu und ihre Bewunderung für ihn basierten weniger auf seinem Rang denn auf seinen Fähigkeiten und seiner natürlichen Autorität. Weil er zugestimmt hatte, den Eindringling zu empfangen, betrachtete seine Mannschaft diesen als Gast. Dieses Schiff hatte Yu Dayong gehört, als er noch Kommandant der kaiserlichen Garde gewesen war. Den Posten hatte er von seinem Vater Yu Feng geerbt und vor einigen Jahren an seinen Lieblingsneffen Hu Qianhu weitergegeben. Der Gold- und Jadeschmuck war entfernt worden, aber die Kabine war immer noch mit Darstellungen der Wälder und Berge von Yunlin geschmückt, was von Hus altmodischem, aber elegantem Geschmack zeugte. Ein Mann stand mit verschränkten Armen an einem Fenster und sah auf die Dschunke der Wufengs hinaus.
»Schließt die Tür hinter Euch«, sagte er zu Shao Jun, ohne sich zu ihr umzudrehen. Die junge Männerstimme überraschte sie.
»Ihr seid nicht Kapitän Hu Shangren«, stellte sie respektvoll fest.
»Ich bin Hu Ruzhen, sein Sohn. Und mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«
»Ich heiße Shao Jun.«
»Die kaiserliche Konkubine …«
Ihr Körper verriet keinerlei Überraschung, aber ihre Augen flackerten kurz auf. Dann nahmen sie wieder ihren undurchdringlichen Ausdruck an. Als er sich zuletzt doch umgedreht hatte, waren seine helle Haut und sein bartloses Kinn deutlich zu erkennen gewesen.
Wang Yangming hatte Shao Jun gegenüber Tiexin einmal als nützlich, aber unzuverlässig beschrieben und Hu Shangren als verlässlich, aber wegen seiner offiziellen Pflichten nutzlos. Er stammte ursprünglich aus Jixi, war dann nach Huizhou versetzt worden und bekleidete den Rang eines Kapitäns der kaiserlichen Garde, einen vererbbaren Posten. Er war zwar kein überragender Beamter, aber prinzipientreu genug, um sich der Korruption und Brutalität in Zhang Yongs Regierungszeit zu entziehen. Er war so integer, dass er sich Yu Dayongs üblen Machenschaften regelmäßig widersetzt und mehr als ein Menschenleben gerettet hatte. Dank seines freundlichen Charakters hatte er dennoch ein Vertrauensverhältnis mit beiden Männern bewahren können, und zwar derart, dass er das seltene Privileg eines eigenen Banners erhielt – eines blauen Mondes. Stolz segelte er unter dieser Flagge.
Obwohl er kein Mitglied der Schule des Geistes war, empfand Shangren großen Respekt für Meister Yangming und hatte seinen Sohn schon als Jungen an die Jishan-Universität geschickt, damit dieser von den Ratschlägen und Lehren des Philosophen profitieren konnte. Aufgrund dieser Sympathie und offensichtlichen geistigen Nähe hielt Shao Jun, obwohl offiziell als Verbrecherin gesucht, es für vernünftig, ihn um ein Treffen zu bitten. Allerdings hatte sie hier nicht seinen Sohn erwartet. Doch es brauchte weit mehr als das, um sie aus der Fassung zu bringen.
»Ich war vor langer Zeit kaiserliche Konkubine, junger Herr Hu.«
»Und die Vorzüge dieser Stellung genießt Ihr ebenfalls nicht mehr, das stimmt. Also warum begebt Ihr Euch an Bord eines kaiserlichen Schlachtschiffs?«
»Weil Meister Yangming glaubte, dass Euer Vater weise sei und Ihr zu einem außergewöhnlichen Mann heranwachsen würdet … einem unter Millionen.«
Dieses köstliche Lob kühlte den Zorn, der den Kapitän zu übermannen drohte, merklich ab. Die Begegnung des ehrenwerten Gelehrten mit seinen unschätzbaren Lektionen hatten ihn als Jugendlichen zutiefst berührt. Er war überwältigt zu hören, dass der große, von ihm so sehr bewunderte Mann in ihm ein derartiges Potenzial gesehen hatte. Er versuchte jedoch, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, und antwortete ruhig.
»Ich danke Euch für diese Worte, große Schwester. Ich bemühe mich, mich Meister Yangmings Worten als würdig zu erweisen.«
Shao Jun war erleichtert, dass der Sohn offenbar die gleiche Einstellung wie sein Vater besaß, und verbeugte sich.
»Ich danke Euch, junger Herr, und …«
»Wenn diese Piraten bereit sind, mir das zu geben, was ich haben möchte«, unterbrach er sie, »werde ich sie ziehen lassen.«
»Und was wäre das?«
»Nicht ihre Köpfe, das kann ich Euch versichern! Nur ein eisernes Kästchen.«
Dieses Kästchen war der wahre Grund, aus dem Hu Ruzhen es vermieden hatte, das Wufeng-Schiff zu versenken. Sein bislang so sanftes Lächeln verwandelte sich in ein bedrohliches Grinsen: Sollten die Banditen sein Angebot ablehnen, würde diese Begegnung ein blutiges Ende nehmen.
Der jungen Frau blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen, zumindest bis sie mehr wusste.
»Ich werde Eure Botschaft weitergeben, aber ich bezweifle, dass meine Meinung für meine Kameraden von Bedeutung ist.«
»Die Ehre Eures Eingreifens ist bereits weit mehr, als sie verdienen, große Schwester. Sollte ihnen die Weisheit fehlen, ein so großzügiges Angebot anzunehmen, haben sie es allein sich selbst zuzuschreiben. Euer Gewissen hingegen ist rein. Geht!«
Dienstbeflissen salutierten die Matrosen an der Kabinentür vor ihrem Kapitän. Die Ergebenheit, die er trotz seiner Jugend in ihnen weckte, war unbestreitbar.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr an Bord dieses Vagabundenschiffs gehen wollt?«, flüsterte einer von ihnen, als sie den Schiffsbug erreichten.
»Ich glaube an das Wohlwollen des Himmels, junger Herr«, antwortete Shao Jun leise.
Sie schnappte sich ein vom Segel herabhängendes Seil und sprang zur Dschunke hinüber. Unter dem Jubel der Matrosen und Piraten flog sie wie eine Schwalbe meterweit über die Wellen.
Tiexin wurde von einem tiefen Unbehagen gepackt: Er war erleichtert, dass man ihn nicht in die Tiefe geschickt hatte, gleichzeitig aber auch besorgt über Shao Juns Rückkehr, die er vor zwei Jahren verraten und dem Tod überlassen hatte. A-Qian musste zwar ein gutes Wort für ihn eingelegt haben, um ihm Verhandlungen zu ermöglichen, doch ihre Anwesenheit machte diese heikle Situation nicht gerade einfacher. Worauf musste er sich einstellen? Ye Zongman bemerkte seine Unruhe und trat vor, um an seiner Stelle das Wort zu ergreifen.
»Shao Jun, welch eine Freude, dich wohlauf zu sehen! Und deine Fähigkeiten sind so außergewöhnlich wie immer!«
Die junge Frau wusste, dass Piraten sehr direkt waren, und ersparte ihnen daher die üblichen Floskeln, um ihre Nachricht zu übermitteln. Damals hatte sie nicht gewusst, dass der Piratenkapitän schon seit langer Zeit nach diesem eisernen Kästchen suchte. Erst als er erfahren hatte, dass es sich auf der Insel Dai Yu befand, hatte er zugestimmt, Wang Yangming in seinem Kampf gegen die Acht Tiger zu unterstützen. Wegen dem, was sich dort abgespielt hatte, fand er den kostbaren Gegenstand erst nach zwei Jahren wieder … und hatte just das Pech, den Weg eines kaiserlichen Patrouillenschiffs zu kreuzen.
»Aber woher weiß Hu Ruzhen, dass wir es haben?«, fragte er Shao Jun. Er war zu erschüttert, um klar denken zu können.
»Ich weiß es nicht und das ist auch nicht die Frage. Wirst du es ihm geben oder nicht?«
Es fiel ihm schwer, ausgerechnet das Objekt aufzugeben, für das er so viel geopfert hatte. Aber wie er Ye Zongman gegenüber bereits bemerkt hatte, wussten Piraten um das unnachgiebige Recht des Stärkeren. Tiexin war die Meinung seines Schwurbruders wichtig und rief deshalb hinüber, er wolle an Bord kommen. Schmale Planken wurden zwischen den Schiffen ausgelegt und mit dem sicheren Schritt eines Mannes, der es gewohnt ist, um sein Überleben zu kämpfen, betrat er das Patrouillenschiff. Von der Dünung bedrängt, wusste er, dass nun jede Chance zur Umkehr verspielt war.
Hu Ruzhen stand aufrecht an Deck, flankiert von seinen beiden besten Männern. Er nickte Shao Jun anerkennend zu und ergriff das Wort.
»Spreche ich mit dem ehrenwerten Wangquan?«
Die Frage brachte Tiexin aus der Fassung, weil er nicht daran gewöhnt war, anders als mit seinem Spitznamen angesprochen zu werden.
»Ich bin nur ein gemeiner Seemann, Herr Hu«, antwortete er mit unerwarteter Ehrerbietung und hielt dem anderen Mann das Kästchen hin.
Der Kapitän des Patrouillenschiffs nahm es entgegen, warf mit unbewegter Miene einen Blick hinein und reichte es einem seiner Untergebenen.
»Herr Wangquan«, fuhr er fort, »da sich eine gemeinsame Bekannte für Euch eingesetzt hat, werde ich Euch ziehen lassen.«
Als ihm der Pirat jedoch lediglich mit einem Seufzer dankte und sich ohne jedes weitere Begehr auf dem Absatz herumdrehte, rief er ihn zurück.
»Wartet einen Moment!«
»Was gibt es, Herr Hu?«, fragte Tiexin und wirbelte geschmeidig wieder herum.
»Da ich den Posten des Gardekapitäns in Huizhou geerbt habe, ist es meine Pflicht, diese Gewässer vor Banditen zu schützen. Ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich Euch weiter in diesem Gebiet zu schippern erlaubte.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr außer dem Kästchen auch meinen Kopf wollt?«
»Ursprünglich wollte ich beides, ja. Aber ich bin kein Mann, der sein Wort bricht. Ihr sollt allerdings wissen, dass es mich etwas gekostet hat, einen Piraten frei herumstreifen zu lassen, und dass unsere Übereinkunft nur für diese Begegnung gilt. Wenn sich unsere Wege wieder kreuzen, werden unsere Kanonen die Verhandlungen führen. Ich würde Euch also raten, Euren Geschäften weit, weit weg von den Küsten des Kaiserreichs nachzugehen. Für mindestens zwanzig Jahre.«
Shao Jun entspannte sich, ohne es sich anmerken zu lassen. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, der Kapitän würde wortbrüchig. Doch sein bedrohlicher Tonfall und das ironische Lächeln verunsicherten Tiexin. Er streckte seinen muskulösen Arm vor sich aus. Er war stolz auf seine Kampffertigkeiten und insbesondere seine Beherrschung des Himmlische Trommeln geben den Takt des Donners vor, einer schnellen Abfolge wechselnder, von der Seite geführter Schläge. Nur wenige Kämpfer waren in der Lage, den für diese Technik erforderlichen präzisen Rhythmus länger als drei Runden beizubehalten, doch der Pirat schaffte acht, was ihm den Titel Acht Himmlische Trommeln eingetragen hatte.
»Eure Sorge rührt mich, Herr Hu«, antwortete er arrogant, »aber ich weiß bereits seit meiner Kindheit meine Interessen zu vertreten …«
»Ich sehe, dass Herr Wangquan den Kampfstil von Mount Kailash gemeistert hat …«, murmelte Hu Ruzhen. »Eines Tages werdet Ihr jedoch jemanden treffen, der Euren Himmlischen Trommeln widerstehen kann, und dann werdet Ihr nur noch Tränen vergießen können.«
»Kühne Worte, Herr Hu, aber glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet acht Runden meiner Technik überstehen?«
»Ich besitze zwar keine besonderen Fähigkeiten, aber wenn es sein müsste, würde ich es tun. Wollt Ihr es gerne ausprobieren?«
»Ist das Euer Ernst?«, erkundigte sich Tiexin vorsichtig, da er befürchtete, die Mannschaft könnte ihn töten, wenn er seinen Gegner zu schwer verletzte.
»Ihr habt mein Wort als Ehrenmann«, bestätigte Hu Ruzhen ruhig. Dann wandte er sich im Befehlston an seine Männer. »Wenn ich den Angriffen Herrn Wangquans unterliege, dann nur, weil ich es verdient habe. Ich verbiete euch, mir zu helfen.«
»Verstanden!«, riefen seine Männer, die Elite der kaiserlichen Streitkräfte, im Chor.
Ihre Siege gegen die unorganisierten Piratenhorden errangen sie normalerweise durch Koordination und Disziplin. Ein Duell hingegen glich die Chancen ein wenig aus, dachte Tiexin bei sich. Er war sich sicher, diesen arroganten Kapitän schlagen zu können, der bestimmt ebenso unerfahren wie jugendlich war. Im Fall seiner Niederlage wäre er dazu gezwungen, den kaiserlichen Gewässern zwanzig Jahre lang fernzubleiben, aber ein Sieg wäre genauso besorgniserregend, denn er vertraute nicht darauf, dass der Kapitän sein Wort hielt.
Für Hu Ruzhen war dieser improvisierte Kampf eine Möglichkeit, seiner Zwickmühle zu entkommen: Er konnte Tiexin nicht einfach gehen lassen. Selbst in der kurzen Zeit, in der das eiserne Kästchen in dessen Besitz gewesen war, hatte er sich die darin enthaltenen Informationen vielleicht angeeignet, kannte sie womöglich sogar in- und auswendig. Selbst das Exil würde nicht verhindern, dass ihr Inhalt ans Licht kam. Der einfachste Weg wäre freilich gewesen, die Dschunke in die Luft zu jagen. Aber ein Versprechen war ein Versprechen und er hatte Shao Jun sein Wort gegeben. Jetzt hing alles von seiner eigenen Kraft und Geschicklichkeit ab. Hu Ruzhen band seinen langen Umhang mit seinem Gürtel fest, damit er sich besser bewegen konnte. Dann stellte er den linken Fuß zurück und ging in Abwehrstellung.
»Dann wollen wir doch mal sehen, wie tapfer der junge Herr angesichts meiner flammenden Fäuste ist!«, knurrte Tiexin und holte zu einem horizontalen Schlag aus.
Er traf Hu Ruzhen mit einem dumpfen Knall und zwang ihn einen Schritt zurück. Shao Jun hatte den Piraten schon früher kämpfen sehen und wusste, dass es selbst Meister Yangming schwergefallen wäre, dieser berühmten, bei korrekter Ausführung unaufhaltsamen Technik standzuhalten. Sie hätte das Duell lieber verhindert, aber bei diesem Fortgang der Unterhaltung hatten die beiden Männer keine andere Wahl. Vollkommen unerwartet, zitterte der Marinekapitän bei dem Aufprall jedoch nur leicht und erstarrte plötzlich.
Feuer des Lotus!
Eben war Shao Jun noch hocherfreut gewesen, den Sohn eines engen Freundes ihres Meisters kennenzulernen, doch jetzt überkam sie eine gewisse Bitterkeit. Sie würde diese Technik, die Zhang Yong angewandt hatte, um Wang Yangming zu töten, überall erkennen. Allerdings war sie so schwer zu erlernen, dass selbst Wei Bin, der zweite der Acht Tiger, es nicht vermocht hatte. Also warum beherrschte sie dieser junge Mann? Die Bedeutung war offensichtlich: Er musste eine Verbindung zum früheren Kapitän der kaiserlichen Garde haben. Das erklärte auch, warum er so sicher war, Tiexin besiegen zu können.
Auch der Piratenanführer war fassungslos. Noch nie hatte er erlebt, dass seine Himmlischen Trommeln so leicht ausgeschaltet wurden. Ein solches Maß an Kampfkunst jagte ihm einen Schauer über den Rücken, denn Abwehrbewegungen dieses Kalibers deuteten auf einen womöglich tödlichen Gegenangriff hin. Er ließ die Fäuste sinken.
»Ich gebe auf und erkläre mich mit dem Exil einverstanden«, verkündete er und lächelte, um seine Verbitterung zu verbergen. »Ich komme in zwanzig Jahren wieder und bitte Euch darum, mich zu unterrichten.«
»Meinen ehrerbietigsten Dank, Herr Wangquan. Ich versichere Euch, dass ich Eure Rückkehr sehnlichst erwarten werde.«
Während der Pirat leise davonschlich, wandte sich Hu Ruzhen an Shao Jun.
»Ich stehe in Eurer Schuld, weil Ihr als Vermittler aufgetreten seid, Herr Shao«, sagte er. »Die Nebel lichten sich. Ich schlage vor, Ihr kehrt zur Küste zurück.«
»Herr« Shao? Das war eine subtile Art und Weise, der jungen Frau vorzuschlagen, ihre Identität auf diesem Schiff wie im Kaiserreich zu verbergen. Sie war überrascht, aber hier und jetzt war weder die richtige Zeit noch der rechte Ort, um Einzelheiten zu besprechen.
»Ich danke Euch, junger Herr Hu«, antwortete sie schlichtweg.
Als sie gerade zur Tür hinausgehen wollte, rief der Kapitän sie ein letztes Mal zurück.
»Einen Moment, Herr Shao. Was waren Meister Yangmings letzte Worte, bevor er sein Leben aushauchte?«
»Dass Ihr einer unter Millionen seid, dazu bestimmt, ein Held zu werden.«
Bei diesen Worten drehte sie sich langsam zu ihm um und traf Ruzhen damit härter, als Tiexins Schläge es je vermocht hätten. Seine Bewunderung für den ehrenwerten Meister war aufrichtig: Allein diesem Umstand verdankte die junge Frau die Chance, das Leben von A-Qians Bruder zu retten. Ihre Verwirrung wuchs. Wie konnte einer von Zhang Yongs Mitarbeitern solche Hochachtung vor Wang Yangming haben? Die Ideologien der beiden Männer waren ganz und gar nicht miteinander vereinbar.
»Das hat Meister Yangming wirklich gesagt …«, flüsterte der Kapitän. Dann verbeugte er sich und fügte hinzu: »Ich danke Euch. Diese Worte bedeuten mir mehr als alles Gold in der kaiserlichen Schatzkammer.«
Wieder einmal hatten diese Worte eine doppelte Bedeutung: Sollten die zerstörerischen Kräfte des Reiches jemals versuchen, Shao Jun zu schaden, würde der Kapitän eher auf der Seite der jungen Frau stehen. Doch bevor der Extremfall einträfe, müsste sie zunächst einmal gegen seinen früheren Rat verstoßen, indem sie beispielsweise versuchte, die Schule des Geistes wiederzubeleben … Weil sie sich in den letzten Jahren in Dichtung, Philosophie und sämtliche Schriften Meister Yangmings vertieft hatte, war sie eine Meisterin darin geworden, subtile Andeutungen und andere Chiffren zu entschlüsseln. Besser noch: Sie war in der Lage, ihre eigenen zu kreieren.
»Habt innigsten Dank für Eure Warnungen, junger Herr Hu. Der Himmel ist wohlhabend und niemand kann sich selbst zerstören.«
Mit diesen Worten erklärte sie sich einverstanden, dem Hof fernzubleiben und den Kaiser sowie die mächtigen Leute an seiner Seite zu meiden. Gleichzeitig versicherte sie ihm aber auch, dass sie, wenn der Himmel es so wollte, die Gesellschaft des Geistes neu gründen und nichts sie daran hindern würde.
Damit war ihr Austausch beendet. Shao Jun sprang vom Patrouillenschiff zurück auf das kleine Boot, wo A-Qian und Xiao Gui sie erwarteten. Hu Ruzhen beugte sich über die Schiffsreling und sah ihr nach. Die junge Frau war verblüfft und konnte sich nicht dazu durchringen, Tiexin zu hart zu verurteilen: Er hatte wohl nicht den Mut aufgebracht, einen letzten Blick zurück auf seine kleine Schwester zu werfen, und war nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen.
»Ist alles geregelt?«, fragte A-Qian.
»Eigentlich … fängt es jetzt erst an!«
Anmerkung: Offiziellen historischen Dokumenten zufolge marodierte ein Pirat namens Tiexin zwanzig Jahre später, ab dem Jahr 31 der Jiaqing-Ära, entlang der chinesischen und japanischen Küsten …
Wenn es in der Region Baoding im Bezirk Manching eine Hitzeperiode gab, trockneten die lehmigen Straßen aus und wurden rissig. Mit den ersten Regenfällen klebte der Matsch an den Rädern der Fuhrwerke und ermüdete die Zugtiere. So schnaufte das große, muskulöse Kutschpferd an diesem Tage vor Erschöpfung, während die beiden Passagiere in ihrem Ölzeug den Schlamm mit Schaufeln abkratzten, damit sie weiterfahren konnten. Hinter ihnen ging vorsichtig ein dritter Mann über den rutschigen und tückischen Boden, um mit einem Holzbrett ihre Spuren zu verwischen. Es handelte sich um Hu Ruzhen, den Kapitän der kaiserlichen Garde von Huizhou. Es nieselte zwar nur, doch dafür seit dem Vorabend ununterbrochen.
Als sie so den Waldrand erreichten, erschienen zur Begrüßung zwei Männer. Sie mussten bereits eine Weile dort gewartet haben.
»Kapitän«, sagte der eine, »wir haben alle Befehle ausgeführt!«
»Wurdet ihr verfolgt?«
»Wir haben niemanden bemerkt.«
Hu Ruzhen schob sein Brett in den Wagen und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass die aufgeweichte Straße unberührt aussah.
Zufrieden gab er neue Befehle aus:
»Diesmal müssen wir sie endgültig loswerden. Ihr beiden wartet noch eine Stunde hier und kommt nach, wenn sich in der Zeit keiner zeigt.«
Er wusste zwar immer noch nicht, wer seine Verfolger waren, doch sie waren ihm schon seit vier Tagen auf den Fersen und er vermochte sie nicht abzuschütteln. Aber die Zeit drängte und er konnte sich dieses Katz-und-Maus-Spiel nicht länger leisten. Daher kamen ihm der Regen und der Schutz der Nacht sehr gelegen. An einer Kreuzung hatte er zweien seiner Wachen befohlen, die unerwünschten Wegbegleiter auf eine falsche Fährte zu locken. Diese würden die Täuschung frühestens nach einer Stunde bemerken. Sollten sie ihre Spur wieder aufnehmen, würden die beiden im Wald versteckten Soldaten sie zu ihrem Unglück bald erwischen.
»Sollen wir sie lebend fangen, Kapitän?«
»Dazu gibt es keinen Grund«, antwortete Hu Ruzhen nach kurzem Nachdenken.
Die beiden Wachen nahmen seine Anweisungen mit einem knappen »Verstanden« zur Kenntnis. Er bedeutete den anderen, nicht länger an den Rädern der Kutsche zu kratzen. Die Straße führte jetzt in den Wald, und das Laub und die Pflanzen auf dem Boden würden die Fahrt erleichtern. Die beiden müden Männer ließen sich das nicht zweimal sagen und kletterten mit ihrem Kommandanten in die Kutsche.
»Auf geht’s, Zhou!«, rief Letzterer dem Kutscher zu. »Bis zur Präfektur Datong ist der Weg noch weit.«
Ein Peitschenknall erklang und das Laub raschelte, während der Regen weiterplätscherte. Die beiden Wachen am Waldeingang hatten sich verzogen, und so weit das Auge reichte, war keine Menschenseele mehr zu sehen. Diese lange Reise würde bald ihr Ende finden. Dennoch blieb eine Frage unbeantwortet: Wer folgte ihnen? Vielleicht ein verärgerter Pirat, der das Eisenkästchen in seinen Besitz bringen wollte? Dieser hätte keine Gnade zu erwarten. Sollte es allerdings Shao Jun sein …
Dem jungen Mann wurde bang ums Herz, als umklammerten es die Klauen eines namenlosen Schattens. Er hörte immer noch das tiefe Bedauern in der Stimme seines Vaters, als dieser von der früheren kaiserlichen Konkubine gesprochen hatte. Er war überzeugt, sie hätte einfach den falschen Weg im Leben eingeschlagen. Als hochrangiger Offizier der kaiserlichen Garde war Hu Shangren ein Gegner der Mitglieder der Bruderschaft der Zentralebene gewesen. Dennoch hatte er inständig gehofft, dass sie das Massaker überlebten. Nach seinem Vater ließ sich auch der Sohn von Shao Jun verzaubern, ihr, die nun wieder auftauchte, um seinen Onkel Zhang als letztes verbliebenes Mitglied der Acht Tiger anzugreifen.
Es brauchte schon eine außergewöhnliche Person, um dem mächtigsten Mann Chinas – wenn nicht sogar der ganzen Welt – so viel Ärger zu bescheren. Die Erzählungen über ihre faszinierenden Taten hatten Hu Ruzhens Bewunderung erregt und er hatte sich trotz seiner offiziellen Verpflichtungen insgeheim immer gewünscht, sie einmal kennenzulernen. Was für eine Überraschung, sie auf seinem Schiff zu treffen! Sie war genauso, wie er es sich immer vorgestellt hatte: außergewöhnlich.
Gib ihr ein Paar Flügel und sie wäre der perfekte Phönix, dachte er und lächelte vor sich hin.
Das erinnerte ihn an seinen achtzehnten Geburtstag. Auf Geheiß seines Vaters hatten seine Gäste »Tausche einen Nerzmantel gegen einen Becher Wein« gesungen, das von dem ausschweifenden Leben der Söhne reicher Familien handelte. Er hasste es, damit in Verbindung gebracht zu werden. Meister Yangmings Einschätzung, von der Shao Jun berichtet hatte, er sei »einer unter Millionen«, vermittelte ihm ein völlig anderes Selbstverständnis, denn sie stellte ihn über die gewöhnlichen Sterblichen.
Als Hu Ruzhen seinen Kopf hob, meinte er, seine Augen könnten die Plane seiner Kutsche durchbohren und in den unendlichen Himmel darüber sehen.
Er hatte sein Wohlwollen bewiesen, indem er die junge Frau nach ihrem Treffen in See stechen ließ, aber wenn sie ihn verfolgte, könnte sie durch die Hand seiner beiden versteckten, auf sie lauernden Wachen sterben. Alles hing von ihr ab. Und von ihrem Glück. Bei diesem Gedanken verschwand Hu Ruzhens Lächeln unversehens. Seine Männer beobachteten ihn und fragten sich wohl, was im Kopf ihres Kapitäns vorging.
Eine halbe Stunde war seit ihrem Aufbruch vergangen. Jetzt goss es in Strömen.
Ein junger Mann mit einem großen Hut auf dem Kopf und in einem Strohmantel ging im Dauerregen am Straßenrand entlang. Dank seiner hervorragenden Fähigkeiten als Spurenleser vermochte er trotz der schlechten Lichtverhältnisse den praktisch unsichtbaren Fährten zu folgen. Sie waren frisch und er erkannte, dass die Kutsche vor etwa einer Stunde hier vorbeigekommen war. Er ging davon aus, dass sie in die Hauptstadt fuhr, und folgte der Straße auf einem Schleichweg. An einer Stelle hielt er jedoch überrascht inne: Die Kutsche war wohl in eine andere Richtung abgebogen und zur Präfektur Datong gefahren. Als er seinen Irrtum bemerkte, war er einen Moment lang verblüfft. Er war schnell, intelligent und ein Meister der Kampfkünste – der ideale Anführer der Gesellschaft des Geistes. Aber er hatte Hu Ruzhens Absichten falsch eingeschätzt und deshalb seine Spur verloren. Diesen Fehler würde er sich nur schwer verzeihen.
Eine Kutsche fuhr zwar im Durchschnitt zwanzig oder dreißig Li* pro Stunde, sodass es unerlässlich war, ihr Ziel herauszubekommen …
Das Aufblitzen zweier Schwerter unterbrach seine Gedanken. Kaum hatte er den Wald betreten, sprangen die beiden versteckten Wachen links und rechts von ihm heraus und versuchten, ihn niederzustechen. Ihnen war befohlen worden, die Identität ihres Opfers zu überprüfen, aber in der Dunkelheit und dem Regen wollten sie ihre Aufgabe lieber so schnell wie möglich erledigen. Sie waren gut aufeinander eingespielt und wollten mit der dreisten Person, die ihren Kapitän zu verfolgen wagte, kurzen Prozess machen. Niemand konnte es mit ihren Xinchun-Säbeln aufnehmen: leichten Waffen mit kurzer Klinge.
Doch sie trafen kein Fleisch, sondern schnitten ins Leere.
Ungläubig fuhren die beiden Männer herum und ihr Erstaunen schlug in Angst um … Käme es zu einem Kampf, würde es schwierig werden. Sie stellten sich Rücken an Rücken und spitzten die Ohren, um durch das Prasseln des Regens etwas zu hören. Sie wogen ihre Möglichkeiten ab. Kapitän Hu hatte ihnen lediglich befohlen, eine Stunde zu warten. Und was noch besser war: Er erwartete ja nicht, dass sie eine Leiche mitbrächten. Da sich der junge Mann in Luft aufgelöst hatte, konnten sie einfach behaupten, niemanden gesehen zu haben. Das war viel besser als jeder Versuch, es mit einem Geist aufzunehmen.
»Sollen wir gehen?«
»Auf jeden Fall!«
Sie steckten ihre Schwerter in die Scheide, rannten los und verschwanden schnurstracks im Wald.
Kurz darauf ließ sich unbemerkt eine Gestalt aus den oberen Ästen eines Baumes fallen. Es war der Spurenleser. Er sah an sich hinunter und verzog das Gesicht, als er bemerkte, dass eins der Schwerter seine Kleidung zerfetzt hatte. Schmerzlich stellte er fest, dass er sich trotz seiner kämpferischen Fähigkeiten von einfachen Soldaten hatte überraschen lassen. Der Weg zur Wiederauferstehung der Gesellschaft des Geistes war noch länger geworden.
Im Wald herrschte absolute Dunkelheit und die Morgendämmerung ließ noch lange auf sich warten.