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„Die ganze Saat des Verderbens und der Ursprung der verschiedenen Katastrophen, welche die Wut des Kriegsgottes, alles mit außergewöhnlichem Brand erfüllend, heraufbeschwor, hatte folgende Ursache … das Volk der Hunnen.“ So beginnt der Historiker Ammianus Marcellinus seine Ausführungen über jene Reiterscharen von unbeschreiblicher Wildheit, deren Vordringen den römischen Erdkreis mit Entsetzen erfüllte. An der Spitze dieses Heeres stand um die Mitte des 5. Jahrhunderts Attila, die „Geißel Gottes“ – wie er in der mittelalterlichen Überlieferung genannt wird. Klaus Rosen legt eine spannende Darstellung der Hunnen und ihrer Geschichte und zugleich eine Biographie ihres Königs Attila vor. Er bietet einen exzellenten Überblick über die Hunnen von ihren Anfängen bis zum Zerfall des Attilareiches unter den Söhnen des Herrschers. Und er entwirft ein anschauliches Bild von den Konflikten zwischen Barbaricum und Imperium Romanum, von den Machtstrukturen, den Protagonisten, den Schlachten – insbesondere der dramatischen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (451) – und schließlich vom Ende Attilas.
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Klaus Rosen
Attila
Der Schrecken der Welt
C.H.Beck
Wer hätte gedacht, dass Attila, den Johann Gottfried Herder einmal als den Schrecken der Welt bezeichnen sollte, friedlich im Brautgemach an der Seite seiner jungvermählten Gattin Ildico sterben würde? Hätte man sich für ihn einen anderen Tod vorstellen können als im Kampf oder vielleicht als Opfer eines Anschlags seiner zahllosen Feinde? Verstörender noch wirkt das Schicksal des riesigen Reiches, das er unter seine Herrschaft gezwungen hatte. Das gewaltige Territorium zerfiel binnen nur eines Jahres. Der Herrscher hatte versäumt – wenn er es denn je beabsichtigt hat –, ihm eine verbindende innere Struktur und damit eine überpersonale Festigkeit und Dauer zu verleihen. So verschwanden die Hunnen im 6. Jahrhundert ebenso wieder im Dunkel der Geschichte, wie sie im 4. Jahrhundert plötzlich daraus aufgetaucht waren.
Doch was war das für ein Volk, das der römische Historiker Ammianus Marcellinus einst als «Saat des Verbrechens» und als «zweibeinige Bestie» bezeichnet hat? Und was wissen wir mehr über seinen in der antiken Welt so gefürchteten Herrscher Attila als das, was die von Legenden durchwobene Überlieferung für uns bereithält, in der er beispielsweise als König Etzel im Nibelungenlied erscheint? Der Bonner Althistoriker Klaus Rosen bietet eine auf breiter Quellenbasis beruhende Darstellung der Geschichte der Hunnen und eine eindrucksvolle Biographie ihres geschichtsmächtigen Anführers. Zudem entwirft er ein überzeugendes Bild der Konflikte zwischen Barbaricum und Imperium Romanum, erhellt die Machtstrukturen, stellt die Protagonisten vor und zeichnet ein beklemmendes Schlachtenpanorama, dessen Höhepunkt das Völkertreffen auf den Katalaunischen Feldern in Gallien darstellt.
Klaus Rosen lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Alte Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er hat sich durch zahlreiche einschlägige Publikationen als Spezialist für die Geschichte der Spätantike ausgewiesen. Im Verlag C.H.Beck liegt von demselben Autor vor: Die Völkerwanderung (42009).
I: Attila aktuell
II: Sturm über Europa
III: Wer waren die Hunnen?
IV: Der Überfall
V: Zwischen Römischem Reich und Barbaricum
VI: Das Römische Reich: Vorratskammer mit Selbstbedienung
VII: Hunnische Könige und römische Kaiser
VIII: Das erste hunnische Doppelkönigtum: Octar und Rua
IX: Das zweite hunnische Doppelkönigtum: Bleda und Attila
X: Attila der Alleinherrscher
XI: Ein Besuch bei Attila
XII: Attilas Reich
XIII: Der Krieg gegen den Westen
XIV: Das Ende
XV: Erinnerung ohne Ende
Dank
Anmerkungen
I. Attila aktuell
II. Sturm über Europa
III. Wer waren die Hunnen?
IV. Der Überfall
V. Zwischen Römischem Reich und Barbaricum
VI. Das Römische Reich: Vorratskammer mit Selbstbedienung
VII. Hunnische Könige und römische Kaiser
VIII. Das erste hunnische Doppelkönigtum: Octar und Rua
IX. Das zweite hunnische Doppelkönigtum: Bleda und Attila
X. Attila der Alleinherrscher
XI. Ein Besuch bei Attila
XII. Attilas Reich
XIII. Der Krieg gegen den Westen
XIV. Das Ende
XV. Erinnerung ohne Ende
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Zeittafel
Herrschertafel
Personenverzeichnis (in Auswahl)
Nachweis der Abbildungen und Karten
I
«Offener Brief an den Präsidenten der Republik und an die «Attilas» des Bildungswesens» – Lettre ouverte au président de la République et aux «Attila» de l’éducation.
So lautet die Überschrift eines Briefs, den der bekannte französische Schriftsteller Jean d’Ormesson am 9. Mai 2015 im Pariser Le Figaro veröffentlichte. Der Brief war ein flammender Protest gegen die Reform der gymnasialen Bildung, welche die französische Kultusministerin anstrebte. Mit wuchtigen Worten griff d’Ormesson sie an: «eine Art lächelnder Attila, hinter dem die Wiesen der historischen Erinnerung nie mehr aufblühen werden».
Jedem Franzosen war Attila aus dem Geschichtsunterricht vertraut: der Hunnenkönig, der Schrecken Europas, der mit seinen Barbarenhorden im Jahr 451 Frankreich überfallen hatte, der mordete, plünderte und die Städte niederbrannte, bis er noch im selben Jahr in der Champagne, auf den Katalaunischen Feldern, in einer Vielvölkerschlacht besiegt und aus dem Land gejagt wurde.
Die zahlreichen literarischen und historischen Anspielungen des Briefs lassen vermuten, dass sein Verfasser das Datum für die Veröffentlichung bewusst gewählt hat: Am Tag zuvor hatte ganz Europa des 8. Mai 1945 gedacht. Vor genau 70 Jahren hatte die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert, und am 9. Mai, am Tag des offenen Briefes, war Deutschlands Gesamtkapitulation inkraftgetreten. Die Deutschen, die Hunnen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Frankreich 1914 und 1939 überfallen hatten wie einst Attila 451, erlebten ihre Katalaunischen Felder. Europa und die europäische Kultur waren vom Nationalsozialismus befreit. Und jetzt, 70 Jahre später, wollte eine französische Regierung die Axt an die Wurzeln eben dieser Kultur legen. Schon sechs Jahre zuvor hatte der italienische Schriftsteller und Latinist Luca Canali ein Buch mit dem plakativen Titel herausgebracht «Attila aufhalten». Das Buch bot einen Streifzug durch die lateinische Literatur, der zeigen sollte, welche Bedeutung antike Kultur und Geistesgeschichte auch heute noch haben und was ihr Verlust mit sich brachte. Dem Buchtitel, der zugleich ein Aufruf war, fügte Canali daher den Untertitel hinzu: «Die klassische Tradition als Gegenmittel gegen das Vordringen der Barbarei.»[1]
Jean d’Ormessons Brief hatte noch einen weiter zurückliegenden historischen Bezug, an den der gebildete Verfasser gedacht haben dürfte. Es war jener Offene Brief, den der französische Schriftsteller Romain Rolland am 29. August 1914 an Gerhart Hauptmann richtete, nachdem er erfahren hatte, dass die Deutschen nach dem Einmarsch in Belgien am 25. August begonnen hatten, die Stadt Löwen zu beschießen, und die berühmte Löwener Bibliothek in Flammen aufgegangen war. Hauptmann hatte kurz zuvor die deutsche Kriegführung verteidigt. Rolland, wie d’Ormesson ein Freund und Kenner der deutschen Kultur, arbeitete zu dieser Zeit beim Roten Kreuz in Genf und veröffentlichte seinen Brief im Journal de Genève. Empört richtete er an Hauptmann und die Deutschen die Frage: «Seid Ihr die Enkel Goethes oder Attilas?», und er forderte den Dichter auf, seine Stimme gegen die «Hunnen» zu erheben, die solche Verbrechen befahlen.[2]
Gerhart Hauptmann antwortete Rolland in der Vossischen Zeitung vom 10. September 1914. Er griff dessen alternative Frage «Goethe oder Attila» auf und beschied den Frager: «Lieber sollten die Deutschen sich Söhne Attilas nennen lassen als auf ihren Grabstein die Inschrift ‹Söhne Goethes› gesetzt bekommen.»[3] Aus der Feder des Goethe-Verehrers und -Nachahmers Hauptmann war dies eine erschreckende Aussage. Friedrich Gundolf, 1914 junger Privatdozent für Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg, fühlte sich ebenfalls gedrängt, Rolland eine Ohrfeige zu verpassen. In einem Artikel in der Frankfurter Zeitung vom 11. Oktober 1914 verstieg er sich zu der Behauptung: «Attila hat mehr mit Kultur zu tun als alle Shaw, Maeterlinck, d’Annunzio und dergleichen zusammen.»[4]
Weltweites Aufsehen erregte dann das «Manifest der 93», das sich «An die Kulturwelt» richtete und am 4. Oktober 1914 in allen großen deutschen Tageszeitungen erschien, um anschließend in zehn Sprachen verbreitet zu werden. 93 bekannte Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller erhoben – so der Einleitungssatz – «vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen Daseinskampf zu beschmutzen trachten». In sechs Abschnitten, alle mit einem fettgedruckten «Es ist nicht wahr» beginnend, verwahrten sich die Unterzeichner des Aufrufs gegen die Vorwürfe, die gegen Deutschland erhoben wurden. Gleich der erste und folgenreichste betraf die Kriegsschuldfrage und die Rolle, die Kaiser Wilhelm II. dabei gespielt habe: «Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat er sich erhoben wie ein Mann.»[5] Im letzten Satz schien der Kaiser nun doch wieder ein Attila zu sein, und die Verfasser näherten sich dem trotzigen Stolz, mit dem Gerhart Hauptmann, einer der 93, den Hunnenkönig gegenüber Rolland für die Deutschen in Anspruch nahm. Wenn dagegen Deutschlands Feinde Wilhelm einen Attila nannten, war das in den Augen der 93 Majestätsbeleidigung.
Am selben Tag, an dem das «Manifest der 93» in die Welt hinausging, erschien in der italienischen Zeitung L’Asino eine Karikatur, in der Attila vor der zerstörten Kathedrale von Reims stand und deutschen Soldaten zu ihrem ‹Erfolg› gratulierte.[6] Schon im September 1914 hatte die belgische Tageszeitung L’Indépendance Belge an ihrem damaligen Erscheinungsort Paris geklagt, «dass die deutschen Soldaten des zwanzigsten Jahrhunderts Krieg führen, wie es die Hunnen getan hatten».[7]
Wilhelm II. hatte selbst den Anstoß dazu gegeben, dass man ihn im Guten wie im Bösen mit Attila verglich, dem Etzel des Nibelungenlieds. In einer Rede, mit der er am 27. Juli 1900 in Bremerhaven Soldaten verabschiedete, die den Boxeraufstand in China bekämpfen sollten, hatte er, wahrscheinlich aus dem Stegreif, einen seiner beliebten Ausflüge in die Geschichte unternommen: «Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.» Zuvor hatte der Kaiser die Soldaten aufgefordert: «Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand.»[8] Dieser Abschied nicht nur vom Völkerrecht, sondern auch von christlicher Moral, auf die Wilhelm sonst so große Stücke hielt, stieß vor allem bei der sozialdemokratischen Opposition im Reichstag auf Empörung, und Wilhelms Ansprache erhielt das Etikett «Hunnenrede». Echte oder fingierte Soldatenbriefe aus China, die im sozialdemokratischen Vorwärts abgedruckt wurden, hießen «Hunnenbriefe». Der einflussreiche Pfarrer und Sozialpolitiker Friedrich Naumann bekannte in der von ihm gegründeten Zeitschrift Die Hilfe, es wäre ihm lieber gewesen, «wenn der Hunnenkönig Etzel nicht aus seinem Schlaf geweckt worden wäre». Aber Deutschlands militärisches Eingreifen hielt er für gerechtfertigt, weshalb ihn Gegner als «Hunnenpastor» verunglimpften, das Gegenbild zu Wilhelm Raabes Hungerpastor.[9]
In der antideutschen Propaganda des Ersten Weltkrieges stand dann das Ethnikon «Hunne» schlechthin für den Deutschen. Der englische Schriftsteller Rudyard Kipling gab in einem Gedicht, das The Times in London am 2. September 1914 druckte, den Ton vor. Er rief zum Kampf gegen Deutschland auf und warnte: «Der Hunne steht am Tor!» – The Hun is at the gate!.[10] Für manchen Franzosen war Wilhelm II. nun erst recht der Hunnenkönig Attila. Dessen Niederlage auf den Katalaunischen Feldern 451 schien sich beim «Wunder an der Marne» zu wiederholen, als sich das deutsche Heer nach dem Vormarsch bis zur Marne vom 10. bis 12. September 1914 vor dem französischen Gegenstoß zurückziehen musste.[11] In den Vereinigten Staaten gab es vor allem nach deren Eintritt in den Krieg 1917 eine regelrechte Welle von Büchern, Filmen, Plakaten und Karikaturen, die den hässlichen deutschen Hunnen darstellten.[12] Am Sonntag, dem 10. November 1918, einen Tag vor dem Waffenstillstand, erschien die vielgelesene Londoner Wochenendzeitung News of the World mit der Schlagzeile: «Hunnische Kapitulation gewiss» – Hun surrender certain.[13]
Das Bild des Hunnen blieb auch nach dem Krieg an den Deutschen hängen. Spitzzüngig charakterisierte John Maynard Keynes die Ankunft der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles 1919 mit Matthias Erzberger an der Spitze: «Aufs schönste entsprachen sie als Gruppe der populären Vorstellung von den Hunnen. Die persönliche Erscheinung dieser Rasse spricht wirklich in besonderer Weise gegen sie. Wer weiß, vielleicht war das ja die tatsächliche Ursache des Krieges.»[14] Fritz Langs monumentaler Historienfilm Die Nibelungen von 1924, der den Untertitel «Dem Deutschen Volk zu eigen» trug, schien das böse Bild von den deutschen Hunnen löschen zu wollen. Der Etzel des Regisseurs hatte Züge «barbarischer Kindlichkeit», und in seinen Massenszenen im zweiten Teil ließ er «Hunnen über die Steppen jagen oder ihre echt hunnischen Feste feiern».[15]
So mancher in Deutschland, der den «Schandfrieden» von Versailles ablehnte, empörte sich, dass die Deutschen in der internationalen öffentlichen Meinung immer noch die «Hunnen» waren. Einer von ihnen war Adolf Hitler. Bezeichnenderweise am 8. Mai 1921 wetterte er in einem Artikel, der unter der Überschrift «Gelogen wie gedruckt» im Völkischen Beobachter erschien: «Das Deutsche Reich wird als Barbarenstaat, das deutsche Volk als Hunnen, beide zusammen als Schande menschlicher Kultur all den Millionen Menschen innerhalb und außerhalb des britischen Imperiums auf dieser Welt eingeprägt und eingehämmert.»[16]
Später waren Attila und die Hunnen Hitler dann doch nützlich: Nach der Besetzung Frankreichs erging am 10. Dezember 1940 seine Weisung Nr. 19 b, die «Geheime Kommandosache Unternehmen Attila». Sie bereitete «die schnelle Besetzung des heute noch unbesetzten Gebiets des französischen Mutterlandes» vor und verordnete unter anderem: «Sollte örtlich Widerstand auftreten, ist er rücksichtslos zu brechen.»[17] So dürfte auch mancher ‹Tagesbefehl› Attilas gelautet haben. Niemand hat Hitler bei der Wahl des Decknamens allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass der Hunnenkönig nur bis Orléans gekommen war, an die Südgrenze des deutschen Besatzungsgebietes, und dass seine Niederlage auf den Katalaunischen Feldern kein allzu günstiges Omen war.
Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion waren nicht mehr die Deutschen, sondern die Russen die neuen Hunnen. Für einen Hitleranhänger in Frankreich wurde Stalin zur «asiatischen Geißel», zum Attila, «der durch die sarmatische Ebene schweifte», der aber dadurch zu Fall gebracht wird, «wenn er auf seinen Aëtius trifft».[18] Der Vergleich mit Aëtius hätte dem geschichtskundigen Hitler gewiss gefallen, der als Oberbefehlshaber der Wehrmacht eine andere Parallele betonte: Die Russen wollen Europa zerstören, wie das einst die Hunnen wollten. Mit dem Russlandfeldzug werde er der Retter Europas werden. In einer Rede im Berliner Sportpalast verkündete er am 11. Dezember 1941: Deutschland und seine Verbündeten – er nannte unter anderen Rumänen und Ungarn, Bewohner ehemaliger hunnischer Gebiete – führten zusammen einen europäischen Kreuzzug. «Es ist wirklich Europa, das sich hier zusammengefunden hat, genauso wie in alten Zeiten einst gegenüber den Hunnen- oder den Mongolenstürmen.»[19]
Über die Absicht der Sowjetunion bestand für Hitler kein Zweifel. Bei einem seiner Tischgespräche öffnete er seinen historischen Fundus und belehrte die Gäste: Ohne Roms Sieg auf den Katalaunischen Feldern «wäre der damaligen Kulturwelt ein Untergang beschieden gewesen, wie er uns von Seiten der Sowjets bevorstand».[20] Dementsprechend skizzierte er am 30. Mai 1942 in einer Geheimrede vor dem «Militärischen Führernachwuchs» Deutschlands Aufgabe im Kampf ums Dasein: die Abwehr des ununterbrochenen Flusses aus Asien, «der sich in unserer geschichtlichen Epoche zunächst durch die hunnischen Völker bemerkbar machte, später durch die Mongolen, und den wir heute wieder erleben durch eine Organisation innerasiatischen Menschentums».[21] Während Hitlers Tischgesprächen wagte natürlich keiner der Zuhörer, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sein historischer Fundus auch groben Unsinn enthielt. Einmal träumte er davon, Linz, wo er die Realschule besuchte hatte, zur neuen Weltstadt auszubauen, nicht Wien, «die Hauptstadt der Nachfahren Etzels und seiner Hunnen».[22] Vielleicht fragte sich der eine oder andere Offizier, ob Hitler Edward Gibbon gelesen hatte, wenn er sich in die virtuelle Geschichte verstieg: Wäre das Christentum nicht gekommen, hätte Rom ganz Europa erobert, «und der Hunnensturm wäre an den Legionen zerschellt».[23]
Nachdem am 2. Februar 1943 Stalingrad gefallen war, notierte Joseph Goebbels sechs Tage später in sein Tagebuch Hitlers Aussage zu der Katastrophe, mit der er sich selbst entlastete: «Die Sowjetmacht, die uns im Osten gegenübertrete, sei in der ganzen Welt ohne Beispiel. Man müsse schon auf weite geschichtliche Vorgänge zurückgreifen, um sie überhaupt zu charakterisieren, etwa auf die Vorstöße von Dschingis Khan oder Attila.»[24] Geschichte bot Hitler auch ein Mittel, die Deutschen zum bedingungslosen Kampf aufzufordern. In der Rede, die er am 21. März 1943 zum «Heldengedenktag» hielt, verriet er eine Ahnung von dem, was auf Deutschland zukommen könne: Es wären weniger die verbrannten Städte als «die bestialisch niedergemetzelten Menschenmassen, die dieser innerasiatischen Flut genauso zum Opfer fallen würden, wie es in der Zeit der Hunnen- und Mongolenstürme einst schon der Fall war».[25]
Am 25. Februar 1945 – die Rote Armee hatte bereits die Oder überschritten und stieß auf Berlin vor – erließ Hitler noch eine «Proklamation zum 25. Parteigründungstag» an die «Nationalsozialisten, Parteigenossen und Parteigenossinnen». Jenseits jeglicher Wirklichkeit schwadronierte er: «Nicht in einer Völkerbundsversammlung, sondern in der Schlacht auf den katalaunischen Gefilden ist Etzels Macht gebrochen worden, und nicht in einer Genfer Schwatzbude oder durch irgendeine andere Konvention wird der asiatische Bolschewismus zurückgeschlagen, sondern ausschließlich durch den Siegeswillen unseres Widerstandes und durch die Kraft unserer Waffen.»[26]
Millionen Deutsche hatten inzwischen im Osten Schrecken erlebt, die alles übertrafen, was sie über die Hunnen erfahren hatten. Hatte die nationalsozialistische Propaganda nicht Recht gehabt? Und wenn Scharen von Flüchtlingen sahen, dass die Rote Armee nicht nur mit Panzern vorrückte, sondern auch mit Kosaken auf Panjewagen, schienen ihnen Attilas Horden wiedergekehrt zu sein. Auf der anderen Seite hatten die deutsche Wehrmacht und vor allem die SS in den besetzten Gebieten alles Erdenkliche getan, um dem alten Vorwurf, die Deutschen seien die Hunnen, neue Nahrung zu geben.
Stalin und die sowjetische Führung wussten sehr wohl, mit wem die Russen in der deutschen Propaganda während des Kriegs immer wieder verglichen wurden. Attila und die Hunnen waren daher nach 1945 in der Sowjetunion und bei ihren ‹Brudervölkern› verpönt.[27]
Eine Ausnahme machte ein Land, in dem der Vorname Attila nach wie vor beliebt war: Ungarn. Mancher pflegte den Mythos von der hunnischen Abstammung der Ungarn weiter. Der Mythos kann allerdings selbst unter Ungarn zum Vorwurf werden. Am 11. Juni 2011 erschien in der Literarischen Welt, der Samstagsbeilage der Tageszeitung Die Welt, ein groß aufgemachter Leitartikel der ungarischen Journalistin Krisztina Koenen mit der Überschrift «Zurück zu den Hunnen». Er war eine scharfe Abrechnung mit der ungarischen Regierung: Sie verabschiede sich, wie der Untertitel kritisierte, «von den Ideen der Aufklärung». Der Artikel rief ein heftiges Für und Wider hervor.
Die «Heilige Hunnische Kirche» in Ungarn will nicht zurück zu den Hunnen, ihre Mitglieder halten sich für Hunnen. Unter ihrem selbsternannten Priester und ‹Boten› kämpft sie im Ungarischen Parlament für einen Status als anerkannte Minderheit und will die «Europäische Konvention für den Schutz von Minderheiten» in Anspruch nehmen. Attila ist für sie der «große Schamane», und Jesus hat sie allen Ernstes zum «Halbhunnen» erklärt.
In Deutschland pflegen sich mittlerweile manche Hooligans vor Fußballspielen als Hunnen zu begrüßen.
Allen historischen, politischen oder gar pseudoreligiösen Vereinnahmungen des Hunnennamens brach rheinischer Frohsinn die Spitze ab. Im Jahr 1958 gründete ein ‹Attila› in Köln die «I. Kölner Hunnenhorde», angeregt durch den Film Attila der Hunnenkönig mit Jack Palance. Sein Beispiel machte in Köln und Umgebung Schule. Mehrere Hunnenhorden kamen hinzu, darunter 1982 «Etzels Hunnenhorde».[28] Höhepunkte des hunnischen Vereinslebens sind alljährlich der Kölner Karneval und die «Hunnenlager» in den Sommerferien, wenn die modernen Hunnen mit ihren Familien ins Grüne ziehen. Ihr bevorzugtes Transportmittel ist allerdings nicht mehr der hunnische Planwagen, sondern das Auto. In Phantasiekostümen verbringen sie unbeschwerte «Hunnentage», zu denen sie die Öffentlichkeit einladen.
Den Bonner Althistoriker freut’s, dass sein wissenschaftliches Thema bei Grillwürstchen und Kölsch fröhliche Urständ feiert.
II
«Die Hunnen stürzten sich auf die Alanen, die Alanen auf die Goten, die Goten auf die Taifalen und Sarmaten, und die Vertreibung der Goten machte auch uns auf dem Balkan zu Heimatvertriebenen.»
Es war im Jahr 390 n. Chr., als Bischof Ambrosius von Mailand diese Kettenreaktion beschrieb. Ausgelöst hatten sie etwa zwei Jahrzehnte zuvor die Hunnen im Osten, jenseits des Römischen Reiches. Aber bald darauf schwappte die Völkerlawine über die Donau in die römischen Provinzen auf dem Balkan. Auf diesen Ansturm kam Ambrosius in seinem Kommentar zum Lukasevangelium zu sprechen, als er die Schrecken behandelte, die Jesus als Zeichen für das Ende der Zeiten angekündigt hatte.[1]
Für den Bischof gab es keinen Zweifel: Mit dem Vordringen der Hunnen in den siebziger Jahren des 4. Jahrhunderts begann sich Jesu Prophezeiung zu erfüllen. Daher eröffnete er in seinem Kommentar den knappen historischen Rückblick mit der Prognose: «Wir, die das Ende der Welt ereilt hat, sind Zeugen für die himmlischen Worte. Denn welche gewaltigen Kämpfe und welche Nachrichten von Kämpfen haben wir vernommen! Ambrosius dachte vor allem an die Schlacht von Adrianopel am 9. August 378. Sie endete mit einer der schlimmsten Niederlagen, die Rom in seiner fast zwölfhundertjährigen Geschichte erlebte und die Kaiser Valens mit seinem Leben bezahlen musste. Goten hatten sich mit Hunnen und Alanen gegen die Römer verbündet. Der Kirchenhistoriker Rufinus, der um das Jahr 400 schrieb, sah in der Niederlage von Adrianopel «den Anfang des Verhängnisses für das Römische Reich – damals und in der Folgezeit».[2] Für Ambrosius verrieten die Goten schon durch den Klang ihres Namens, dass sie das Volk jenes Gog waren, den der Prophet Ezechiel im Alten Testament zu Beginn des 6. Jahrhunderts angekündigt hatte: «Du wirst aus deiner Heimat im äußersten Norden kommen und viele Völker mit dir, die alle auf Pferden sitzen, eine riesengroße Schar und mächtige Masse.»[3]
Der Kirchenvater Hieronymus schilderte um 396 genauer die Leiden, die der Völkersturm über die Zivilbevölkerung, Christen wie Nichtchristen, brachte. Zahlreiche Schreckensmeldungen hatten ihn in seiner Gelehrtenstube in Bethlehem erreicht und aufgewühlt: «Es sind nun zwanzig und etwas mehr Jahre, dass zwischen Konstantinopel und den Julischen Alpen römisches Blut vergossen wird. Skythien, Thrakien, Makedonien, Thessalien, Dardanien, Dakien, Epirus, Dalmatien sowie alle Teile Pannoniens verwüsten, entvölkern und plündern der Gote, der Sarmate, der Quade und der Alane, die Hunnen, die Vandalen und die Markomannen. Mit wie vielen Ehegattinnen und gottgeweihten Frauen, freigeborenen und adligen Personen haben diese Untiere ihren Spott getrieben! Bischöfe wurden gefangen, Priester und Kleriker der verschiedenen Ränge getötet, Kirchen wurden zerstört, Altäre Christi zu Pferdeställen gemacht und Gebeine der Märtyrer ausgegraben. Überall Trauer, überall Seufzen, und weit und breit ein Bild des Todes.» Hieronymus’ Fazit war dasselbe wie das des Ambrosius und Rufinus: «Der römische Erdkreis stürzt zusammen.» In einem späteren Brief flehte Hieronymus: «Möge Jesus solche Riesenbestien vom römischen Erdkreis fernhalten.» [4]
Roms Untergang fürchtete der nichtchristliche griechische Historiker Eunapius nicht, als er um das Jahr 380 die Erstauflage seines nur fragmentarisch erhaltenen Geschichtswerks herausbrachte. In seiner Darstellung des 3. und 4. Jahrhunderts hatte er oft genug von fremden Völkern berichtet, die in das Römische Reich eingedrungen waren und ihm großen Schaden zugefügt hatten. Doch nie war es ihnen gelungen, Rom an den Rand des Abgrunds zu bringen. Als der Historiker dann auf die Hunnen zu sprechen kam, verwies er auf einen neuen Aspekt: «Sie überrannten ganz Europa.» [5] In den siebziger Jahren des 4. Jahrhunderts stieß Asien mit Europa zusammen, und die Ersten, die den Stoß zu spüren bekamen, waren die Goten. Sie siedelten noch nicht im Römischen Reich, wohl aber auf europäischem Boden.
Etwa fünfzehn Jahre später, um 395, schloss der Historiker Ammianus Marcellinus sein lateinisches Geschichtswerk ab, dessen einunddreißigstes und letztes Buch mit dem Erscheinen der Hunnen im Jahr 375 begann und mit dem Jahr 378 endete, mit der Schlacht von Adrianopel und deren unmittelbaren Folgen. Nicht zum ersten Mal betonte er im Verlauf des Buches sein Bemühen, die Ereignisse wahrheitsgetreu darzustellen. Er müsse sich allerdings auf die großen Ereignisse und ihre Ergebnisse beschränken und viele Einzelheiten übergehen. Keiner wolle daher von ihm die genaue Zahl der Toten verlangen, die zu erfahren ihm unmöglich gewesen sei.[6] Ammianus’ Entschuldigung besagte besser als irgendwelche nicht zu überprüfenden Angaben, dass in den vier Jahren von 375 bis 378 unzählige Menschen ihr Leben verloren hatten. Er selbst hatte das Entsetzen der Zeitgenossen wahrgenommen, unter ihnen viele Christen, die überzeugt waren, das Ende der Welt sei gekommen. Der Historiker wollte die gegenwärtigen Schrecken nicht verkleinern. Aber sie mussten in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden: «Leute, die von der Vergangenheit keine Ahnung haben, behaupten, noch nie habe sich der Staat in der Finsternis eines so großen Elends befunden. Aber sie täuschen sich, weil sie voller Erschütterung nur auf das jüngste Elend starren. Wenn man nämlich die vorvergangenen und die jüngeren Epochen durchmustert, so machen sie deutlich, dass solch traurige Umwälzungen oft vorgekommen sind.»[7] Dann zitierte der Historiker den Einfall der Kimbern und Teutonen, denen die Römer zunächst in blutigen Schlachten unterlagen, die aber schließlich in den Jahren 102 und 101 v. Chr. vernichtet wurden. Auch Kaiser Marc Aurel musste viele Jahre, von 168 bis zu seinem Tod 180, an der Donau Krieg führen, bis die feindlichen Stämme, die gewagt hatten, das Römische Reich anzugreifen, niedergerungen waren.[8] Wie Eunapius wollte Ammianus Marcellinus seinen Lesern eine tröstliche Botschaft übermitteln: Auch die Hunnen und die Stämme, die sie vor sich hergetrieben haben, werden Rom, «das leben wird, solange es Menschen gibt», nicht in die Knie zwingen, geschweige denn sein Reich zerstören.[9]
Eunapius musste zugeben, dass ihm niemand etwas Genaues über die Herkunft und die früheren Wohnsitze der Hunnen mitteilen konnte. Kein Wunder, dass sich die Sage sehr bald der Deutung bemächtigte, wer diese Hunnen waren, von denen man bisher so gut wie nie etwas gehört hatte. Wie kam es, dass sie plötzlich aus der Steppe im Osten auftauchten, über die Goten herfielen und einen Sturm auslösten, der Europa verheerte? Eine schlichte Erklärung lautete: Die Goten saßen im Westen, die Hunnen im Osten des Maeotissees, des Asowschen Meeres, und beide glaubten, an ihrem Ufer des Sees ende die bewohnte Welt.
Ein Zufall belehrte die Hunnen eines Besseren: Eines Tages wurde die Kuh eines hunnischen Hirten von einer Bremse gestochen. Sie stürmte durch das offensichtlich gar nicht so tiefe Sumpfgebiet des Maeotissees auf die Gegenseite. Der Hirte folgte ihr und entdeckte, dass es jenseits des Wassers noch ein Land gab.[10]
Für den Goten Jordanes, den Verfasser einer Gotengeschichte, hatte das Erscheinen des Hirschs, der seinem Volk zum Verhängnis wurde, ein gotisches Vorspiel. Es sollte die Abstammung der wilden Hunnen und ihr furchterregendes Aussehen erklären und verriet dadurch, dass ihre Gegner sich diese Geschichte erzählten: Nachdem die Goten auf ihrer Wanderung von Skandinavien nach Süden das Schwarze Meer erreicht hatten, entdeckte ihr fünfter König Filimer, dass in seinem Volk einige Frauen Hexen waren, gotisch haliurunnae genannt. Bevor sie Schaden anrichten konnten, jagte der König sie weit weg in einsame Gegenden. Dort streiften sie umher und begegneten unreinen Geistern. Die Frauen hatten Geschlechtsverkehr mit ihnen und gebaren hässliche kleine Nachkommen, die kaum Menschen ähnelten. Sie bedienten sich einer unbekannten Sprache, die nur entfernt an menschliche Laute erinnerte. Diese Geschöpfe wurden die Stammväter der Hunnen, die zunächst völlig abgeschieden im Sumpfgebiet des Maeotissees lebten. Jordanes war der Meinung, die bösen Geister hätten aus Hass auf sein Volk den Hirsch zu den Hunnen geschickt. Auch der Historiker Procopius vermutete, ein Dämon habe den Goten schaden wollen.[17]
Nicht in der Sage, sondern im hellen Licht der Geschichte spielte noch einmal eine Kuh eine Rolle. Sie zeigte den Hunnen nicht mehr neues Land, sondern deutete König Attilas Weltherrschaft an. Zeugen waren römische Gesandte, die sich gerade an seinem Hof befanden: Die früheren Hunnenkönige verehrten ein Schwert, das dem Kriegsgott Ares geweiht war. Es galt ihnen als «Wächter über die Feinde». Lange Zeit war es verschwunden, kam aber auf wunderbare Weise wieder zum Vorschein: Ein Hirte bemerkte, wie eines der Jungtiere in seiner Herde hinkte und eine Blutspur hinter sich herzog. Er ging der Spur nach und entdeckte die Ursache, ein Schwert, auf das die Kuh beim Grasen getreten war. Sofort brachte er seinen Fund zu Attila. Der erkannte, dass ihm mit dem Schwert die militärische Macht verliehen wurde, die ihn zum Herrscher über die ganze Welt machen würde.[18] Man hätte eher den Bogen statt eines Schwerts als Gegenstand kultischer Verehrung vermutet. Wollten die hunnischen Könige den Alanen, ihren alten Gegnern, Konkurrenz machen, bei denen das Schwert als Verkörperung des Kriegsgottes verehrt wurde?[19]
Nach alter Auffassung pflegten sich Katastrophen wie die Niederlage von Adrianopel durch Vorzeichen anzukündigen, genauer: durch Ereignisse, denen die miterlebenden Zeitgenossen – meistens erst im Nachhinein – eine ominöse Bedeutung beilegten. Zu den beiden obigen nachträglichen Sagen kamen nach der Katastrophe von Adrianopel 378 die nachträglichen Voraussagen. Ammianus Marcellinus eröffnete sein einunddreißigstes und letztes Buch mit einer Reihe schlimmer Vorzeichen, bevor er ausführlich auf die Hunnen einging: Man hörte Wölfe heulen; Nachtvögel stießen Klagelaute aus; die Morgensonne verdüsterte sich; bei Aufständen im syrischen Antiochia rief die Volksmenge, Kaiser Valens solle bei lebendigem Leibe verbrennen; die Geister derer, die er hatte hinrichten lassen, stimmten nachts grässliche Totengesänge an und versetzten die Menschen in Angst und Schrecken; eine junge Kuh, die mit durchschnittener Kehle auf dem Boden lag, kündigte eine blutige Zukunft an; schließlich entdeckte man in Chalkedon beim Abriss einer alten Mauer, deren Steine man für ein Bad in der gegenüberliegenden Kaiserstadt Konstantinopel verwenden wollte, einen Quaderstein, auf dem eine Inschrift eben jene kommende Invasion prophezeite: Lanzenkundige Krieger werden die Donau überqueren, das Land verwüsten und Tod und Elend verbreiten.
Nach diesen düsteren Ankündigungen wandte sich Ammianus Marcellinus den Hunnen zu: Sie waren «die Saat des ganzen Elends und der Ursprung verschiedener Katastrophen, die die Kriegsfurie durch eine noch nie dagewesene, alles durcheinanderwirbelnde Feuersbrunst hervorrief».[20] Falls die Sagengeschichten über die vordringenden Hunnen in den Jahren nach 390, als Ammianus sein Geschichtswerk abschloss, schon im Umlauf waren, zeigte er durch sein Schweigen, was er von ihrem Wahrheitsgehalt hielt. Vorzeichen dagegen kamen für ihn, den nichtchristlichen Historiker, wie für die meisten heidnischen Zeitgenossen, von den Göttern.[21] Immer wieder hatte er daher in den früheren Büchern Omina erwähnt.[22]
Auch Christen waren überzeugt, dass ihr Gott sie durch Vorzeichen auf die schlimme Zeit des Hunneneinfalls vorbereitete. Hatte doch Jesus selbst «große Erdbeben, Seuchen, Hungersnöte und furchterregende große Zeichen vom Himmel» prophezeit.[23] Der Kirchenhistoriker Philostorgius blickte um das Jahr 430 schaudernd auf die Katastrophen zurück, die er zu berichten hatte. Die Hunnen hatten daran den größten Anteil, weil sie «ein Morden veranstalteten, wie es noch nie von Historikern überliefert worden war». Zunächst «fielen sie gemeinsam ins Römische Reich ein, und nachdem sie ganz Thrakien durchzogen hatten, plünderten sie das gesamte Europa aus».[24] Die Gräueltaten wurden von Himmelszeichen und Naturkatastrophen angekündigt oder begleitet. Deren Katalog eröffnete Philostorgius mit einem Kometen, der im Jahr 400erschienen war; galten doch Kometen seit je als Unglücksboten. Schon im Jahr 389 war ein riesiger Komet erschienen, zu dem ein Sternenschwarm hinzukam, sodass sich am Himmel ein riesiges Schwert bildete, das 40 Tage lang zu sehen war.[25] Auch der spätere Komet hatte die Form eines Schwerts, das darauf verwies, «dass zu meiner Zeit so viele Menschen ihr Leben verloren, wie das noch keine Epoche erlebt hatte, und eben das kündigte der schwertartige Himmelskörper an. Es ging nämlich nicht nur wie in früheren Kriegen das Kriegsvolk zugrunde, sondern ganze Völker wurden vernichtet, ganz Europa versank im Unglück, nicht wenige Gebiete Asiens wurden mitzerstört, ferner ein Großteil Africas, soweit es der römischen Herrschaft unterstand. Denn das Schwert der Barbaren schuf massenhaft Verderben. Dazu kamen Hungersnöte, Seuchen sowie Scharen von wilden Tieren. Verheerende Erdbeben, die Städte und Häuser von Grund auf zerstörten, trugen mit zum unausweichlichen Verderben bei. An manchen Orten taten sich unter den Bewohnern Erdspalten auf und wurden zum plötzlichen Grab. Überschwemmungen durch Wolkenbrüche und anderswo Dürren durch Hitzewellen und dann wieder Orkanböen verursachten unterschiedliches und unerträgliches Leid. Ja, Hagelkörner prasselten vielerorts herab, die größer als Kieselsteine waren. Denn man hob sie auf und entdeckte, dass sie bis zu acht Normalpfund wogen. Denjenigen, die nicht schon ein anderer Schicksalsschlag hinweggerafft hatte, raubten Schneemassen und ungewöhnlich strenger Frost das Leben und verkündeten zweifellos göttlichen Zorn.» Philostorgius schloss: «Davon im Einzelnen zu berichten dürfte alles menschliche Vermögen übersteigen.»[26]
Umso mehr überraschen andere christliche Autoren. Sie führten die Hunnen als jüngsten und eindrucksvollsten Beweis für die unwiderstehliche Anziehungskraft des Christentums ins Feld. Der Kirchenvater Hieronymus, der sich 396 noch über ihr mörderisches Wüten entsetzt hatte, schrieb vier Jahre später, als er historische Beispiele für ungeahnte Konversionen aufzählte: «Die Hunnen lernen den Psalter.»[27] Noch einen Schritt weiter von der Wirklichkeit entfernt waren zur selben Zeit die Verse des christlichen Dichters Prudentius, der in Spanien weitab von den Geschehnissen war: «Die blutige Wildheit des Hunnen mischt dürstend in ihren vom Blut gesäuberten Becher reine Milch und kostet den heiligen Trank von Christi Blut.»[28] Der Hunne, den Prudentius nach einem von Herodot beschriebenen Steppenvolk «Gelone» nannte, lernte also nicht nur wie bei Hieronymus den Psalter, sondern empfing als getaufter Christ die Eucharistie. Im Kreis der weltweit bekehrten Barbarenvölker, über den der Dichter jubelte und von dem er nur die Juden ausschloss, durften die Hunnen nicht fehlen.[29] Sollten die Aussagen des Kirchenvaters und des Dichters ein Körnchen Wahrheit enthalten, so waren es im besten Fall einzelne Missionare, die zu den Hunnen vordrangen und mit Hilfe von Dolmetschern ihre Lehre verkündeten. Mehr als Kopfschütteln ernteten sie nicht. Sie durften froh sein, wenn sie mit heiler Haut zurückkehren und in der Heimat von ihren Abenteuern berichten konnten.
III
Wie vor ihm Eunapius, Ammianus Marcellinus und Hieronymus machte sich Philostorgius Gedanken über den Ursprung der Hunnen – jenseits von Sagen und Legenden. Auch spätere Historiker beschäftigte die Frage, so Procopius und Cassiodorus, dessen verlorene Gotengeschichte Jordanes benutzte. Merkwürdigerweise kamen selbst die Nachfolger nach mehr als einem Jahrhundert nicht viel weiter als ihre Vorgänger, oder sie begnügten sich mit deren Angaben. Aber in einem Punkt waren sich alle einig: Die Hunnen waren deswegen so wüst und grausam, weil sie aus dem hohen Norden kamen. Ihre Urheimat befand sich am Rand oder in der Nähe des Eismeers, das nach antiker Auffassung Teil des Ozeans war, der den Erdkreis umschloss.[1] Noch für den gallischen Dichter Sidonius Apollinaris im 5. nachchristlichen Jahrhundert war es der Norden, nicht der Osten, der im Jahr 451 Attilas Barbarenhorden über Gallien ergoss.[2]
Der griechische Universalgelehrte Poseidonius hatte im 1. vorchristlichen Jahrhundert eine Theorie weiterentwickelt, die seit dem 5. Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen Klima und Volkscharakter sah: Im kalten Norden sorgen das geringere Sonnenlicht und der Frost, der den Körper zusammenzieht, für ein Übermaß an Blut und führen so zu größerer Tapferkeit. Gleichzeitig verlangsamt die Kälte das Denken. Daher sind Nordländer ohne Rücksicht auf sich selbst immer zu wilden, unüberlegten Kämpfen bereit.[3] Verschiedene Autoren der römischen Kaiserzeit übernahmen diese Theorie.[4] Von den «nordischen Barbaren» sprach in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts der griechische Kirchenlehrer Theodoretus von Kyrrhos.[5] Hatten Griechen und Römer, die glücklichen Bewohner einer gemäßigteren Zone, bisher in den wilden Galliern und Germanen im Norden den Beweis dafür gesehen, dass das Klima den Charakter eines Volkes prägt, so waren nun die Hunnen das jüngste und nächstliegende Beispiel. Ebenso ausgeprägt oder noch schlimmer war deren Lust, Raubzüge zu unternehmen und die Bewohner des Südens auszuplündern, die die Natur besser bedacht und denen sie die Möglichkeit gegeben hatte, ein angenehmeres Leben zu führen. Sich an ihrem Reichtum zu bedienen war nichts anderes als ausgleichende Gerechtigkeit, die selbst die schlimmsten Grausamkeiten rechtfertigte.
Als der Historiker Herodot im 5. vorchristlichen Jahrhundert ausführlich die Skythen oberhalb des Schwarzen Meeres und des Maeotissees beschrieb, bedauerte er vorweg, er habe niemanden getroffen, der ihm aus eigener Anschauung Genaues über die weiter nördlich liegenden Gebiete sagen konnte.[6] Der Historiker Ephorus im 4. Jahrhundert und der Geograph Strabo im 1. Jahrhundert waren noch nicht viel klüger geworden und mussten sich ihr Nichtwissen eingestehen. Als Strabo den in den Maeotissee fließenden Tanaïs, den heutigen Don, erwähnte, die Grenze zwischen Asien und Europa, nannte er zwei Gründe, warum vom Gebiet jenseits seines breiten Mündungsgebiets kaum etwas bekannt war: die Kälte und die Armut des Landes. Dort lebten nur Nomaden, die sich ausschließlich von Fleisch und Milch ernährten.[7] Milch galt seit Homer im 8. Jahrhundert als Hauptgetränk der Nomaden, die daher von den Weintrinkern im Süden gern als Milchtrinker belächelt wurden, die Reiternomaden dazu als Pferdemelker.[8] Später bemerkte Strabo einmal, dass zumindest jenseits des Kaukasus die geographischen Kenntnisse dank der Römer und Parther besser geworden seien.[9] Noch weiter ging dann der römische Senator Symmachus im Jahr 369: In einer Rede auf Valentinian I. schwärmte er in panegyrischer Manier, der Kaiser werde die römische Grenze am Schwarzen Meer in die frostigen skythischen Stammesgebiete und zum eisigen Don vorschieben, und er werde auf den Flüssen die fliehenden Einwohner verfolgen.[10] Noch niemand kannte damals die Hunnen oder ahnte, dass sich in wenigen Jahren für Rom die Lage am Schwarzen Meer grundlegend ändern werde.
Der griechische Dichter und Geograph Dionysius verfasste im Jahr 124 eine Erdbeschreibung in Hexametern und siedelte die Hunnen zwischen Eismeer und Kaspischem Meer an.[11] Der griechische Geograph Claudius Ptolemaeus erwähnte in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts das Volk der Chunoi zwischen den Bastarnern am Unterlauf der Donau und den Roxolanen am Westufer des Schwarzen Meeres.[12] Beide Autoren wurden des Öfteren als die frühesten Zeugen für den Hunnennamen in der antiken Literatur angesehen. Doch Dionysius ist eine unsichere Quelle, weil die handschriftliche Überlieferung mehrere abweichende Namensformen bietet.[13] Genauso fraglich ist, ob die «Chunoi» des Ptolemaeus, die in einer recht vertrauten Region lebten, irgendwie mit den Hunnen zusammenhingen, die um 370 plötzlich aus der Steppe im Norden auftauchten. Nachdem man in späteren Jahren die Eindringlinge zur Genüge kennengelernt hatte, lag es nahe, aus der Namensform «Chunoi», die häufig für sie benutzt wurde, auf eine ethnische Verwandtschaft zwischen den asiatischen und den europäischen Trägern dieses Namens zu schließen. Das tat mit einer gewissen Vorsicht der Geograph Marcianus aus Herakleia zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Er benutzte Ptolemaeus und sprach, ihn ergänzend, von den «sogenannten Chunoi in Europa».[14]
Ammianus Marcellinus bemerkte einmal, darin Herodot und Strabo folgend, dass jenseits der bekannten Völkerschaften um den Maeotissee, den er wie üblich mit dem Eismeer verband, unbekannte Stämme wohnten, «weil sie von allen die ärmsten sind».[15] Der Historiker knüpfte an die Klimatheorie der griechischen Philosophen und ihre Folgerungen für die Nordvölker an, als er später seinen Exkurs über die Hunnen mit der Angabe eröffnete: «Das Volk der Hunnen, das der älteren Überlieferung nur vage bekannt ist, lebt jenseits der Maeotischen Sümpfe am Rand des Eismeers und übertrifft jegliche Art von Wildheit.»[16] Wer mit dem Historiker Thukydides ein großes geschichtliches Ereignis nach vordergründigem Anlass und tieferer Ursache, nach aitía und próphasis, analysierte, der hatte hier die próphasis für den Europa erschütternden Hunnensturm: Es war die Kälte, die die Menschen zu äußerster Wildheit trieb, sowie die Armut, die eine Folge der Kälte war.[17]
Als im Römischen Reich die ersten Nachrichten über die Hunnen eintrafen, verbreitete sich die Meinung, es seien Skythen, die nach Herodot nördlich des Schwarzen Meeres und des Maeotissees zwischen Tanaïs und Borysthenes, heute Don und Dnjepr, siedelten. Am ehesten gehörten sie zu den Nomadenskythen, einem der vier skythischen Stämme, die der Historiker unterschieden hatte.[18] Eunapius, der sich vergeblich bemühte, für die Erstauflage seines Geschichtswerks eine zuverlässige Auskunft über die Hunnen zu erhalten, erwog, ob es sich bei ihnen um die «Königsskythen» handelte, die bei Herodot östlich von den «Nomadenskythen» wohnten.[19] Der Skythenname blieb an den Hunnen hängen. Auch Hieronymus sah in ihnen Skythen, und Priscus, der Besucher an Attilas Hof, wechselte zwischen beiden Namen.[20] Das stiftete bisweilen Verwirrung, weil «Skythen» auch eine gängige Bezeichnung für die Goten war. Ihr Siedlungsgebiet am Schwarzen Meer war für den römischen Dichter Ovid, der dort in der Verbannung leben musste, die «Skythenwelt», der Scythicus orbis.[21] Schon vorher war das Ethnikon «Skythen» zu einem generellen Begriff für Nomaden geworden. Der Kirchenschriftsteller Andreas von Caesarea verfasste im ersten Drittel des 6. Jahrhunderts einen Kommentar zur Geheimen Offenbarung des Neuen Testaments, wo von den endzeitlichen Völkern Gog und Magog die Rede war. Nicht nur Ambrosius, sondern auch andere christliche Autoren hatten in den Siegern von Adrianopel das Volk der Gog gesehen, das der Prophet Ezechiel angekündigt hatte. Der Verfasser der Geheimen Offenbarung schloss an den Propheten an: Am Ende eines ersten tausendjährigen christlichen Reiches wird Satan seinen Kerker öffnen und die Völker Gog und Magog zum Kampf herausführen, «deren Zahl wie der Sand am Meer ist». Dazu bemerkte der Kommentator Andreas: «Einige halten Gog und Magog für die skythischen Stämme aus dem Norden, die wir Hunnen nennen, und die, wie wir sehen, an Zahl und kriegerischer Tüchtigkeit jedem Reich auf Erden überlegen sind.»[22]
Die Massageten waren ein anderes Steppenvolk, das einst östlich des Kaspischen Meeres gelebt hatte. Im 6. Jahrhundert v.Chr. bemühten sich die Perser, sie in ihr Reich einzugliedern, was für Herodot der Anlass war, ihnen eine ausführliche Darstellung zu widmen.[23] Zum letzten Mal kämpfte Alexander der Große gegen sie. Aber wie bei den Skythen, wenn auch nicht so verbreitet, lebte ihr Volksname als Gattungsname für Steppenbewohner aus dem Norden fort und führte bisweilen dazu, eine biologische Verwandtschaft zu konstruieren. So sollen die Alanen Abkömmlinge der Massageten gewesen sein, während der Historiker Procopius, der einige Male von «Massageten» sprach, mit ihnen die Hunnen meinte.[24]
Eunapius war mit seiner vorschnellen Zuordnung der Hunnen zu den Skythen nicht zufrieden. Die Königskythen lebten schließlich in einem Landstrich, der gut bekannt war. Auch waren ihm in der Zwischenzeit Hunnen begegnet, die ein mongolisches Aussehen hatten. Für Eunapius’ Zweitauflage half erneut Herodot weiter: Jenseits der von Skythen bewohnten Ebene – dem Westteil der kasachischen Steppe – kommt man nach einer langen Wanderung durch steiniges und raues Land zu einem Volk, das am Fuß eines hohen Gebirges lebt. In diesem Volk sind Männer und Frauen von Geburt an kahlköpfig, haben platte Nasen und ein breites Kinn. Sie sprechen eine eigene Sprache, kleiden sich jedoch wie die Skythen.[25] Der Historiker beschrieb offensichtlich Menschen von mongolischer Rasse, deren geringe Bart- und Körperbehaarung zu Kahlköpfigkeit verballhornt wurde. Dementsprechend hat man das hohe Gebirge mit dem Ural oder dem Altai identifiziert.[26] Für den Altai spricht dessen langes steiniges und raues Vorfeld: Es ist die Kasachische Schwelle, die sich etwa 1000 Kilometer hinzieht und deren Südteil eine Halbwüste ist. Etwas ratlos nannte Eunapius noch eine dritte allgemeine Möglichkeit: Die Hunnen waren ein Volk, das aus Asien über den Kimmerischen Bosporus nach Europa kam. Eunapius’ Angaben in seinem verlorenen Geschichtswerk muss man dessen späterem Benutzer Zosimus entnehmen, der allerdings die erste und zweite Auflage seines Vorgängers ziemlich flüchtig zusammengezogen hat.[27]
Der Kirchenschriftsteller Orosius folgte im Jahr 417 einer Überlieferung, die die Heimat der Hunnen noch weiter nach Norden verlegte bis in das Quellgebiet des Flusses Ottorogorra und zu der gleichnamigen Stadt.[28] Dem Geographen Ptolemaeus zufolge lag dieses Gebiet am Südende des Emodischen und Serischen Gebirges, des Himalaja.[29] «Von unzugänglichen Bergen eingeschlossen», habe das Hunnenvolk dort lange gelebt, bis es, «von plötzlicher Raserei getrieben», gegen die Goten losstürmte, so Orosius.[30]
Russischen Archäologen zufolge lebten die Vorfahren der Hunnen jenseits des Baikalsees, wo es um die Zeit von Christi Geburt Siedlungen gab, deren größere fast städtischen Charakter hatten und zum Teil ummauert waren. Hier wohnte eine sesshafte Bevölkerung, die von Viehzucht und Ackerbau lebte und die, nach den Grabbeigaben zu schließen, eine ausgeprägte soziale Gliederung besaß. Um 55 v. Chr. teilte sie sich in einen südlichen Verband, der unter chinesische Herrschaft geriet, und einen nördlichen Verband, der nach Westen zog und aus dem später die Hunnen hervorgingen. Aus dem vergleichsweise einheitlichen archäologischen Befund schlossen die Forscher auf ein homogenes ethnisches Substrat.[31] Nach längerer Wanderung erreichte der nördliche Verband das Altaigebirge und die weiter nördlich gelegene Region um den mittleren Jenisei. Denn dort zeigten sich gegen Ende der jüngeren Eisenzeit, um die Mitte des 4. Jahrhunderts, hunnische Elemente.[32] Sie finden sich dann auch an Dnjepr und Donez sowie an Don und Wolga und bezeugen die anschließende Westwanderung ihrer Träger.[33] Die Sprachwissenschaft kam ebenfalls zu dem Schluss, dass die später so genannten Hunnen aus dem Altai aufgebrochen waren.[34] Falls sie dort als Viehzüchter Transhumanz betrieben hatten, fiel ihnen der Übergang zum Nomadenleben in der Steppe leicht.
Schon antike Autoren erklärten, wie oben erwähnt, die Abwanderung von Völkern aus dem Norden mit dem kalten Klima. Der Dichter und Geograph Dionysius bemerkte dazu: Als Pferde, Maultiere und Schafe wegen des Frosts starben, spannten die Bewohner ihre Wagen an und überließen «ihre Heimat den Winterstürmen, die das Land und die baumbestandenen Berge mit tobender Gewalt heimsuchen».[35] Im Klimawandel hat man verschiedentlich auch die Ursache dafür gesehen, dass die Hunnen nach Westen zogen. Meteorologische, geologische und botanische Untersuchungen haben diese Vermutung inzwischen gesichert.[36] Das kälter werdende Klima führte zu Dürren. Eine solche Dürrezeit ließ sich auf die 40 Jahre zwischen 338 und 377 berechnen, denen jeweils Dürreperioden vorausgingen und folgten.[37] Zu den klimatischen Veränderungen kam der militärische Druck von Stämmen, die aus der Mongolei zum Altai vorstießen.[38] Schließlich sollte man nicht das traditionelle Verlangen kriegerischer Bergbewohner unterschätzen, sich bei den wohlhabenderen Bewohnern der Ebene für die karge heimische Natur zu entschädigen. Die Hunnen, die später für ihre Beutegier berüchtigt waren, nahmen dieses Verlangen aus ihrer Heimat mit.
Steppenlandschaft im Altai
Die Bewohner des Altai gehörten zu einem größeren Kulturkreis, der Einflüsse aus dem nördlichen China aufgenommen und sich auch mit Menschen mongolischer Herkunft vermischt hatte.[39] Die Mischung berührt die seit 250 Jahren umstrittene Frage, welche Beziehungen zwischen den Hunnen und den Xiongnu (Hsiung-nu) bestanden, mongolischen Reiternomaden, die mehrere Jahrhunderte lang den Norden Chinas bedrohten. Die Meinung, die Hunnen seien ihre Nachkommen oder zumindest mit ihnen verwandt, wird heute von der Mehrzahl der Archäologen und Sprachwissenschaftler abgelehnt.[40] Wohl aber sind die Bezeichnungen «Hunnen» und «Xiongnu» sprachlich identisch. Daraus folgt, dass beide Namensformen ursprünglich keine Ethnika waren. Sie bezeichneten nur die Reiternomaden aus der Steppe. Die Fremdbezeichnung wurde mit der Zeit zu einem Eigennamen, ein Vorgang, der auch in anderen Fällen zu beobachten ist.[41] Der byzantinische Historiker Agathias, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebte, beschrieb diesen Vorgang bei den Hunnen: «Skythen» oder «Hunnen» war die allgemeine Bezeichnung für alle Stämme, die zwischen Don und Himalaya siedelten, während die Einzelstämme ihre traditionellen Eigennamen hatten.[42]
Die nächstliegende Parallele ist der Name der Alanen, die ebenfalls Nomaden der kasachischen Steppe waren. Ammianus Marcellinus machte dazu in einem Exkurs über die Alanen, der an den Hunnenexkurs anschloss, eine aufschlussreiche Bemerkung: «Diese Alanen, die sich auf beide Erdteile verteilten» – also westlich und östlich des Don, der antiken Grenze zwischen Asien und Europa – «und deren verschiedene Völkerschaften hier nicht aufgezählt werden sollen, gingen, obwohl sie durch weite Räume voneinander getrennt waren und als Nomaden riesige Gebiete durchzogen, im Laufe der Zeit zu einer einzigen Bezeichnung über, und alle wurden nun wegen ihrer Sitten und ihrer unzivilisierten Lebensweise, aber auch wegen ihrer Bewaffnung zusammenfassend Alanen genannt.»[43] «Alanen» war also ein Sammelname für verschiedene Völker, die in einer weiten Region aufgrund der gleichen Lebensbedingungen gleiche Lebensweisen entwickelt hatten. Gegner bekamen auch immer die gleichen Waffen und die gleiche Taktik der Reiternomaden zu spüren. Von gleicher Abstammung und gleicher Sprache sagte der Historiker nichts, schloss sie vielmehr durch den Plural «verschiedene Völkerschaften» (gentes variae) stillschweigend aus. Mit dem Passiv «sie werden zusammenfassend Alanen genannt» (cognominantur) verwies er darauf, dass der Name zunächst eine Fremdbezeichnung war, die sich erst allmählich zu einem umfassenden Eigennamen entwickelte. Sprachliche Parallelen zu «sie gingen zu einer einzige Bezeichnung über» (ad unum concessere vocabulum) deuten dieselbe Entwicklung an.[44]
Wie bei den Alanen wurde bei den Hunnen der Übergang von der Fremdbezeichnung zum Eigennamen dadurch erleichtert, dass sie sich vielleicht bereits im Altai, spätestens aber auf der Wanderung nach Westen zu einem polyethnischen Verband entwickelten. Auf 20 bis 25 Prozent hat man den mongolischen Anteil geschätzt.[45] In solchen Verbänden gab es in der Regel einen Primärstamm oder Hegemonialstamm.[46] Die Hunnen, die aus dem Altai kamen und von dort ihre Sprache mitbrachten, waren ein solcher Primär- oder Hegemonialstamm, der zunächst individueller Träger des Hunnennamens war.[47] Sie waren die «königlichen Hunnen» der späteren griechischen Überlieferung, ein Begriff, der sich an den königlichen Skythen Herodots und den königlichen Sarmaten der Geographen Strabo und Ptolemaeus ausrichtete.[48] Zum Hegemonialstamm der königlichen Hunnen wurden sie, als sich ihnen weitere Stämme oder Teilstämme anschlossen oder unterwarfen und sich ebenfalls «Hunnen» nannten, auch wenn sie ihre ursprüngliche Sprache nicht aufgaben. Daher bezeichnete der Historiker Priscus die Hunnen aus eigener Erfahrung als «buntgemischt». Während seines Aufenthalts bei ihnen hörte er neben Hunnisch noch Gotisch und Latein, zu seiner Überraschung sogar einmal Griechisch.[49] Andere Sprachen in dem Völkergemisch, die er nicht kannte, klangen für seine Ohren wie das ihm fremde Hunnisch, weshalb er sie nicht eigens unterscheiden konnte. Denn schon bei ihrer Westwanderung waren die Hunnen auf Stämme mit völlig unterschiedlicher Sprache gestoßen. Wer die Kasachische Schwelle durchquerte, musste sich, etwa wenn er Handel treiben wollte, sieben verschiedener Dolmetscher bedienen.[50] Besuchte er dann im Süden den Kaukasus, stieß er sogar auf 26 verschiedene Sprachen.[51] Aus den Königshunnen mit der ursprünglichen hunnischen Sprache kamen die militärischen Führer, die später im Westen mit wachsender Macht zu Königen wurden.[52]
«Buntgemischt» sind auch die Schlüsse, die die moderne Sprachwissenschaft aus den überlieferten hunnischen Personennamen auf Herkunft und Einordnung der hunnischen Sprache gezogen hat. Stand das Hunnische dem Mongolischen oder dem Alttürkischen, dem Iranischen oder Bulgarischen nahe? Gab es eine wenn schon nicht ethnische, so doch sprachliche Verwandtschaft mit den Xiongnu? Hatten wenigstens in dem polyethnischen Verband, der 375 die Goten angriff, die hunnischen Stammesteile dieselbe Sprache?[53]
Das ethnische Gemisch des Jahres 375 rät zur Vorsicht, die Hunnen mit anderen angeblich hunnischen Stammesverbänden gleichzusetzen, etwa den Hephthaliten in Baktrien und Sogdiane oder den Chioniten, die sich in den Jahren 357–359 mit den Persern gegen die Römer verbündeten.[54] Procopius nannte die Hephthaliten die Weißen Hunnen. Doch wunderte er sich selbst über die Bezeichnung, weil das sesshafte Volk in Lebensweise, Aussehen und politischen Verhältnissen so gar nichts mit den übrigen Hunnen gemeinsam hatte und noch nicht einmal in deren Nachbarschaft wohnte.[55] Am ehesten erklären sich ihre Beinamen als Erinnerung an die Zeit, als sie aus dem Norden kamen und nach längerer Wanderung eine neue Heimat an der Nordgrenze des Perserreichs fanden. Ihr Beiname ist ein weiterer Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung des Appellativums «Hunnen», das man für Nomaden aus dem Norden und Osten gebrauchte.