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Tauche ein in ein Fantasy-Science Fiction-Abenteuer, das Dich in seinen Bann ziehen wird! Inmitten einer Welt voller Gefahren begeben sich in einer fernen Zukunft Ithan, Selim und Nelia auf eine Expedition, die ihr Leben für immer verändern wird. Die Reise zu den Skreeh – einer mysteriösen Rasse geflügelter Wesen, die vor Hunderten von Jahren die Menschheit in einem grausamen Krieg bezwungen hat – ist für alle Bewohner der Seestadt die ultimative Prüfung, um in die Stadtgemeinschaft aufgenommen zu werden. Gemeinsam stellen sie sich den Bedrohungen einer Welt, die von unheimlichen Kreaturen, überwucherten Ruinen und den rätselhaften Überresten eines längst beendeten Konflikts überzogen ist. Während die Gefährten sich immer tiefer in das Herz der Wildnis wagen, wird ihnen klar, dass diese Reise weit mehr ist als nur eine Mutprobe. Können sie die verschlungenen Pfade der Vergangenheit entwirren und die Geheimnisse einer untergegangenen Zivilisation lüften, um das Überleben der Menschheit zu sichern? Begleite Ithan und seine Freunde auf ihrer gefährlichen Reise, die nicht nur ihre Zukunft, sondern das Schicksal ihrer gesamten Welt bestimmen wird.
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HK Kohfink
Auf den Schwingen der Skreeh
Impressum
ISBN: 9783759277268
Copyright © 2023 Heiko Kohfink
Erste Auflage
Verfasser: Heiko Kohfink (Pseudonym HK Kohfink)
Uhlandstr.7, 72124 Pliezhausen
Kontakt: https://www.heiko-kohfink.de
Covergestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise:
©ana – stock.adobe.com
©Dark Geometry – Shutterstock
©Svarun, ©DMILO-Nat – shutterstock.com
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HK KOHFINK
Zu diesem Buch: Inmitten einer Welt voller Gefahren begeben sich in einer fernen Zukunft die sechzehnjährigen Ithan, Selim und Nelia auf eine Expedition, die ihr Leben für immer verändern wird. Die Reise zu den Skreeh – einer mysteriösen Rasse engelsgleicher Wesen, die vor Hunderten von Jahren die Menschheit in einem grausamen Krieg besiegt hat – ist für alle Jugendlichen der Seestadt »die große Prüfung«, um in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden.
Gemeinsam stellen sie sich den Bedrohungen einer Welt, die von gefährlichen Kreaturen, überwucherten Ruinen und den rätselhaften Überresten eines längst beendeten Konflikts überzogen ist. Während die Gefährten sich immer tiefer in das Herz der Wildnis wagen, wird ihnen klar, dass diese Reise weit mehr ist als nur eine Mutprobe.
Können sie die verschlungenen Pfade der Vergangenheit entwirren und die Geheimnisse einer untergegangenen Zivilisation lüften, um das Überleben der Menschheit zu sichern?
Heiko Kohfink, 1967 in Reutlingen geboren, ist Techniker und lebt mit seiner Frau, die ebenfalls schriftstellert, in der Nähe seiner Heimatstadt.
Inspiriert durch das Lesen, das schon immer seine größte Leidenschaft war, hat er sich vor einiger Zeit ans Schreiben gewagt. Dabei zählen vor allem Science-Fiction und Fantasy, aber auch Humor zu seinen bevorzugten Genres.
Wenn er nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt und über neuen Buchprojekten brütet, verbringt er gerne Zeit im Garten. Er unternimmt lange Spaziergänge mit seiner Frau, liest viel und bringt mit seinem oft sehr speziellen Humor seine Familie an den Rand der Verzweiflung.
Für meinen Bruder Michael
Seestadt
Ein Albtraum riss mich aus dem unruhigen Schlaf, in den ich schließlich doch noch gefallen war. Der geflügelte Schrecken hatte sich wie schon Hunderte Male zuvor in meine Träume geschlichen und nun lag ich hellwach und mit pochendem Herzen da. Kalter Schweiß, der unangenehm auf der Haut klebte, durchtränkte den leichten Leinenstoff des Pyjamas. Als die Schreckensbilder abklangen und ich realisierte, wo ich mich befand, sank ich mit leisem Stöhnen auf die Matratze zurück.
»Hm, Ithan?«, kam ein schläfriges Murmeln aus der Ecke von Mutter, wo sie mit meinem kleinen Bruder Alandar schlief. »Hast du wieder schlecht geträumt?«
Ich nickte, obwohl sie das in dem dunklen Zimmer natürlich nicht sehen konnte. »Ja, aber jetzt ist alles in Ordnung. Schlaf weiter – du hattest einen langen Tag.«
Mutter war erst nach Hause gekommen, als ich Alandar bereits ins Bett gebracht hatte. Eine Weile hatten wir noch unten im Wohnzimmer zusammengesessen und uns über ihre Arbeit und die kommenden Tage unterhalten. Sie war Heilerin und ich hörte ihr gerne zu, wenn sie berichtete, wie ihr Tag verlaufen war. Oft waren wir in den letzten Monaten zusammen losgezogen, um Kräuter und Wurzeln in den Wäldern rund um den See zu sammeln. Und auch im Haus der Heilerinnen, das im zweiten Ring der Stadt lag, besuchte ich sie, so oft es ging, und half ihr bei der Arbeit. Die gemeinsam verbrachte Zeit würde mir in den kommenden Wochen fehlen – so viel war sicher!
»Nimm noch etwas zur Beruhigung«, hatte sie gesagt, als wir schließlich zu Bett gegangen waren. »Du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir und brauchst deinen Schlaf.«
Den Becher mit Kräutersud hatte ich in einem Zug geleert. Doch schon wenige Stunden nach dem Einschlafen verflog die Wirkung und obwohl Mutter eine der besten Heilerinnen von Seestadt war, konnte auch sie nichts gegen die Träume ausrichten, die mich Nacht für Nacht heimsuchten. So lag ich verschwitzt und mit laut klopfendem Herzen auf meiner Matratze und starrte an die dunkle Decke hinauf, während sie sich auf ihrem Bett herumwälzte und etwas Unverständliches murmelte. An den tiefen Atemgeräuschen, die Sekunden später aus der Schlafnische drangen, konnte ich hören, dass sie bereits wieder fest eingeschlafen war, während ich noch unter den Bildern des Albtraumes litt.
An Schlaf war bei mir nicht mehr zu denken. Doch so aufwühlend der Traum auch gewesen sein mochte – es waren nicht die verblassenden Fantasiegebilde, die mich davon abhielten, wieder einzuschlafen. Vielmehr sorgte die Anspannung vor der großen Prüfung dafür, dass sich die Zeit nun, da ich einmal wach war, zäh wie Honig zog. Ruhelos wälzte ich mich auf meinem Lager von einer Seite auf die andere. Im Schlafraum war es heiß und stickig, obwohl ich das kleine Dachfenster wie üblich weit geöffnet hatte, bevor wir eingeschlafen waren. Ich lauschte eine Weile auf den leisen Atem von Mutter, der fast vollständig vom lauteren Schnarchen meines jüngeren Bruders Alandar übertönt wurde. Schließlich gab ich auf, kroch unter der leichten Decke hervor und tappte leise zur Tür des kleinen Hauses, das in einer der äußeren Zonen Seestadts lag.
Seit mein Vater vor einem Jahr von einem Jagdausflug nicht mehr aus den Wäldern zurückgekehrt war, lebten wir hier. Unser Haus im dritten Ring hatten wir aufgeben müssen, als Vater und mit ihm die beiden silbernen Skreehfedern, die er immer so stolz getragen hatte, von uns gegangen waren.
Diese kleinen Schmuckstücke, die wie Vogelfedern geformt waren und sich wie durch Zauberei zu Armreifen ausdehnten, wenn man sie sich an die Handgelenke legte, waren das Kostbarste, was es in unserer Gemeinschaft gab. Jeder, der solch ein Kleinod sein Eigen nennen konnte, trug es mit Stolz und darüber hinaus bestimmten die silbernen und goldenen Schwingen auch den Status, den man in Seestadt innehatte.
Nach diesem schrecklichen Tag gab es in unserer Familie nur noch das Federarmband an Mutters Arm. Wir mussten umziehen und wohnten jetzt in einem deutlich kleineren Haus in der zweiten Zone. Doch das war tausendmal besser, als am äußersten Rand der Stadt direkt am Wall in einer der baufälligen Hütten zu leben. Denn die strengen Regeln der Gemeinschaft waren einfach: Je weniger Federn im Besitz einer Familie waren, desto weiter wurde sie wortwörtlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ganz draußen in der Peripherie der kreisförmigen Stadt auf dem Wasser lebten die bedauernswerten Menschen, die keine der wertvollen Federn ihr Eigen nannten. Ihnen blieb nur das Leben in den Slums oder die große Prüfung zu wiederholen. Doch nur die wenigsten nahmen dieses Wagnis ein zweites Mal auf sich und forderten ihr Glück noch einmal in den Ruinen von T'gart heraus. Und je weiter man ins Zentrum von Seestadt vordrang, desto mehr dieser glänzenden Zeichen einer erfolgreichen Reise zu den Skreeh befanden sich im Besitz der Bewohner und umso größer und schöner wurden die Behausungen. Der innerste Bereich mit zehn prachtvollen goldverzierten Häusern blieb den Glücklichen vorbehalten, die es geschafft hatten, eine der seltenen goldenen Federn der Skreeh zu erlangen. Und diese kostbaren Zeichen des Mutes bekam nur, wer den nahezu unbewältigbaren Aufstieg an der Säule inmitten T'garts meisterte, um im Nest – hoch über den Ruinen der ehemaligen Großstadt – danach zu suchen. Nirgendwo sonst waren die kleinen goldenen Schmuckstücke zu finden und nur wenige Anwärter hatten den Mut, die lebensgefährliche Kletterei auf sich zu nehmen. Denn die Skreeh mochten es nicht, wenn man in ihr Nest eindrang. Die meisten, die dort hinaufkletterten, kehrten nie zurück und was aus den Unglücklichen wurde, die den Vogelmenschen in die Hände fielen, wusste niemand. Doch wenn in einer der Kneipen Seestadts die Nacht und auch die Biervorräte zu Ende gingen, hörte man oft angsteinflößende Geschichten der angetrunkenen Zecher. Schreie gefolterter Gefangener wollten sie im Nest hoch über T'gart gehört haben und Fallen sollte es dort oben geben, in denen man spurlos verschwand. Manche erzählten von riesigen Kammern, angefüllt mit den Skeletten der Unvorsichtigen, deren abgenagte Knochen in der Düsternis vermoderten. Bei anderen wiederum waren dieselben Räume gefüllt mit Gold und wertvollen Artefakten der Altvorderen.
Doch so grausam und verworren die Geschichten auch sein mochten, es gab immer wieder Mutige, die das Wagnis eingingen und den Stamm erklommen. Immerhin lockte das angenehme Leben auf der innersten Plattform und der lebenslange Rang eines Obersten der Seestadt, wenn man mit einem dieser Statussymbole zurückkehrte. Und nicht zuletzt der Einzug in eines der prachtvollen Häuser im Zentrum der Stadt. Momentan standen fünf der Villen leer, doch ich war fest davon überzeugt, dass wir bald in einer einziehen konnten, wenn es mir gelang, eine goldene Feder aus dem Nest zu holen. Sollte dieses Vorhaben scheitern, konnte ich immer noch zwei oder drei der weniger kostbaren silbernen Kleinode mit nach Hause bringen, die in den Schatten T'garts zu finden waren, wenn man nur intensiv genug danach suchte.
Doch davor musste ich es lebend bis in die Ruinenstadt der Altvorderen schaffen. Einhundertzwanzig Kilometer durch unwegsames Gelände zu marschieren, war nicht ungefährlich. Von den tödlichen Bestien, die Tag und Nacht auf der Suche nach Beute durch die Wildnis streiften, ganz zu schweigen. Nur gut zwei Drittel aller Heranwachsenden, die zur großen Prüfung aufbrachen, kamen überhaupt wieder zurück. Und auch von ihnen brachten nur wenige eine der begehrten Federn mit nach Hause.
Ich öffnete den hölzernen Riegel der Eingangstür, atmete die kühle Nachtluft ein, die in einem Schwall ins Innere des kleinen Hauses drang, und trat nach draußen. Kaum wahrnehmbarer Brandgeruch des erloschenen Feuers wehte vom Versammlungsplatz zu mir herüber und kitzelte mich in der Nase. Hier hatten meine Freunde und ich am Abend gefeiert und die Angst vor dem morgigen Tag mit lauten Liedern, schlechten Witzen und Bier betäubt. Die enge Gasse vor unserem Haus lag menschenleer und still vor mir. Nur das leise Glucksen des Wassers war zu hören, das vier Meter unter meinen Füßen sacht gegen die Pfeiler von Seestadt schlug. Nach links führte der schmale holzbeplankte Weg zwischen den dunklen Häusern geradewegs auf das Zentrum zu, doch dorthin zog mich heute Nacht nichts. Schlaftrunken lief ich die drei Stufen hinunter, die von der Tür auf die Straße führten. Ich überquerte den kleinen Vorplatz, wo Mutter so gerne mit Alandar auf der verwitterten Bank saß, die noch aus den Zeiten der A'tikar stammte und wandte mich der äußersten Zone zu. Über Stege, Plattformen und schwankende Brücken schlenderte ich ziellos durch die Dunkelheit der Peripherie und erreichte schließlich den Schutzwall der Stadt, der in der Düsternis vor mir aufragte. Dort angekommen stieg ich eine knarrende Leiter hinauf. Der Wachposten, der oben auf der Mauer stand, wandte sich mir zu, als er die leisen Geräusche vernahm. Alarmiert hielt er den Speer vor sich, bis er erkannte, wer da zu ihm heraufstieg.
»Ithan?«, sprach er mich an. »Was machst du denn so spät in der Nacht am Wall?«
»Hallo, Ha'lan«, erwiderte ich. »Kann nicht schlafen. Du weißt schon – die große Prüfung morgen.«
Er lachte leise, fuhr mit seiner freien Hand über die silberne Skreehfeder, die sich um sein Handgelenk schlang und gab den Weg frei. »Verstehe«, antwortete er wohlwollend. »Für dich ist es endlich so weit?«
Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Schließlich hatten wir noch vor wenigen Stunden mit unseren gefüllten Bierkrügen auf eine glückliche Reise angestoßen. Doch ich nickte bestätigend, als er mir die Hand einladend entgegenstreckte, um mich mit einem letzten Ruck auf den Wehrgang hinaufzuziehen.
»Ja, stimmt. Ich wollte noch einmal die friedliche Stimmung des Sees genießen, bevor es losgeht.«
»Sei willkommen«, meinte Ha'lan, »und bleib solange du willst.«
Ihn und alle Wächter auf diesem Stück des Walls kannte ich seit Jahren. Hunderte Male hatte ich mich bereits des Nachts aus dem Haus geschlichen und war hierher gekommen, um meinen Gedanken nachzuhängen. Ich liebte es, auf der breiten Mauerkrone zu sitzen und in die Stille hineinzulauschen, die wie eine dicke Decke über dem nebeligen Wasser lag, während die Bewohner der Stadt schliefen. Von irgendwo im dichten Wald auf der Uferseite im Norden wehte das triumphierende Bellen eines Schattenjägers zu mir herüber und gleichzeitig erklang der klagende Todesschrei seiner Beute, der wie abgeschnitten endete.
»So viel zu deiner friedlichen Stimmung«, grinste Ha'lan mich an, wurde aber sofort wieder ernst. »Pass dort draußen gut auf dich auf. Und kehre gesund von der großen Prüfung zurück.«
Er streckte mir erneut die Hand entgegen. Ich ergriff sie und er zog mich so dicht an sich, dass mir der leicht ranzige Geruch des Fettes in die Nase stieg, mit dem er seine Lederrüstung geschmeidig hielt.
»Keine Sorge«, murmelte ich, erstaunt von dem plötzlichen Gefühlsausbruch Ha'lans. »Ich kann auf mich aufpassen.«
»Natürlich kannst du das, du Held«, erwiderte er und gab mich frei. »Aber dein Vater konnte es ebenfalls und ist dennoch nicht zurückgekehrt. Wie du weißt, waren wir zusammen auf der großen Reise und seither wie Brüder. Ich vermisse ihn und will nicht auch noch seinen Sohn an die Schattenjäger verlieren.«
»Mir fehlt er ebenfalls«, flüsterte ich. »Keine Sorge, ich verspreche dir, gut achtzugeben.«
»Tu das«, gab er zurück. »Die Bestien da draußen sind gefährlich. Und es gibt viele von ihnen ... zu viele!«
Erneut erklang der Ruf des Schattenjägers, der das Ende seiner erfolgreichen Jagd in die mondbeschienene Nacht hinausbrüllte. Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken, als ich daran dachte, dass ich schon morgen derjenige sein konnte, der von diesen todbringenden Kreaturen aus einer anderen Dimension gejagt werden würde. Doch heute Nacht war ich noch sicher und der schwarze Tod war fern und keine Gefahr. Die Schattenjäger hassten wie alle an Land lebenden Bestien das Wasser. Und in die Seestadt kam man nur schwimmend oder mit den Booten, die das Ufer mit den weit im See liegenden Anlegestegen direkt neben den Walltoren verbanden.
Ich nickte Ha'lan noch einmal zu, ging einige Meter weiter und schwang mich auf die Mauerkrone. Dort sank ich im Schneidersitz auf den kühlen Stein des Walls. Eine dünne Nebelschicht zog über den See, der in trügerischer Stille vor mir lag und wirkte, als wäre es der friedlichste Ort auf der ganzen Welt. Doch die mächtigen geschuppten Rücken, die hin und wieder die Dunstschleier zerschnitten, ließen keine Zweifel daran offen, dass die Gewässer tückisch waren. Dicht unter den Nebelschwaden lauerten die Seeschlangen und warteten nur darauf, alles in die Tiefe zu ziehen, was sich auf den See wagte. Diese im Wasser lebenden Kreaturen waren nachtaktive Räuber, die tagsüber nicht bis zur Oberfläche kamen. Doch nachts tauchten sie vom Seegrund herauf, um schlafende Seevögel oder unachtsame Fischer in die kalte Tiefe des Sees zu ziehen.
Ich schüttelte das unangenehme Gefühl ab, das die weißgrauen Wirbel in mir auslösten. Bis in den Schutz des Walls, der die ganze Stadt umschloss und den bereits die Altvorderen errichtet hatten, war noch nie eine dieser räuberischen Schlangen vorgedrungen. Lange stählerne Stacheln, die sowohl unter als auch über Wasser in die massiven Wände der Schutzmauern getrieben worden waren und alles aufspießten, was der Stadt zu nahekam, hielten die Raubtiere fern. Und durch die vier Tunnel im meterdicken Wall, die in jeder Himmelsrichtung aus der Seestadt führten und mit mächtigen Gittertoren gesichert wurden, kam nichts hindurch, das dicker als ein Aal war. Im Inneren dieser Verteidigungsanlage aus Stein und Stahl konnte man sogar mitten in der Nacht ohne Gefahr schwimmen, was ich in der Vergangenheit schon häufig getan hatte. Doch obwohl der kalte Schweiß noch immer unangenehm an mir klebte und die sanften Wellen mit leisem Klatschen verlockend gegen die unverwüstlichen Pfeiler schlugen, auf welche die A'tikar unsere Stadt gebaut hatten, verspürte ich heute keine Lust zu baden.
Ich seufzte, rutschte weiter nach vorne und ließ die Beine über die bleich im Mondlicht schimmernde Außenmauer baumeln, die fünfzehn Meter unter mir im schwarzen Wasser verschwand. Hier auf dem höchsten Punkt des Walls, fernab der letzten Häuser, hielt ich mich am liebsten auf, wenn ich nicht schlafen konnte. Oft hatte ich im vergangenen Jahr hier gesessen und über die nebelverhangene Wasseroberfläche des Sees nach Norden gestarrt. Irgendwo dort war Lannik, mein Vater, von seiner letzten Jagd nie zurückgekehrt. Der Suchtrupp, der damals tagelang den Dschungel durchkämmt hatte, kam nur mit seinem Rucksack, einem leeren Pfeilköcher und dem zerbrochenen Bogen, in dem der Reißzahn eines Schattenjägers steckte, zurück. Lannik jedoch blieb verschwunden. Lange hatte ich gehofft, dass Vater zu uns zurückfinden würde und viele Wochen waren vergangen, bis ich schließlich die Hoffnung aufgab und mich wieder um Mutter und Alandar kümmerte. Und natürlich um die Vorbereitungen für die große Prüfung.
Gedankenverloren spielte ich mit dem flachen dreieckigen Zahn, der an einem Lederband um meinen Hals hing. Mutter hatte mir diese Kette geschenkt, um mich immer daran zu erinnern, wie gefährlich die Welt dort draußen sein konnte und dass man nie mit seiner Aufmerksamkeit nachlassen durfte, wenn man überleben wollte. Ich fuhr mit den Fingerkuppen über die sägezahngespickten Schneiden des gut zehn Zentimeter langen Zahnes und dachte – wie so oft in letzter Zeit – an die große Prüfung, die ich morgen antreten würde.
Weit hinter den nahezu undurchdringlichen Wäldern, die meinen Vater verschlungen hatten, lag das Ziel dieser Reise, die jeder Seestadtbewohner auf seinem Weg zum Erwachsenwerden auf sich nehmen musste: Der Dom – ein von den A'tikar geschaffener Käfig aus Energie, mit dem sie versucht hatten, die Skreeh am Ende des letzten großen Krieges einzusperren. Diese Ereignisse waren Jahrhunderte her, das Kraftfeld existierte schon lange nicht mehr und die Kuppel zerfiel. Doch inmitten der uralten ringförmigen Mauer schwebte noch immer das Nest der Skreeh über den Ruinen von T'gart.
Was würde mich dort erwarten? Schon morgen war mein großer Tag gekommen und bald würde ich es wissen. Für jeden kam nach dem fünfzehnten Zyklus die Zeit der Prüfung, bei der wir in den Norden aufbrachen, um den Dom, das Nest der Skreeh und die Ruinen von T'gart mit eigenen Augen zu sehen. Seit Jahrhunderten war das der festgelegte Ritus, um in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden.
Und nur die Besten und Tapfersten von uns kommen wieder zurück und bringen die wertvollen Federn mit, dachte ich, während eine leichte Brise vom See her die Nebelschwaden aufwirbelte und mein noch immer schweißnasses Leinenhemd trocknete. Doch ich werde dazugehören!
Ohne darüber nachzudenken, fuhr ich mir gedankenverloren über mein rechtes Handgelenk. Noch war es nackt und leer, doch wenn alles so lief, wie ich es mir vorstellte, dann würde schon bald ein goldener Reif diese Stelle zieren und davon künden, dass ich die Prüfung erfolgreich beendet hatte. Ich zuckte zusammen, als neben mir ein Schatten aus der Dunkelheit wuchs. Im fahlen Licht der Mondsichel erkannte ich die Umrisse Nelias, die sich vollkommen lautlos auf die Mauerkrone gleiten ließ.
»Hallo, Ithan«, flüsterte sie, rückte dicht an mich heran und legte mir den Arm um die Schultern. »Kannst du nicht schlafen?«
Sie nickte wissend, als ich statt einer Antwort nur den Kopf schüttelte. Schweigend saßen wir lange Zeit nur nebeneinander da, genossen die Nähe des anderen und die friedliche Kühle der Frühsommernacht.
»Ich liege auch seit Stunden wach«, brach es schließlich leise aus Nelia hervor. »Wenn ich nur wüsste, was uns dort im Norden erwartet.«
Wieder blieb es lange still. Was sollte ich darauf antworten? Niemand konnte sagen, was uns während der Reise zum Dom begegnen würde.
»Wir werden es schaffen«, meinte ich schließlich leise. »Wir passen aufeinander auf und kommen zurück!«
Ich wandte mich ihr zu und wir umarmten uns wie schon Tausende Male zuvor. Der vertraute Geruch ihrer nach Blüten duftenden Haare stieg mir in die Nase. Doch irgendwie war es heute Nacht anders. Die Zeit der Kindheit war zu Ende und wir spürten beide, dass ein neuer, gefährlicherer Lebensabschnitt anbrach.
»Ja, du hast recht«, erwiderte Nelia schließlich. »Wenn wir gut aufeinander aufpassen, kann uns nichts passieren!«
Doch die sorgenvollen Seufzer, die sich ihrer Kehle entrangen, als sie sich widerwillig von mir löste, straften ihre Worte Lügen. Und auch ich war mir nicht wirklich sicher, die große Reise unbeschadet zu überstehen. Trotz der Nähe des anderen waren wir nicht vor allen Gefahren dort draußen gefeit, doch schon der Gedanke, nicht allein aufbrechen zu müssen, stärkte meine Zuversicht. Ich freute mich darüber, dass wir die Reise gemeinsam machen würden, denn Nelia war nicht nur meine engste Freundin und Vertraute, seit ich denken konnte. Sie konnte auch hervorragend kämpfen und niemand im Dorf schlich sich lautloser an und verschwand so plötzlich wieder in den Schatten wie sie.
Und noch ein weiterer guter Freund würde uns morgen begleiten und damit unsere Chancen steigern, die große Prüfung unbeschadet zu überstehen: Selim, ein schlaksiger dunkelhäutiger Bursche mit einer überdimensionalen Brille auf der Nase, die er sich aus selbstgeschliffenen Gläsern und Draht gebaut hatte. Ständig erfand er seltsame Maschinen und bastelte an Apparaten herum, deren Funktion ich noch nicht einmal dann verstand, wenn er sie mir erklärte. Doch damit war ich nicht allein, denn er entwickelte andauernd neue Theorien und forschte an Lösungen für Probleme, die sogar die Weisesten unter den Erwachsenen in Erstaunen versetzten. Er war stets in sich gekehrt und in Gedanken versunken. Selim hatte sich mir und Nelia angeschlossen, um mit uns gemeinsam die gefährliche Wanderung nach Norden zu unternehmen. Trotzdem würde er es schwer haben, die Reise unbeschadet zu überstehen, dessen war ich mir sicher.
Ganz anders als Goth, ein glatzköpfiger Riese, der mit seinen fünfzehn Zyklen bereits jeden Mann im Dorf überragte und bei dem keiner daran zweifelte, dass er den Gefahren der Wildnis mehr als gewachsen war. Niemand kam auch nur ansatzweise an seine Kraft und Ausdauer heran und nur wenige konnten in seinem Alter schon so gut kämpfen wie er. Doch so martialisch sein mit schwarzen Ornamenten tätowiertes Äußeres wirkte, so arglos war das Wesen des gutgläubigen Hünen. Er würde morgen mit Mirsa zusammen aufbrechen und die hatte unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie keine weitere Begleitung wünschte.
Mirsa kam aus einer der angesehensten Familien Seestadts. Ihr Vater hatte von seiner großen Reise eine goldene Feder mitgebracht und seither lebte er mit seinen Angehörigen sorgenfrei in einem der prächtigen Häuser im Zentrum. Mirsa war mit ihren fünfzehn Zyklen eine Schönheit, die ihresgleichen suchte. Ihre ebenmäßige Gestalt, die blonden Locken, die wie ein Wasserfall bis zu den Hüften herabfielen und ihr hübsches Gesicht vermochten leicht darüber hinwegzutäuschen, dass unter all der Anmut ein zerstörerischer, heimtückischer Geist wohnte. Mirsa war gefährlich und würde auf der Reise mit Sicherheit keine Gelegenheit auslassen, uns anderen Steine in den Weg zu legen oder die Skreehfedern wieder abzujagen.
Und zu guter Letzt ich selbst. Ohne herausragende Attribute ausgestattet, die auf der Reise nützlich sein konnten. Außer vielleicht, dass ich ganz gut mit dem Bogen umgehen konnte. Doch das war nichts Besonderes. Jeder von uns war ein guter Schütze und hatte darüber hinaus jahrelang mit allen möglichen Waffen geübt, um den Gefahren der großen Prüfung nicht vollkommen hilflos ausgeliefert zu sein. Wobei ich bezweifelte, dass die zahlreichen Bestien, die bei Tag und Nacht die Wälder auf der Suche nach Beute durchstreiften, von unseren Pfeilen und Messern sonderlich beeindruckt sein würden.
Jetzt wo ich darüber nachdachte, gab es doch etwas, was auf der großen Reise durchaus nützlich sein konnte – vor allem wenn ich an den gefährlichen Aufstieg zum Nest der Skreeh dachte. Ich kletterte wie ein Eichhörnchen und war absolut schwindelfrei. Und ich war fest entschlossen, die große Prüfung erfolgreich abzuschließen.
Durch die Bestienwälder
Eine Woche später pirschte ich mich so leise wie möglich durch einen lichten Buchenwald. Die Wanderung war bisher einfach – flaches Terrain und viele der uralten A'tikarstraßen zogen sich auch heute noch als wenig bewachsene Schneisen durch das ansonsten dichte Unterholz.
Vorräte hatten wir keine mitbekommen – das war eine der Regeln der großen Prüfung. Man musste mit dem zurechtkommen, was die Natur einem bot. Doch zumindest war jeder von uns mit einem langen Messer, einem Speer sowie einem Bogen mit einem Köcher voller Pfeile ausgerüstet. Decken und Ersatzkleidung hatten wir in Rucksäcken dabei und an den Gürteln baumelten Feldflaschen. Und auch meinen größten Schatz – ein funktionierendes Fernglas der Altvorderen – hatte ich auf die Reise mitgenommen.
Leider waren uns bisher kaum Tiere, die wir hätten jagen können, über den Weg gelaufen und so hatten wir uns in den letzten Tagen mehr schlecht als recht von Pilzen, Waldpflanzen und Insekten ernährt. Bevor wir zu geschwächt waren, hatten Nelia und ich am frühen Morgen beschlossen, allein und in unterschiedliche Richtungen auf die Jagd zu gehen. Selim wartete währenddessen in unserem provisorischen Lager, das wir in einer baufälligen Ruine der A'tikar eingerichtet hatten.
Nachdem ich bereits zwei Stunden durch den Wald geschlichen war, ohne auch nur Spuren zu finden, zahlte sich meine hartnäckige Suche schließlich doch noch aus. Zwanzig Meter vor mir stand eine kleine Herde Wildziegen auf einer Lichtung, durch welche sich ein sprudelnder Bach schlängelte.
Gut für mich, dachte ich. Das Rauschen übertönt meine Geräusche und auch der Wind steht günstig.
Sorgsam darauf bedacht, keine hastigen Bewegungen zu machen, erhob ich mich lautlos, zielte kurz und schoss. Der Pfeil schnellte mit einem kaum hörbaren Sirren von der Sehne, die Herde schreckte hoch und blickte aufgeschreckt in meine Richtung, doch zur Flucht war es zu spät. Zumindest für das Tier, das ich als Beute auserkoren hatte. In dem Moment, als es mit einem Sprung im Wald verschwinden wollte, schlug der Pfeil ein und es brach mit einem erstaunten Meckern zusammen. Der Rest der Herde rannte in wilder Panik davon und einige Tauben flatterten empört gurrend auf.
Ein letztes Zucken durchlief den Körper der kleinen Ziege, dann lag sie still da und der Waldfrieden kehrte so schnell zurück, wie ich ihn gestört hatte. Doch so idyllisch die Szenerie nun wieder wirkte – ich blieb vorsichtig und sondierte minutenlang die Umgebung. Mein Glück verließ mich auch weiterhin nicht. Weder war das verräterische Knacken von trockenen Zweigen, noch das von mir so gefürchtete Schleifen schuppiger Haut über dem moosbewachsenen Waldboden zu hören. Keine der gefährlichen Bestien, die diese Wälder durchstreiften, tauchte auf. Und auch die Wölfe, Bären und Wildkatzen, die ebenfalls tagsüber die Gegend unsicher machten und sich sicher über die erlegte Ziege mit mir als Nachschlag gefreut hätten, ließen sich nicht blicken. Schließlich erhob ich mich mit knackenden Gelenken. Vorsichtshalber warf ich mir den Bogen über die Schulter und zückte das Kurzschwert, bevor ich mit federnden Schritten den Schatten des verrosteten P'zars verließ und zu dem reglos daliegenden Körper der Ziege hinüber schlich. Ich bückte mich unter dem schräg in die Luft ragenden Rohrbündel hindurch, das kaum noch als das Geschütz erkennbar war, welches vor Urzeiten die Skreeh aufhalten sollte. Jetzt ragte es wie ein mit Schlingpflanzen und Waldblumen bewachsener mahnender Finger in die Höhe. Doch als ich im Vorübergehen mit der flachen Hand über die vernarbte Oberfläche fuhr, fröstelte ich trotz der Wärme des Frühsommermorgens. Tausende solcher von den Altvorderen erschaffenen Kampfmaschinen hatten im letzten großen Krieg versucht, die Skreeh in der Luft und die Bestienarmeen am Boden zurückzuschlagen. Nun lagen sie rostend und überwuchert in den Wäldern und Ruinen der A'tikar und zeugten davon, dass der Kampf gegen den geflügelten Tod letztendlich umsonst gewesen war.
So schnell es ging, überquerte ich die wenigen ungeschützten Meter, nahm die Ziege auf die Schultern und trat den Rückweg an. Lautlos pirschte ich mich zurück zum Lager, immer darauf bedacht, meine Fährte zu verwischen. Wo es ging, lief ich über Steine, Felsen und umgestürzte Baumriesen, um die verräterische Spur so gering wie möglich zu halten. Ein Schattenjäger – oder womöglich gleich ein ganzes Rudel davon – hätte mir gerade noch gefehlt. Momentan war jedoch glücklicherweise keine dieser gefährlichen Dimensionsbestien zu sehen.
»Hoffentlich bleibt das auch weiterhin so«, knurrte ich kaum hörbar, während ich mit meiner Last auf dem Rücken zu unserem Lagerplatz zurückstapfte. Doch alles blieb friedlich und die Gedanken schweiften zu dem Tag zurück, an dem wir von zu Hause aufgebrochen waren, um die große Prüfung anzutreten.
Wie es der seit Jahrhunderten überlieferte Brauch verlangte, hatten sich an diesem wichtigen Tag alle Einwohner der Seestadt versammelt, um uns zu verabschieden. Die Obersten wünschten uns im innersten Kreis vor ihren goldverzierten Gebäuden Glück auf unserer Reise und verabschiedeten uns schließlich in die Wildnis. Von links und rechts ertönten leise Segenswünsche, während wir langsam durch die von den Menschen gebildete enge Gasse geschoben wurden. Ich nickte den freudestrahlenden Stadtbewohnern mechanisch zu, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Stattdessen hielt ich nach Mutter und meinem kleinen Bruder Ausschau. Als die inneren Zonen und die Enge der schmalen Gassen endlich der Weite des Sees wichen, entdeckte ich die beiden am Steg, der aus den Befestigungen in Richtung Ufer führte. Alandar jubelte mir zu. Er war noch zu jung, um zu verstehen, dass er mich vielleicht das letzte Mal in seinem Leben sehen würde. Ich hielt kurz inne und nahm ihn fest in die Arme.
»Pass gut auf Mutter auf«, wisperte ich.
»Mach ich«, gab er genauso leise zurück. »Du kannst dich darauf verlassen, Ithan.«
»Das weiß ich«, erwiderte ich. »Und denk ab und zu mal an mich, während ich unterwegs bin.«
Er nickte ernst, ohne noch etwas zu entgegnen, und für einen kurzen Moment blitzte Furcht in seinen strahlend blauen Augen auf. Vielleicht verstand er ja schon mehr, als ich dachte?
»Komm heil zu uns zurück, großer Bruder«, meinte er schluchzend und nun liefen doch Tränen an seinen Wangen hinab. »Und nimm dich vor den Schattenjägern in Acht.«
»Ich werde mir Mühe geben«, entgegnete ich und boxte ihn spielerisch in die Seite. »Und jetzt lass mich mal los, bevor ich zerquetscht werde. Mutter möchte sich bestimmt auch noch verabschieden.«
Sie blickte mich sorgenvoll an, als ich mich von Alandar löste und vor sie trat. Kein Wunder – schließlich hatte sie erst Vater verloren und nun begab sich ihr ältester Sohn auf eine gefahrvolle Expedition, von der viele nicht zurückkehrten. Mutter kämpfte mit den Tränen und zog mich dicht an sich. »Gute Reise, Ithan«, flüsterte sie. »Pass gut auf dich auf.«
Wir standen noch eine Minute eng umschlungen da, bevor sie mich abrupt losließ. »Geh nun, mein Sohn und komm gesund wieder nach Hause.«
Dann nahm sie Alandar auf den Arm und trat einen Schritt zurück, während ich das Gepäck schulterte und zu Nelia und Selim in das Boot stieg, das uns ans Ufer bringen würde. Schweigend sahen wir zu, wie sich das Gatter des Nordtores hinter uns schloss und die Bootsführer mit kräftigen Paddelschlägen dem Strand zustrebten. Ich winkte ein letztes Mal den Menschen auf dem Wall zu, konnte jedoch weder Mutter noch Alandar unter ihnen entdecken. Schließlich wandte ich mich um und wir saßen schweigend auf unseren Plätzen, während der Jubel der Stadtbewohner hinter uns immer leiser wurde und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Eine unwirkliche Stille lag über dem See, die nur durch das Plätschern der Paddel und gelegentliche Schreie der Seemöwen unterbrochen wurde. Die Türme von F'rafaen wuchsen am Nordufer in die Höhe, bis die leichten Boote knirschend auf den Kiesstrand aufliefen und wir an Land sprangen.
Die letzten Worte, die Mirsa mir zugeraunt hatte, als wir über die nassen Steine auf den Wald zuliefen, der die uralte A'tikarstadt fast vollständig überwuchert hatte, waren mir noch deutlich in Erinnerung. Bevor sie mit Goth vom dichten Dschungel verschluckt worden war, hatte sie klargemacht, was passieren würde, sollte sie als Erste eine der goldenen Federn erringen.
»Komm mir bloß nicht in die Quere, mit deiner kleinen Freundin und dem Eierkopf«, hatte sie mit Blick auf Nelia und Selim geknurrt. »Ich bekomme die Trophäe! Und dann werdet ihr drei den Rest eures kümmerlichen Lebens als Fischer auf dem See fristen.«
Sie lachte gehässig und fügte ein »und zwar bei Nacht« an, bevor sie sich ihrem tätowierten Begleiter zuwandte. »Los, komm, Goth«, brummte sie ihn an. »Lass uns abhauen und von diesen Versagern wegkommen.«
Dann waren beide im Dickicht verschwunden und schon nach Sekunden verschluckte der dichte Wald ihre leisen Geräusche.
Natürlich ging es bei der Prüfung nicht darum, als erster wieder in der Seestadt zurückzusein. Vielmehr war es mein Ziel, überhaupt den Weg nach Hause zu finden und dort lebend anzukommen. Schließlich barg diese Reise genug Gefahren, die unterwegs auf uns lauerten.
Doch sollte Mirsa tatsächlich erfolgreich sein und mit einer goldenen Skreehfeder zurückkehren, dann hegte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Sie hasste uns drei ganz offensichtlich und würde nichts unversucht lassen, uns in den kommenden Wochen zu schaden, sollten wir ihr zufällig über den Weg laufen. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, womit sich Selim ihren Zorn zugezogen hatte. Bei mir und Nelia war die Sache einfacher. Mirsa hatte mir vor einigen Monaten ein mehr als eindeutiges Angebot gemacht, doch ich ließ sie abblitzen. Abgesehen davon, dass Nelia damals bereits meine Freundin war, konnte ich die streitsüchtige und missgünstige Mirsa nicht leiden – mochte ihr Äußeres auch noch so attraktiv sein. Und ihre Beweggründe waren ebenfalls nicht wirklich schwer zu erraten gewesen: Sie wollte auf der großen Reise mit einer möglichst starken Gruppe unterwegs sein, um ihre Überlebenschancen zu steigern.
Da sie an mich nicht herankam und auch Nelia aus verständlichen Gründen nicht begeistert von den Annäherungsversuchen der blonden Schönheit gewesen war, hatte Mirsa sich an Goth herangemacht. Der gutmütige Riese hatte ihrem Werben nichts entgegenzusetzen und war ihren Reizen erlegen. So wunderte es niemanden, dass aus den beiden kurze Zeit später ein Paar geworden war. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass die schöne Intrigantin ihren Liebhaber nach der Reise fallen lassen würde wie eine heiße Kartoffel. Doch als ich Goth in einer ruhigen Minute darauf ansprach, reagierte er wütend und ungehalten. Dem Einfluss Mirsas, die ihn vollständig in ihren Bann gezogen hatte, war mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen.
Vor mir lichtete sich der Wald und ich blieb auf einer kleinen moosbewachsenen Anhöhe stehen, hinter der sich die zerfallenden A'tikar-Bauwerke befanden, die wir am frühen Morgen entdeckt hatten. Schon lange, bevor die Gebäude in Sichtweite kamen, roch ich das Feuer, das Selim bereits entfacht hatte. Eine feine Rauchsäule stieg aus einem der Gemäuer auf und kündete davon, dass hier vielleicht seit tausend Jahren das erste Mal wieder Menschen Unterschlupf fanden.
»Na, wenn das mal kein Optimismus ist«, lachte ich leise. »Selim bereitet sich schon auf das Festmahl vor, ohne zu wissen, ob es überhaupt etwas zu essen gibt.«
Ein letzter wachsamer Blick von der Kuppe des kleinen Hügels auf die vom Dschungel umschlossenen Ruinen bestätigte mir, dass wir noch immer allein und unentdeckt waren. Dabei war der Rauch, den ich jetzt intensiv wahrnahm, kein Problem – die Bestien verfügten nicht gerade über einen ausgeprägten Geruchssinn und wilde Tiere würden sich bei Tag nicht in die Nähe eines Feuers wagen. Dafür wurde es bei Nacht umso gefährlicher. Vor Einbruch der Dunkelheit mussten wir die Flammen wieder löschen, um keine Schattenjäger anzulocken. Die schwarzen Ungeheuer nahmen ihre Umgebung vollkommen anders wahr als wir Menschen. Das hatten bereits die Altvorderen herausgefunden und dieses Wissen war über die Jahrhunderte erhalten geblieben. Von den Bestien, die während des großen Krieges aus den Dimensionstoren geströmt waren und die A'tikar überrannt hatten, konnte keine etwas sehen. Trotzdem bewegten sie sich auch bei vollkommener Finsternis absolut sicher. Es war bekannt, dass sie irgendwie starke Hitze wahrnahmen, und Feuer zog sie vor allem in der Dunkelheit magisch an. Darüber hinaus reagierten sie auf die kleinsten Bewegungen. Wie sie das anstellten, wusste niemand, doch Selim hatte schon vor Jahren die Theorie aufgestellt, dass ihr Orientierungssinn dem der Fledermäuse ähnelte. Dafür, dass sich die augenlosen Kreaturen mit Ultraschall durch die Welt bewegten, sprach auch, dass es eine Handvoll Jäger aus dem Seevolk gab, die eine Begegnung mit diesen Bestien überlebt hatten. Ihren Berichten zufolge bewahrte einen nur völlige Regungslosigkeit davor, von den lautlosen schwarzen Ungeheuern entdeckt und zerrissen zu werden.
Wenn uns diese Biester aufspürten, dann mussten wir schon großes Glück haben um mit dem Leben davonzukommen. Gut zwei Meter hoch waren die sechsbeinigen Kreaturen mit ihren keilförmigen Köpfen die größte Gefahr auf unserer Reise. Vollkommen lautlos schlichen sie allein oder in kleinen Rudeln durch die Wälder und alle Lebewesen, die ihnen zu nahe kamen, waren dem Tod geweiht. Die mächtigen, mit scharfen Reißzähnen bewaffneten Kiefer zerteilten einen Bären mit einem Biss und Menschen schluckten sie in einem Stück hinunter.
Zumindest, wenn man den Geschichten der Jäger glaubt, dachte ich.
Doch gerade für mich bestand kein Grund, diesen Berichten zu misstrauen. Denn schließlich war Lannik, mein Vater, von einer solchen Kreatur getötet worden. Glücklicherweise waren wir diesen Monstren auf unserer Wanderschaft bisher nicht begegnet. Eine der riesigen Panzerbestien hatten wir am zweiten Tag in der Ferne gesehen, doch sie war weitergezogen, ohne uns zu beachten. Auch Bären und Wildkatzen kreuzten immer wieder unseren Weg, aber die scheuen Tiere stellten keine Bedrohung für uns dar und hatten jedes Mal Reißaus genommen. Die größte Gefahr war bisher von einem Rudel Wölfe ausgegangen, das uns vor drei Tagen eine Zeit lang verfolgt und schließlich umzingelt hatte. Aber sie waren geflohen, nachdem Nelia zwei von ihnen mit gut gezielten Schüssen ihres Jagdbogens erlegt hatte.
Noch einmal musterte ich aufmerksam die Umgebung, bevor ich den Hügel hinab trabte. Hier im Wald war es kühl und ich freute mich darauf, einige Stunden am warmen Feuer zu sitzen. Schon bald würde der Ziegenbraten den nagenden Hunger vertreiben, der seit Tagen in meinen Eingeweiden rumorte. Als ich im Lager ankam, nahm mir Selim die Beute freudestrahlend ab. Kurze Zeit später durchzog der Duft gebratenen Fleisches die Luft und als Nelia schließlich ebenfalls von der Jagd zurückkam, machten wir uns heißhungrig über das Essen her.
Schon vor Einbruch der Dämmerung löschten wir das Feuer. Das Flackern und die Hitze der Flammen wären durch die hohen schmalen Fensteröffnungen weithin wahrnehmbar gewesen und hätte die Schattenjäger ganz sicher zu uns geführt. Während die letzten Glutnester erloschen und wir satt und zufrieden um die warme Feuerstelle saßen, ließ ich die Blicke durch das Gebäude wandern, das uns als Nachtlager diente.
Wer mochte in diesem vom Dschungel überwucherten Komplex wohl einstmals gewohnt und gearbeitet haben? Der Rundbau, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, durchmaß sicher mehr als hundert Schritte. Eine mächtige Öffnung von fünf Metern Breite, die früher einmal durch ein stählernes Tor verschlossen gewesen war, führte in den kreisrunden Saal. Heute hingen nur noch verrostete Überreste der schweren Doppeltür in den Scharnieren. Einen zweiten Ausgang gab es nicht, doch in der Wand waren umlaufend alle paar Meter schmale deckenhohe Öffnungen eingelassen, deren frühere Funktion ich nicht verstand. Die Schlitze schienen nie mit Glas verkleidet gewesen zu sein. Wer baute solch ein großes Gebäude und schützte sich dann nicht vor den Elementen?
Vom Dach, das hoch über uns ohne erkennbare Stützen direkt aus den Mauern zu wachsen schien, waren große Stücke herausgebrochen, die nun als Schutt auf dem Boden verstreut lagen. Der war mit unterschiedlich tiefen Gruben versehen, in denen sich teilweise das Regenwasser gesammelt hatte, das durch das durchlöcherte Gewölbe über die Jahre ins Innere gelaufen war. In den wenigen trockenen Mulden stachen dicke Gewindebolzen aus dem Boden, die davon zeugten, dass hier einstmals mächtige Maschinen oder Vorrichtungen befestigt gewesen sein mussten. Wo waren diese wohl abgeblieben? Und wieso hatte man sich überhaupt die Mühe gemacht, die gesamte Einrichtung zu entfernen?
Während ich darüber nachdachte, rieselte eine der feinen Staubfahnen herab, die sich bereits seit unserer Ankunft hier immer wieder an unterschiedlichen Stellen des maroden Daches lösten. Ich hoffte, dass sich nicht gerade jetzt, wo wir hier lagerten, weitere Teile lösen würden, und blickte skeptisch hinauf. Durch die Lücken konnte man den wolkenlosen Himmel sehen und das Licht des aufgegangenen Mondes tauchte das Innere des Raumes in ein fahles Zwielicht. Von der einstigen Einrichtung des Gebäudes waren nur noch verrostete Metallteile und einige farbige Bruchstücke des seltsamen Stoffes übrig, den die A'tikar als P'lasta bezeichnet hatten, wie uns Selim beim Essen erklärt hatte.
»Darüber habe ich in einer ihrer alten Schriften gelesen«, erläuterte er, während er unablässig ein rotes Fragment dieses Materials in seinen Fingern hin und herdrehte. »Sie haben damals vor dem Krieg mit den Skreeh viele Dinge daraus hergestellt.«
Nelia horchte neugierig auf. »Was zum Beispiel?«
»Alles eben«, erwiderte Selim. »Kleidung, Schuhe, Fahrzeuge, Verpackungen für Lebensmittel und die Bücher, die ich gelesen habe. Sie sollen damit auch riesige Städte gebaut haben, mit denen sie monatelang durch den Himmel reisen konnten, ohne je landen zu müssen. Und sie haben mächtige Schiffe konstruiert, die sie zu anderen Planeten brachten.«
»Schwebende Städte und Schiffe, die durch den Weltraum fliegen können?«, lachte Nelia ungläubig. »Was für ein Unsinn!«
»Woraus besteht es?«, fragte ich neugierig.
»Soweit ich weiß aus Öl.«
»Aus Öl?«, fuhr ich erstaunt auf und zeigte auf das Stück in seiner Hand. »Unmöglich! Öl ist schwarz. Doch das Teil da ist rot.«
Selim sah mich unglücklich an. Er hasste es, etwas nicht erklären zu können und kam bei der Geschichte mit dem P'lasta offensichtlich an seine Grenzen. »Die Altvorderen werden es wohl umgefärbt haben. Keine Ahnung wie, also frag mich bloß nicht danach.«
»Keine Sorge«, lachte ich leise. »Ich hab dich nur aufgezogen. Doch woher weißt du so viel mehr als wir über die Zeit der A'tikar?«
»Während ihr nach dem Unterricht in Seestadt lärmend durch die Straßen gerannt seid, habe ich alle Bücher in der Bibliothek gelesen.«
Nelia blickte verwundert auf. »Alle?«
»Alle!«
»Und du glaubst an Städte, die fliegen konnten?«
»Ich habe darüber gelesen«, erwiderte Selim und rückte sich seine Brille in einer wichtigtuerischen Geste auf der Nase zurecht, »und ja – ich glaube daran.«
»Dann hast du in einem Märchenbuch gelesen. Die Skreeh hätten so etwas nie zugelassen!«
»Das war vor der Ankunft der Skreeh auf der Erde«, versuchte Selim sich zu rechtfertigen. Er wies auf das Gebäude, in dessen Mitte wir saßen. »Denk doch nur an die Ruinen von F'rafaen oder A'venbrug, durch die wir schon gekommen sind. Und an das Wrack der B'eron, an dem wir auf dem Weg zum Dom vorbeikommen werden. So etwas könnten wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Geschweige denn bauen.«
»Hmm«, lenkte Nelia ein. »Ich gebe zu, dass es die Planetenschiffe gegeben hat – schließlich ist die B'eron der Beweis. Aber fliegende Städte sind Unsinn.«
»Wofür braucht man denn Verpackungen für Lebensmittel?«, lenkte ich das Gespräch wieder auf das P'lasta zurück, während ich mir noch eine Scheibe von dem langsam erkaltenden Braten schnitt und voller Genuss abbiss. »Hatten die A'tikar keine Blätter, um Essen einzuwickeln?«
»Ich weiß es nicht«. Selim zuckte ratlos mit den Achseln. »Ich erzähle euch nur, was in den Büchern der Bibliothek von Seestadt stand, die auch aus diesem seltsamen P'lasta gefertigt waren. Hauchdünne Seiten, aber immer noch lesbar, als wären sie erst gestern gemacht worden. Absolut faszinierend.«
Ich konnte daran nichts Interessantes finden. Für das Lesen und Schreiben hatte ich nie viel übrig gehabt. Und die alten Schriften, von denen er erzählte, bekam normalerweise niemand außer den Gelehrten zu Gesicht. Mal abgesehen von Selim, der schon immer ein Wunderkind gewesen war und freien Zugang zur Bibliothek der Seestadt hatte. In der Schule mussten wir Übrigen die Schrift der A'tikar lernen, die auch heute noch von unseren Gelehrten verwendet wurde, um die Geschichte des Seevolkes aufzuzeichnen.
Die wir uns dann mühsam einprägen durften, dachte ich mit Widerwillen an die vielen Stunden des Paukens zurück, in denen ich versucht hatte, mir das Wissen unserer Gemeinschaft in den Schädel zu hämmern. Der Sinn stupiden Auswendiglernens längst vergangener Ereignisse in Seestadt hatte sich mir nie erschlossen.
»Jedenfalls müssen wir uns jetzt ausruhen.«, gähnte ich, leckte mir den letzten Rest Fett von den Fingern und erhob mich bedauernd vom erloschenen Lagerfeuer, dessen steinerne Umrandung noch immer angenehme und einschläfernde Wärme abstrahlte. »Ich übernehme die erste Wache.«
Schattenjäger
Ein Käuzchen schreckte mich aus dem Dämmerzustand auf, in den ich während meiner Wache gefallen war. Ich saß in den Zweigen eines mächtigen Baumes, der direkt aus der grasüberwucherten Straße vor dem Eingang zu unserem Versteck wuchs. Der wuchtige Bau, in dem wir kampierten, lag in der Dunkelheit unter mir wie eine geduckte Riesenschildkröte. Er war von kleineren eiförmigen Gebäuden umgeben, die wir schon am Morgen ausgekundschaftet hatten. Eingänge hatten sie keine, nur stählerne Leitern zogen sich an den Wänden dieser seltsamen fensterlosen Bauwerke hinauf, die oben allesamt mit kreisrunden Deckeln verschlossen waren.
Auch an den Außenwänden des zentralen Rundbaues waren einige der überraschend gut erhaltenen Treppen angebracht, auf denen man bis aufs Dach gelangte. Ich hatte den Aufstieg heute Morgen bereits gewagt, war aber sofort wieder von der Kuppel gestiegen, als unter mir ein mehrere Quadratmeter großes Stück der Decke wegbrach und mit lautem Getöse am Boden des Gebäudes aufschlug. Das Dach war instabil und unsicher, doch noch gefährlicher wäre es gewesen, im Freien zu kampieren. So hatten wir unser Lager nahe der Außenwände an einer der schmalen schlitzförmigen Öffnungen aufgebaut, von wo aus wir jederzeit ins Freie flüchten konnten.
Ich schüttelte den Schlaf ab und spähte angestrengt in die Nacht jenseits der eiförmigen Gebilde, hinter denen sich die dunkelgrüne Wand des Dschungels bedrohlich erhob. Mittlerweile hatte sich der Himmel bewölkt. Vereinzelt funkelte das kalte Licht der ersten Sterne zwischen den dunklen Wolken hindurch und Einzelheiten waren nur noch erkennbar, wenn das Mondlicht aufblitzte.
Bisher ist die Nacht ruhig verlaufen, dachte ich und streckte mich lautlos. Hoffentlich bleibt das auch weiterhin ...
Ein leises Knacken im Unterholz unterbrach meinen Gedankengang, vertrieb die letzten Reste der Müdigkeit und ließ mich hellwach aufhorchen. Minutenlang lauschte ich in die Dunkelheit, doch alles blieb still. Auch zu sehen war nichts, da der Mond sich wieder einmal hinter einer dichten Wolkendecke verbarg. Jetzt hätte ich etwas Licht wirklich zu schätzen gewusst. Als ich mich schließlich entspannte und das Geräusch meiner Müdigkeit zuschrieb, wiederholte sich der Laut aus dem Wald. Und dieses Mal mischte sich ein kaum wahrnehmbares Schleifen darunter, das mir einen kalten Angstschauer über den Rücken kriechen ließ.
»Nelia, wach auf!«, flüsterte ich kurz darauf. »Wir müssen weg.« In Windeseile hatte ich den Aussichtsposten verlassen und war so schnell wie möglich zu meinen Freunden zurückgeschlichen, um sie zu warnen.
Nelia war sofort wach und packte, ohne zu fragen, ihre Waffen und den Rucksack. Nur Sekunden benötigte sie, um sich fertigzumachen. Auch Selim reagierte schnell. Doch er konnte sich nicht zurückhalten.
»Was ist denn los?«, zischte er kaum hörbar.
Ein Wort von mir genügte, um ihn zum Verstummen zu bringen, und sowohl bei ihm als auch bei Nelia die nackte Angst in den Augen aufblitzen zu lassen. »Schattenjäger!«
Jeder im Seevolk kannte die gefährlichen Bestien, deren nachtschwarze ölig glänzende Panzerplatten ihnen den passenden Namen eingebracht hatten. Niemand war scharf darauf, diesen sechsbeinigen augenlosen Kreaturen bei Nacht zu begegnen und auch für uns sah es nicht wirklich gut aus. Denn obwohl das Ungeheuer offensichtlich allein unterwegs war, konnten wir drei nicht das Geringste dagegen ausrichten, wenn es uns erst aufgespürt hatte. Unsere Waffen waren nutzlos. Speere, Pfeile und Messer prallten wirkungslos an den überlappenden Hornplatten ab, mit denen diese Bestien gepanzert waren. Die einzige Rettung bestand darin, so schnell wie möglich zu verschwinden und die Kreatur irgendwie davon abzuhalten, uns zu folgen. Waren wir erst im nahen Wald untergetaucht, wurde es für das Ungeheuer, das hauptsächlich auf Bewegungen reagierte, schwieriger, unsere Fährte aufzuspüren.
Doch das Dickicht ist viel zu weit entfernt, dachte ich, während ich verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Nelia blickte mich wissend an und mir war sofort klar, dass sie zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt war.
»Das schaffen wir nie bis in den Wald«, flüsterte sie.
»Ich habe eine Idee«, kam es kaum hörbar von Selim. »Wenn wir den Schattenjäger hier hereinlocken und anschließend den Eingang versperren, dann können wir durch die schmalen Wandöffnungen verschwinden und die Bestie kann uns nicht folgen.«
»Und wie sollen wir den Durchgang blockieren?«, zischte Nelia und deutete in Richtung des offenen Tores.
Selim zuckte ratlos mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Es war ja nur eine Idee.«
Und eine gute noch dazu, dachte ich. Suchend schweiften meine Blicke durch den Raum. Genau über dem Eingang hing ein großes Stück der brüchigen durchlöcherten Decke und sah so aus, als ob es jeden Moment herunterstürzen würde. Wenn man hier etwas nachhalf, dann würde sich der Brocken aus Beton, verrostetem Stahl und Ziegeln vielleicht lösen und den Eingang verschütten.
»Bleibt an der hinteren Mauer«, gab ich Nelia zu verstehen. »Ich klettere auf das Dach und rufe, sobald die Schattenbestie nahe genug ist. Dann schießt du auf den Eingang. Versuch, etwas zu treffen, wovon der Pfeil abprallt. Er sollte die Bestie anlocken und wenn das Vieh im Gebäude ist, zwängt ihr euch durch diese schmalen Schlitze dort hinten ins Freie und lauft, so schnell ihr könnt, nach Norden.«
Furcht blitzte erneut in ihren Augen auf, doch diesmal war es nicht Angst um das eigene Leben, sondern um mich. »Und was ist mit dir?«
»Ich lasse die Decke einstürzen, sobald der Schattenjäger drin ist. Mit etwas Glück blockiert der Schutt den Ausgang und verschafft mir so viel Zeit, dass ich ebenfalls den Waldrand erreiche, ohne dass er mich bemerkt.«
Ich strich ihr liebevoll über die Wangen und küsste sie sanft. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde einen Weg vom Dach herunter finden und hole euch sicher ein, bevor ihr die Glaswüste erreicht. Und jetzt los!«
Mit den Füßen voran kroch ich durch einen der Schlitze in der Wand und stellte die Waffen geräuschlos am Boden ab. Auf der Klettertour zum Dach hinauf hätten sie mich nur behindert und weder meine Pfeile noch der Speer konnten etwas gegen diesen Schattenjäger ausrichten. Nur ein direkter Treffer im aufgerissenen Maul würde dieser Bestie Schaden zufügen und selbst wenn ich traf, war nicht gesagt, ob das die Kreatur umbrachte oder nur noch viel wütender machte.
Draußen tastete ich mich an der Außenmauer entlang, bis ich kalte Stahlstäbe unter meinen Fingern spürte. Die senkrecht hinaufführende Leiter war von einem Käfig umgeben und nun war ich doppelt froh, die sperrigen Waffen zurückgelassen zu haben. Mit Speer und Bogen hätte ich mich nie durch diesen engen Durchgang quetschen können. Sprosse um Sprosse kletterte ich in der mittlerweile wieder mondbeschienenen Nacht auf das Dach hinauf. Oben angekommen schlich ich am Rand entlang, bis ich mich direkt über dem Zugangskorridor befand und spähte hinab. Im Inneren konnte ich den Schatten von Nelia ausmachen, die mit gespanntem Bogen auf mein Zeichen wartete.
Draußen hatte der Schattenjäger die eierförmigen Strukturen erreicht und schlich sich langsam an uns heran. Die Bestie war ohne jeden Zweifel auf dem Weg zum mittleren Gebäude. Wie sie uns gefunden hatte, obwohl dessen hohe Mauern unsere Bewegungen sicher verborgen hatten, wusste ich nicht. Und es war auch nicht wichtig, denn nun kam es nur noch darauf an, dem schwarzen Ungeheuer zu entkommen.
Totenstille umgab mich. Kein Lebewesen in der Umgebung wagte es, einen Laut von sich zu geben, solange diese Bestie hier war. Nur das überlaute Klacken ihrer stahlharten Krallen auf dem moosüberzogenen Asphalt war zu hören, als sie sich langsam vorwärts pirschte. Und immer wenn sich eines ihrer sogar an den Fußsohlen gepanzerten Beine auf die alte Straße senkte, gab diese unter dem hohen Druck des massigen Körpers leise knirschend nach. Wie in der Bewegung eingefroren, blieb sie schließlich nur wenige Meter vor dem Gebäude stehen, und streckte witternd ihren dreieckigen augenlosen Kopf in die Höhe. Mir kam es vor, als ob sie mich direkt musterte, und schreckensstarr verharrte ich sekundenlang mit angehaltenem Atem und vor den Mund gelegter Hand. Dann gewann das Wissen über diese Kreaturen die Oberhand über die Furcht.
»Jetzt«, rief ich mit zitternder Stimme und war heilfroh darüber, dass die Berichte über die Taubheit der Schattenjäger offensichtlich stimmten, denn die Bestie vor dem Gebäude ignorierte meinen Ruf vollkommen. Nelia dagegen reagierte sofort und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Das Geschoss war trotz der Dunkelheit gut gezielt und prallte an den verrosteten Überresten der Tür ab. Es wirbelte davon und im selben Moment ruckte der hässliche Kopf des Scheusals herum. Es setzte sich sofort in Bewegung und zwängte seinen massigen Körper durch das breite Tor unter mir. Die Reste der Türen wurden mit einem jämmerlichen Quietschen endgültig aus den Bändern gerissen und stürzten polternd zu Boden. Ich zuckte erschrocken zusammen. Doch es war nicht der Lärm, der mir den Atem stocken ließ, sondern das tiefe Röhren der Bestie, mit der sie sich durch den Korridor zwängte und ganze Teile der Wände mit sich riss. Ich konnte durch die hochwirbelnden Wolken kaum noch sehen, was unten vor sich ging und wurde in kürzester Zeit von beißenden Nebeln umhüllt, die mir die Luft zum Atmen nahmen.
Doch hatten die Staubwolken, die das Raubtier dabei aufwirbelte, auch ihr Gutes. So konnte ich mich der eigentlichen Aufgabe widmen, ohne Angst haben zu müssen, dass der Schattenjäger meine Bewegungen wahrnehmen würde. Ein vorsichtiger Tritt auf die morsche Konstruktion des Daches ließ mich trotz der Nebelschwaden erleichtert aufatmen. Es würde nicht sonderlich viel Kraft kosten, die Kuppel unter meinen Füßen zum Einsturz zu bringen. Da machte ich mir eher Sorgen darüber, schnell genug von den zusammenbrechenden Trümmern wegzukommen und nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden.
Angestrengt lauschte ich hinunter, bis endlich nach gefühlten Stunden die Stimme Nelias zu mir heraufdrang.
»Ithan, wir sind draußen«, rief sie. »Schnell jetzt. Lass das Dach einstürzen, wenn du kannst.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und begann, auf die spröden Stahlträger einzutreten. Polternd lösten sich schon nach meinem ersten Versuch einige Brocken und stürzten ins Innere des Gebäudes. Durch das Loch, das dabei entstand, konnte ich in den Schatten unter mir die Bestie sehen, die versuchte, Selim und Nelia zu verfolgen. Vor Wut tobend rannte das riesige Geschöpf immer wieder mit seinem ganzen Körper gegen die Wand an, durch die meine Gefährten entkommen waren und jeder Stoß sorgte dafür, dass sich weitere Teile der Kuppel lösten.
Mit ganzer Kraft trat ich gegen die altersschwachen Träger, welche das Dach hielten, und hatte schließlich Erfolg. Mit einem hellen Knall platzte das poröse Metall auseinander und ein gewaltiges Stück der Kuppel senkte sich zunächst langsam, dann immer schneller ab. Es schwenkte wie eine Klappe herum, krachte gegen die Wand und wurde dadurch vollends abgerissen. Weitere Teile folgten und schließlich gab die gesamte Kuppel nach und begrub den Eingangskorridor, die Halle und auch die Schattenbestie unter sich.
Eine weitere Staubwolke stieg aus dem Raum auf, hüllte alles ein und brachte mich zum Husten. Keuchend balancierte ich auf dem schmalen Grat der Mauer, die nun – nachdem die Kuppel komplett zusammengebrochen war – wie ein ringförmiges Gehege aus Beton den regungslosen Schattenjäger umschloss.
Der Staub legte sich nur langsam und als ich endlich wieder etwas sehen konnte, wurde klar, dass wir die Bestie zwar eingesperrt, jedoch nicht getötet hatten. Sie kam taumelnd auf die Beine, schüttelte sich träge und gab ein tiefes gleichförmiges Bellen von sich, das sich ausgesprochen bedrohlich anhörte. Als ich mich abwandte, um die glücklicherweise noch immer existierende Leiter wieder hinabzuklettern, röhrte die gebrüllte Antwort auf den Hilferuf des eingesperrten Schattenjägers von Süden her aus dem dunklen Dschungel. Viel Zeit würde uns nicht bleiben, bis weitere Bestien hier waren und so ließ ich mich die letzten Stufen einfach hinabfallen. Federnd kam ich unten auf, hetzte zur Ausrüstung hinüber und folgte meinen Gefährten, die längst im dichten Wald verschwunden waren.
Durch Sturm und Regen
Die Flucht vor den Schattenjägern war ein Albtraum. Der Wind heulte wie ein wildes Tier und trieb die Regentropfen fast horizontal durch den lichten Wald. Die Bäume links und rechts bogen sich knarrend im Sturm und ächzten unter der Kraft der Elemente. In der Dunkelheit war nichts zu sehen außer dem Schein gelegentlicher Blitze, die über den Himmel flammten. Ohrenbetäubender Lärm umgab mich – das Dröhnen des Donners, das Prasseln des Regens auf den Blättern und das Knarren der Äste. Es war eine Nacht voller roher, ungebändigter Naturgewalt und der Wald ringsum schien zu leben und zu atmen unter dem Einfluss des Sturms. In kurzer Zeit war ich vollkommen durchnässt. Mehrere Male rutschte ich auf dem glitschigen Untergrund aus und fiel in den kalten Schlamm.
Obwohl die Ruhepause in den Ruinen der A'tikar noch nicht länger als zwei oder drei Stunden her sein konnte, war ich ausgepumpt und kraftlos. Jeder einzelne Muskel in mir brannte und fühlte sich an, als ob flüssige Lava durch die Adern gepumpt würde. Mein Atem ging rasselnd und keuchend, während ich immer weiter voranstolperte. Alles in mir schrie nach einer Pause, doch das heisere Bellen, das durch den Lärm des tobenden Unwetters von Zeit zu Zeit hinter uns erklang, trieb mich voran. Und jedes Mal wenn das bösartige Jaulen erneut zu hören war, kam es mir näher vor.
Einen Lichtblick gab es zumindest: Nelia und Selim hatte ich schon nach kurzer Zeit eingeholt. So hetzten wir zu dritt durch den dunklen Wald und versuchten, den Abstand zu den Bestien aufrecht zu erhalten. Doch es war abzusehen, dass sie uns einholen würden. Und dann gab es drei Anwärter mehr, die nie wieder in die Seestadt zurückkehren würden.
Selim, der knapp vor mir lief, rutschte laut fluchend über eine nasse glitschige Wurzel und knallte der Länge nach hin. Glücklicherweise war der Boden auch hier mit Moos bewachsen und so verletzte er sich zumindest nicht, als er über den schlammigen Untergrund schlitterte und schließlich liegen blieb. Ich zog ihn auf die Beine, keuchte ein »Los, wir schaffen es!« und hetzte weiter, ohne wirklich daran zu glauben. Wenn nicht ein Wunder geschah, dann waren es nur noch Minuten, die uns von einem überaus gewaltsamen Tod trennten.
Ich spurtete einen weiteren Hügel hinauf und kämpfte mich durch das Gestrüpp einer Hecke, ohne darauf zu achten, dass mir die spitzen Dornen Arme und Beine zerkratzten. Hinter den Dornenbüschen lichtete sich der Wald schlagartig. Ich stolperte eine steile Böschung hinab und begann auf dem schlammigen Untergrund zu rutschen. Meine Hände griffen in nasses Gras und feuchten Morast, ohne wirklich Halt zu finden. Mit schreckgeweiteten Augen starrte ich auf die von einem weiteren Blitz aus dem Dunkel gerissenen Silhouetten zweier mächtiger Maschinen, die am Ende des Hanges direkt an der Kante einer tiefen Schlucht standen. Hoffnung keimte auf. Wenn ich es schaffte, genau auf eine dieser Strukturen zu rutschen, würde mich das vor dem Sturz in die Tiefe bewahren. Panisch verstärkte ich meine Bemühungen, die Richtung zu ändern, doch noch immer fand ich nirgendwo Halt. Das Unwetter, das jetzt mit voller Wucht über uns tobte, hatte das Erdreich in eine gefährliche Rutschbahn verwandelt. Ich warf mich in der Hoffnung herum, vielleicht auf dem Bauch rutschend die Füße und Hände besser in den Boden stemmen zu können und tatsächlich verlangsamte sich die Schussfahrt deutlich. Als ich einen halben Meter neben dem bröckelnden Betonfundament eines A'tikargeschützes vorbeirutschte, spürte ich, wie kräftige Hände meine Arme umschlossen. Ein Blitz zuckte vom Himmel herab und beleuchtete Nelia, die mit den Beinen an einem verrosteten Geländer hing und sich weit zu mir hinab beugte. Mit stählernem Griff und vor Anstrengung hervortretenden Adern im Gesicht klammerte sie sich an mich und bekam einen Gurt meines Rucksacks zu fassen. Ich wurde herumgewirbelt und knallte mit der Hüfte so heftig gegen die Kante des Fundaments, dass ich das Knacken der Rippen selbst im lauten Prasseln des Regens hören konnte. Verzweifelt klammerte ich mich trotz der Schmerzen an einem rostigen Stahlrohr fest und schaffte es mit Nelias Hilfe, mich auf die moosbedeckte Steinplatte hochzuziehen. Keuchend blieb ich auf dem Rücken liegen und erkannte über mir die verbogenen Geschützrohre eines Abwehrturms der Altvorderen, die drohend in den sturmgepeitschten Nachthimmel ragten.
»Verdammt, das war knapp«, stöhnte ich gequält und wandte mich Nelia zu. »Du hast mich gerettet – das vergesse ich dir nie!«
Doch anstatt zu antworten, deutete sie nur den Hang hinauf. »Selim!«