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"Ach, leck mich doch an meiner Borke, du Bürokrat!" Penta arbeitet als Beamter in der geheimen Todesgilde und verwaltet die Aufträge seiner Assassinen. Stets an seiner Seite: Wurzel. Ein töpflich und geistig inkontinenter Bonsai, der Penta durch seine unbedachten Äußerungen immer wieder in Bedrängnis bringt. Eines Tages übernimmt Penta die Urlaubsvertretung für einen Kollegen und damit auch die Betreuung des berühmten Gentleman-Assassinen. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, als dieser Assassine beauftragt wird, die junge Erbin Tonia Fill umzubringen. Diese versucht bereits seit Jahren zu beweisen, dass es Assassinen gibt und schreckt dabei nicht vor fragwürdigen Methoden zurück, die sowohl Pentas Leben, als auch das von Wurzel für immer verändern werden ...
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Assassins Wood
Ein Roman von Ann-Kathrin Karschnick
Prolog
Dies ist die erste erfolgreiche Datenspeicherung auf dem Surfer.
Warum darfst du den ersten Satz aufzeichnen?
Weil ich der oberste Geschichtsforscher von Madera bin und dein Vorgesetzter, also halt den Mund. Wir nutzen die Speicherfähigkeiten der Bäume, um die Erfahrungen der Vergangenheit festzuhalten, damit die uns nachfolgenden Generationen vorbereitet sind.
Aber ich hatte die Idee, den Großspeicher Surfer zu nennen.
Es war die offensichtliche Wahl. Immerhin stehen die Mammutbäume im Wasser.
Ich finde dennoch, ich sollte auch etwas sagen.
Wir haben das doch besprochen. Die erste Aufzeichnung sollte von mir kommen. Wärst du einverstanden, wenn du den letzten Satz sagen darfst?
Aber …
Das Angebot verfällt in drei Sekunden.
Okay, okay. Den letzten Satz.
Darf ich dann weitermachen?
Ja.
Wie bereits gesagt: Es gibt bestimmte Bäume, die ein Bewusstsein entwickelt haben und als Datenspeicher genutzt werden können. Sie möchten nicht in der Öffentlichkeit stehen, haben aber Kontakt zu einigen von uns aufgenommen. Mit diesen Bäumen haben wir einen Kontrakt geschlossen, damit sie uns als ewige Speicherorte dienen.
Nicht ewig.
Wie bitte?
Nicht ewig. Nur, solange sie leben. Dann müssen sie die Daten weitergeben.
Meinetwegen. Für die Zeit, die sie leben, speichern sie die Daten und geben sie später weiter. Zufrieden?
Das ist korrekt, ja.
Gut. Was wir für die Nachwelt festhalten möchten, ist folgendes Ereignis: Im Jahr der Ulme gab es einen gigantischen Lavaausstoß unter uns. Die Lavaströme im Erdinnern haben die Wasserschicht unter unserem treibenden Eiland durchbrochen und Madera mit voller Wucht getroffen. Die Forscher sahen es nicht voraus, sodass wir mit Madera über den unterirdischen Vulkan trieben. Viele Bereiche im Osten des Kontinents wurden zerstört. Kronenzweig versank im Meer. Tausende sind gestorben oder verschollen.
Schnief.
Viele haben Verwandte verloren.
Schnief, schnief.
Nimm dir ein Taschentuch.
Danke.
Diese Tragödie sollte festgehalten werden, damit zukünftige Generationen die Position des ständig aktiven Vulkans kennen. Die ehrenwerten Netzschnüffler, wie sich die Bäume selbst nennen, haben diese Aufgabe übernommen. Er befindet sich an den …
Ende der ersten Aufzeichnung auf dem Surfer.
Kapitel 1 – Penta
Mit einem Namen wie Penta Colt hätte er sich in der Unterwelt von Ulmenstadt vermutlich ein Imperium aufbauen können. Als gnadenloser Anführer einer Diebesbande oder als windiger Besitzer eines der berüchtigten Casinos.
„Der nächste, bitte!“, rief Wurzel über seinen Schreibtisch hinweg. Pentas zugeteilter Dunkelnetzschnüffler winkte mit den trockenen Blättern und verbeugte sich, als würden sie den Bürgermeister von Ulmenstadt persönlich empfangen.
„Wurzel, wir haben keine Sprechstunde. Erst übermorgen wieder“, seufzte Penta und schüttete Wurzel einen Schluck Wasser in den Pflanztopf, ohne von der Arbeit aufzuschauen. Der etwa handflächengroße Bonsai schaffte es aufgrund seines Alters kaum noch die Flüssigkeit zu halten und verlor ständig einige Tropfen aus dem löchrigen, weißgrauen Topf, den er seine Heimat nannte. In seinen jungen Jahren hatte sich Wurzel dazu entschieden, der Todesgilde zu dienen, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte.
„Ach, leck mich an meiner Borke, du Bürokrat.“ Wurzel spielte mit dem Sand in seinem Topf, legte die Erde darunter frei und deutete mit dem untersten Ast darauf. „Nachfüllen, bitte.“
Penta hob erneut sein Glas und goss Wasser auf die geforderte Stelle. „Zufrieden?“, fragte er, während er sich weiter um seine Statistiken zur Quotenerfüllung der Assassinen kümmerte.
„Doch, ja. Danke.“ Wurzel schwieg einen Moment und Penta nutzte die Ruhe, um das Formular auszufüllen, mit dem er die Rechnung für einen Kunden erstellte. „Können wir das Fenster schließen? Es zieht“, bemerkte Wurzel.
„Nein, es stinkt sonst.“ Früher hatte er sich noch die Mühe gemacht, Wurzel zu erklären, warum. Inzwischen begnügte er sich mit einer knappen, aber höflichen Antwort.
„Aber Pferdemist kribbelt so schrecklich auf der Zunge“, jammerte Wurzel.
Penta seufzte und hob den Kopf. „Du hast nicht mal eine Zunge.“
„Es befindet sich eine neue Nachricht auf dem Surfer für dich“, merkte Wurzel nach einer Weile eintönig an. „Möchtest du, dass ich sie abspiele?“
„Wir haben schon darüber gesprochen, Wurzel. Du sollst sie mir direkt abspielen, wenn du sie empfängst. Von wann ist sie diesmal?“ Penta ließ seinen Stift fallen und wandte sich dem Bonsai zu. Zwei Kerben im schmalen Stamm deuteten die Augen des zerbrechlichen Gehölzes an.
Wurzel kratzte sich an einem Astloch auf der gebogenen Hinterseite. „Von gestern Morgen.“
Penta richtete den Bleistift parallel zur Schreibtischkante aus und rückte seine Krawatte zurecht. „Spiel sie mir bitte ab.“
Der Bonsai versteifte sich. „Sehr geehrter Penta Colt, wir erscheinen morgen Mittag mit einer bedeutsamen Aufgabe für Sie. Bitte seien Sie bereit und empfangen Sie uns am üblichen Treffpunkt. Mit freundlichen Grüßen, Todesreiter Kram und Brem.“
Kram und Brem? Penta brauchte nicht zu überlegen. Teska Brem war Pentas direkter Vorgesetzter und Lindor Kram betreute den zumindest innerhalb der Todesgilde berühmten Gentleman-Assassinen. In ihm wuchs die Unruhe. Was wollten die beiden von ihm? Sollte Lindor etwa die lange angeforderte Verstärkung für sein Ein-Mann-Team in Ulmenstadt sein? Die Uhr über seiner Bürotür zeigte zehn Minuten vor zwölf an. „Verdammt, Wurzel. Das ist gleich. Hättest du mir das nicht früher sagen können?“
„Mecker nicht. Du darfst froh sein, dass ich es überhaupt gemeldet habe“, erwiderte der Bonsai und verschränkte zwei dünne Zweige vor dem Stamm. „Immerhin bin ich alt.“
„Die Ausrede zählt nicht, solange du noch fähig bist, auf den Surfer zuzugreifen.“ In aller Hast räumte Penta die Papiere beiseite, die er für seine Notizen zur alljährlichen Quotenerhebung innerhalb der Todesgilde brauchte. Er verstaute sie ordentlich zusammengelegt in einem der Schränke auf der rechten Seite.
„Das also muss ich tun, um endlich in den Ruhestand geschickt zu werden? Wenn das so ist …“ Wurzel schloss die Augen und ließ seinen winzigen Baumwipfel hängen, so dass seine Blätter auf der Oberfläche des Schreibtischs kratzten.
Penta atmete mehrmals tief durch und fluchte innerlich. Er ließ sich nicht ausgerechnet jetzt auf eine Diskussion mit dem Bonsai ein. In wenigen Tagen stand die jährliche Prüfung der Todesreiter an. Es wurde überprüft, welche ihm zugeteilten Assassinen die Mindestmordquote geschafft hatten und somit einen Level aufsteigen durften und welche nicht befördert wurden. Penta war für ein halbes Dutzend Assassinen in Ulmenstadt, fünf in Eichenstadt und einen in Weidenfels zuständig. Besonders letztere sechs bedeuteten einen enormen Verwaltungsaufwand. Doch wenn er es schaffte, dass sie ihre Quote erfüllten, erntete er ein höheres Ansehen und deutlich bessere Aussichten auf eine Beförderung.
„Wie sitzt mein Anzug? Alles den Vorschriften entsprechend?“, fragte Penta den Bonsai und lehnte sich vor. Wurzel war kurzsichtig, jedoch zu eitel, um sich helfen zu lassen. Schon seit Monaten wollte er ihm eine Brille besorgen, aber Wurzel weigerte sich standhaft. Er glaubte, dass ein Baum mit Ringen um die Augen schlechtere Chancen bei der Damenwelt hatte. Nicht, dass Wurzel oder Penta jemals ausgingen.
„Wie tief bist du gesunken, Junge?“, sagte Wurzel und tätschelte ihm mit einigen Blättern die Wange. „Die Vorschriften dienen nur dazu, die folgsamen Schafe von den eigenständig denkenden zu trennen.“
Penta zog sich zurück. „Ach, vergiss es. Warte hier und fass nichts an.“
„Witzbold“, kommentierte Wurzel, während er auf seinen Stamm deutete, der in einem – wenn auch löchrigen – Topf verwurzelt war. „Aber wenn du Moos siehst, grüß sie von mir. Hier ist ohne sie ja nichts los.“
Penta stürmte zur Tür hinaus und lief einen kurzen, unbeleuchteten Korridor entlang, von dem drei Räume abgingen. Sein Wohn- und Schlafbereich, ein weiteres Büro für potenzielle Prüfer und ein Zimmer, das für einen Kollegen freigehalten wurde. Falls er jemals einen in Ulmenstadt bekam.
Der faulige Gestank von Pferdemist durchzog das Holz auf dem Flur. Obwohl die Räumlichkeiten seit zehn Jahren nicht mehr als Pferdestall dienten, hatte sich der Duft wie eine Zecke eingenistet und es sich gemütlich gemacht. Pentas Versuche, den Geruch mit Feuerlack zu überdecken, hatten ihn scheinbar nur intensiviert. Inzwischen hatte er sich mit der Situation abgefunden und lüftete sein Büro dauerhaft.
Vor dem Ausgang hielt er an und korrigierte ein letztes Mal den Sitz seiner Krawatte im Fenster des Blumenladens Belladonna neben dem Stall, der eine Fassade war. Hier gab es sämtliche Giftmischungen für Assassinen, wenn man bei der richtigen Verkäuferin bestellte. Für alle anderen Besucher gab es nur Blumen zu kaufen. Unwillkürlich ruckte Pentas Blick zu der künstlich geschnitzten und bemalten Orchidee, die Wurzel Moos getauft hatte. Aus einem ihm unerfindlichen Grund hatte sich Wurzel in diese Kunstblume verliebt. Nicht zum ersten Mal überlegte Penta, ob er sie kaufen sollte, damit Wurzel zumindest gelegentlich anderweitig beschäftigt war.
Dann aber schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Sofort spürte er das Sirren der Luft um sich herum. Hunderte von Menschen huschten über den Allesmarkt, benannt nach der Tatsache, dass man auf diesem Markt alles bekam. Von seltenen Fischen über Kleidung bis hin zu illegalen Drogen. Man musste nur die richtigen Ecken auf dem Marktgelände kennen. Da es mehrere Hallen, fliegende Händler und offene Marktplätze auf der Fläche eines kleinen Dorfs gab, war das nicht so einfach. Penta hingegen verbrachte die meiste Zeit seines Lebens auf dem Markt und kannte daher jeden Winkel. Die einzige Halle, die er mied, war die der Tiere, da er jedes Mal nieste, sobald er in die Nähe von Tierhaaren kam.
Penta wich einem laufenden Verkäufer aus, der mit seinem Bauchladen viel zu breit für die spärlich bemessenen Gänge des ehemaligen Pferdestalls war. Er verkaufte Tinkturen, die laut Etiketten Heilung von sämtlichen Krankheiten versprachen – natürlich auf rein pflanzlicher Basis. Während Penta auswich, stolperte er in eine Frau, die sich mit einer zweiten stritt, wer eine Bluse am Kleidungsstand zuerst berührt hatte.
„Verzeihung“, murmelte Penta, strauchelte zurück und versuchte, in den Strom einzutauchen, der von einer Halle zur nächsten führte. Es war wie der Versuch eines alten, gebrechlichen Mannes in das rasante Seilspringen von Mädchen einzusteigen. Verletzungen und Geschrei waren vorprogrammiert. Es dauerte nur ein paar nicht jugendfreie Handgesten und zwei Verfluchungen, bis er sich zum üblichen Treffpunkt einige Markthallen weiter vorgearbeitet hatte.
Penta landete direkt vor dem Brunnen der Aufträge. Eine äußerst männliche Holzfigur ragte auf dem Podest in der Mitte auf und hielt eine Liste in der Hand. Ihr Blick war auf die Menge gerichtet, als ob sie jeden Moment etwas ankündigen wollte. Davor standen Männer und Frauen in genau dieser Pose und verteilten Jobs an Freiwillige und Arbeitssuchende. Hauptsächlich Reinigungsaufträge, aber auch Pfleger für die älteren Baumbestände am Stadtrand von Ulmenstadt. Die namensgebenden Ulmen waren teilweise schon hundert Jahre alt. So mancher Bewohner von Ulmenstadt wollte ihnen helfen, den Lebensabend so gemütlich wie möglich zu verbringen. Dass die Bäume ein Bewusstsein hatten, war nur den wenigsten in Madera bekannt. Alle anderen hielten das für ein Hirngespinst von Verschwörungstheoretikern. Was immer wieder dazu führte, dass er Wurzel allein im Büro ließ, obwohl er ihn laut Vorschrift auf dienstlichen Ausflügen bei sich tragen musste.
Penta marschierte an den Auftraggebern vorbei und suchte nach Kram und Brem. Er fand sie am Rand des Brunnens exakt in der Sekunde, in der die Turmuhr der zentralen Holzhandelshalle zwölf Uhr schlug.
„Lindor Kram.“ Penta streckte seinem Kollegen die Hand entgegen und begrüßte gleich im Anschluss mit einer angedeuteten Verbeugung seinen Vorgesetzten. „Teska Brem, es freut mich, Sie in Ulmenstadt anzutreffen. Hatten Sie eine angenehme Anreise?“
„Wir haben den Holzweg genommen, damit kamen wir erstaunlich gut durch“, antwortete Kram und lächelte ihm zu.
„Ah, den habe ich noch nie gewählt. Man sagte mir, dass man sich in der Bahn fühlte, als ob man fliegen würde“, erwiderte Penta höflich und deutete den beiden, ihm zu folgen. Die aus Holz gebaute und über den Baumwipfeln gespannte Seilbahn war das einzige Transportmittel, das auf dem dicht bewaldeten Kontinent für eine schnelle und reibungslose Ankunft sorgte. Die Wipfelpfade hingegen waren holprig und unangenehm, da man stehen musste. Dafür aber auch günstiger.
„Schweben trifft es wohl eher, aber man gewöhnt sich daran.“ Teska Brem machte eine wegwischende Handbewegung und verstaute eben jene Hand dann in einer Manteltasche. Zusätzlich zu den vorgeschriebenen Anzügen trug er einen fellgefütterten Mantel, der seine opulente Statur verbergen sollte, sie jedoch nur noch mehr untermalte. Der Wind zog an seinen schulterlangen Haaren und wehte sie über den hochgestellten Kragen.
„Mir persönlich hat es sehr gefallen. Die Aussicht von den Gondeln auf die Wälder ist atemberaubend. Wir haben die südliche Route genommen und konnten die seltenen Mammutbäume nahe Eschensleben bewundern. Ich bin jedes Mal überwältigt, wie baumartenreich Madera doch ist“, erklärte Lindor mit glänzenden Augen und reichte Penta eine Visitenkarte.
Lindor Kram, Todesreiter stand darauf. Keine Adresse, keine Kontaktdaten. Penta runzelte die Stirn und fragte sich, was er damit anfangen sollte, steckte sie jedoch mit einem Lächeln ein.
„Das glaube ich sofort. Folgen Sie mir bitte. Wir sind gleich da.“ Penta deutete auf die Menschen, die immer noch von einer Halle zur nächsten strömten. Selbstsicher lotste Penta die beiden vor seine Markthalle.
Der Allesmarkt besaß sieben. In seiner gab es Möbel und Haushaltsgegenstände wie Besen, Hammer und Waschzuber, aber auch Stifte und Bücher. Die einstige Scheune diente dabei den dauerhaft anwesenden Händlern als Raum. Alle paar Monate erhielten diese eine neue Genehmigung für das Verkaufen ihrer Waren. Penta war davon ausgenommen, da er nichts verkaufte.
Die Räumlichkeiten, die er als sein Büro bezeichnete, hatte die Todesgilde angemietet. Sie zahlte und stellte sie Penta zur Verfügung, damit er darin leben und arbeiten konnte. Im Gegenzug sorgte er dafür, dass die Tötungen seiner Assassinen genehmigt und aktenkundig im Surfer vermerkt wurden. Der Vermieter stellte keine Fragen, was er in den Räumen tat und Penta machte keinen Ärger.
Er führte Kram und Brem durch die hölzerne Halle in Richtung des Korridors. Ein Brezelhändler erinnerte ihn daran, dass er aufgrund der geringen Vorbereitungszeit kein Mittagessen für das Treffen bereitgestellt hatte.
„Entschuldigen Sie mich bitte kurz“, sagte Penta und kaufte eine Handvoll Brezeln.
Im Anschluss brachte er seine Kollegen zu seinem Gang. Er ließ Kram und Brem den Vortritt. Brem rümpfte die Nase, als ihnen der Pferdegeruch entgegenströmte. „Haben wir Ihnen zwischenzeitlich nicht Fenster einbauen lassen?“, fragte Brem und zog ein Taschentuch aus der Manteltasche hervor, um es sich vors Gesicht zu halten.
„Selbstverständlich. Jedoch befinden sich diese in den vier Räumen. Der Korridor selbst besitzt keines.“
Brem nickte abgehakt. „Lüften Sie öfter durch und lassen Sie die Türen offen. Ich werde die nächste Woche bei Ihnen verbringen.“
Abrupt blieb Penta stehen. „Aber laut Paragraph 7 Absatz 3 der Geheimhaltungsvereinbarung darf ein Todesreiter seiner Arbeit nur bei geschlossenen Türen nachgehen.“
Sein Vorgesetzter verzog spöttisch den Mund und nickte dann. „Sehr gut. Da haben Sie absolut Recht. Ich freue mich, dass Sie Ihre Vorliebe für unsere Vorschriften noch nicht verloren haben.“
Penta lächelte kurz und beeilte sich, seinen Vorgesetzten in sein Büro zu bringen. Wurzel stand auf dem Schreibtisch, als er die Tür öffnete und salutierte.
„Agent Wurzel meldet keine besonderen Vorkommnisse während Ihrer Abwesenheit, Penta Colt.“
Penta hielt inne, verwirrt ob der Begrüßung. „Ähm, danke. Wurzel. Gut zu wissen. Todesreiter Teska Brem kennst du ja.“ Er wies auf den hochgewachsenen Lindor, der Penta an eine Spinne erinnerte, die er erst am Morgen in seinem Büro getötet hatte. Dieselben weit auseinanderstehenden Augen und ein Schnauzer, der über der Lippe buschig und in einem Halbbogen nach unten spitz um die Mundwinkel wuchs. „Und das ist Lindor Kram, ebenfalls Todesreiter und Betreuer für Assassinen.“
Penta rückte zwei Stühle bereit und deutete seinen Besuchern sich zu setzen. „Das ist Wurzel, mein Dunkelnetzschnüffler“, stellte er den Bonsai vor.
„Er lebt also immer noch?“, fragte Teska Brem und hob eine Augenbraue. „Erstaunlich. Vielleicht sollten wir sein Holz der Wissenschaft zur Verfügung stellen, sollte er tatsächlich eines Tages nicht mehr sein.“
Penta nickte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er sie nervös massierte. Seine Besucher waren sicher nicht gekommen, um über Wurzels Alter zu sprechen. „Ich freue mich, dass Sie wohlbehalten aus Weidenfels angereist sind. Darf ich erfahren, was der Anlass Ihres Kommens ist?“
Lindor Kram schlug die Beine übereinander und legte seine Hände darauf ab. „Wir, oder besser gesagt ich, benötige Ihre Hilfe“, begann der Assassinenbetreuer und lächelte dabei. „In Kürze werde ich Vater und meine Frau möchte gerne, dass ich bei der Niederkunft anwesend bin. Daher habe ich Teska Brem gebeten, mich einige Tage freizustellen.“
Penta erinnerte sich daran, dass es unhöflich war, in Gegenwart eines Vorgesetzten zu stehen, und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Wurzel machte es ihm nach und knickte in der Mitte seines Stamms ein, so dass er sich auf den Rand des Topfes setzen konnte.
„Das freut mich sehr. Herzlichen Glückwunsch“, bemerkte Penta und reichte Lindor die Hand. „Wissen Sie bereits, was es wird?“ Die Nervosität drängte Penta dazu, Fragen zu stellen, die sinnbefreit waren. Niemand wusste vor der Niederkunft, welches Geschlecht das Kind haben würde, auch wenn einige Frauen immer noch schworen, dass sie es spürten.
„Wir hoffen auf einen Menschen, lassen uns allerdings überraschen.“ Lindor lachte, hob die Finger und wedelte damit in der Luft. „Es ergeben sich dadurch jedoch ein paar Schwierigkeiten. Wie Sie sicherlich wissen, betreue ich eine nicht unerhebliche Zahl an Assassinen. Diese müssen weiterhin einen Ansprechpartner haben. Unser werter Vorgesetzter Brem machte mir den Vorschlag, Ihnen meinen Kundenstamm zu übertragen. Zumindest so lange, bis ich zurück bin.“
„Ich soll Ihre Urlaubsvertretung machen?“ Penta runzelte die Stirn. „Von wie vielen Assassinen sprechen wir?“
Brem mischte sich ein. „Ganz genau. Sie würden die Betreuung und Genehmigung übernehmen, bis Lindor wieder da ist. Keine Anstrengung für Sie, oder Colt?“ Teska Brem legte seinen Mantel über den Stuhlrand und wischte mit dem Taschentuch die Stirn. Es war mitten im Sommer und ein Mantel äußerst unangebracht. „Sie sind doch längst für etwas Größeres geschaffen. Da machen Ihnen die fünfzehn Assassinen nichts aus.“
Es dauerte einen Moment, bis Penta verstand, was sein Vorgesetzter ihm da vorschlug. „Das bedeutet, ich bin für siebenundzwanzig Assassinen zuständig?“
„Sehen Sie, Kram, ich sagte doch, dass er ein Schneller ist.“ Todesreiter Brem schlug seinem Angestellten gegen die Brust, so dass dieser einknickte und nach Luft schnappte.
Penta versuchte zu lächeln, aber seine Muskeln weigerten sich. Er hatte jetzt schon mehr als genug zu tun und sollte noch für eine unbestimmte Zeit zusätzliche Assassinen übernehmen? Wie sollte er das schaffen?
„In der Tat. Um es zu präzisieren: Es wären acht Level 10 Assassinen aus Ulmenstadt, vier Level 6 aus Weidenfels, zwei Level 4 aus Birkendorf und ein Level 1 aus Ulmenstadt.“
Bei den letzten Worten schluckte Penta trocken. Es gab in der Gilde nur drei Level 1 Assassinen. Es war der höchste Rang, den man erreichen konnte. Um so weit nach oben zu gelangen, musste man der Beste sein. Die meisten wurden entweder wegen Mordes verhaftet oder starben bei der Ausübung ihrer Tätigkeit. Doch ein Level 1 Assassine hatte es geschafft. Er konnte sich aussuchen, welche Aufträge er annahm. Sie lehnten mehr Gesuche ab als jeder andere. Die Formulare dafür hatte Penta bereits auswendig gelernt, falls er eines Tages ebenfalls einen seiner Assassinen so weit bekäme. Bisher war es ihm verwehrt geblieben.
Penta schluckte erneut. „Sie sprechen vom Gentleman-Assassinen?“ Er versuchte, unbeteiligt zu klingen. Als wäre dieser Mann nicht sein heimliches Vorbild, als wäre der Gentleman-Assassine nicht der Grund, warum er beschlossen hatte, bei den Todesreitern zu arbeiten. Nur damit er eines Tages einen ebenso berüchtigten Killer hervorbringen würde. In Wirklichkeit platzte ihm beinahe das Herz aus der Brust, so sehr klopfte es vor Aufregung.
„Genau. Er ist pflegeleicht, bringt nur regelmäßig die Ablehnungsgesuche vorbei. Es kann sein, dass er wieder neue Formulare bei seinem nächsten Besuch benötigt. Wir haben die Vereinbarung, dass er sie mit nachhause nehmen darf.“ Lindor lächelte und zwinkerte ihm zu.
„Gemäß den Statuten des StaGB ist es nicht erlaubt, Formulare vorzeitig rauszugeben, außer die, die zur Vorgenehmigung dienen“, bemerkte Wurzel. Es war das erste Mal seit Monaten, dass Wurzel das STaGB zitierte. Besonders gerne verweigerte er die Aussage, wenn Penta eine konkrete Frage zu den Verordnungen hatte, so dass er sich die schriftliche Fassung aus dem Regal ziehen musste. Das StaGb war nicht dick, eher ein dünnes Heftchen, aber er musste es händisch durchsuchen, statt eine rasche Reaktion von Wurzel zu bekommen.
„Das ist korrekt, Wurzel. Für diesen Level 1 Assassinen wurde jedoch eine Sondervereinbarung getroffen. Wenn du auf den Surfer zugreifst, wirst du das Addendum zu den Vertragsverhandlungen finden“, erklärte Lindor geduldig. Besser als die genervte Antwort, die Penta für seinen Bonsai bereitgehalten hatte. Es war offensichtlich, dass Lindors Dunkelnetzschnüffler keine regelmäßigen Probleme verursachte, wie Wurzel es tat. Bisher war es Penta gelungen, größere Schäden am Surfer zu verhindern. Allerdings war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Wurzels Kontakt zu dem Datenspeicher abbrechen und wer weiß wie viele Daten mitnehmen würde.
„Ach, scheiß auf Ausnahmen“, kommentierte Wurzel und schlug sich gegen die Brust, woraufhin eine winzige Sauerstoffblase direkt vor seinem Mund verpuffte.
Am liebsten wollte Penta im Boden versinken. Er schnappte sich den Bonsai mit der einen Hand, öffnete mit der anderen eine Schreibtischschublade und stellte Wurzel hinein, ohne den Blick von Kram und Brem abzuwenden.
„Formulare, sagten Sie? Kein Problem. Die besorge ich mir“, überging Penta das Offensichtliche und schloss mit einem Krachen die Schublade. Gleich darauf zog er aus einer zweiten einen Teller heraus und verteilte die Brezeln. „Kann ich Ihnen etwas zu Essen anbieten?“
Lindor lehnte sich vor und lugte über Pentas Schreibtisch. Er wirkte ernsthaft besorgt. „Wird er darin nicht ersticken?“
„Er ist ein Baum. Der produziert seinen eigenen Sauerstoff“, entgegnete Penta lässig und winkte mit einer Hand ab, während er weiterhin die Brezeln anbot. „Wie lange gedenken Sie denn im Urlaub zu bleiben?“
„So lange, bis das Kind geboren wurde. Bisher macht es keine Anstalten, jedoch sind wir guter Dinge.“ Lindor lehnte sich zurück, wenn auch nur zögerlich.
„Also wird es sich um einen Zeitraum von einigen Wochen handeln?“, hakte Penta nach, um sicherzugehen.
Brem schlug auf den Tisch. „Diese Fragen sind doch Zeitverschwendung. Ich werde essen und sie besprechen sich. Ist das zweite Büro frei?“
Penta nickte. „Da ich noch keine zweite Kraft zur Unterstützung habe, wird es wohl auch noch frei bleiben“, murmelte er und konnte sich den unterschwelligen Schrei nach Hilfe nicht verkneifen.
„Sie machen das doch ganz wunderbar, Colt.“ Brem erhob sich mühsam aus seinem Stuhl, griff sich den Teller und wankte zur Tür. „Ach ja, bevor ich es vergesse. Ich soll Ihnen noch etwas von meinen Kollegen ausrichten.“
Sofort versteifte sich Penta. Die Kollegen von Brem waren allesamt hohe Tiere in der Riege der Todesreiter und gehörten zu den Obersten. „Ja?“ Er schwankte zwischen einer Mischung aus Stolz und Angst. Dass sie wussten, wer er war, konnte zwei Dinge bedeuten. Entweder er hatte besonders schlecht gearbeitet, so dass sie ihn in den nächsten Wochen rauswarfen. Oder aber sie kannten seinen Namen, weil er so gut arbeitete.
Brem drückte die Klinke der Tür herunter und deutete mit dem Finger unter dem Teller auf ihn. „Machen Sie weiter so. Ihre Quoten sehen gut aus und bisher hatten sie in sieben Jahren nicht einen Fehltag. Sie könnten es noch weit bringen, wenn sie so weitermachen.“
Penta hielt die Luft an, beobachtete Brem dabei, wie er das Büro verließ. Erst als sich die Tür hinter seinem Vorgesetzten schloss, prustete er die Luft wieder aus. „Hat er mir wirklich eine Beförderung in Aussicht gestellt?“, vergewisserte sich Penta bei seinem Kollegen.
Lindor zuckte mit den Schultern. Er wirkte nicht überrascht. „Für mich klang es so. Glückwunsch, Penta. Ich darf sie doch Penta nennen?“
„Sie dürfen mich gerade nennen, wie sie wollen.“ Geschah das wirklich oder war er auf dem Schreibtisch eingeschlafen? Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen und grinste breit. „Verzeihung. Ich meine, ich arbeite seit Jahren dafür, dass die Obersten mich bemerken, aber ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet.“
Lindor lächelte ebenfalls. „Glauben Sie es ruhig. Allerdings sollten wir zum eigentlichen Thema zurückkehren.“
Penta drehte den Stift in der Hand und versuchte, seine Mundwinkel herunterzuziehen. „Geben Sie mir einen Moment.“ Er erhob sich und marschierte einige Mal in der ehemaligen Pferdebox umher, dann ging er zu dem offenstehenden Fenster. Direkt dahinter lag der Fluss, der Ulmenstadt durchfloss. Er trennte die von Ulmen umsäumte Stadt in zwei Hälften. Überall waren Brücken geschlagen und Holzwege über das Wasser gespannt. Jetzt, da er so darüber nachdachte, fragte er sich, ob der Fluss einen Namen hatte. Seit Penta denken konnte, wurde er immer nur Der Fluss genannt. Seine Quelle hatte er im Palmenmeer, floss dann über den ganzen Kontinent Madera, um auf der anderen Seite im südlichen Gestade zu enden.
Bevor Penta den Wunsch gehegt hatte, als Todesreiter anzufangen, hatte er überlegt, Forscher zu werden. Er hatte Neues entdecken und einmal den Fluss entlang reisen wollen. Er legte den Kopf schräg und schüttelte ihn gleich darauf. Drak, seine Ziehmutter, die ihn auf der Straße aufgelesen hatte, hatte ihn frühzeitig von dieser Idee abgebracht. Zum Glück, sonst wäre er heute nicht so weit, wie er es inzwischen war.
Die Sonne spiegelte sich in den tanzenden Wellen, die eine kleine Jolle verursachte. Für einen Moment war es, als ob Penta selbst einer dieser Sonnenstrahlen war.
Eine Beförderung! Er wäre der jüngste Todesreiter aller Zeiten, der in die Reihen der Obersten aufgenommen werden würde. In seinem Kopf lief epische Musik ab, während er die Beförderungszeremonie vor dem inneren Auge sah.
Das Gekreische der Möwen auf einem Balken über dem Fenster war der Applaus der Assassinen, die ihm zu Ehren kamen. Der Geruch vom Kräutermarkt nebenan war der Duft des Essens bei der Feier im Anschluss.
Lindor räusperte sich und holte ihn damit zurück in die Gegenwart. „Können wir dann weitermachen?“
Penta senkte den Blick, verließ einen seiner seltenen Tagträume und wurde wieder zu dem, den Drak früh in ihm gesehen hatte. Der Junge, der im Alter von sieben Jahren bereits andere Kinder auf der Straße darauf hingewiesen hatte, wie die korrekte Handhaltung beim Stehlen war. Der damals detailliert vermerkt hatte, wer wann wie viel und wo gestohlen hatte.
Der, der zum Todesreiter Penta Colt geworden war.
Kapitel 2 – Penta
„Komm schon, Wurzel. Ich bin mir sicher, dass wir das vor nicht allzu langer Zeit gespeichert haben. Kannst du bitte noch einmal nachsehen?“, flehte Penta. Er stand vor dem Bonsai und plante, ihn gleich aus dem Fenster zu werfen, wenn er nicht augenblicklich die korrekten Daten abrief.
„Du wolltest doch die Abhandlung über den Gentleman-Assassinen oder nicht?“, fragte Wurzel. „Die habe ich dir geliefert.“
„Nein, zum vierten Mal. Ich brauche die genauen Zahlen für die Abrechnung mit den Anheuerern für den Mord des Seil-Assassinen. Du hast mir die Daten allesamt vor nicht mal einer Woche aufgesagt. In Schlagreimform. Die ganze Nacht hindurch, sodass ich nicht schlafen konnte.“ Penta lief durch sein Büro und versuchte, in dem Chaos einen Weg zu finden, ohne die labile Ordnung zu zerstören.
Vor fünf Tagen hatte er die Assassinen von Lindor Kram übernommen und seit anderthalb Tagen hatte er durchgearbeitet, um den Papierkram zu durchsteigen. Er war sich sicher, dass sein Kollege seit Beginn der Schwangerschaft seiner Frau keine Formulare gestempelt, geschweige denn korrekt abgelegt hatte. In der Kartei für abgelehnte Tötungen durch Level 10-Assassinen hatte er die Berechnungen für die Quoten der Level 6 Assassinen gefunden. Und die stimmten nicht überein mit den Zahlen, die ihm Wurzel vor vier Tagen geliefert hatte.
„Wenn ich sie dir gegeben habe, warum brauchst du sie dann heute schon wieder? Schreibst du dir nichts auf?“ Wurzel griff nach der Erde, die seinen Topf füllte und verteilte sie großzügig auf den Stapeln im Büro. „Ich habe dir schon öfter gesagt, du solltest dir mehr aufschreiben. Wir Dunkelnetzschnüffler sind nicht immer da, um euch das Leben zu erleichtern.“
„Wurzel, bitte. Ich brauche die Daten. Gib sie mir noch einmal. Meinetwegen auch wieder in Schlagreimform.“ Penta seufzte und deutete auf einen Stapel Akten. Es hatte fünf Tage und genauso viele schlafarme Nächte gekostet, aber zumindest hatte er Ordnung in die Papiere von Kram gebracht. Er schaute zur Uhr. Die zweite Nacht in Folge, in der er es nicht in sein Bett nebenan schaffen würde. In wenigen Stunden begann die Sprechstunde und er musste sich auf einige Termine vorbereiten.
„Wer zwei minus Drei, den Toten gerufen,
acht in der Nacht, den Seil-Assassinen berufen.
Verrechnet mal vier ohne Gier, für die Zeit,
mit Aufschlag als Vorschlag, der ist bereit“, summte Wurzel vor sich hin.
Penta sprang auf und notierte sich augenblicklich die Daten. Nachdem Wurzel endete, sank der Bonsai in sich zusammen und gab leise Schnarchgeräusche von sich. Es klang einschläfernd, verlockend und auch Penta wollte der Müdigkeit nachgeben.
Nein! Penta straffte sich, ging zu seinem Schreibtischstuhl und rückte ihn zurecht. Teska Brem hatte ihm eine Beförderung in Aussicht gestellt und er würde alles tun, um diese zu erhalten. Und wenn das bedeutete, dass er einige Tage durcharbeitete, dann war das so. Sobald er erst einmal Teil der Obersten war, konnte er sich ebenfalls einen Urlaub gönnen und ausruhen. Vielleicht am Strand von Palmenfort. Er hatte gehört, dass der Lachs dort ausgezeichnet sein sollte.
„Er hat es nicht getan!“, murmelte Wurzel. „Aas! Du AAS.“
In einem Anflug von Mitleid tätschelte Penta Wurzels Stamm. Der Bonsai träumte und redete im Schlaf. Manchmal rezitierte er Fallakten von Tötungen, die schief gegangen waren, bisweilen gab er Erinnerungen an Zeiten wieder, bevor er ein Dunkelnetzschnüffler geworden war. In einem so langen Leben, wie Wurzel es geführt hatte, war es eigentlich kein Wunder, dass er ein wenig eigensinnig geworden war.
Penta machte sich an die Erstellung der Abrechnungen für die Level 10 Assassinen in Ulmenstadt. Die Assassinen durften nicht direkt von den Auftraggebern angesprochen werden. Stattdessen suchten diese einen Anheuerer auf, dem sie ihr Anliegen vortrugen. Entsprechend den Wünschen leitete dieser die Anfrage an den gewünschten Assassinen weiter. Im positiven Vermittlungsfalle erhielten die Anheuerer eine Provision. Vorausgesetzt, der Kunde zahlte. Geschah das nicht, dienten die Anheuerer zugleich als Eintreiber. Durch eben solch eine Anheuerin hatte er diese Welt kennengelernt. Ohne Drak, die ihn gefunden hatte, wäre er vermutlich einige Zeit später von einer Straßenbande aufgenommen und zu einem Dieb ausgebildet worden. So aber hatte sie sein Talent erkannt und direkt gefördert: Andere darin überprüfen, wie sie ihre Arbeit verrichteten.
Für Penta grenzte es an ein Wunder, dass Lindor Kram überhaupt noch Quoten hatte, die seine Assassinen erfüllen konnten. Seine Anheuerer hatten seit Monaten kein Baumgeld gesehen, weil die Schlussrechnungen nicht erstellt worden waren. Das war bares Geld, das der Todesgilde fehlte, und er würde es einfordern. Ein weiterer Pluspunkt für ihn, wenn es zum Thema Beförderung kam.
***
An der Tür klopfte es. Verwirrt hob Penta den Kopf. Es war sieben Uhr morgens, die Nacht war bereits vorbei und er war bei der letzten Abrechnung. Einen Moment lauschte er, aber niemand trat ein. Er schrieb es Wurzel zu, der wieder einmal mit seinen Ästen gegen seinen Stamm schlug, um ihn zu ärgern. Vor einer Stunde war sein pflanzlicher Kollege erwacht und hatte ihm weitere Daten zur Verfügung gestellt. Schlaf schien dem Bonsai zu helfen, die Verbindung zum Surfer zu stabilisieren.
Nach wenigen Augenblicken wiederholte sich das Geräusch. Penta hatte den Blick nicht von Wurzel abgewandt. Er hatte sich nicht bewegt. Es musste also doch die Tür gewesen sein. Hatte er etwa den ersten Termin? Er schaute in den selbsterstellten Kalender, der am oberen Ende des Schreibtischs lag. Für diese Uhrzeit stand nichts darin. Vielleicht wieder ein verirrter Drogenabhängiger, der glaubte bei ihm seinen Stoff kaufen zu können.
Wurzels Düngerdealer würde erst in einigen Tagen auftauchen. Bis dahin musste Penta die notwendige Bezahlung besorgen. Er machte sich eine kurze Notiz, ehe er sich mit beiden Fäusten die Augen rieb. Er kniff sie einmal zusammen, ehe er sie weit aufriss. „Herein?“ Penta ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch. Die Abrechnung konnte er später noch fertigstellen.
„Guten Morgen, bin ich hier richtig?“ Ein Mann mit schwarzer Kapuze, die tief ins Gesicht gezogen war, lehnte sich an der Tür vor. Penta erkannte den Mann nicht, da bisher nur der Kapuzenstoff zu sehen war.
„Wen suchen Sie denn?“ Penta erhob sich und trat hinter dem Tisch hervor. Solange niemand einen genauen Blick auf seine Formulare warf, wirkte das Büro für einen Außenstehenden wie die Arbeitsstätte eines städtischen Angestellten. Allerdings gehörte er nicht dem RABE an, dem regierenden Amt für behördliche Entscheidungen, sondern der Todesgilde.
Um das beizubehalten und nicht gegen den Geheimhaltungsparagraphen zu verstoßen, richtete er sich zu voller Größe auf und lenkte die Aufmerksamkeit seines Besuchers auf den Stift, mit dem er auf seinen Oberschenkel schlug. Das Einmaleins der Todesreiter, um Uneingeweihte abzulenken.
„Den Vertreter von Lindor Kram?“ Die Frage kam zögerlich, als wolle sein Gast sicherstellen, auch nicht zu viel zu verraten. „Mir wurde gesagt, dass ich ihn hier antreffen könnte.“
Penta blieb stehen, hörte auf, mit dem Stift zu schlagen, und winkte dem Fremden. „Ah, ja, treten Sie ein. Mein Name ist Penta ...“
Weiter kam er nicht, da ihm die Luft wegblieb. Der Mann trat in sein Büro und in diesem Moment wurde ihm klar, wen er vor sich hatte. Die zehn gestickten Linien am Kragen des körperbetonten Mantels wiesen ihn als Level 1-Assassinen aus. Die zusätzlichen Stickereien auf dem Stoff dienten nur zur Tarnung, damit niemand hinter die geheimen Erkennungszeichen der Todesgilde kam. Doch Penta kannte sie allesamt auswendig. Er hatte sie bereits an seinem ersten Tag als Todesreiter aufzählen können.
Er merkte, dass sein Mund offenstand und schloss ihn hastig. „... Colt. Verzeihung. Mein Name ist Penta Colt.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin ...“
Penta winkte ab. „Ich weiß natürlich, wer Sie sind.“ Er ging auf den Mann zu, der einen Kopf kleiner war als er, und streckte ihm die Hand entgegen. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.“
„Vielen Dank.“ Unter der Kapuze erschien ein Lächeln, und der Gentleman-Assassine schob den Stoff ein paar Zentimeter nach oben, so dass man die Umrisse seines unrasierten Gesichts erkennen konnte.
Einige Momente lang standen sie so da. Der Assassine lächelte freundlich, Penta strahlte selig. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sein großes Vorbild tatsächlich auftauchen würde. Und nun stand er vor ihm. Penta fühlte sich mit einem Mal in seine Jugend versetzt, als er für Drak die ersten Formulare ausgefüllt hatte. Aufgeregt und dennoch in seinem Element.
„AU! Aua! AU!“, brüllte Wurzel auf einmal und unterbrach den Augenblick.
„Was ist los?“, fragte der Gentleman-Assassine verwirrt und entzog Penta seine Hand. Penta wusste, was kommen würde und verdrehte die Augen.
„Ach nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob ihr Wurzeln schlagen wolltet, und habe schon mal geübt.“
„Verzeihen Sie die schlechten Wortwitze meiner bald verdorrten Zimmerpflanze. Nehmen Sie doch Platz.“ Penta deutete auf den Stuhl, der mit der Lehne zur Tür stand und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch. „Was kann ich für Sie tun?“
Es kostete ihn viel Kraft, dem Gentleman-Assassinen nicht augenblicklich ein veraltetes Formular hinzuhalten und ihn darauf um eine Signatur zu bitten. In seinem Leben gab es wenig bis gar nichts, für das er so sehr brannte wie für seinen Job. Aber dieser Mann hatte Pentas Schicksal so maßgeblich mitgestaltet und wusste es nicht einmal. War es da nicht sträflich, ihn im Ungewissen zu lassen? Bevor er noch etwas sagen konnte, sprach der Gentleman-Assassine weiter.
„Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Sie um eine Genehmigung bitten möchte.“ Die Worte flossen seidenweich aus seinem Mund.
Wurzel pfiff durch ein Astloch. „Alle Achtung. Der Kerl hat seine Eier ordentlich massiert, damit er so schmalzig reden kann.“
Penta öffnete seine Schreibtischschublade, was meistens als Androhung reichte, um Wurzel zum Schweigen zu bringen.
„Wie bitte?“, hakte der Gentleman-Assassine nach.
„Nichts, nichts. Eine Genehmigung? Das bedeutet, Sie möchten jemanden umbringen?“ In Penta erwachte der Todesreiter. Seine Neugier auf seinen Besucher rückte in den Hintergrund und er spielte in Gedanken bereits die Formulare durch, die er benötigte.
„Korrekt.“ Der Assassine saß vor ihm auf dem Stuhl und starrte ihn unter der Mütze mit undurchdringlichem Blick an. „Mir wurde ein Auftrag angeboten, den ich nicht ablehnen kann. Es ist quasi eine Frage der Ehre.“
„Nun, warten wir erst einmal die Genehmigung ab, bevor wir über ihre Ablehnungen reden, nicht wahr?“ Penta stand auf und ging zu einem der Haufen, die sich vor dem Aktenschrank auftürmten. Er wusste genau, wo die Formulare für einen Level 1-Assassinen lagen, immerhin hatte er sie erst am Vortag aus vier verschiedenen Level-10-Aktenordnern aussortiert. „Die wievielte Tötung ist es dieses Kalenderjahr?“
„Die zweite“, erwiderte der Assassine und wandte sich Penta zu. „Ich habe tatsächlich erst eine auf meinem Konto. Insofern sollte es keine Probleme geben.“
Penta zog einen Antrag hervor und suchte im nächsten Moment die Akte des Gentleman-Assassinen aus dem Karteischrank auf der gegenüberliegenden Seite. „Eine Genehmigung wird nicht nur aufgrund der Anzahl erteilt, sondern unterliegt auch anderen Kriterien.“
„Ich weiß“, seufzte der Assassine und sank auf seinem Stuhl zusammen. „Ich mache den Job schon eine Weile.“
„Haben Sie bereits die Vorgenehmigung ausgefüllt?“, fragte Penta und ging zu dem Assassinen, da er die Akte auf Anhieb nicht fand.
Der griff in die Innentasche seines Mantels. „Selbstverständlich. Nur unterschrieben habe ich sie noch nicht, da dies im Beisein eines Todesreiters geschehen muss.“
„Sehr gut“, kommentierte Penta und bot seinem Vorbild einen Stift an.
„Vielen Dank, aber ich bin darauf vorbereitet“, sagte der Gentleman-Assassine und streckte die Hand nach vorne. Mit dem Mittelfinger drückte er auf etwas in seiner Handfläche und im nächsten Moment schoss eine Schreibfeder aus seinem Ärmel. „Diese neumodischen Stifte bringen mich um. Also die Handhaltung beim Schreiben.“
Er drückte die Spitze der Feder in das Stempelkissen auf Pentas Schreibtisch und unterzeichnete den Antrag zur Vorgenehmigung.
So wie Penta vermutet hatte, war der Gentleman-Assassine bestens für den Dienst in der Todesgilde ausgebildet. Sogar die Vorschriften kannte er – und hielt sie ein. Wer auch immer ihn in seinen Anfangsjahren als Todesreiter betreut hatte, war ein wahrer Meister gewesen.
„Vielen Dank.“ Penta griff das Formular, kaum dass der Gentleman-Assassine fertig unterschrieben hatte. Die Feder verschwand mit einem leisen Klack im Hemdärmel „Haben Sie die immer dabei?“
Der Assassine rollte seinen Ärmel hoch. Zum Vorschein kam eine Apparatur, die mit Messingringen am Arm befestigt war. In schmalen Kartuschen waren unterschiedliche Gegenstände abgelegt. Ein Messer, die Schreibfeder sowie eine Ampulle und etwas, das nach einem winzigen Geldbeutel aussah. Alles wurde von mechanischen Druckluftknöpfen aktiviert. „Ich habe es selbst gebaut. Es gibt verschiedene Einsätze, je nachdem, was ich vorhabe.“
„Interessant.“ Penta machte einen Schritt nach vorn und untersuchte den Apparat. „Haben Sie für die Einsätze das Formular zur Prüfung der Unfallverhütung ausgefüllt? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich es nicht in Ihrer Akte gesehen.“
Der Assassine schlug hastig den Hemdärmel herunter und schob ihn bis über die Hand hinweg, als könnte er ungeschehen machen, dass Penta seine Erfindung bemerkt hatte. „Bisher hatte Lindor nichts in der Hinsicht gesagt. Ich dachte eigentlich, dass jeder Assassine in seiner Waffenwahl frei ist“, stotterte der Gentleman-Assassine und massierte seinen Arm.
„Tststs“, sagte Penta und klopfte mit dem Stift auf den Ärmel. „Ich fürchte, ich muss Ihnen diese Apparatur vorläufig abnehmen und prüfen lassen. Solange keine Genehmigung dafür von unserer Unfallverhütungsabteilung erteilt wurde, kann ich die Nutzung nicht erlauben. Stellen Sie sich vor, Sie verletzen sich damit und können Ihrem Beruf nicht mehr nachkommen. Wir würden dann leider nicht für Ihren Lebensabend aufkommen können.“
Penta streckte die Hand aus und machte eine fordernde Bewegung. Der Gentleman-Assassine zögerte, hob den Kopf und sackte doch in sich zusammen. „Wie lange wird die Prüfung dauern?“
„Ich vermute, einige Wochen, aber Sie kennen das ja …“
Während der Assassine die Messingschnallen löste, ging Penta mit dem Formular zur Vorgenehmigung zum Aktenschrank, um die Akte des Gentleman-Assassinen zu holen. Dabei hörte Penta, wie er seufzte, als könnte er sich nur schwer von seiner Apparatur trennen. Penta stand wie ein Fels hinter den Vorschriften, dennoch erwachte das Mitleid in ihm.
Vor dem Schrank blieb Penta stehen und drehte sich zu seinem Besucher. „Stimmt es, dass Sie vor zwanzig Jahren einen Mann mit nur einem Finger umgebracht haben? Und das, obwohl sie erst ein Level 9-Assassine waren?“
Der Assassine senkte den Kopf. „Das ist eine Legende, die sich hartnäckig hält. Tatsächlich waren drei Finger und ein Messer im Spiel.“
„Aber die Geschichte mit dem Bienenstock und dem Allergiker stimmt, oder?“, hakte Penta nach. Hätte er die Zeit dazu gehabt, hätte er die Fälle allesamt in den Akten nachlesen oder sie sich von Wurzel vortragen lassen können. Doch dank der dilettantischen Vorarbeit von Lindor Kram war ihm diese nicht vergönnt gewesen.
„Die stimmt. Allerdings muss ich gestehen, dass er mir diese Information unwissentlich bei einem Bier am Vorabend gegeben hat. Damals hat er noch über den Brief gelacht, den er am Morgen erhalten hatte.“ Der Gentleman-Assassine schmunzelte und schnaubte. „Auch nach über zwanzig Jahren im Geschäft glauben die Menschen immer noch, dass sie mir entkommen könnten.“
„Haben Sie jemals einen Tod nicht angekündigt?“, fragte Penta und hielt den Atem an. Es war das Erkennungszeichen des Gentleman-Assassinen. Man hatte es ihm am Tage seiner Ernennung zum Level 10-Assassinen zugeteilt.
„Wenn ich jetzt ja sagen würde, gäbe das einen Vermerk in meiner Akte“, sagte er und wurde ernst. „Aber ich kann Ihnen versichern, Todesreiter Colt, dass ich es nie wagen würde, gegen die Bestimmungen zu verstoßen. Dafür respektiere ich diese viel zu sehr. In all meinen Jahren als Assassine habe ich jedem Opfer vierundzwanzig Stunden zuvor eine Notiz über die Ankündigung ihres baldigen Todes geschickt, damit sie sich von ihren Liebsten verabschieden konnten.“ Der Assassine knetete seine Hände und Penta fragte sich für einen Moment, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach. „Natürlich erst, nachdem die Genehmigung erteilt worden ist“, schob er hastig nach.
„Selbstverständlich erst nach Genehmigung.“ Penta nickte. Er war sich nicht mehr sicher, ob der Gentleman-Assassine wirklich nach Vorschrift arbeitete. „Alles andere wäre illegal gewesen und hätte einen Rauswurf aus der Todesgilde bedeutet.“
Eilig hob und senkte sich die Kapuze seines Gegenübers, so dass sie ein wenig weiter nach hinten rutschte. Graue Haare und Falten wurden in dem bleichen Gesicht sichtbar, ehe er sie wieder nach vorn zog, wie es die Vorschriften verlangten.
Der Gentleman-Assassine war alt.
Selbst überrascht über diese Erkenntnis, obwohl sie auf der Hand lag, schüttelte er den Kopf. Für ihn hatte er immer das jugendliche Aussehen eines Mannes Anfang 30 gehabt und war so durchtrainiert, wie man es nur sein konnte.
„Nun denn, ich prüfe die Vorgenehmigung anhand Ihrer Akte und sie können den Antrag mit Anhang zwei ausfüllen.“
Der Gentleman-Assassine nahm ihm das Formular ab, während sich Penta den Bleistift zwischen die Zähne klemmte und sich daran machte, die Akten aus dem Aktenhalter zu ziehen. Er stapelte sie zunächst auf einem Schrank, ehe er sie auf den Arm legte und sich in Richtung Schreibtisch zurückorientierte. Das Büro kannte er wie seine Jacketttasche. So viele Jahre hatte er in dem Raum verbracht, dass er genau wusste, wo er welchen Fuß hinsetz…
Sein Fuß blieb in einem Haufen Vorgangsakten hängen, die auf seinem üblichen Weg zum Schreibtisch im Weg lagen. Penta stolperte, versuchte, den Sturz aufzuhalten, was es nur schlimmer machte, da er gegen eine Kiste mit ungestempelten Formularen lief. Er machte eine halbe Drehung und blendete den Schmerz aus.
Über den Rand der obersten Akte sah er noch, wie das überraschte Gesicht des Gentleman-Assassinen rasend schnell näherkam. Er wollte sich wegdrehen und ruckte mit dem Kopf seitlich nach oben, damit er nicht mit seiner Stirn den Assassinen traf.
Sein Besucher hob eine Hand, er wollte ihn scheinbar auffangen, doch dadurch veränderte er nur ungewollt den Aufschlagwinkel von Penta.
Penta kollidierte mit dem Gentleman-Assassinen. Es schepperte in seinem Kopf und Penta biss die Zähne zusammen, als der Bleistift sich in seine Wangentasche bohrte.
Ein leiser Schrei und ein Stöhnen. Penta lag auf dem Assassinen und rutschte von seiner Brust, die Akten immer noch in der Hand. Mühsam rappelte er sich auf und öffnete den Mund, sodass der Stift sich lockerte und nicht mehr in seine Wangentasche drückte. „Entschuldigen Sie vielmals. Das ist mir wirklich noch nie passiert“, begann Penta und brachte endlich seine Beine auf den Boden, um aufzustehen.
Es kostete ihn einige Sekunden, ehe er Halt fand. Bevor er sich erneut beim Gentleman-Assassinen entschuldigte, legte er die Akten auf seinem massiven Schreibtisch ab und richtete sie gerade aus.
„Wirklich, es ist mir so unangenehm. Habe ich Sie …?“
Weiter kam Penta nicht, denn der Anblick verschlug ihm den Atem. Der Gentleman-Assassine saß vor ihm, auf seinem Stuhl zusammengesackt.
„Ähm, sag mal, soll der Bleistift in seinem Auge stecken?“, fragte Wurzel in das Rauschen in Pentas Ohren.
Er musste halluzinieren. Der Schlafmangel. Ganz sicher. Zwei Tage, ohne sein Bett gesehen zu haben, zeigten Auswirkungen. Penta rieb sich über die Stirn, über die Augen. So fest, dass er Sterne sah. Als er sie wieder öffnete, hatte sich das Bild nicht verändert.
„Meinst du, das tut ihm weh? Hallo? Wenn Sie Hilfe brauchen, pfeifen Sie!“, rief Wurzel.
Stille durchdrang das Büro. Nur das vereinzelte Blut, das aus der Verletzung des Gentleman-Assassinen tropfte und auf dem Boden aufschlug, antwortete ihm.
„Er pfeift nicht, kann also nicht so schlimm sein“, kommentierte Wurzel und zog an der Vorgenehmigung, die auf Pentas Schreibtisch lag. Er musterte sie, knüllte sie und warf sie hinter sich. „Kann ich noch etwas Wasser kriegen?“
„Nimm es dir“, erwiderte Penta und winkte ab. Er erwachte aus seiner Starre, sprang zum Gentleman-Assassinen und schüttelte ihn.
„Hallo?“, sprach er ihn an. Er kramte in seinen Erinnerungen, versuchte, die Lähmung seiner Gedanken zu umgehen. Vor zwei Jahren hatte er einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Alles nur, um seinen Assassinen Soforthilfe leisten zu können, falls sie mit einer Verletzung zu ihm kamen. Puls fühlen. Penta griff an den Hals des Gentleman-Assassinen. Er spürte nichts.
Er hielt ihm die Hand unter die Nase. Keine Atmung. Penta raufte sich die Haare und drehte sich einmal um sich selbst. Doch es veränderte sich nichts.
Der Gentleman-Assassine saß immer noch zusammengesunken vor ihm auf dem Stuhl. Tot. TOT. Und er hatte ihn umgebracht.
„Schande, was habe ich getan?“, rief Penta und stolperte so weit zurück, dass er mit dem Hintern gegen die Tischplatte stieß. Wurzel wurde durchgeschüttelt.
„Dir einen Rausschmiss aus der Gilde gesichert“, erklärte Wurzel, nachdem er seine Äste in Ordnung gebracht hatte.
Penta wandte sich zu ihm, umklammerte die Kante des Schreibtischs und schloss die Augen. „Was?“
„Wenn man es genau nimmt, bist du gerade zum Unterassassinen geworden. Du hast illegalerweise jemanden umgebracht und bist unter der Würde der Todesreiter, weil du dich für etwas Besseres hältst und kein Formular ausgefüllt hast. Zumindest sehe ich hier keine Genehmigung.“
„Ich bin nicht einmal ein freigeschalteter Assassine“, sagte Penta und nahm Wurzel hoch. „Was meinst du mit Rauswurf?“
„Obwohl es keinen Präzedenzfall gibt, ist das Töten eines Assassinen durch einen Todesreiter nicht erlaubt. Ergo wirst du entweder eliminiert oder rausgeworfen.“ Wurzel zuckte mit seinen Ästen und tätschelte ihm die Wange. „War nett mit dir. Der Nächste bitte.“
„Nicht so vorschnell. Es war doch keine Absicht.“ Penta spürte, wie sich die Verzweiflung um seinen Hals schnürte und ihm die Luft stahl. „Im STaGB muss es doch eine Lücke für so etwas geben.“ Penta setzte Wurzel wieder ab und nickte. „Genau. Eine Lücke im System. Ich kenne jedes Gesetz, jede Verordnung innerhalb der Todesgilde. Wenn es jemanden gibt, der eine Lösung findet, dann ja wohl ich.“
***
Die Uhr über der Tür schlug acht, während Penta immer noch in seinem Büro auf und ab lief. Schon seit fast einer Stunde dachte er darüber nach, was er tun konnte. Wurzels Vorschlag, den Gentleman-Assassinen in seinem Topf zu begraben, um den besten Menschendünger zu bekommen, hatte er ignoriert. Ebenso die Anregung, ihn zusammen mit seiner Akte zu verbrennen und so zu tun, als ob er nie existiert hatte. Penta waren verschiedene Ideen gekommen. Aus der Tür und durch den Markt tragen. So tun, als ob der Assassine einer der üblichen, frühmorgendlichen Schnapsleichen war. Das hätte jedoch Zeugen gegeben, die ihn mit der Leiche gesehen hätten. Die Spur hätte früher oder später zu ihm geführt.
Ebenso hatte er den Gedanken verworfen, den Assassinen aus dem Fenster in den Fluss zu werfen. Aber erst, nachdem er das Fischerboot direkt unter ihm entdeckt hatte. Die beiden Männer darin schienen zu schlafen, doch das Risiko konnte er nicht eingehen.
Im Moment saß er mit der Leiche des angesehensten Assassinen von Ulmenstadt in seinem Büro fest und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Penta griff nach dem Wasserglas und schluckte die Flüssigkeit in einem Schwall herunter. Es war das erste Mal, seitdem er von Drak gefunden worden war, dass er sich wünschte, Alkohol zu trinken.
„Junge, du siehst fast so blass aus wie die Leiche da. Hast du auch `nen Bleistift irgendwo stecken?“, fragte Wurzel und holte ihn aus einer Gedankenschleife, die sich um eine mögliche Flucht seinerseits aus Ulmenstadt drehte.
„Wurzel, könntest du bitte deinen Mund halten! Ich muss nachdenken.“ Pentas Augen brannten und er rieb sie sich alle paar Sekunden, damit sie nicht zufielen.
„Kann ich dir dabei nicht irgendwie helfen?“
Die erste vernünftige Aussage des Bonsais, seitdem DAS passiert war.
„Ich weiß nicht. Hast du eine Idee, wie ich aus dem Schlamassel herauskomme?“ Penta hob den Kopf. Jetzt setzte er seine Hoffnungen schon auf ein Gestrüpp, das geistig inkontinent war.
„Wie wäre es mit …“
Bevor Wurzel seinen nächsten Vorschlag machen konnte, klopfte es an der Tür.
Kapitel 3 – Tonia
„Sie sind unter uns und ihr alle schaut weg, als ob sie nicht existieren würden!“, brüllte Tonia Fill durch die Straße und schüttete sich den ersten Eimer Schweineblut über das schneeweiße Rüschenkleid. Die roten Schlieren verteilten sich auf dem Stoff und tränkten ihn, bis er in wilden Mustern bis auf den Boden tropfte.
„Habt ihr es nicht bemerkt?“ Tonia schleuderte die restliche Farbe aus dem Eimer auf einige Passanten, die amüsiert stehen geblieben waren und sie begafften. Nun wanderten sie schimpfend weiter, da vereinzelte Tropfen sie trafen. „Ja, rennt ruhig weg, aber sie werden euch finden. Das tun sie immer. Ihr solltet mir lieber zuhören, statt einfach davonzulaufen.“
Wütend pfefferte sie den Holzeimer hinterher. Er schlug polternd auf dem Gehweg nur wenige Meter von ihr entfernt auf und rollte in einem Halbbogen auf die Straße zu. Tonia hingegen ignorierte ihn und griff sich den Nächsten.
Sie stand vor dem Treibhaus der Stadt, in der das RABE versammelt war und seine politischen Ambitionen vorantrieb. Immer wieder hatte Tonia versucht, dort einen Termin beim Bürgermeister zu bekommen, aber der hatte sie abgelehnt, solange sie nicht für ihren Vater etwas erledigte. Überall sonst brachte ihr Name sie rein. Nur im Treibhaus schien man sie zu meiden. Vermutlich aus Scham.
„Für Ihre Hirngespinste habe ich keine Zeit. Überlegen Sie lieber, welche Außenwirkung das hat. Wenn ihr Vater herausfindet, was Sie planen, wird er sie sicher zur Rechenschaft ziehen.“
„Ich bin meinem Vater zu gar nichts verpflichtet!“, hatte Tonia entgegnet und Giersch-Samen auf den Echtgrasteppich in sein Büro geschleudert. Auf dass er sich noch in einigen Jahren an ihren Besuch erinnern würde.
Eine ältere Frau blieb vor ihr stehen, während sie den nächsten Eimer ansetzte. Diesmal sollte der Inhalt über ihre schwarzen Haare fließen. Hoffentlich bemerkten die Bewohner von Ulmenstadt endlich, dass sie Recht hatte.
„Was machen Sie denn da, Kindchen? Nehmen Sie lieber Hühnerblut, das geht leichter rauszuwaschen“, erklärte die Frau und deutete mit ihrem Stock auf Tonia. „Schweineblut klebt so.“
Kurz wunderte Tonia sich, dass sie den Unterschied erkannte, schüttelte dann aber den Kopf. „Es soll eben kleben bleiben. Damit die Menschen sich daran erinnern, welche Schrecken unsere Straßen bevölkern.“
„Redest du wieder von deinen Assassinen?“ Die Alte winkte ab, als Tonia nickte. Sie musste ihr schon einmal zugehört haben. Sofort war Tonia Borke und Rinde und wollte weiter auf sie einreden, doch eine kleine Frau mit Brille und einem Abbildographen in der Hand unterbrach die beiden.
„Niemand hat je einen gesehen, geschweige denn einen verhaftet.“
„Wer sind Sie?“, fragte Tonia neugierig. Wenn sie jemanden von der Presse angelockt hatte, war sie einen Schritt weiter in ihrem Bestreben, die Assassinen bekannt zu machen.
„Jizhe Myndavél, freie Abbildographin für Madera. Dürfte ich ein Foto von Ihnen machen?“, fragte die hellhäutige, junge Frau, deren wilder Kleidungsstil Tonia sehr an ihre eigene Jugend erinnerte. Vermutlich stand sie noch ganz am Anfang ihrer Karriere.
„Nur, wenn Sie meinen Namen richtig schreiben. Tonia Fill! Und dass man keinen Assassinen je gesehen hat, liegt nur daran, dass sie ein Netzwerk haben“, erklärte Tonia, ließ den Eimer sinken und ging auf die Alte und Jizhe zu. „Da sitzen Männer und Frauen, die alles vertuschen. Jeder Mord, der in den letzten Jahren in Ulmenstadt passiert ist, wurde von einem Assassinen verübt.“
„Jeder?“ Die Alte lachte, während Jizhe ihren Kasten auf Tonia ausrichtete. „Das ist doch Mumpitz. Hör auf eine alte Esche wie mich: Es gibt keine Assassinen. Davon hätten wir schon was mitbekommen.“ Damit stampfte sie ihren Gehstock auf und entfernte sich.
Tonia tauchte ihre Hand in den Eimer und schleuderte der Alten einen Schwung Blut hinterher. „Dann klebt das Blut von Unschuldigen jetzt auch an Ihnen!“, brüllte Tonia. „Ignoranz schützt nicht vor der Verantwortung.“
Voller Tatendrang hob Tonia den Eimer erneut und kippte das Blut über ihre eigentlich schwarzen Haare, derweil aus Jizhes Richtung ein wildes Klicken ertönte. Hoffentlich sah man später auf dem Abbild die rote Farbe auf dem weißen Kleid gut. Das würde sich in der Zeitung gut machen. „Assassinen wandeln unter uns und ihr solltet besser etwas dagegen unternehmen, sonst seid ihr vielleicht das nächste Opfer!“
Eiskalt rann das Blut an ihrem Rücken herunter und in ihre Unterhose hinein. Aber das störte Tonia nicht. Sie wollte ein Statement setzen – und das möglichst eindrucksvoll. Vor zwei Wochen war der Todestag ihrer Mutter gewesen und er hatte sie wieder daran erinnert, dass die Menschen in ihrer Heimat Madera immer noch die Augen vor der Tatsache verschlossen, ihre Stadt mit Assassinen zu teilen.
„Ms Fill, wären Sie so freundlich und würden uns bitte begleiten?“ Ein grün gekleideter Polizist stand vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen. Die schwarzen Handschuhe über seinen Fingern wiesen ihn als Mitglied der städtischen Bereitschaftspolizei aus. Aushilfsmänner und Frauen, die es nicht durch die harte Ausbildung geschafft hatten und jetzt freiwillig die Straßen sauber hielten.
„Ganz sicher werde ich das nicht tun. Nicht, solange Sie und Ihre Kollegen die Augen vor der Wahrheit verschließen!“, brüllte sie Jizhe zu, damit die das auch ja mitbekam. Hoffentlich notierte sie alles hinterher fleißig, denn aktuell arbeitete sie nur mit dem Abbildographen. Die grauen Haare des älteren Polizisten waren über seinen Rücken zu einem Zopf geflochten.
„Dann werden wir Sie mitnehmen müssen“, ereiferte sich ein Jungspund, der hinter dem Langhaarigen hervortrat. Sein Gesicht erinnerte sie an ihren Kater Akono. Dieselben schmalen Gesichtszüge, dieselben kurzen Strähnen und sogar die Narbe über der Wange war fast identisch. Akono war Tonia vor einem Jahr zugelaufen und wohnte seither in ihrem Zimmer. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters. Allerdings hatte der kein Wort mitzureden, wenn es um die Aufnahme der Streuner ging.
Der Langhaarige trat auf sie zu und griff an die Seite seines Gürtels, an der er ein paar Schandschellen trug. Die Holz-Stein-Schellen, die, sobald sie geschlossen wurden, lauthals Schande skandierten, hatte sie das erste Mal gesehen, als ihr Vater fälschlicherweise für den Mord an ihrer Mutter abgeführt worden war. Es hatte seinem Ansehen als einem der erfolgreichsten Feuerlackhersteller von Madera nicht geschadet, solch eine Reputation zu haben. Allerdings würde Tonia niemals das vorwurfsvolle Skandieren aus den Schandschellen vergessen. Sie schüttelte den Kopf.
„Das könnt ihr ganz schnell vergessen, ihr Witzfiguren.“ Tonia reckte den Hals, tauchte die Hand ein letztes Mal in den Eimer mit der Farbe und schmierte ihre Finger vollkommen mit dem Blut ein. „Wenn ihr mich mitnehmen wollt, müsst ihr euch bewusst sein, wessen Tochter ich bin.“
Sie hasste sich dafür, dass sie diese Karte ausspielte, aber es war ihr einziger Trumpf. Die Tochter von Camtero Fill zu sein, bedeutete die meiste Zeit, schmückendes Beiwerk auf seinen Veranstaltungen zu sein. Brav hinter ihm zu stehen und zu lächeln, während er Kontakte mit Politikern knüpfte, um selbst mal in die Regierung von Ulmenstadt einzusteigen.
Doch ab und an konnte sie es sich zunutze machen. Die Menschen hatten Respekt und häufig Angst vor ihrem Vater. Meistens, weil er dank seiner Geschäfte mit Feuerlack, aber auch den Teakotels, in fast allen wichtigen Bereichen der Stadt involviert war.