Auch hinter den Bergen wohnen Leut -  - E-Book

Auch hinter den Bergen wohnen Leut E-Book

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Beschreibung

Seit 2005 hat sich der Abiturjahrgang des Jahres 1955 jeweils am Wohnort eines anderen Beteiligten getroffen, und jedesmal ist aus den gemeinsamen Erkundungen dort (Museums- und Kirchenbesuchen/Besichtigungen industrieller Betriebe/Wanderungen/Bootsfahrten) ein Buch entstanden, eine Art Klassenbuch. Dieses vorläufig letzte Klassenbuch widmet sich nicht einem bestimmten Ort, sondern den Beteiligten selbst, und versucht darzustellen, wie sie und einige Verwandte und Freunde mit Engpässen und oder schwierigen Momenten in ihrem Leben umgegangen sind: vielleicht ein Lesestoff nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für Kinder, Enkel, Urenkel und andere Interessierte.

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Auch hinter den Bergen wohnen Leut, gewandt im Reden und gescheit

INHALT

EINZELNE BERICHTE

Heimliche Fluchten

Die Blätter fallen

Hamburg-Simtshausen-Genua

Der versteckte Samariter

Freundinnen im Paddelboot

Über dem Kriegerdenkmal

Dieser Krieg war nicht mein Krieg

Geigensaiten

Weihrauch

Seid ihr ein Paar?

Bist du in sie verliebt?

Enkelgeschichten

Sita us vila te in ista berce ins

Niemands Land

Das Telefonat – Reprise

In Alters Frische

Padjelanta – Weites Land

Sandburg

Gemeinsam zuversichtlch

Holzschuhe

Familie, Freunde, Gäste – verzaubern

Von der Natur verzaubert

Ein Traum

Beim Notar

Fröhlicher Abschied im Friedwald

Kartoffelfeuer im Paradiesgrund

STARKE MÄNNER UND FRAUEN

Pierre Marique

ehem. Schiffsingenieur und Sachverständiger, Brüssel

Ernest Jouhy

ehem. Leiter der dt.-frz. Begegnungsstätte, La-Bégude-

Walter Giere

ehem. Leiter Hessische Landeszentrale für politische Bildung

Hermann Benz

ehem. Priester in Paris, Stuttgart und Südafrika

Dorle Obländer

ehem. Kunstschaffende und Lehrerin für Kunst

Lieselotte Stracke-Stieler

ehem. Leiterin eines Gymnasialen Oberstufengymnasiums

Rolf Koch

Ingenieur und Eigner eines Chemischen Unternehmens, Eltville

Frau Schauerte

Hausfrau, Winterberg im Sauerland

LITERARISCHES

Erich Kästner: Der Juni

Erich Fried: Bevor ich sterbe

Sarah Kirsch: Geh unter, schöne Sonne

Robert Gernhardt

:

Ach, noch in der letzten Stunde

Gotthold Ephraim Lessing

:

LIED aus dem Spanischen

Theodor Fontane: Summa summarum

ANHANG

Brief an die Klassenkameraden

Wer hat geschrieben? Wer ist gemeint?

Eine Kleinstadt im äußersten Nordwesten des Bundeslandes. Große Waldgebiete bis hinüber in Gebiete angrenzender Bundesländer, wenig Industrie, wenige Straßen und Eisenbahnlinien.

Das kleine Gymnasium wird besucht vor allem von Söhnen und Töchtern der „Honoratioren“ des Ortes: ein Bürgermeister, einige Kaufleute, Lehrerskinder. Hinzu kommen Fahrschüler aus entlegenen Ortschaften, sogar aus kleinen Orten angrenzender Bundesländer, wo es keine Gymnasien gibt.

Die Oberschule der Stadt ist in ge-wisser Weise „kultureller Mittelpunkt“. Die Lehrerschaft ist nach Kriegsende dorthin versetzt, Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaft, Zugezogene aus fernen Provinzen, einige Einheimische.

Der Umgang untereinander: freundlich-distanziert, kleine Gemeinschaften, die nicht wahlweise entstanden sind und die versuchen, dennoch oder gerade deswegen so gut wie möglich miteinander auszukommen. Wer irgendwie kann, hilft dem nächsten … und jedem wird nach Möglichkeiten geholfen. Einer hat früher einmal mit der ersten „Fremdsprache“ Latein begonnen, hat daher Lücken in Englisch, kann aber seine Vokabel- und Grammatik – Kenntnisse einbringen. Dafür kann er großzügig bei Matheaufgaben abschreiben, bekommt die Geheimnisse dieses Faches erklärt.

Fehlende Sportlichkeit des einen an Reck und Barren wird durch diskrete „Hilfestellungsgriffe“ des anderen kompensiert. Die meisten Sportübungen finden ohnehin aus Platz- und Zeitgründen nicht in der Turnhalle, sondern auf der naheliegenden Wiese statt.

Nach der zehnten Klasse geht fast die Hälfte eines Schuljahrgangs mit der „Mittleren Reife“ von der Schule ab; sie alle werden in elterlichen Betrieben gebraucht. Übrig bleiben die Unentwegten, deren Eltern ein weiteres Fortkommen unterstützen können. Die Klassenstärke schrumpft auf die Hälfte zusammen. In der Oberstufe finden die Verbleibenden Platz in entlegenen Klassenzimmern – sogar in kleinsten Räumen unter dem Dach.

Unser Klassenraum lag obersten Stockwerk der Schule, wo die Dachschrägen den ohnehin kleinen Raum noch weiter einengten. Dort waren wir in den letzten drei Schuljahren untergebracht, drängten uns um die wenigen Plätze, nahmen die Gegebenheiten hin, weil uns eh nichts andres übrig blieb, fanden uns damit ab. Einigermaßen. Manchmal gab es symbolische Fluchten. Eine blieb uns allen besonders in Erinnerung: einer öffnete das einzige Fenster im Raum, stieg auf die Brüstung und von da aus auf das Dach. Freiheit! – Lange konnte er dort nicht bleiben, vor dem Pausenende kam er zurück, zum Beifall aller Verbliebenen. Er hatte etwas gewagt, wonach uns allen oft zumute war: nur raus hier!

Insgeheim hatten wir solche heimlichen Fluchten alle schon versucht. Mit Beginn der Sommerferien würden drei von uns damit Ernst machen, mit dem Fahrrad, nach Süddeutschland, bis in die Alpen. Die Röder hatten keine Gangschaltungen, macht nichts, wir packen das schon! Ein kleines Zelt konnten wir mitnehmen, das würde reichen, wenn wir mal die nächste Jugendherberge nicht erreichen könnten. Also los!

Erstes Ziel war Bamberg. Der Musikalischste von uns hatte erfahren, dass dort im Rosengarten Serenaden-Abende stattfinden. Teure Eintrittskarten: aber wir werden uns schon hineinschmuggeln. – Von da aus nach Nürnberg. Auf der Strecke gab es reiche Beer-enernte, die kam uns gelegen. Und in der bewunderten Stadt fanden wir auch Zugang zum Spielzeug-Museum: welch eine faszinierende Eisenbahnanlage! – Der Weg nach München war lang, nicht an einem Tage zu schaffen. Bei Einbruch der Dunkelheit fanden wir Platz zum Zelten auf einem Grünstreifen an einer Mauer. Viel später erfuhren wir, dass wir an einem der ersten NS-Konzentrationslager genächtigt hatten. Nur weg von hier! – Beim Besuch der Feldherrnhallte in München waren wir ähnlich ahnungslos. Da ging es unserem technischen Interesse mit vielen wiederholten Besuchen im Technik-Museum wesentlich besser.

Der Kirschenklau am Tegernsee war gut für die Verpflegungskasse, nicht so gut für de Magen. Sogar Tage danach konnten wir den Glanz der Wieskirche wegen unserer Darmbeschwerden nicht so recht in uns aufnehmen. – Viel besser ging es uns tagelang in Oberstdorf. Am Ortsausgang hatten wir Zuflucht in einem Heustaderl gefunden und einer von uns war mit dem Mädel Resi so vertraut geworden, dass sie uns regelmäßig mit Verpflegung aus dem Bauernhof versorgte, wo sie arbeitete.

Am Bodensee entlang wussten wir, wie wir unsere Arbeitsangebote zur Apfelernte immerhin so glaubhaft machen konnten, dass wir auch ohne Inanspruchnahme mit Verpflegung weitergeschickt wurden, meistens auch noch mit einem „Sauser“ obendrein, so dass die Weiterfahrt immer langsamer voranging. – Der grandiose Rheinfall von Schaffhausen, und bald war Freiburg im Breisgau erreicht, mit einem Besuch des Münsters und anschließendem Abstecher zum Titisee. Dann merkten wir, dass wir die Ferienzeit um gut eine Woche überschritten hatten und machten uns „eilig“ auf den Heimweg, kamen Tage zu spät in der Schule an und fürchteten entsprechende Sanktionen.

Die Schule hatte längst wieder begonnen, als wir von unserer Tour mit einer Woche Verspätung wieder ankamen. Das würde – so vermuteten wir – einigen Ärger geben. Unser Lateinlehrer Dr. Scheele war der erste „Offizielle“, dem wir begegneten. Er hatte gerade Freistunde und lud uns ein auf die Bank im Garten. Wir fürchteten ein peinliches Verhört. Aber stattdessen wollte er ganz viel Einzelheiten von unserem „Ausflug“ erfahren, aus echtem Interesse – und wir fingen an zu plaudern, eine Stunde lang.

Solche Fragen stellte er:

Habt Ihr die Anschrift von der Resi?

Was wurde im Rosengarten in Bamberg gespielt?

Seid Ihr auch mal mit der Bahn gefahren?

Oder von einem LKW mitgenommen worden?

Haben Eure Eltern gewusst, wo Ihr steckt?

Wie seid Ihr denn darauf gekommen, die Wieskirche zu besichtigen?

Hat es irgendwann auf Eurer Tour auch mal schlechtes Wetter gegeben?

Und dann gingen wir in den Unterricht – und nie wieder hat jemand von den anderen Lehrern gefragt, wo wir denn so lange gewesen waren.

DIE BLÄTTER FALLEN

Mit solchen Worten begann häufig der Unterricht beim „MO“ (unserem Deutschlehrer Dr. Moritz in den Jahren vor dem Abitur). Naja, das ließen wie 17 Jungen uns noch gefallen; warum sollten sie nicht? Aber dann wurde es poetischer, in unserer Sprache „unrealistisch“. Sie „fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten.“

Das vertrug sich nicht mit uns vertrauteren Begriffen wie „Logarithmen, Sinuskurven, Interpolationen…“. „Weghören“ ging auch nicht, dazu war alles Folgende zu interessant.

Und dann war da noch die einzige Mitschülerin in dieser verschworenen Klasse von 18 Fast-Abiturienten. Und auch die hatten wir zu respektieren – wie sie uns. Kaum hatte sie nach Pausenende den Raum betreten, war aller Lärm und vor allem waren viele anzügliche Witze untereinander zu Ende. Jetzt lauschten wir, was sich da zwischen Lehrer und seiner Schülerin entwickelte. „In den Nächten fällt die schwere Erde / aus allen Sternen in die Einsamkeit“. Dahin reichte unsere Phantasie nicht, und wir waren froh, dem sich entwickelnden Gespräch der beiden einigermaßen folgen zu dürfen und teilweise auch zu können.

Manchmal aber überstieg das unsere Bereitschaft und auch unsere Fähigkeiten, und wir waren geneigt, den Erzählungen Gauben zu schenken, nach denen unser „geschätzter“ Lehrer dem Alkohol verfallen sei. Außerdem hieß es verschiedentlich, seine Frau (Er ist also verheiratet?) habe ihn tagelang gesucht.

Möglich? Man weiß es nicht. Aber die Gedicht-interpretationen bewegten sich manchmal in ähnlich „phantastischen“ Bereichen.

Lieber waren uns seine Berichte aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft. Als ehemaliger Offizier war er zusammen mit Gleichgestellten untergebracht, die versucht haben, sich die lange Zeit und Langeweile zu vertreiben und aus diesem Grunde eine „Universität“ zu organisieren. Woher sie denn das Büchermaterial gehabt hätten, wollten wir wissen. Und er fing an, lange Passagen aus Goethes Faust zu zitieren. Diese und andere Texte hätten sie zusammengetragen und aufgeschrieben. Damit wäre genügend Stoff für die Seminare zusammengekommen.

Na denn! Das haben wir alle lieber geglaubt.

HAMBURG-SIMTSHAUSEN-GENUA

Naturwissenschaften: die interessierte mich in der Schule besonders und vor allem anderen. Und es gab glücklicherweise mehrere Lehrer, die diese Flamme nicht nur am Leben hielten sondern gelegentlich heftig entfachten. Da war einer; den wir scherzhafterweise nicht nur bei seinem Namen nannten, weil er für uns den Inbegriff für „weite Welten“ verkörperte. Dabei wohnte er – wie viele von uns – in einer abgelegenen Ortschaft, aber uns fiel dazu nur ein Name ein: „Ham-burg-Simtshausen-Genua“, der seine Verbundenheit mit anderen Weiten symbolisierte, der unsere kleine Welt mit der großen da draußen verbinden könnte.

Es kam vor, dass er die Interessierten von uns nachmittags in die Chemieräume der Schule einlud, wo wir seinen Unterrichts-Vorbereitungen und bei einigen Experimenten zuschauen und gelegentlich auch mitmachen durften. Unvergessen der große Knall, als ein Luft-Gasgemisch explodierte und mehrere Fensterscheiben klirrend zu Bruch gingen.

Oder diese denkwürdigen Mathematik-Stunden, in denen wir die kürzeste Strecke von Hamburg nach New York errechnen sollten. Keiner von uns war auf die Idee gekommen, zuerst nach Norden aufzubrechen, bis er eines Tages an einer mitgebrachter Orange (einer damals noch selten käuflich zu erwerbenden Frucht) und daran aufgezeichneten Orten zeigte, wie die gekrümmten Linien sich verbinden ließen. Unser Einstieg in die sphärische Trigonometrie!