Auch Killer haben Karies - Isabella Archan - E-Book
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Auch Killer haben Karies E-Book

Isabella Archan

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Beschreibung

Ein Kommissar, eine Zahnärztin – und eine Leiche: Die rasante Krimikomödie »Auch Killer haben Karies« von Isabella Archan jetzt als eBook bei dotbooks. Die Hobby-Ermittlerin bohrt nach … So hat sich Leo ihr erstes Date mit dem attraktiven Hauptkommissar Jakob Zimmer aber nicht vorgestellt: Während die Zahnärztin nur in seinen schönen Augen versinken möchte, kracht neben ihr eine Leiche auf das geparkte Auto. War das Ganze ein tragischer Unfall … oder steckt etwa mehr dahinter? Immerhin trägt der Tote eine Perücke und Frauenkleider! Die Hobby-Ermittlerin ahnt bald, dass sie ungewollt in ein perfides Spiel der Täuschung hineingeraten ist: Als ein geheimnisvoller Mann in ihrer Praxis auftaucht, den sie zuvor schon am Tatort gesehen hat, schrillen bei ihr die Alarmglocken: Will ihr etwa der Mörder auf den Zahn fühlen? »Isabella Archan schreibt leichtfüßig, pointiert und mit viel schwarzem Humor«, urteilt der Österreichische Rundfunk. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der humorvolle Köln-Krimi »Auch Killer haben Karies« von Isabella Archan ist der zweite Band ihrer Reihe humorvoller Krimis um Dr. Leocardia Kardiff – die Zahnärztin mit Spritzenphobie. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 448

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Über dieses Buch:

Die Hobby-Ermittlerin bohrt nach … So hat sich Leo ihr erstes Date mit dem attraktiven Hauptkommissar Jakob Zimmer aber nicht vorgestellt: Während die Zahnärztin nur in seinen schönen Augen versinken möchte, kracht neben ihr eine Leiche auf das geparkte Auto. War das Ganze ein tragischer Unfall … oder steckt etwa mehr dahinter? Immerhin trägt der Tote eine Perücke und Frauenkleider! Die Hobby-Ermittlerin ahnt bald, dass sie ungewollt in ein perfides Spiel der Täuschung hineingeraten ist: Als ein geheimnisvoller Mann in ihrer Praxis auftaucht, den sie zuvor schon am Tatort gesehen hat, schrillen bei ihr die Alarmglocken: Will ihr etwa der Mörder auf den Zahn fühlen?

»Isabella Archan schreibt leichtfüßig, pointiert und mit viel schwarzem Humor«, urteilt der Österreichische Rundfunk.

Über die Autorin:

Isabella Archan, 1965 in Graz geboren, lebt als Schauspielerin und Autorin humorvoller Kriminalromane in Köln. Neben Theaterengagements ist sie immer wieder in Rollen in Film und Fernsehen zu sehen, u. a. im »Tatort« und in der »Lindenstraße«. Ihre »MordsTheater«-Lesungen erfreuen sich großer Beliebtheit.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre humorvolle Krimireihe um die Hobbyermittlerin Dr. Leocardia Cardiff: »Tote haben kein Zahnweh«, »Auch Killer haben Karies« und »Der Tod bohrt nach«.

Die Website der Autorin: www.isabella-archan.de

Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/archankrimis/

Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/isabella_archan/

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eBook-Neuausgabe Februar 2023

Copyright © der Originalausgabe 2017, Emons Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Adobe Stock/SimpLine

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-583-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Isabella Archan

Auch Killer haben Karies

Kriminalroman

dotbooks.

Wenn man keine Zähne mehr hat,

kommen die besten Beefsteaks.

Auguste Renoir

TEIL 1

INDIVIDUELL VORANGEHEN

Kapitel 1

Ebbi liebte ihren Mörder.

In der leeren Wohnung hatte sie ihn schon hören können, obwohl er sich bemühte, leise auf dem Parkett aufzutreten.

Tanzen hätte man hier drinnen können, dachte sie, in diesem großen Raum, noch jungfräulich ohne Möbel, mit Blick auf den Rudolfplatz, das Getümmel da unten an der Haltestelle neben der Hahnentorburg und auf dem kleinen Trödelmarkt, der dieses Wochenende davor stattfand.

Dieses große Bedauern schlich sich ein, das sich schon in den letzten Wochen immer wieder zwischen ihren euphorischen Schüben gezeigt hatte. Bedauern darüber, alles erst so spät und mit solcher Vorsicht auszuleben, dass es schon mehr einem zarten Heben des Zeigefingers als einem schrillen Coming-out glich.

Sie zupfte an ihrem engen Rock, wechselte das Spiel- zum Standbein. Drehte sich nicht um.

Kein Blick zurück, das würde es leichter machen.

In der großen Fensterscheibe spiegelte sich im Licht der Vormittagssonne ihr halbes Gesicht. Die getuschten Wimpern am linken Auge, das Rouge unterhalb der Wangenknochen, der halbe rote Mund. Die andere Hälfte blieb im Glas verschwommen wie unter einer Wasseroberfläche, auf die ein Lichtstrahl trifft. Halb und halb. Ein Mensch und ein Engel, gepaart. Ein so hübscher Gedanke.

Ein bisschen irdisch böse und himmlisch gut. Ein wenig wie Two Face aus den Batman-Comics – der Vergleich hätte ihrem Sohn besser gefallen. Comics und PC-Spiele, der einzige Zugang zu ihm, eine Gemeinsamkeit in den schwierigen Jahren der späten Pubertät. Sie grüßten sich und lebten unter einem Dach, viel mehr oft nicht.

Sie schüttelte schnell den Kopf, die klare Hälfte in der Fensterspiegelung tat das Gleiche. Nur jetzt nicht daran denken.

Leises Klack, Klack, Klack und noch einmal, noch leiser, Klack, Klack, Klack.

Die Schritte hinter ihr kamen rhythmisch näher.

Walzer könnte es sein oder besser Bolero, der klassische erotische Balztanz. Das Wort Erotik ließ Ebbi kurz zittern. Was für Träume sie gehabt hatte. Was für Pläne. Wie viele Stunden verloren in einer inneren Phantasiewelt, die ihr im realen Leben jetzt fehlten. Nicht ausgelebte Sehnsüchte direkt in den Sarg gelegt statt der üblichen Blumen. Doch unfair, wenn sie es näher betrachtete. Unfair dem Rest des halben Lebens gegenüber, das ihr noch hätte bleiben können.

Nein, die Entscheidung war gefallen. Alea iacta est. Ihre Würfel wohl auch.

Straßenlärm drang von unten hoch, leise wogend wie die näher kommenden Schritte.

Da unten kauften die Leute ein, begannen ihr Wochenende mit einem Bummel durch die Mittelstraße Richtung Fußgängerzone, trödelten sich durch die Stände, holten sich noch ein Duschgel oder ihren Lieblingsaufstrich beim dm an der Ecke, der eine aß vielleicht schon seine erste Currywurst, der andere trank einen Milchkaffee, dazu ein frisches Brötchen. Banal, alltäglich, ohne Verstellung, ohne Panik vor einer finalen Geheimnislüftung, oder manch einer doch beseelt von dem Wunsch danach. Bummeln, plaudern, flirten, shoppen – oh, der Herbst ist da, Liebes, ich brauche noch einen neuen Mantel für den Winter …

Es wird mir doch fehlen, die Banalität meines Alltagslebens, so schwierig es auch in den letzten Jahren war, dachte sie.

Hinter ihr waren die Schritte zum Stillstand gekommen. Der Hauch eines Atems berührte sie am Nacken. Sie erwartete, ein zweites halbes Gesicht auf der Scheibe vor ihr auftauchen zu sehen, aber da war nur eine Bewegung im Schatten ihres Kopfes.

Umdrehen, wegrennen, schreien.

Der Überlebensinstinkt meldete sich, spontan, wuchtig. Ebbi schluckte – und schluckte ihn hinunter. Er blieb in ihrer Kehle stecken, und sie musste sich räuspern.

»Hey.«

»Auch ein Hey!«

Die Stimme hinter ihr war sanft. Fast liebevoll.

Im Gegenzug bohrte sich eine Faust in ihren Rücken, drückte gegen ihre Wirbelsäule. Sie schwankte nach vorn, ihr halbes Gesicht in der Scheibe tauchte in die Verschwommenheit des Sonnenstrahls ab, wurde zu einem reinen Engel aus Licht. Der Lärm von unten schien zuzunehmen, oder war das Rauschen in ihren Ohren nur die Angst vor dem, was kommen würde?

Sie wusste es. Wusste es und war trotzdem gekommen. Das konnte nur Liebe sein.

Ihr Schwanken wurde durch eine zweite, viel weichere Berührung an ihrem Oberarm gestoppt. Sie sah einen Moment hin. Handschuhe, natürlich. Schwarz und elegant. Es passte.

»Knie dich hin, Kleines!«

Kleines?

Ein Lachen schoss spontan und schnell aus ihrem Mund, hallte in dem Raum, umrundete sie beide, hüllte sie ein.

Jetzt wurde ihr Bedürfnis, sich doch noch umzudrehen, übermächtig. Umdrehen, den anderen in die Arme nehmen und tanzen. Schwingen auf dem Parkett, geführt werden, sich gehen und drehen lassen. Und am Ende vielleicht ein Kuss. Ein Kuss, nur um mit solchem Geschmack zu gehen und Danke zu sagen. Oder konnte die Liebe alles noch stoppen, am Ende eine Begnadigung erwirken?

Als hätte der Hintermann ihre Gedanken gelesen, ließ der Druck in ihrem unteren Rücken nach. Stattdessen streichelten Finger mit Stoff verhüllt über ihren Nacken, leicht wie eine Herbstbrise, bevor die Stürme des Winters kommen. Stoff über der Haut, glatt, etwas kühl, kein Leder, vielleicht Seide?

Sie beugte den linken Fuß zuerst, schwankte wieder etwas in den ungewohnten Schuhen, musste sich mit der linken Hand abstützen am Boden, fühlte das Parkett an ihrer Handfläche, es war hart und glatt zugleich. Poliert. Sauber. Ihr rechtes Knie folgte, und der enge Rock rutschte nach oben, gab ihre Schenkel in den schwarzen Strümpfen frei.

Hinter ihr hörte sie das Atmen schneller werden.

Es ist doch ein Liebesakt, dachte sie wieder, es muss Liebe sein, denn nur Liebe ist fähig zu so einer Tat.

Das nächste Geräusch war ein Wischen, dann klatschte etwas weich auf den Boden. Der Tanz konnte beginnen.

Der Gedanke an das Sterben tat weh wie ein Stoß in den Rücken.

Ihr Herz pumpte schneller, für den Bruchteil einer Sekunde war der Überlebenswille zurück, bäumte sich wieder auf. Nach all den Jahren sollte es ihr doch gestattet sein, endlich ihre wahre Natur zu genießen. Eine Stunde noch, einen Tag, vielleicht, wenn sie alle Brücken hinter sich abbrechen würde, ein Jahr. Dann konnte ihr geliebter Mörder immer noch seinen finalen Liebesbeweis an ihr vollbringen.

Eins, zwei drei – eins, zwei, drei.

Walzer, nein, Bolero. Erotik und bitte, bitte, bitte Sex. Sex, den sie in Gedanken seit Jahrzehnten lebte, endlich, bitte endlich wirklich fühlen. Es war zu früh zum Sterben. Mörder. Hör mich an. Halt. Nicht hier, nicht heute, nicht dein »Kleines« töten.

Ebbi hob den Blick und sah jetzt doch eine neue Spiegelung in der Scheibe. Zwei Arme, die nach oben gingen, eine elegante Bewegung, hoch und wieder schnell nach unten.

Stopp! Schrie sie oder wollte sie schreien. Ihre Zehen verkrampften sich in den ungewohnt engen Schuhen, ihre Knie drückten sich gegen das Parkett, bereit, wieder zum Stehen zu kommen.

Doch der andere, der Schatten, der Mörder mit all seiner Liebe im Herzen, war schneller.

Vor ihren Augen huschte ein Streifen vorbei, eine Linie, ein braunes Stück Stoff oder Leder oder Schnur, um sich im nächsten Moment um ihren Hals, ihre Kehle zu legen und sich zusammenzuziehen.

Der Schmerz kam.

Ein Brennen, ein Stechen, ein heller Blitz an ihrem Kehlkopf.

Damit hatte sie nicht gerechnet.

Nicht mit dieser aufbrausenden körperlichen Qual, nicht mit solch einem irren Tanz.

Endlich stemmten sich ihre Knie vom Boden hoch. Sie war groß, sie war stark, sie würde sich zur Wehr setzen können. Ihr Becken hob sich, ihr Bauch kam nach vorn. Ihre Arme fuchtelten nach oben und nach hinten, versuchten, den Würgenden zu fangen, zu greifen, abzustoppen.

Im selben Augenblick zog der Mörder sie mit seinem Gewicht nach hinten, ihr gesamter Körper kam in eine schräge Lage, kippte, rutschte ab. Der Schmerz am Hals nahm zu, dimensionierte sich, war wie glühende Kohle auf nackter Haut.

Hilfe!

Das musste sie schreien. Hilfe und Polizei und rettet mich!

Sie riss den Mund auf, zwang die Lippen auseinander, doch statt eines Wortes oder Tones war da nur ein Gurgeln, ein Krächzen, ein seltsamer außerirdischer Laut, der sich wie der hochfrequente Ton einer Hundepfeife anhörte, den nur sie allein hören konnte und der sich in ihre Ohren fraß und von dort weiter in ihren Kopf.

Jetzt fiel sie.

Ihr Körper konnte die Schräglage nicht halten, er rutschte nach hinten und unten, und ihr Gesäß knallte auf den Boden. Auch das ein Schmerz, aber schon dunkel, wie von fern.

Irre Gier nach Luft erfasste sie.

Sie musste jetzt atmen. ATMEN.

Bitte, Hilfe und Luft und Atem und Rettung und Leben.

Jetzt, da es zu Ende ging, bitte, Leben, nur einen Tag, eine Stunde, eine Sekunde länger noch.

Ihre Finger hörten auf, nach dem Würgenden zu suchen, suchten stattdessen das Band, den Streifen, die Schnur um ihren Hals, wollten sich dazwischenquetschen, in eine Lücke zwischen Haut und Qual, doch sie fuchtelte nur wild in der Luft, schaffte es nicht, an die Stelle heranzukommen. Sie fühlte, wie sich ihr Kehlkopf nach innen drückte, ihr Hals wie in einem Mieder enger und enger geschnürt wurde.

Ihr Mund öffnete sich wie von selbst weiter, sie merkte, wie ihre Zunge nach vorn getrieben wurde, spürte den Druck hinter ihren Augäpfeln. In ihrem Kopf entstand das Bild, das ein Außenstehender von ihr haben musste, und Tränen, ob vom Würgen oder der erschreckenden Erkenntnis, schossen nur so aus ihren Augen, die immer noch das Fenster vor sich sahen, nichts spiegelte sich mehr darin. Kein Licht, kein Engel, nur blankes Glas. Da der Blick zur Hahnentorburg, ganz obenauf wehende Fahnen, die näher zu kommen schienen, eine Vergrößerung des sichtbaren Ausschnittes. Näher bis zum Fenster herein, nur um im selben Moment wegzuspringen und ganz klein zu werden unter einem Stück blauen Himmel.

In ihrem Kopf tauchten Farben auf, Formen mit allen möglichen Winkeln, und wie im Rausch kamen mehr Bilder, innere jetzt, keine Rückschau auf ihr Leben, aber Bilder von ihrem letzten Blick in den Spiegel, bevor sie in diese leere Wohnung gekommen war, bereit für ihren letzten Tanz mit dem Tod.

Hübsch hatte sie sich gefühlt, fremd, aber hübsch. Grob, aber doch auch auf eine seltsame Weise anziehend, ganz neu und doch wie lange ersehnt, erwartet. Aus dem Ei geschlüpft. Sie hatte sich über die Taille gestrichen, da fehlte noch ein Mieder, das ihr Form geben würde, ihre Beine sahen besser aus als befürchtet im engen Rock und in den schwarzen Strümpfen, die hohen Schuhe machten sich bezahlt. Nur oben, da bei den Brüsten, hatte sie es nicht gewagt, hinzugreifen, hätte dort die Illusion zerstört, begnügte sich mit dem Schauen. Hatte die Verwandlung genossen. Sich die Lippen nachgezogen, das ungewohnt viele Haar geordnet. Ein scheues Lächeln probiert.

Sie merkte, dass der Schmerz verebbte. Verblasste wie ihr Wunsch, doch weiter am Leben zu bleiben.

Keine Zeit, keine Luft, kein Atem mehr.

Ihr Kopf ging nach hinten, und jetzt konnte sie über sich eine Kontur sehen, eine Manifestation ihres Mörders, nicht mehr klar, aber Form und Rundungen.

Tanz mit mir, sagte Ebbi. Oder dachte sie. Oder träumte sie, schon in die Arme von Schlafes Bruder gleitend.

Klack, klack, klack.

Eins, zwei, drei.

Walzer.

Oh nein.

Bolero.

Kapitel 2

»Wenn man bei der Polizei arbeitet, kennt man auch nicht wirklich Zeiten wie Wochenende oder Brückentage, nicht mal Feierabend, aber dafür bekommt man, vielleicht nicht jedes Mal, aber oft …«

Mein Magen knurrt. Oh du Schande, und das so laut, dass man es sicher noch bis an die Nachbartische hören kann.

Schön, wir sitzen draußen. Es ist vielleicht einer der letzten schönen Septembervormittage. Alles also wunderbar, es ist Samstag, und das Café Rico am Rudolfplatz ist knallvoll. Wir haben die letzten zwei freien Plätze an der Ecke ergattert.

Ich habe heute Morgen nur Wasser getrunken, damit mein Bauch nicht so über meine Jeans quillt, noch keinen Schluck Kaffee, und statt meinem Gegenüber zuzuhören, kann ich nur an Koffein und Kalorien denken.

Mein Magen knurrt lauter.

Die Bedienung nähert sich. Endlich. Gott sei Dank. Es ist unsere Bestellung. Her damit, aber flott.

»So, hier Ihr Frühstück. Sorry, ganz schön viel los heute … aber da bin ich. Alles in Ordnung. Ja?«

Ja, eigentlich alles mehr als in Ordnung.

Ja, ich sitze mit einem gut aussehenden Mann beim Brunch.

Ja, die Sonne scheint, und dieser gut aussehende und auch ganz gut gebaute Mann hat mich heute Morgen bei der Begrüßung auf den Mund geküsst.

Na ja, in Wahrheit konnte ich mich nicht entscheiden, welche Backe ich ihm hinhalten soll, und da sind seine Lippen auf meinen Lippen gelandet. Peinlicherweise hatte ich Lipgloss darauf und habe gesehen, wie er sich klammheimlich mit seinen Fingern die Lippen gerieben hat.

Leo, Leo, das hast du mal wieder verbockt.

Aber sonst alles, alles schön und wunderbar!

Es ist Samstag, es scheint die Sonne, und der Mann ist noch hier. Sieht mir in die Augen und –

»Oh mein Gott, das tut mir jetzt aber leid.«

Es wird plötzlich nass über mir.

Die Kellnerin hat auf ihrem Tablett ein Kännchen Milch umgestoßen, das für den Nachbartisch bestimmt ist. Klar, die Milch rinnt über das Tablett und auf meine Brust, klar, ich habe mich entschlossen, heute die schwarze Jacke anzuziehen, auf der die weiße Milch gut rüberkommt.

Ich könnte die Kellnerin spontan erwürgen.

Nein, besser nicht, mir gegenüber sitzt ja Hauptkommissar Jakob Zimmer von der Kölner Mordkommission. Da würden schnell mal die Handschellen klicken.

Ich sehe ihn vor mir, wie er mich mit seinen Handschellen an die Pfosten meines Bettes fesselt. Nackt.

Oh mein Gott, Leo!

Eine schnelle kleine Selbstohrfeige löst das Problem mit meiner erotischen Phantasie. Die Kellnerin sieht mich kurz an, als ob ich eine Außerirdische wäre. Jakob Zimmer grinst schief, er kennt das schon.

»Kein Problem, so eine Milchtaufe ist mal was Neues«, sagt er, und die Kellnerin lacht, gibt mir eine Serviette. Ich lache auch, etwas unecht zwar, aber noch in angemessener Lautstärke. Alles ist wieder »normal«.

Er hat mich gerettet.

Mein Held.

Gerettet hat mich Jakob tatsächlich. Nicht hier und jetzt vor dem skeptischen Blick der Kellnerin, sondern vor einem Mörder, der mir an den Kragen wollte.

Warum muss ich gerade jetzt wieder mal daran denken?

Hatte ich nicht eben das Gefühl, dass eigentlich alles in bester Butter ist? Ich meine, in bester Ordnung. Selbst in meinem eigenen Kopf muss ich mich korrigieren.

Bescheuert.

»… in den Herbstferien?«

So, jetzt hat mein Ameisenhaufen von Gedanken wieder so viele kleine Krabbeltierchen auf den Weg geschickt, dass ich keine Ahnung habe, wovon Jakob gerade redet.

»Was?«

Meinen fünfzehnjährigen Zwillingstöchtern predige ich immer, mit »Bitte?« nachzufragen, nur so viel dazu.

»Luise und Nathalie, deine Töchter, werden sie die Herbstferien bei ihrem Vater verbringen?«

Zwei Sachen schießen mir quasi gleichzeitig durch den Kopf.

Eins: Hat Jakob das jetzt gefragt, weil er vielleicht in unserem nun schon fast ein halbes Jahr dauernden Flirt weitergehen und mit mir ein paar Tage wegfahren möchte? (Handschellen … nackt … Doppelbett am Kamin … rein gedankliche Ohrfeige!)

Zwei: Ich würde jetzt für einen großen ersten Schluck Milchkaffee und einen Bissen in dieses frische Croissant vor mir auf dem Tisch tatsächlich töten. Selbst vor dem Mann von der Kripo. Ich muss was in den Bauch kriegen. Jetzt!

Ich entscheide mich für den Multitasking-Weg: Tasse anheben. Lächeln.

Er lächelt zurück. Gott, seine Grübchen sind allerliebst.

Allerliebst, was für ein Wort. Dafür würden mich jetzt meine Töchter killen.

Pscht! Schluss mit Mord und/oder Totschlag.

Nahtlos den ersten Schluck nehmen.

Göttertrank!

Herrlich.

Nahtlos antworten. Kurz und schnell. Während ich das Croissant anhebe.

»Ja, doch!«

Und: hineinbeißen.

Götterspeise!

Mehr davon.

»Die Zahnärztin mit dem Super-Biss!« Jakob hebt seinerseits seinen Latte macchiato an und zwinkert mir zu. Seine blonden Haare stehen ihm wie immer zu Berge, und in seinen Augen schimmert es etwas erotisch.

Gott, ich könnte ihn hier auf dem Tisch nehmen.

Pscht! Schluss mit Sex- und/oder Wann-werden-Jakob-Zimmer-und-ich-endlich-weiter-gehen-als-nur-küssen-Gestammel.

Ich verschlucke mich und muss husten. Heftig. Jakob klopft mir auf den Rücken. Von Multitasking und erotisch zu peinlich und banal in nicht mal drei Sekunden.

»Wie läuft es in der Praxis?«

Ich könnte ihn für den Themenwechsel küssen. Ohne Lipgloss.

»Eigentlich super.«

»Eigentlich?«

»Nun ja, du weißt doch, wie oft mein Name und auch die Praxis in der Presse und im Internet in den letzten Monaten aufgetaucht sind.«

»Aber das ist doch längst Schnee von gestern.«

Im Netz bleibt alles für immer, würden meine Töchter ihm jetzt widersprechen. Obwohl das Interesse auch blitzschnell wieder abflauen kann. Fünfzehn Minuten Ruhm wären erträglich gewesen.

Jakob fährt sich durchs Haar. Süß. Allerliebst.

»Diese Nachrichten oder Posts kommen sicher nicht von der Polizei. Mein Team ist diskret.«

Sein Team.

Er spricht das immer so aus, als ob die drei seine Familie wären. Bei dem, was er zu tun hat, stimmt das sicher auch. In den Monaten, seit der Mörder der Pudding-Witwe Hedda Kernbach im Knast sitzt, habe ich es nur sieben Mal geschafft, mich wirklich mit dem Hauptkommissar meines Herzens zu verabreden. In der anderen Zeit hat er Fälle gelöst. Mit beachtlichem Erfolg, auch das ist in der Presse und im Internet nachzulesen.

Hauptkommissar meines Herzens. Sieben Dates. Nix passiert.

Meine Tochter Luise hat ihren ersten Freund schon nach vier Treffen geküsst. Und wer weiß, wie weit sie mit ihm bereits gegangen ist. Ich kann nicht fragen. Das würde sie ihrer Mutter ohnehin nie erzählen. Meine Nathalie ist viel mehr Kind als ihre Schwester, hat nur einen Schwarm in der Nachbarschaft, da läuft sicher noch überhaupt nichts. Wie unähnlich sich meine Zwillinge sind, nicht nur äußerlich.

»Erde an Leo. Hallo.«

Oh, wieder zu viel gedacht. Kann ich das denn nicht wenigstens für ein paar Minuten lassen?

»Entschuldige. Also, weißt du, die meisten neuen Patienten, die nur wegen des Medienrummels aufgetaucht sind, sind tatsächlich geblieben.«

»Is doch super!«

»Hier kommt mein eigentlich. Ich schaff das allein nicht mehr. Brauche zumindest einen neuen Zahnarzt, der mich unterstützt.«

»Und was ist dabei das Problem?«

Ich könnte Jakob jetzt sagen, dass ich es seit dem Ausscheiden von Dr. Frederic Lang nicht geschafft habe, einem anderen Zahnarzt zu vertrauen. Egal, ob männlich oder weiblich. Bei allen Bewerbungsgesprächen sehe ich eine Spritze in der Hand vor mir, die aus einem weißen Kittel hervorragt.

Spritze! Scheiße, das musste ja jetzt kommen. Dass ich an mein größtes Problem denke, meine Spritzenphobie.

Ich, als Zahnärztin.

Leocardia Huberta Kardiff, du bist einfach unrettbar verkorkst.

Fehlt nur noch, dass ich hier einen Schweißausbruch bekomme oder mir schwindlig wird.

»Ist das Gespräch mit mir so langweilig, dass du dich wegträumen musst?«

Ich schüttle schnell den Kopf. Meine blonden Locken fliegen von rechts nach links.

Jakob grinst mich an und hebt seine Tasse. »Auf uns! Leo!«

Ich mag es, wie er die Kurzform meines Namens ausspricht. Noch nie hat er mich Leocardia genannt, das ist wunderbar. Dr. Kardiff, ja, das schon, damals bei dem Verhör, nein, der Befragung, als ich mich in die Ermittlungen um den Mord an der netten alten Hedda Kernbach eingemischt habe. Brrr, da läuft mir jetzt noch eine Gänsehaut über den Rücken.

Jetzt ist aber Schluss, Leo. »Dir auch ein Prost, Jakob!«

Die Sonne scheint. Es ist Samstag.

Ich habe frei.

Ich bin frei.

Mein Gegenüber ist ein gut aussehender Singlemann. Ich selbst gerade noch vierundvierzig. Im besten Alter einer erwachsenen Frau. Bitte, lieber Gott oder liebes Universum, lass mich vor meinem Fünfundvierzigsten Sex haben.

Gleich heute.

Na ja.

Vielleicht heute.

Wir stoßen mit unseren großen Kaffeetassen an. Der Milchschaum darin schwappt hin und her. Wir lächeln uns an. Meine Töchter sind heute bei ihrem Vater. Mein Haus leer. Später könnten wir zu mir. Hört sich zu gut an.

»Oh mein Gott!«

Ja, an den habe ich auch eben gedacht.

Die Kellnerin ist zurück an unseren Tisch gekommen, ich habe sie gar nicht bemerkt. Sie hat zwei Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft in der Hand, der hat bei unserem Frühstück für zwei noch gefehlt. Statt die Gläser an unserem Tisch abzustellen, steht sie da mit offenem. Mund und erhobenem Kopf, sieht nach oben, über die Straße nach oben, zum Haus gegenüber vom Café Rico.

»Oh mein Gott!«

Noch einmal derselbe Satz, diesmal lauter. Fast ein Schrei.

Eine zweite Gänsehaut huscht über meinen Rücken.

In dem Moment fällt ein großer Brocken herunter.

Ein Sack oder eine Puppe fällt wie vom Himmel herunter und kracht auf das Dach eines der geparkten Autos.

Neben uns schreckt ein anderes Pärchen hoch. Synchron. Gegenüber bleiben die Passanten stehen. Eine Mutter mit einem kleinen Kind, keinen Meter von dem Auto und dem gefallenen Gegenstand entfernt, springt zurück, reißt das Kind mit nach hinten.

Jetzt fängt die Kellnerin neben mir zu schreien an. Die Gläser mit dem Orangensaft fallen ihr aus der Hand, und in genau diesem Moment beginnt in meinem Kopf alles in Zeitlupe abzulaufen.

Der Schrei dehnt sich.

Die Gläser fallen.

Das Pärchen neben mir springt hoch. Wieder in einer fließenden gemeinsamen Bewegung wie Synchronschwimmer.

Die Passanten gegenüber erstarren.

Die Mutter nimmt das Kind in ihren Arm, umschlingt es, hält ihre beiden Arme um seinen Kopf.

Neben mir stellt Jakob die Kaffeetasse achtlos auf den Tisch, der Schaum schwappt über. Auch er springt hoch, der Sessel kippt halb nach hinten, fällt aber nicht um. Jakob macht eine Drehung weg von mir, macht ein paar große Schritte über die schmale Straße, ist an dem Auto, auf das der Sack, der Gegenstand, die Puppe, gefallen ist.

Nur dass es weder das eine noch das andere noch das Dritte ist.

Es ist ein Mensch.

Ein Mensch ist aus einem der oberen Stockwerke gegenüber gesprungen. Oder gefallen. Ist auf das Auto gekracht.

Jetzt schreit nicht mehr nur die Kellnerin.

Die vielen Schreie lassen die Zeit wieder in ihrem normalen Tempo laufen, und um mich herum bricht Panik aus. Viele springen jetzt auf und hoch, ein paar laufen Jakob über die Straße hinterher. In dem Moment dreht sich Jakob um und winkt in meine Richtung. Er winkt nicht nur, er wedelt wild mit einer Hand, die andere ist an seinem Ohr, er hat sein Handy an seinem Ohr, er telefoniert. Hauptkommissar Jakob Zimmer telefoniert. Schlägt Alarm. Und hält Ausschau nach mir.

Klar, ich bin Ärztin.

Zahnärztin zwar, aber ich bin die, die jetzt gebraucht wird.

Die Erste Hilfe leisten kann und muss.

Schlagartig wird mir bewusst, dass ich es in den nächsten Sekunden vielleicht wieder mit einem Toten zu tun haben könnte.

Nein, mit einer Toten.

Ich kann langes Haar erkennen auf dem Kopf des Körpers, der seltsam verrenkt auf dem Dach des geparkten Autos gelandet ist. Einen Rock, hochhackige Schuhe an den Füßen, meinen eigenen High Heels nicht unähnlich. Komisch, dass die beim Fallen nicht von den Fersen gerutscht sind.

Dann wird mein Blick auf das Szenario von all den Leuten verdeckt, die sich schon um den Unfallort zu sammeln beginnen. Ich sehe einen vor mir, der sein Smartphone hebt und fotografiert oder filmt.

Ich stehe auf.

Es ist Samstag.

Mein siebentes Date mit Jakob.

Die Sonne scheint.

»Ich bin Ärztin, lassen Sie mich durch.«

Wie laut und kompetent meine Stimme klingt.

Kapitel 3

Der Streifenwagen hatte Hauptkommissarin Birgit von Zeh am Hohenzollernring abgesetzt, sie musste sich zuerst durch den Trödelmarkt, dann durch die Gaffer kämpfen. Als sie als Letzte vom Team zum Tatort in der Mittelstraße/Ecke Pfeilstraße kam, hatte sie schon große Probleme, über den Rudolfplatz zu kommen. Die Schaulustigen hatten sich wie Bienen an einer Wabe um den abgesperrten Tatort festgesetzt.

»Hey, hinten anstellen«, schnauzte ein bulliger Mann sie an, als sie sich an ihm vorbeiquetschte.

Für Sekunden war sie versucht, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen, um ihm einmal zu zeigen, was das zartere Geschlecht bei Typen wie ihm so draufhatte, aber sie beherrschte sich, es ging hier nicht um ihr Ego. Schnell zückte sie ihren Polizeiausweis, und das jedenfalls reichte, um den Bulligen zurückzucken zu lassen.

Dann war sie am Absperrband, und einer der Streifenpolizisten, die zusätzlich den Tatort sicherten, warf dem Bulligen einen bitterbösen Blick zu und ließ sie sofort durch. Dort, wo die Mittelstraße auf den Rudolfplatz stieß, konnte sie schon die Kollegen von der Spurensicherung sehen, die sich um ein Auto, einen Mini mit völlig eingedelltem Dach und geborstener Frontscheibe, herumtummelten.

Von ihrem eigenen kleinen Team keine Spur. Ebenso kein abgedeckter Körper zu sehen. Auf der schmalen Querstraße stand ein Leichenwagen, dessen Rückfront komplett mit einer weißen Tuchplane umspannt war. Sie vermutete, dass sich dahinter das Opfer auf der Bahre befand, sicher war jemand aus der Rechtsmedizin bereits anwesend und an der Leiche zugange.

Sie machte drei weitere Schritte, da zupfte sie jemand am Ärmel. »Hallo!«

Wirre blonde Locken, riesige blaue Augen und ein verstörtes Lächeln auf den Lippen, das alles kam Birgit doch bekannt vor.

»Die Zahnärztin?«, kam es etwas unpassend aus ihrem Mund gerutscht. Birgits Hirn schaltete schnell weiter. »Frau Dr. Kardiff? Leocardia Kardiff?« Und noch mal: »Die Zahnärztin?«

Sie hätte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass die neugierige Frau Doktor, die vor ein paar Monaten in den spektakulären Fall mit der Pudding-Witwe Hedda Kernbach verwickelt gewesen war, hier mit ihrem Boss, dem Ersten Hauptkommissar Jakob Zimmer, und den Kollegen Per Kowalski und Luis Fahrenz auftauchte.

Apropos Neugierde. Luis hatte ihr am Handy schon erste Details über das Spektakel, das hier im Gange war, erzählt, es gab ein Opfer, ein Mensch war aus einem der Häuser in der Mittelstraße gesprungen oder gestoßen worden, eine genauere Angabe hatte ihr Kollege bei dem Anruf noch nicht machen können.

Jakob Zimmer hatte direkt am Tatort in einem Café gegenüber gesessen und war somit der Erste vor Ort gewesen. Gut für die weiteren Ermittlungen, denn so war die Wahrscheinlichkeit, dass der Tatort nicht von Dutzenden Neugierigen verunreinigt worden war, immerhin sehr groß.

Birgit hatte gerade mit ihrem Mann und ihren Söhnen einen Ausflug ins Dünnwalder Naturschutzgebiet Am Hornpottweg gemacht, endlich ein freier Tag und Zeit für die Familie. Luis’ Anruf war zur ganz falschen Zeit gekommen, und ihr jüngerer Sohn Felix hatte Tränen in den Augen, als sie alle vier zurück zum Parkplatz gerannt waren, wo bereits ein Streifenwagen wartete, um Birgit mitzunehmen. Aber so war das Leben, ihr Beruf, die Kinder und ihr Mann wussten das.

Doch das war schon Schnee von vor einer Stunde.

»Was zum Teufel machen Sie denn hier?« Birgits Ton war schroffer als beabsichtigt.

Leo schluckte und deutete auf das inzwischen ebenfalls abgeriegelte und fast leere Café Rico hinter ihnen. Nur das Personal, ein Mann und zwei Frauen, standen vor der Kaffeebar am Fenster und lugten nach draußen.

»Wir saßen hier beim Brunch, als es passiert ist.« Ihre Stimme klang piepsig, und sie zog die Nase hoch.

Sie wird jetzt hoffentlich nicht heulen, dachte Birgit, eine Dentistin musste sich doch in ihrem Alltag auf dem Zahnarztstuhl in genug Unangenehmes verbeißen. Sie lächelte kurz über ihr gedankliches Bonmot. Im selben Moment rastete ein anderer Gedanke ein. »Sie waren also mit Jakob hier?«

Guck mal an, die beiden. So was hatte sie sich schon beim Fall mit der Pudding-Witwe gedacht, dass es zwischen den zweien knisterte. Optisch ein gutes Paar, aber bei der chaotischen Art der Zahnärztin wusste Birgit nicht, ob sie es ihrem Boss tatsächlich wünschen sollte.

»Jakob Zimmer und ich haben uns noch nicht oft getroffen.« Die Zahnärztin errötete.

»Sie brauchen sich mir gegenüber nicht zu rechtfertigen. Das geht mich nichts an. Sagen Sie mir lieber, was genau passiert ist.«

»Ich weiß es nicht. Ehrlich. Wir haben da gesessen, und plumps!, ist einer vom Himmel gefallen.«

»Vom Himmel?«

»Nicht direkt. Von dem Haus da drüben. Zweiter oder dritter Stock, ich glaube, das ermitteln Ihre Kollegen gerade.«

»Also ein männliches Opfer?«

»Nein … ähm … ja.«

»Was denn jetzt?«

Leo holte tief Luft. »Also, Jakob ist sofort dahin, hat die Leute abgehalten, näher zu kommen, hat sofort telefoniert, Alarm gegeben. Ich bin hinterher, ich bin ja Ärztin, na ja, Zahnärztin zwar, aber ich kann Erste Hilfe leisten, glauben Sie mir.«

Birgit nickte automatisch. Es gab keinen Grund, das zu bezweifeln.

Hinter ihnen hatte sich die Menge ganz nahe herangedrückt, und die erste Reihe der Gaffer schob das Absperrband nach vorn. Der Abstand hatte sich auf kaum einen Meter verringert. Sie sah fast in jeder zweiten Hand ein Smartphone und spürte, wie die Wut in ihr hochkochte.

»Könnten Sie alle bitte ein Stück weit nach hinten rücken!« Birgit von Zeh wurde laut. »Das ist ein Tatort.«

»Warum ist die denn gesprungen?« Ein Ruf von weiter hinten.

»Wat soll dann die blöde Froch?«, konterte ein anderer auf Kölsch.

Birgit hob ihre beiden Hände, als wollte sie den Verkehr regeln.

»Wir ermitteln das. Bitte gehen Sie einfach weiter. Und keine Fotos, ja? Ich könnte alle Ihre Handys beschlagnahmen.«

Der Streifenpolizist kam ihr zu Hilfe und breitete seinerseits die Arme aus, langsam und zäh bewegte sich die Menge rückwärts.

Leo redete weiter. »Also … zuerst dachten wir, es wäre eine Frau. Langes rotes Haar, kurzer Rock, hohe Schuhe. Ich bin hin und habe versucht …« Sie wischte sich eine Träne weg. »Wir haben versucht, sie wiederzubeleben. Jakob hat den Körper vom Dach des Wagens gehoben, ganz vorsichtig, einer der Passanten hat spontan seinen Mantel ausgebreitet, aber da war nichts mehr zu machen. Während all dieser Aktionen sind der Frau die Haare vom Kopf gerutscht, also eine Perücke, und da war mir … uns … auf einmal klar, dass das Opfer ein Mann in Frauenkleidern war … ist… also, gewesen ist… Mein Gott!« Dr. Leocardia Kardiff schlug sich mit der linken Hand auf die linke Backe. »Ich ziehe das Verbrechen an.« Jetzt liefen doch Tränen über ihr Gesicht.

Birgit von Zeh sah sich genötigt, die Frau in den Arm zu nehmen. »Na, na, na. Vielleicht ist es ja diesmal kein Mord.«

Im Trösten war sie selbst bei ihren Kindern schlecht.

»Birgit, verdammt, wir ächzen aus dem letzten Loch, und du kuschelst mit Jakobs Zahnärztin?«

Kommissar Luis Fahrenz war aufgetaucht. Er sah übernächtigt aus, vielleicht hatte er es am gestrigen Freitagabend krachen lassen.

Birgit löste sich von der blonden Frau Doktor, die in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch zu graben begann. »Reg dich nicht künstlich auf und informier mich einfach, Luis.«

»Ein Opfer. Ist aus dem Fenster geworfen worden. Landete quasi vor den Füßen von unserem Boss. Jakob ist drinnen in dem Haus, in der Wohnung. Guck da schräg gegenüber nach oben, das offene Fenster im zweiten Stock.«

»Selbstmord?«

»Ausgeschlossen.«

»Dann ist immer noch ein blöder Unfall möglich.«

»Nein. Eindeutig.«

»Das heißt, der eigentliche Tatort ist oben?«

»Komm einfach mit mir. Harro deNärtens ist auch schon vor Ort.«

»Der nette Rechtsmediziner?« Leo schnäuzte sich und sah Birgit von Zeh und Luis Fahrenz an.

Luis kratzte sich am Kopf. »Frau Dr. Kardiff, Jakob Zimmer lässt Ihnen sagen, dass Sie gerne nach Hause gehen können. Er hat hier jetzt zu tun.«

»Hallo! Hallo!«

Ein er rief aus der Menge hinter der Absperrung.

In Birgits Bauch brodelte es. Es war höchste Zeit, dass sie mit Luis endlich nach oben ging. Obwohl sie gern den demolierten Kleinwagen in Augenschein genommen hätte, doch das konnte warten.

Der Rufer war an die vorderste Front gekommen, beugte sich über das Absperrband. »Hallo! Ich bin vom ›Express‹. Können Sie schon ein erstes Statement abgeben?« Der junge Mann zückte einen Presseausweis. In der anderen hielt er sein Smartphone in Richtung des Wagens, auf den der Körper gefallen war.

Luis Fahrenz und Birgit von Zeh zogen zeitgleich die Hände nach oben, als ob sie so das Gesichtsfeld des Journalisten abdecken könnten.

Birgit winkte ihn zurück. »Es gibt sicher bald ein offizielles Pressestatement.«

»Aber Sie könnten mir –«

»Geh nach Hause, mingjung!«

»Ist die erste Information richtig, dass es sich um einen Streit im Kölner Transvestitenmilieu gehandelt hat?«

Luis rollte mit den Augen. »Nein!«

»Ist es richtig, dass es eine Zeugin gibt, die den Täter identifizieren kann? Ist es die blonde Frau hinter Ihnen?«

»Nein, ich bin Zahnärztin und nur zufällig hier.« Leo hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

Birgit sprang ihr sofort bei. »Kein Kommentar. Warten Sie auf die Pressekonferenz.«

Die Hauptkommissarin drehte sich schnell um und schob Leo ein paar Schritte nach hinten, Richtung Café. Es war nicht gut, wenn man sie am Ende noch wiedererkannte.

»Wollen Sie denn nicht diese Kellnerin vernehmen?« Leo schien Birgits Gedanken erraten zu haben und flüsterte jetzt.

»Wen?«

»Die junge Frau, die uns das Frühstück gebracht hat. Sie hat nach oben geschaut. Sie hat als Erste die Frau, nein, den Mann, ich meine, das Opfer fallen sehen. Sie ist noch im Café.«

Luis lächelte etwas säuerlich. Er war zu ihnen aufgerückt, und auch seine Lautstärke war gedämpft. »Das machen wir sicher noch, Frau Dr. Kardiff. Danke!«

»Sie hat ›Oh mein Gott‹ gesagt und direkt nach da oben geguckt. Vielleicht hat sie gesehen, wie der Körper aus dem Fenster gefallen hat. Oder wie der Mann gesprungen ist. Oder etwas anderes.«

Sie macht es schon wieder, dachte Birgit von Zeh. Mischt sich wieder ein. Wie kann man nur so naiv sein!

Allerdings: Ohne die Hilfe der Frau hätten sie damals Hedda Kernbachs Mörder wohl nicht geschnappt, bevor er sich ins Ausland abgesetzt hätte. Und vielleicht war die Neugierde der Zahnärztin ihrer eigenen nicht einmal so unähnlich.

»Weißt du, ob diese Zeugin schon vernommen wurde, Luis?«

»Per hat bereits alle Personalia aufgenommen, Birgit, wir haben die Sache im Griff.«

»Hat sich das Opfer denn beim Sturz das Genick gebrochen?«

Luis wurde noch leiser. »Das ist nicht die eigentliche Todesursache.«

»Sondern?«

»Komm endlich mit, Birgit. Jakob wird sonst schäumen.«

Leo räusperte sich. »Vielleicht könnte ich doch kurz mit nach oben?«

Birgit nahm jetzt bewusst die blonde Zahnärztin noch mal in den Arm. »Sie haben heute genug mitgemacht, oder? Passen Sie auf, Frau Doktor. Ich gebe einem der Streifenpolizisten hier die Anweisung, Sie nach Hause bringen zu lassen. Dann sind Sie auch vor der Presse sicher. Warten Sie am besten im Café, bis es so weit ist. Und ich verspreche Ihnen, wenn in all dem Tumult, den so ein Toter in der Kölner Innenstadt auslöst, unser Boss vergisst, Sie anzurufen, werde ich es tun und Sie auf dem Laufenden halten.«

Kapitel 4

Leo stand unschlüssig im Inneren des Café Rico. Sie fühlte sich nutzlos.

Die wenigen Informationen, die sie Birgit von Zeh gegeben hatte, kamen selbst ihr banal vor. Sie hatte sich bis zu dem Fall des Körpers nur auf Jakob Zimmer konzentriert, auf sich selbst, ihren Kaffee und ihr Frühstück.

Ob auch einer von den Passanten gerade zum richtigen Zeitpunkt nach oben geschaut hatte? Wenn ja, würde der sich freiwillig melden oder eher das Weite suchen und versuchen, dieses Trauma zu verkraften?

Hatte sie ihr Trauma von der ermordeten alten Dame überhaupt schon verarbeitet?

In den Stunden, die sie einmal in der Woche bei dem Hypnosetherapeuten Sharif El Benna verbrachte, hatte sich in den Wochen nach dem Mord alles um den Fall gedreht, um ihre Ängste und ihre Rolle in dem mörderischen Spiel. Statt sofort in die weiche Hypnose zu sinken, hatte sie alles immer wieder durchgekaut, hatte geredet, obwohl das bei den Behandlungen nicht üblich war. Erst seit drei oder vier Wochen waren sie auf die früheren Entspannungsübungen zurückgekommen, und Leo war auf dem weichen Stimmteppich des Therapeuten endlich wieder einer tiefen inneren Ruhe entgegengeflogen.

Das einzig Positive in der Zeit war gewesen, dass sich ihre Spritzenphobie zumindest den Patienten gegenüber eigenartig still verhalten hatte. Leo hoffte immer noch darauf, dass dieses Problem, das sie schon seit ihrer Kindheit quälte und für ihren Beruf als Zahnärztin, gelinde ausgedrückt, unfassbar ungünstig war, vielleicht durch den Schrecken, den sie erlebt hatte, in ihrer Psyche ein Stück weit überschrieben worden war.

»Haben Sie was erfahren können?« Neben Leo war die Kellnerin aufgetaucht. Sie knabberte an den Fingernägeln ihrer linken Hand und drehte mit der rechten ihre schwarzen langen Haare auf.

»Leider nein.« Leo griff die Gelegenheit automatisch beim Schopf. »Aber Sie haben doch als Erste nach oben gesehen. Konnten Sie da etwas beobachten?«

Die Kellnerin überlegte, knabberte weiter an ihren Nägeln. Es knackte, als sie sich einen Nagel abbiss und ihn ausspuckte. Leo dachte an den Zahnschmelz, der in Mitleidenschaft gezogen werden konnte, verbiss sich aber eine Ermahnung.

»Nur eines. Das hab ich bereits einem der Polizisten erzählt. Also: Ich hab da nach oben gesehen. Da hatte ich gerade Ihren Orangensaft in der Hand. Und zuerst nur gedacht, die lehnt sich aber weit raus. Und wow, so schöne rote Locken. Dann hab ich gedacht, ich könnt mir meine Haare auch mal wieder rot färben, und dann fiel die. Wie ein Stein.«

»Also sicher nicht gesprungen?«

Die Kellnerin überlegte und knabberte weiter. Der nächste Nagel war dran.

»Als die sich so vornübergebeugt hat, da hab ich noch gedacht, hoffentlich hält der sie fest.«

»Der?« Leo nahm vor Aufregung jetzt ihre eigene Hand hoch und steckte ihren Zeigefinger in den Mund.

»Der hinter ihr.«

»Wie sah der aus?«

Die Kellnerin schüttelte den Kopf, die schwarzen Haare flogen nach hinten. »Könnte jeder gewesen sein. Es war nur so ein kurzes Bild. Haben Sie ›Titanic‹ gesehen?«

»Ja.«

»So wie die zwei da am Bug. Jack und Rose, also Leonardo und Kate. Wie er da die Arme um ihre Mitte geschlungen hat, um sie zu halten. Nur dass die ihre Arme nach unten hat hängen lassen und …«

»Was und?«

»… da ist doch dieses weiße Gitter vor den Fenstern. Da, schauen Sie.«

Leo und die Kellnerin machten einen Schritt Richtung Auslagenscheibe, um zu dem Haus schräg gegenüber sehen zu können.

»Da, die Fenster gehen fast bis an den Boden, und da ist das Gitter unten angebracht.«

»Damit keiner hinausfällt, der drinnen am bodentiefen Fenster steht.«

»Genau. Und die mit den roten Locken hing vor dem Gitter, und der, der seine Hände um ihre Mitte hatte, dahinter. Das fällt mir jetzt erst ein.«

»War es ein Mann hinter dem Opfer?«

Die Kellnerin kaute, es knackte, sie spuckte. Leo biss sich selbst auf die Lippen, nur jetzt die junge Frau nicht unterbrechen.

»Ehrlich, das weiß ich nicht mehr. Es ging zu schnell. Gehören Sie denn auch zur Polizei?«

Die Frage ließ Leo zusammenzucken. Was machte sie denn hier? Natürlich gehörte sie nicht zur Polizei, sollte und durfte hier auch keine Zeugenbefragung durchfuhren. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Gesicht von Jakob auf, wie er sie mal wieder verärgert ansah.

»Nein, ich bin Zahnärztin. Kardiff. Dr. Leo Kardiff.«

»Oh. Leo, ein ungewöhnlicher Vorname für ein Mädel. Ich heiße Mirjam. Mirjam Jansen. Ich wollte mal Zahnarzthelferin werden, weil mein Onkel auch Zahnarzt ist.«

»Freut mich. Ich habe eine Praxis am Nikolausplatz in Sülz.«

»Mein Onkel arbeitet in einer Praxis in Eschweiler, wollte aber schon immer nach Köln. Aber Ihr Freund, der vorhin da rübergesprintet ist, der ist doch von der Polizei?«

Leo überlegte, ob sie die Formulierung, Jakob sei ihr Freund, stehen lassen konnte. Vielleicht ein gutes Omen. »Ja, der ist Hauptkommissar.«

»Echt schrecklich, dass die Frau tot ist.«

»Das war eigentlich keine.«

Leo biss sich noch mal, noch fester auf die Lippen. In den Nachrichten würde die Kellnerin früh genug die Details erfahren. Wenn sie das Internet samt News auf ihrem Handy checken sollte, sogar schon sehr bald.

Ein sehr junger Streifenpolizist tauchte neben Leo auf. »Sind Sie Dr. Kardiff?«

»Ja, die bin ich.«

»Ich soll Sie nach Hause fahren.«

Leo atmete erleichtert auf. Hier hatte sie nichts mehr verloren.

Die Gelegenheit, Fragen zu stellen, war vorbei. Später konnte sie Jakob anrufen, oder Birgit von Zeh würde sich wie versprochen bei ihr melden.

Spontan drehte sie sich noch einmal zu Mirjam Jansen um und umarmte sie. Dann kramte sie in ihrer Handtasche, fischte ihre Börse heraus und gab der Kellnerin eine ihrer Visitenkarten.

»Wenn Ihr Onkel eine Stelle als Zahnarzt hier in Köln sucht, soll er sich bei mir melden. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Mitarbeiter.«

»Hey, das ist klasse!« Die junge Frau drückte Leo ihrerseits. »Wenigstens etwas Gutes an diesem Scheiß-Samstagvormittag.«

»Und wenn Ihnen noch was einfällt, dann melden Sie sich.«

… bei der Polizei, das wäre jetzt der richtige Zusatz gewesen, dachte Leo, aber in dem Moment bat sie der Streifenpolizist, jetzt bitte mitzukommen, er müsse schnell wieder hierher zurück an den Tatort.

Kaum waren sie draußen, überfiel Leo der Lärm der Menge. Die Leute redeten, riefen, machten Fotos. Leo schien es, als wären in der kurzen Zeit noch wesentlich mehr Schaulustige dazugekommen.

Der Streifenpolizist schützte sie vor der Menge, hatte seine Arme ausgebreitet, sie bewegten sich träge und langsam voran. Sein jungenhaftes Gesicht war gerötet, er schwitzte. Er sah wie ein Schuljunge aus. Leo dachte, dass sie längst zu einer anderen Generation gehörte, zu den Mittelalterlichen, so wie der Mann, der aus dem Fenster gefallen war. Nein, geworfen worden war, wenn die Erinnerung von Mirjam, der Kellnerin, stimmte.

Leo versuchte, das Gesicht des Toten abzurufen. Wie hatte der Mann eigentlich ausgesehen? So genau hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen. Ein Schutzmechanismus. Sie hatte am Hals nach seinem Puls gefühlt, nach seinem Herzschlag, noch Erste Hilfe zu leisten versucht, doch schon gewusst, dass es vergeblich war. Aber wie, verdammt, hatte der Mann ausgesehen? Hatte er nicht rote Bäckchen gehabt? Schwarzen Kajal? Aber die Augen, wie herausgedrückt. Riesige Froschaugen.

Ihr Herz begann auf einmal schneller zu klopfen.

Wie der Körper dagelegen hatte. Auf dem Autodach. Wie eine zerbrochene Puppe.

Dass der Mann ungefähr in ihrem Alter war, hatte sie jedoch registriert. In dem Moment, als ihm die Perücke vom Kopf gefallen war, da war ihr das bewusst geworden. Waren es die Krähenfüße neben diesen hervorquellenden Augäpfeln gewesen? Oder die vielen grauen Strähnen in seinem kurz geschnittenen dunklen Echthaar darunter?

Jetzt lief der Film in ihrem Kopf. Jetzt kamen neue Bilder hinzu. Die aus dem Mund gestreckte Zunge. Breit und unnatürlich blau. Fürchterlicher Anblick.

Leo fröstelte, schlang die Arme im Weitergehen um ihren Brustkorb. Sie waren am Absperrband angekommen, und der Streifenpolizist hob es hoch, um Leo durchzulassen. Sie liefen ganz dicht an der Häuserreihe entlang, zwängten sich an der Eisdiele und dem Blumenladen vorbei. An der Hahnenstraße angelangt, konnte sie zwei Streifenwagen mit blinkenden Lichtern halb auf dem Gehweg und an der Ampel stehen sehen.

»Wir müssen zu dem hinteren«, sagte ihr Begleiter.

Auch von dieser Seite kamen Gaffer heran. Ein großer Uniformierter, der eben das erste Fahrzeug verlassen hatte, versuchte ebenfalls, einen Weg zwischen den Leuten freizuschaufeln.

»Gehen Sie bitte zurück. Zurück.«

Als Leo beim ersten Streifenwagen ankam, öffnete sich die hintere Tür, und eine sehr füllige Frau mit einem Jungen, etwa im Alter von Leos Töchtern, stieg aus. Beide kamen ihr flüchtig bekannt vor. Gesichter, die sie schon einmal wahrgenommen haben musste, aber sie konnte keinen Zusammenhang herstellen. Ein weiterer Polizeibeamter war eng an deren Seite.

»Ist es ein Terroranschlag?«, schrie plötzlich ein älterer Mann mitten aus der Menge, und alle zuckten zusammen.

Leos Begleiter drehte sich zu dem Rufer hin. »Keine Panik. Nur ein Unfall. Bitte, beiseitegehen, weitergehen!«

So ein lautes Organ hätte sie ihm gar nicht zugetraut.

Der Polizist an der Seite der fülligen Frau und des Jungen rückte auf, um seinem Kollegen beizustehen und die Leute im Zaum zu halten.

In dem Moment schwankte die Frau und knickte mit einem Bein ein. Der Junge versuchte sie zu stützen, wurde aber von ihrem Übergewicht mit nach unten gezogen. Leo machte einen Schritt zu dem Wagen hin und griff automatisch zu, fasste die Frau unter der Achsel. Auch Leo verlor fast das Gleichgewicht, knickte mit den hohen Schuhen leicht um, gewann aber wieder festen Stand.

»Geht s?«

Das Gesicht der fülligen Frau war hochrot. Sie strahlte eine Flitze aus, als hätte sie bis eben direkt an einem Backofen gestanden.

»Mein Mann ist das.« Ihre linke Hand umfasste Leos rechte. »Mein Mann war das.«

Die beiden Beamten waren zurück, flankierten die drei. Leos junger Streifenpolizist wirkte nervös und flattrig. »Frau Dr. Kardiff. Unser Wagen steht dahinten, bitte kommen Sie endlich.« Seine Stimme war wieder dünn geworden.

Leo blieb noch, hielt die übergewichtige Frau unter der Achsel aufrecht. In dem Moment erst wurde ihr bewusst, dass der Mann, der gerade mal vor einer Stunde, als sie mit Jakob Zimmer an diesem Samstagvormittag einen gemütlichen Brunch halten wollte, vom Himmel gefallen oder aus dem Fenster gestürzt war, tatsächlich tot war.

Kein Frühstück mehr mit der Familie, kein Einkaufsbummel, später Kuchen und Kaffee oder abends die Sportschau oder ein Gute-Nacht-Kuss für seine Frau.

Zugleich schoben sich die Frauenkleidung und die Perücke in Leos Gedanken. Hatte seine Familie gewusst, dass der Mann und Vater heute als Dame in der Kölner Innenstadt unterwegs war? War es Coming-out und Mord zur selben Zeit?

Leo schluckte. »Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte nichts mehr für ihn tun können.«

»Sie waren dabei?« Ehefrau und Sohn starrten Leo an.

»Ich habe Erste Hilfe geleistet, aber es war zu spät.«

Die füllige Frau nickte wie in Trance. Ihr rotes Gesicht schien zu glühen. »Ja, dann, danke.«

Der Junge senkte seinen Blick, blieb stumm.

Danke? Wofür?, dachte Leo.

Jetzt erst ließ die Ehefrau Leos Hand los. Nach der Hitze der fremden Haut fühlte Leo das Frösteln wiederkommen, es wurde zu einer großen inneren Kälte.

Die übergewichtige Frau atmete schwer ein und aus. »Kann ich ihn sehen?«

Sie machte einen Schritt, dann noch einen, jetzt fester, sicherer. Leo ließ los. Der Junge sah einfach weiter zu Boden, schwieg und folgte seiner Mutter. Der große Beamte setzte sich Richtung Tatort in Bewegung.

Leo rief der Gruppe spontan hinterher: »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, dann bitte melden Sie sich. Leocardia Kardiff. Ich bin Zahnärztin in Sülz.« Wozu diese letzten Informationen dabei gut sein sollten, wusste sie nicht. Es würde nichts an den Tatsachen ändern.

Der junge Streifenbeamte berührte Leo an der Schulter. Er strahlte weder Hitze noch Kälte, nur steigende Nervosität aus. »Wir müssen jetzt wirklich fahren, Frau Doktor.«

Ach ja, das Frau Doktor hatte sie bei ihrer hilflosen Vorstellung vergessen. Aber auch das konnte keinen mehr zum Leben erwecken.

Kapitel 5

»Verdammt, Birgit, was hat das denn so lange gedauert?« Der Erste Hauptkommissar Jakob Zimmer hatte sichtlich schlechte Laune.

Erstens waren alle seine Pläne für dieses Wochenende dahin. Nicht nur sein Brunch mit der hübschen Zahnärztin war so brutal unterbrochen worden, er befürchtete auch, dass dieses Ereignis die etwas neurotische Leo wahrscheinlich vollends verschreckt haben könnte.

Zweitens hasste er solche extrem dramatischen Fälle. Es genügte doch, dass ein Mord geschah. Für dessen Aufklärung waren er und sein Team da, das war sein Job. Aber dieser Flug aus dem Fenster an einem Samstagvormittag mitten in die belebte Innenstadtstraße würde pressetechnisch wieder für einen Aufruhr sorgen, davor graute ihm jetzt schon.

So gesehen konnte man das einzige winzige Positive an der Sache darin sehen, dass er tatsächlich direkt vor Ort gewesen war und mit seinem schnellen Eingreifen nicht nur eine grobe Verunreinigung des Tatortes, sondern auch eine größere Massenpanik verhindert hatte.

Im Nachhinein tat es ihm leid, dass er Leo zu sich gewunken hatte.

Auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass das Opfer auf dem Autodach nicht mehr zu retten war. Doch er hatte sichergehen wollen, und, verdammt, Leo war eben auch der erste Doktor vor Ort, er hatte sich ihrer Fachkenntnis bedienen müssen.

Wobei er sie, nachdem sie ihm die Bestätigung gegeben hatte, dass das Opfer tot war und Wiederbelebungsversuche nutzlos seien, schnell wieder zurück über die Straße zum Café geschickt hatte, dort sollte sie bleiben, auch um ihretwillen. Damit die Presse oder einer der Schaulustigen sie nicht wiedererkennen würde aus dem früheren Mordfall.

Es wäre eine Katastrophe für sie und auch für ihn geworden, denn schnell hätten irgendwelche Möchtegerndetektive einen Zusammenhang zwischen ihnen beiden hergestellt, und Vermutungen wären aufgekommen. Sicher auch die eine oder andere Twitter-Meldung in der Art von: »Die Todeszahnärztin wieder vor Ort« oder »Was hat die Todeszahnärztin mit unserem Mann von der Kripo zu tun?« Das hätte noch gefehlt.

»Deine erste Vermutung wird stimmen, Jakob.«

Harro deNärtens, der beleibte Rechtsmediziner und Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts am Melatengürtel, war hinter Birgit von Zeh und Luis Fahrenz von unten in die leere Wohnung gekommen.

Sie gruppierten sich an der Tür zum nicht mehr ganz so leeren Wohnzimmer. Auf dem Parkettboden waren schon jede Menge kleine Tafeln mit Nummern aufgestellt worden. Jede Zahl eine mögliche Entdeckung. Die Leute von der Spurensicherung waren bei der Arbeit.

»Der Mann war auch meiner ersten Einschätzung nach bereits tot, als sein Körper nach unten stürzte.«

Also hatte sich Jakobs schneller Blick als richtig erwiesen. Nicht nur, dass er sofort gesehen hatte, dass das Opfer nicht mehr zu retten war, auch das breite, blutunterlaufene Würgemal am Hals war unübersehbar gewesen, eine tiefrote, in einer Linie quer über die Kehle verlaufende Einkerbung. Dazu die hervorquellenden Augen und die angeschwollene Zunge, die sich zwischen den geöffneten Lippen zeigte.

Harro deNärtens hatte eben seine erste Untersuchung des Opfers am Leichenwagen unten beendet, hinter einem vorgespannten Tuch, damit die Schaulustigen nichts zu schauen bekamen.

Wie gern hätte Jakob Zimmer die Straße, die Ecke, das Café und den halben Rudolfplatz komplett verhüllt. Ein großes Zelt hätte man aufbauen sollen, nur so könnten sie alle in völliger Ruhe ihrer Arbeit nachgehen.

»Bitte, Harro, wir sind ganz Ohr.«

»Das Opfer ist definitiv stranguliert worden.«

»Also erwürgt?« Zu Birgit, Luis und Jakob kam Per Kowalski dazu, der bis dahin die Arbeit der Spurensicherung am Fenster beobachtet hatte. Per streifte sich die Handschuhe von den Händen.

Das bodentiefe Fenster stand immer noch weit auf und ließ die warme Septemberluft herein. Der Herbst zeigte sich von seiner schönsten Seite, und das würzige Lüftchen wollte nicht zu dem Mord passen, der hier drinnen geschehen war. Der eigentliche Mord. Noch vor dem Fenstersturz, wie es aussah.

Harro schüttelte den Kopf. »Keine Würgemale von Händen. Die gut abgezirkelte Strangulationsfurche am Hals deutet auf ein sehr festes Material hin, es ist nichts verrutscht während des Vorgangs. Kehlkopf und Zungenbein sind gebrochen, was auf einen hohen Kraftaufwand hindeutet. Dafür sprechen auch der Blutaustritt aus Nase und Mund sowie die starke Dunsung des Gesichts und die petechiale Blutung der Gesichtshaut. Strangulation eben.«

»Also wurde quasi eine Leiche aus diesem Fenster geworfen? Unmittelbar nach dem eigentlichen Mord?«

»Die Bestätigung und das genaue Zeitfenster gebe ich euch nach der Autopsie im Institut.«

Luis tippte in sein iPad. »Der Besitzer des Minis, auf den der Körper geknallt ist, hat sich bereits bei der Polizei gemeldet. Er hat den Tatort und sein Auto auf den ersten Bildern erkannt, die im Netz gepostet wurden. Er muss jeden Moment hier sein.«

»Wir reden von einem männlichen Opfer.« Birgit von Zeh mischte sich ein. Sie nahm Jakob seine schlechte Laune vorhin bei ihrem Eintreffen nicht übel. Sie alle hatten heute andere Pläne gehabt. »Aber ich habe eben mit Leocardia Kardiff geredet, sie hat mir erzählt, dass ihr zuerst an eine Frau gedacht habt.«

Jakob zuckte bei der Erwähnung der Zahnärztin unmerklich zusammen.

»Im ersten Moment, ja, Birgit. Wegen der Aufmachung des Opfers, du wirst das unten gleich zu sehen bekommen. Lange Haare, kurzer Rock, hohe Schuhe. Erst als ich den Körper vom Autodach heruntergehoben habe, fiel die Perücke vom Kopf.«

»Auch Frauen tragen Perücken.«

»Ja, aber es war ebenso an dem Körperbau zu erkennen, eindeutig männlich.«

»Karnevalsverkleidung?«

»Zu früh, Birgit, bis zum 11.11. ist noch Zeit. Außerdem war die Kleidung elegant. Teuer.«

»Mit Handtasche?«

»Handtasche?«

»Zu jeder eleganten Frau gehört eine Handtasche.«