Heiko Kohfink
KONFLIKT – Funguszyklus Buch 3
Impressum
ISBN: 9783754661116
Copyright © 2021 Heiko Kohfink
(Pseudonym HK Kohfink)
Uhlandstr.7/72124 Pliezhausen
Kontakt: www.heiko-kohfink.de
Coverdesign: Giusy Ame / Magicalcover
Bildquelle: Depositphoto
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Zu diesem Buch: Zehn Jahre sind seit der ersten Kontaktaufnahme mit dem Pilzgeschöpf, das sich über die ganze Erde ausgebreitet hat und sich selbst KoLar nennt, vergangen. Seitdem lebten die letzten Menschen mit ihm und seinen Geschöpfen in einer Art Waffenstillstand zusammen. Die Wunden der Kämpfe zwischen den Baumwesen und den letzten menschlichen Überlebenden, die jahrzehntelang gewütet haben, sind zu frisch, um von einem friedlichen Miteinander zu sprechen. Der Argwohn, der zwischen den beiden Parteien für so lange Zeit geherrscht hat, legt sich nur langsam. Und dann taucht ein neuer Feind aus den Tiefen der nuklearen Endlager auf, der nur ein Ziel kennt: Die Vernichtung KoLars und aller Menschen!
Heiko Kohfink, 1967 in Reutlingen geboren, ist Techniker und lebt mit seiner Frau, die ebenfalls schriftstellert, nahe seiner Heimatstadt. Inspiriert durch das Lesen, das schon immer seine größte Leidenschaft war, hat er sich vor einiger Zeit an sein Erstlingswerk KOLLAPS gewagt und bringt mit KONFLIKT den dritten und letzten Band der Funguszyklus-Reihe heraus. Wenn er nicht vor dem Bildschirm über neuen Buchprojekten brütet, verbringt er gerne Zeit mit seinen beiden Söhnen. Lange Spaziergänge, Lesen, aber auch Spielen gehören ebenfalls zu seinen Hobbys. Dabei bringt er häufig mit seinem oft sehr speziellen Humor seine ganze Familie an den Rand der Verzweiflung.
KONFLIKT
FUNGUSZYKLUS, Buch 3
Heiko Kohfink
Für meine treuen Leserinnen und Leser,
die mich mit ihren Rückmeldungen
immer wieder im Weiterschreiben bestärken.
Cala Morell, Menorca
Die Sonne brannte unbarmherzig von einem makellosen, tiefblauen Himmel. Jetzt, zur Mittagszeit, war es unerträglich heiß und Alvaro rann der Schweiß in kleinen Rinnsalen von Kopf und Armen, tränkte sein fleckiges T-Shirt und tropfte auf die Steine der Brüstung, hinter der er sich verborgen hielt. Er lag ausgestreckt auf dem Flachdach einer Finca, die direkt an den steil abfallenden Klippen gebaut worden war. Ein provisorischer Unterstand unter den knorrigen Ästen einiger Olivenbüsche, die sich auf dem Dach angesiedelt hatten, schützte ihn notdürftig vor der sengenden Hitze. Der aromatische Duft von Rosmarin, der überall auf der Insel wuchs, wehte ihm mit der sanften Brise vom Landesinneren her entgegen. Wirkliche Kühlung brachte der leise Wind nicht mit sich. So blieb dem durchtrainierten Spanier nichts weiter übrig, als den Schweißtropfen dabei zuzusehen, wie sie dampfend auf den heißen Steinen verdunsteten, sobald sie von seinem Körper herabtropften.
Viele Meter unter ihm toste und schäumte die Mittelmeerbrandung in einem endlosen Ansturm gegen die Steilküste, und das Rauschen der Wellen vermischte sich mit dem Kreischen unzähliger Seevögel, die in den schroffen Felswänden nisteten. In dem ganzen Lärm verlor sich das Klappern der akustischen Falle, die er vor wenigen Minuten zwanzig Meter vor der Finca hinter den Resten einer kleinen Steinmauer aufgebaut hatte, fast vollständig.
Die Lage war schwierig. Besser gesagt, sie war aussichtslos. Hatte er so viele Jahrzehnte überlebt, um an diesem gottverlassenen Ort zu krepieren? Er schüttelte frustriert den Kopf und ein Sprühregen von Schweißtropfen fiel von seinen schwarzen Locken, die er sich im Nacken mit einem Lederriemen zu einem schulterlangen Zopf zusammengebunden hatte.
»Ich sollte wirklich mal eine andere Frisur in Betracht ziehen. Die langen Haare sind für dieses Wetter einfach nicht geeignet.«
Dabei schätzte er seine Chancen, Lucia in den nächsten Tagen darum zu bitten, ihm die Haare zu schneiden als ziemlich schlecht ein. Er fuhr sich über das Gesicht und versuchte, den brennenden Schweiß, der sich mit der salzigen Seeluft vermischte, aus den Augen zu wischen.
»Atención, mi amado, sie kommen. Sei wachsam!«, drang die leise, melodische Stimme von Lucia aus dem Headset. Wie so oft, wenn er ihren samtigen Klang hörte, fuhr ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Er bestätigte und konzentrierte sich auf das Zielfernrohr seines Schnellfeuergewehrs. Die olivgrüne Farbe der alten Waffe blätterte bereits an vielen Stellen durch die aggressive Meeresluft auf Menorca ab, und das mit Draht und Lederriemen befestigte Fernrohr sah ebenfalls nicht mehr sonderlich vertrauenerweckend aus. Doch die Waffe, die einstmals einem Soldaten der spanischen Armee gehört hatte, wurde von Alvaro liebevoll gepflegt und hatte ihn nie im Stich gelassen. Außerdem gab es für das Standardgewehr der ehemaligen Fuerzas Armadas Españolas in fast jeder Kaserne Munition.
Er spähte die staubige Straße entlang, die von seinem Versteck den Hügel hinaufführte und versuchte gleichzeitig, den Aufenthaltsort von Lucia zu ermitteln. Seine Lebensgefährtin hatte sich auf einem der Hausdächer rechts neben ihm nahezu unsichtbar postiert. Erstaunlich! Waren es doch nur wenige Fincas, die hier am Ende der Straße und direkt am Klippenrand gebaut waren. Trotzdem verschmolz sie mit der Umgebung so vollkommen, dass er nicht erkennen konnte, wo sie sich aufhielt. Im Grunde genommen war das gut so. Wenn er seine Frau nicht sah, dann konnten auch die monstruos arbóreo sie nicht sofort aufspüren. Und hoffentlich witterten die Wölfe sie ebenfalls nicht. Zwar blies Ihnen der leichte Wind entgegen und wirbelte dabei den feinen Staub auf der Straße zu kleinen Sandteufeln auf. Aber Alvaro hatte genug erlebt, um zu wissen, wie gut die Sinne der Kreaturen entwickelt waren und er vertraute keineswegs darauf, der Witterung dieser Bestien zu entgehen.
Eine Bewegung am Ende der Straße holte Alvaro aus seinen Gedanken. Der Kreisverkehr, der dort oben lag, war vermutlich schon vor dem Kollaps unnötig gewesen! Der kleine Ort war eher ein Dorf als eine Stadt. Wo früher weiß getünchte Anwesen und schick hergerichtete Fincas die Touristen angelockt hatten, standen heute verfallende Häuser, deren Wände aus Stahlbeton grau und mit Rostflecken übersäht der aggressiven Seeluft trotzten. Kniehohe, meist eingestürzte Steinmauern, die die Grundstücke umgaben, und niedrige, vertrocknete Büsche, die im Windschatten der Ruinen wuchsen, vervollkommneten das trostlose Bild.
Das erste Baummonster wuchs direkt über dem Kreisverkehr in die Höhe, während es mit großen Schritten auf seinen Standort zu stapfte. Alvaro entsicherte seine Waffe und zielte sorgfältig. Doch er wartete auf das Kommando von Lucia. Sie war die Scharfschützin. Er hatte in seinem Leben nie jemanden getroffen, der dermaßen präzise mit einem Gewehr umging. Genaugenommen verdankten sie es vor allem ihren Schießkünsten, dass sie beide die letzten Überlebenden der kleinen Gruppe waren, die sich vor vielen Jahren von Mallorca in einem Fischerboot auf die Nachbarinsel gerettet hatten. Doch auch hier gab es die Monster, die seit der Nacht des roten Todes die wenigen Menschen jagten, die noch lebten.
»La noche de la muerte roja« hatte sein ganzes Dasein verändert. Hatte ihm Frau und Kinder genommen und alle Menschen, die er je gekannt und geliebt hatte. Erst viele Jahrzehnte später begegnete er Lucia und ihrer Gruppe zufällig beim Plündern in Palma und begann mit ihnen ein neues Leben. Seither waren er und die heißblütige, stolze Spanierin, die er so sehr liebte, ein Paar. Sie hatten sich nach Menorca aufgemacht, da sie annahmen, hier auf weniger Gegner zu stoßen.
Grundsätzlich hatte das gestimmt, aber vor einem Jahr waren neue Feinde überall auf der Insel aufgetaucht und hatten die Überlebenden unbarmherzig gejagt und getötet. Nun waren nur noch er und Lucia übrig. Und wenn er die Lage richtig einschätzte, dann würden auch die letzten beiden Menschen auf Menorca bald tot im Staub unter der heißen, spanischen Sonne verrotten. Denn was er durch sein Zielfernrohr erblickte, war keinesfalls geeignet, seine Hoffnung auf ein langes, glückliches Leben an der Seite seiner geliebten Frau zu schüren.
Doch noch wollte er nicht aufgeben. Die Kreatur kam in der Mitte der Dorfstraße näher. Aus den Schatten der Nebenstraßen lösten sich die Silhouetten von drei weiteren Baummonstern. Gleichzeitig strömte ein Rudel von mindestens zwanzig der mutierten Wölfe über den Kamm herab und kam witternd auf ihre Verstecke zugelaufen. Die flinken Jäger bewegten sich zwar auf sie zu, an ihren Bewegungen und wie sie nach allen Richtungen Ausschau hielten, erkannte Alvaro aber, dass sie die beiden Menschen bisher nicht ausgemacht hatten. Dafür hatten sie die Falle wahrgenommen, die sie mit ihrem Klappern geradezu magisch anzog. Diese bestand aus nichts weiter als einem alten Plüschtier. Genauer gesagt handelte es sich um einen kleinen Affen, der zwei blecherne Deckel gegeneinander schlug.
Er grinste trotz der heiklen Lage, in der sie sich befanden. Schon oft hatte dieses Spielzeug die Bestien in den Tod gelockt. Und auch heute würden viele von ihnen sterben, bevor sie erkannten, dass es sich um eine simple Falle handelte. Besonders intelligent waren die Biester glücklicherweise nicht. Doch diesmal reichte ihre bloße Überzahl aus, um Lucia und ihm das Leben schwer zu machen. Immer mehr der verfluchten Wesen tauchten oben auf dem Grat auf und schlossen in aller Seelenruhe den Ring um die beiden Menschen.
»Jetzt, mi amor«, flüsterte es leise aus dem Kopfhörer und gleichzeitig hörte er das Ploppen ihres Schalldämpfers, als seine Frau den ersten Schuss abgab. Alvaro eröffnete das Feuer, und der Wolf, den er anvisiert hatte, brach mit zerfetztem Kopf mitten im Lauf zusammen. Ein letztes blaues Leuchten zuckte über den sterbenden Körper, dann blieb er still liegen. Lucias Schüsse trafen ebenfalls und wenige Sekunden später lagen sechs der vierbeinigen Monster tot im Staub unter der sengenden Sonne. Die übrigen hatten die Gefahr erkannt und gingen am Straßenrand hinter Mauern und alten Autowracks in Deckung, während sie sich weiter anpirschten. Die Baummonster, die zu groß waren, um ausreichend Schutz hinter den zerfallenen Häusern zu finden, marschierten stoisch auf sie zu und waren leichte Ziele. Einer nach dem anderen fiel zu Boden, doch für jeden Gegner, den sie erschossen, kamen zwei neue über die Anhöhe. Es war, als kämpfe man gegen eine Hydra, der ständig Köpfe nachwuchsen, nachdem man einen abgeschlagen hatte.
Der erste Wolf hatte den Köder erreicht und heulte enttäuscht auf, als er erkannte, dass es nur eine Puppe war, die ihn angelockt hatte. Mit einem beiläufigen Biss zerfetzte er das Spielzeug und das klingelnde Geräusch der Becken brach wie abgeschnitten ab. Die Gegner waren mittlerweile so dicht heran, dass sie die leisen Schussgeräusche der schallgedämpften Waffen ohne Probleme hören konnten, und sie sich nun ihren eigentlichen Zielen zuwandten.
»Das sieht nicht gut aus, mi corazon!«, flüsterte Alvaro bedauernd in sein Mikro. »Ich glaube, diesmal entkommen wir nicht. Sie sind einfach zu zahlreich.«
»Si, du hast recht. Hier ist unser Kampf zu Ende. Lass uns so viele Bestien wie möglich mit in den Tod nehmen. Nur schade, dass ich dich nicht noch einmal umarmen kann.«
Nach einer kurzen Pause drang ein tiefer Seufzer, gefolgt von einem leisen »te amo, mi amor« aus dem Lautsprecher.
»Ich liebe dich auch, mein Herz. Für immer«, flüsterte Alvaro und erhob sich ächzend aus seiner unbequemen, liegenden Position.
»Hier bin ich, ihr verfluchten Kreaturen. Hasta la vista, bastardos!«, brüllte er die Angreifer an, stellte den kleinen Hebel an seinem Gewehr von Einzel- auf Dauerfeuer um und jagte den Bestien eine Salve nach der anderen entgegen. Drei Häuser entfernt erhob sich Lucia ebenfalls aus ihrer Deckung und tat es ihm gleich. Er schaute hinüber und ihre Blicke trafen sich. Hier würde es also enden. Zumindest starben sie beide gemeinsam.
In dem Moment als Alvaro jede Hoffnung aufgegeben hatte und mechanisch auf alles schoss, was sich bewegte, veränderte sich etwas. Zunächst konnte er nicht sagen, was. Doch dann wurde ihm klar, dass außer dem Brüllen der Bestien, dem Rauschen der Brandung und dem Kreischen der Seevögel ein weiteres Geräusch dazugekommen war. Das seltsame, mechanische Surren wurde schnell lauter und übertönte schließlich alles andere. Und genau in dem Augenblick, als der erste Baumwolf mit einem Satz von unten auf die Brüstung sprang und seine halbmeterlangen, stahlharten Klauen in den bröckelnden Beton bohrte, schoss ein Schatten über Alvaro hinweg. Das Geräusch eines Maschinengewehrs erklang und die Bestie stürzte direkt vor dem vollkommen überraschten Spanier tot zu Boden.
»Madre de dios! Was geschieht hier«, stammelte er und sah dem Flugzeug hinterher, das über den Klippen einen Aufwärtslooping flog. Am Scheitelpunkt rollte es träge herum und nahm die Wölfe und Baummonster unter Beschuss, die Lucia bereits gefährlich nahegekommen waren.
Und dann tauchte eine weitere Flugmaschine genau dort auf, von wo aus sich wenige Minuten vorher die Armee der Monster über den kleinen Ort an der Nordküste Menorcas ergossen hatte. Die eigenartige Konstruktion, die Alvaro an eine riesige, fliegende Schildkröte erinnerte, drehte sich im Flug herum und landete mitten unter den Angreifern. Dann öffnete sich eine Luke, aus der ein Baummonster stieg, das mit einem enormen Maschinengewehr und einer mächtigen stählernen Axt bewaffnet war.
»Was zum…«, entfuhr es Alvaro, der vollkommen perplex dastand und nicht glauben konnte, was er da sah. Das seltsame Wesen vergeudete indes keine Zeit und eröffnete das Feuer auf die Bestien, die – bevor sie überhaupt ansatzweise begriffen, was geschah – leblos und in Stücke geschossen am Boden lagen. Das leise Pfeifen der schnell rotierenden Geschützläufe war nach dem Getöse, das die Waffe veranstaltet hatte, kaum zu hören, als der Riese das Feuer einstellte und das Gewehr sinken ließ.
Ein einzelner Wolf, der sich zwischen den Gebäuden verborgen gehalten hatte, war dem Massaker bisher entgangen. Nun stürzte er aus seinem Versteck hervor und griff den neuen Gegner mit einem Riesensatz von vorne an. Doch die Axt, die der Neuankömmling fast schon spielerisch schwang, zerteilte ihn mitten in der Luft in zwei Hälften, die mit einem ekelerregenden Geräusch zu Boden klatschten. Noch während der letzte Angreifer fiel, drehte sich das bewaffnete Baummonster zu Alvaro um, starrte ihn durch das Geflecht, hinter dem die roten Augen glühten, durchdringend an und öffnete seinen Mund.
»Keine Gefahr mehr. Koohr und Jan sind nun da«, knarrte er mit tiefer, aber dennoch verständlicher Stimme.
Das war zu viel für Alvaro, der schon so manchen Kampf gegen diese Gegner geführt hatte. Das Gewehr entglitt endgültig seiner Hand und fiel klappernd hin, bevor er sich nach einem erneuten »Madre de dios« entkräftet zu Boden sinken ließ.
Der Mann im Schloss
Dunkle Wolkengebirge, durchzogen von blutroten Streifen wanderten über den abendlichen Himmel des Voralpenlandes, als die Sonne in einem Meer von Rot- und Orangetönen im Westen versank. Inmitten des dichten Tannenwaldes stand ein Schloss vor den imposanten, schneebedeckten Gebirgen, die sich weit im Süden auftürmten. Noch immer ragten die Türme wie Nadeln aus Stein empor, wie sie es schon lange vor dem Kollaps getan hatten. Einzig der wuchtige, viereckige Söller war vor vielen Jahren zusammengestürzt und hatte den gewundenen Weg, der zur Anlage heraufführte, unter Geröllmassen begraben. In den Löchern und Spalten des Schuttberges wuchsen Bäume, zwischen denen allerlei Kleintiere Schutz und Nahrung fanden.
Noch vor anderthalb Jahrhunderten hatte das Schloss an den Hängen oberhalb des Forggensees zigtausende Touristen aus der ganzen Welt angelockt. Nun stand es in der Stille der Bergwelt und dämmerte wie in einem Märchen vor sich hin.
Ein Hase, der zwischen den Steinen lebte, streckte vorsichtig den Kopf unter den Wurzeln einer mächtigen Tanne hervor. Er witterte nach allen Seiten, bevor er einige behutsame Hopser aus der Sicherheit seines Baus heraus machte und zu fressen anfing. Immer wieder hielt er inne und sicherte die Umgebung. Dabei störte es ihn nicht, dass die saftigsten Gräser zwischen den Knochen und aus dem Schädel eines ausgebleichten, menschlichen Skeletts wuchsen. Plötzlich erstarrte er. Ein Schrei drang an seine Ohren, der ihn aufgeschreckt in sein Versteck zurückhuschen ließ.
»Verflucht noch mal, was willst du schon wieder von mir, du alte Vettel?«, hallte eine kreischende, aufgebrachte Stimme über den Innenhof des Schlosses.
»Kannst du mich denn nicht einmal in Ruhe essen lassen?«
Im ehemaligen Sängersaal des Hauptgebäudes lief das Gesicht von Hagen Törnwald dunkelrot an, als er nach einem goldenen Becher griff und diesen in Richtung der Botschafterin warf, die ihn bei seiner Mahlzeit störte. Der Norweger mit dem bulligen Körperbau und dem kahl geschorenen Schädel, den auf der linken Seite die rotschillernde Tätowierung einer Kobra zierte, ließ seine Faust auf die Tischplatte krachen. Er wirkte so furchterregend, dass die Überbringerin der Nachricht sich zitternd mehrere Meter zurückzog.
Törnwald saß allein in dem riesigen Saal an einer wuchtigen Tafel aus groben Eichenbohlen. In dem gebratenen Wildschwein, das auf einer silbernen Platte mitten auf dem Tisch stand, steckte ein langes Messer, mit dem sich der Hüne eben eine dicke Scheibe hatte abschneiden wollen. Er ließ sich auf den thronartigen Sessel zurückfallen und legte seine fettverschmierten Hände auf den mit Totenköpfen verzierten Armlehnen ab. Hinter dem Stuhl am anderen Ende des Tisches kauerte eine ausgemergelte Frau mit langen, schwarzen Haaren, die in ungepflegten Strähnen bis zu ihren Hüften herabfielen. Ihr einstmals hübsches Gesicht wurde von einer tiefen, weißen Narbe verunstaltet, die sich vom Haaransatz über ihre linke Wange bis zum Hals hinabzog.
»Er will dich sofort sprechen!«
Sie hielt den Blick gesenkt, war aber so aufmerksam, dass sie bemerkte, wie der hünenhafte Mann vor ihr nach einem Teller griff und diesen auf sie schleuderte. Geschickt wich sie dem Geschoss aus, was den glatzköpfigen Riesen vor ihr nur noch mehr erzürnte.
»Ach, lass mich doch in Ruhe«, fauchte er ungehalten in ihre Richtung und warf die Serviette, die er sich um den Hals gebunden hatte, achtlos auf den dampfenden Braten. Er sprang wütend auf, wobei der Thronsessel mit einem kreischenden Geräusch auf das zweifarbige Fischgrätparkett polterte. Die Frau zuckte zusammen, stolperte zurück und sah angsterfüllt zu Boden, während er, immer noch erbost über die Störung, mit laut hallenden Schritten durch die Eingangstür am anderen Ende des Saales verschwand.
»La peste sur toi, du warst schon früher ein Idiot und wirst bis in alle Ewigkeit einer bleiben!«, fluchte die Frau und griff nach dem Messer, das sie mit einem wütenden Ruck aus dem gebratenen Schwein riss. Sie schnitt sich eine große Scheibe des Bratens ab, rammte die Klinge dem aus toten Augen blickenden Wildschwein knirschend mitten in den Schädel und stellte sich vor, es wäre Hagens Kopf.
Bei dem Gedanken daran lächelte sie kalt, doch ihr war klar, dass es ein Wunschtraum bleiben würde. Zu große Angst hatte sie vor seinen blau schimmernden Wölfen, die nur auf seinen Befehl hörten und die er jederzeit auf sie loslassen konnte. Und was das bedeutete, wusste Pauline Meriony, eine der drei Rädelsführer des Aufstands von New Hope genau. Zwei Jahre zuvor hatten ihre Freundin Alice Navalle und sie versucht, von diesem verfluchten Felsen zu fliehen. Weit waren sie nicht gekommen, denn schon nach wenigen Kilometern hatten sie ihre Verfolger in den Gassen von Füssen gestellt. Ein eisiger Schauer fuhr ihr über den Rücken und Tränen traten ihr in die Augen, als sie sich daran erinnerte, wie Hagen seine Bestien kalt lächelnd auf Alice gehetzt hatte. Pauline würde ihre gellenden, schrillen Schreie, die schnell in ein verzweifeltes, feuchtes Gurgeln übergegangen waren, ihr Leben lang nicht vergessen. Und das würde voraussichtlich eine Ewigkeit dauern.
Sie hatte damals schwer verletzt überlebt und Törnwald hatte seine Geschöpfe zurückgepfiffen, bevor sie das gleiche Schicksal erlitt wie ihre Geliebte. Vermutlich nur, damit er Pauline jeden Tag seinen Spott und seine Verachtung entgegenschleudern konnte. Und weil er jemanden brauchte, der für ihn kochte. Wenn sie seither in den Spiegel sah, dann erinnerte sie die Narbe, die ihr eine dieser Bestien beigebracht hatte, stets an ihre erfolglose Flucht.
Verdammter Norweger. Wäre sie ihm doch nie begegnet. Sie verschwand leise wie ein Geist durch eine halbgeöffnete eisenbeschlagene Eichentür, als am anderen Ende des Saales ein mächtiger Wolf erschien, dem zuckende blaue Entladungen über die Flanken liefen.
***
Törnwald bekam davon nichts mit. Sein Ärger über die Störung verflog langsam, während er Säle durchquerte, Treppenfluchten hinabstieg und sich schließlich dem Mauerdurchbruch im Keller näherte, der tief in den Felsen hinunterführte. Pauline würde ihn nicht mehr lange zum Narren halten. Er wusste genau, dass sie ihm hinter seinem Rücken einen möglichst schmerzvollen Tod wünschte. Spätestens, seit er ihre lesbische Freundin seinen Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Aber sie hatte eine Lektion verdient. Niemand hinterging Hagen Törnwald! Pauline würde es nicht wagen, ihm zu nahe zu kommen. Nicht, solange er die Gewalt über die Wölfe hatte.
Dann hatte er die Kellerräume erreicht. Hier unten beleuchteten die blau lumineszierenden Pilze die Dunkelheit. Er trat durch einen Mauerdurchbruch und zwängte sich durch die Spalte im Felsen, die sich nur wenige Schritte weiter zu einer Grotte erweiterte. Von hier aus ging es über schwarze Abgründe, enge Tunnel und kleine Kavernen immer tiefer in den Berg, bis sich vor Hagen eine imposante Höhle von fünfzig Metern Durchmesser öffnete. Am Eingang erhoben sich leise knurrend zwei Wölfe. Als sie ihn erkannten, zogen sie sich sofort wieder zurück und ließen ihn passieren. Er strebte der Mitte der Kaverne zu, in der eine kugelförmige Wurzelknolle hing, von der ein blaues, pulsierendes Leuchten ausging. Ein Gewirr aus Ranken verästelte sich nach unten und lief in ein Gespinst aus, das sich im leichten Luftzug, der durch die Höhle wehte, geisterhaft bewegte. Vier dieser wie Spinnennetze anmutenden Vorhänge hatten sich um am Boden liegende menschliche Gestalten geschlungen und diese wie überdimensionale Schmetterlingskokons komplett umhüllt. Blaue Funken liefen in den Strängen von den Umschlossenen nach oben und zurück.
»Es wirkt wie ein Computernetzwerk, in dem Informationen hin und her flitzten.«
Hagen lachte leise auf. So weit hergeholt war dieser Gedanke gar nicht. Vor dem Kollaps hatte er als IT-Spezialist gearbeitet und mit großen Netzwerken zu tun gehabt. Die gab es heute nicht mehr. Aber was er hier vor sich sah, erfüllte ihn mit Ehrfurcht. So etwas hatte die Menschheit nie zustande gebracht und deshalb war sie auch untergegangen, dessen war er sich sicher.
Er ging weiter, stieg über eine der umhüllten Gestalten hinweg und blieb genau in der Mitte der Höhle stehen. Kaum kam er dort an, als sich mehrere Wurzelstränge wie Schlangen von dem Pilzknoten herab wanden und sich am unteren Ende zu einer Glocke ausformten, die sich sanft über seinen Kopf stülpte. Er zuckte kurz zusammen, während der Kontakt aufgebaut wurde, und überließ sich dann vollständig der Kontrolle des Molochs.
»Was ist los? Warum hast du mich gerufen?«
Es dauerte einen Moment, bis sich eine Antwort in Hagens Gedanken manifestierte.
»Es ist erforderlich, die Ansiedlung in den Bergen zu vernichten. Sie haben ein Bündnis mit den Menschen, die dich und die deinen verstießen, geschlossen. Wenn Sie zu mächtig werden, wird unser Kampf scheitern. Dann wirst du nicht über die Stadt herrschen, die du New Hope nennst.«
Die Worte rollten durch Törnwalds Geist, wie ein weit entferntes Gewitter. Er sammelte seine Gedanken und antwortete:
»Lass mich darüber nachdenken. Ich muss einen Plan schmieden, wie wir sie besiegen können. Die Ansiedlung ist stark befestigt und kaum einzunehmen. Der erste Angriff vor zwei Jahren ist kläglich gescheitert, weil die verfluchten Mistkerle aus New Hope eingegriffen haben. Aber ich verspreche dir, mir wird etwas einfallen.«
Es blieb kurz still, während der strahlende Ableger von KoLar, den mittlerweile alle den Moloch nannten, die Informationen seines Getreuen verarbeitete.
»Denk dir einen Plan aus. Doch warte nicht zu lange, denn täglich werden die Menschen stärker. Wir müssen schnell reagieren.«
Damit wurde der Kontakt beendet und die Nervenwurzeln zogen sich von Hagens Kopf zurück. Eine kurze Sekunde der Orientierungslosigkeit folgte, dann verließ er die dämmrige Höhle. Er würde einen Weg finden, um die Stadt in den Bergen für die Niederlage bluten zu lassen, die er vor zwei Jahren eingesteckt hatte. Schon damals hätte ihm der Sieg und die Herrschaft über die Menschen gebührt. Nur die verfluchten Widersacher aus New Hope hatten seinen sorgfältig erdachten Angriff mit ihren neuartigen Waffen zum Scheitern gebracht. Doch das würde ihm nicht noch einmal passieren. Er ballte vor Wut die Fäuste, als er sich daran erinnerte, wie er sich damals geschlagen in die Wälder zurückgezogen hatte. Und er würde nie das Gesicht dieses Mannes vergessen, den er kurz vor seiner Flucht durch das Fernglas beobachtet hatte. Dieser elende Kerl aus New Hope hatte mit seinen Mitstreitern die Niederlage seiner strahlenden Bestien herbeigeführt. Nur Minuten hatten damals gefehlt, um die Befestigungen der Stadt endgültig zu überrennen.
Stattdessen tauchte kurz vor seinem glorreichen Sieg eine zweite Streitmacht auf, die sein Heer in die Zange genommen hatte. Nur wenige hatten mit ihm zusammen in die Sicherheit der Strahlenden Wälder flüchten können.
Viel zu lange hielt er sich bereits hier in diesem Schloss verborgen und wartete darauf, es den Menschen von New Hope, die für sein Unglück verantwortlich waren, zurückzuzahlen. Wie viele Jahre seit der Verbannung vergangen waren, wusste er schon gar nicht mehr. Nun war der Augenblick der Rache endlich gekommen.
Aberdeenshire, Schottland
Der Humvee polterte mit überhöhter Geschwindigkeit über das Ende des Feldwegs, schanzte eine kleine Böschung hinauf, wobei er einen altersschwachen Absperrpfosten wegriss, und kam schlingernd auf der Uferstraße auf. Mit quietschenden Reifen rammte der schwere Wagen die Ziegelmauer auf der gegenüberliegenden Seite und schleuderte auf die Straße zurück, um hier erneut zu beschleunigen. Der Fahrer brachte das alte, gepanzerte Fahrzeug wieder unter Kontrolle und jagte die sanft ansteigende Uferstraße neben dem ehemaligen Hafen hinauf. Linker Hand wichen die letzten Backsteinhäuser von Netonhill zurück und der kleine Seehafen kam in Sicht.
Nicht, dass Sean Zeit blieb, die Landschaft zu genießen. Er versuchte momentan eigentlich nur, nicht aus dem Wagen geschleudert zu werden, während sein großer Bruder wie ein Irrsinniger zwischen den Autowracks hindurch kurvte, die in unregelmäßigen Abständen auf der zweispurigen Fahrbahn herumlagen. Doch er vertraute den Fahrkünsten Colins. Sie waren schon so oft hier entlang gefahren, dass sie jedes Hindernis kannten. Nach einigen Kilometern würde diese Straße in der relativen Sicherheit von Dunnottar Castle enden. Vorausgesetzt natürlich, dass sie überhaupt dort ankamen.
Sean wandte sich auf dem Beifahrersitz um und spähte angestrengt nach hinten, wo der kleine Ort, in dem die Brüder ihre »Shoppingtour« geplant hatten, zurückblieb. Kurz bevor die Sicht durch Büsche und Bäume verdeckt wurde, sah er wie bei den Häusern, zwischen denen sie eben auf die Straße geschanzt waren, ein urweltlich anmutendes Geschöpf hervorbrach. Es rammte mit voller Wucht eins der altersschwachen Gebäude, das daraufhin in einer mächtigen Staubwolke in sich zusammenbrach.
Die Bestie, die den Geländewagen verfolgte, bremste das nicht merklich ab, während sie hinter den Flüchtenden herjagte. Die Kreatur, die wie ein überdimensionaler Skorpion aussah, zielte mit ihrem Schwanz, der hoch über ihr nach vorne zeigte, auf ihre Beute. Sie schoss eine blau leuchtende Energiekugel ab, die nur wenige Meter neben dem Geländewagen in der Böschung einschlug und in einer Explosion aus hellgelben Flammen Steine, Holzsplitter und Dreck hochschleuderte.
»Hat dieser Dreckskäfer eben echt auf UNS gezielt?«, fauchte Colin seinen Bruder an.
»Hat er, aber was brüllst du mich an? Hab ich auf uns geschossen oder dieses Vieh, das im Übrigen du aufgestöbert hast, wenn ich dich daran erinnern darf. Und es ist ein Skorpion, kein Käfer.«
Colin schüttelte unwillig den Kopf.
»Das ist doch vollkommen egal, jetzt! Hauptsache, wir kommen hier mit heiler Haut raus. Wäre schade um die Kiste Gin, die wir gefunden haben. Von den anderen Schätzen mal ganz zu schweigen. Also sei so nett, schwing deinen Hintern nach hinten und gib dem Mistvieh mal was von unseren Spezialcocktails zu fressen.«
Colin zwang den Humvee in einem abenteuerlichen Manöver um die letzte Kurve. Vor ihnen lagen einige Kilometer schnurgerade Strecke und Sean kletterte auf den Rücksitz, um den Verfolger zu bekämpfen. Er öffnete eine Luke im Dach und schob seinen Oberkörper ins Freie. Der Fahrtwind zerrte an ihm und die roten, strähnigen Haare wehten um seinen Kopf, sodass er kaum etwas sah. Mit einer Hand klammerte er sich an das Maschinengewehr, das hier oben montiert war und für das sie im Moment keine Munition hatten. Sean war sich auch gar nicht sicher, ob sie je wieder welche auftreiben konnten. Die Beschaffung wurde immer schwieriger. Zwar lag noch genügend von dem Zeug in den menschenleeren Stützpunkten herum. Doch oft fanden sie nur verrosteten Schrott und unbrauchbare Munition vor, wenn sie auf Raubzug gingen. Zu viele Jahre vergammelte die Ausrüstung nun schon seit der Ausrottung der Menschen in verlassenen Gebäuden, Kellern und Magazinen. Und der Zahn der Zeit nagte an allem, was die Menschheit hervorgebracht hatte.
Deshalb ließ er das MG links liegen und nahm eine der mit selbstgebranntem Alkohol gefüllten Glasflaschen in die Hand. Sean grinste. Das Zeug eignete sich nicht nur dafür, den Jeep anzutreiben, es ergab auch hervorragende Molotowcocktails. Die Lunte aus alten Leinenfetzen hielt er an die brennende Fackel, die trotz der halsbrecherischen Fahrt und des Windes, der hier blies, immer noch brannte. Die improvisierte Zündschnur fing Feuer und mit einer weit ausholenden Bewegung warf er die Flasche dem Verfolger entgegen. Der Sprengsatz zerbarst einige Meter vor dem Skorpion und ging in einem gewaltigen Feuerball auf, durch den die Bestie aber hindurch sprang, als ob es gar nichts wäre.
»Hast du ihn getroffen?«, kam es fragend von unten. Sean ignorierte seinen Bruder. Er entzündete eine zweite Lunte, doch genau in diesem Moment schoss auch der Skorpion erneut. Colin, der das im Rückspiegel verfolgte, riss das Steuer nach rechts und der Humvee schanzte über eine kleine Böschung und kam polternd auf einem, mit niedrigem Gebüsch bewachsenen Feldweg neben der Straße auf. Die Energiekugel jaulte an ihnen vorbei, ohne Schaden anzurichten, und explodierte viele Meter entfernt in einem hellen Blitz.
Sean hatte durch das plötzliche Manöver allerdings seine eigene kleine Bombe fallengelassen und die Flasche rollte scheppernd über das Dach und verschwand dann nach unten. Heiße Flammen leckten an der Flanke des Fahrzeugs herauf, als der Molotow explodierte. Sean konnte die Hitze deutlich spüren.
»Sag mal, was machst du da oben eigentlich?«, brüllte Colin von unten. »Du sollst das Vieh hinter uns erledigen und nicht den Jeep grillen.«
»Wenn du mal vernünftig fahren würdest, wäre das auch gar nicht so schwer«, schrie Sean zurück und griff nach einer weiteren Flasche. In dem Moment schanzte Colin wieder auf die Straße zurück und Sean hielt sich krampfhaft fest, während der Jeep schaukelnd auf der befestigten Fahrbahn aufkam. Das Schlingern lies nach und er entzündete die Lunte. Dann zielte er sorgfältig und warf das Geschoss in weitem Bogen durch die Luft. Mehrfach überschlug sich die brennende Flasche und zerbarst genau auf dem Kopf des Skorpions, der augenblicklich in einen Feuerball gehüllt wurde. Die riesige Kreatur stieß einen schrillen Schrei aus und fing an zu brennen. Doch sie verlangsamte nicht und kam immer näher.
»Beim heiligen Andreas, das Mistvieh ist sogar zu blöd zum Sterben«, fluchte Sean, griff nach einer der drei kostbaren Stangen Dynamit, die sie noch hatten und entzündete auch hier die Lunte.
»Viel Spaß damit«, rief er dem Verfolger zu, während er den richtigen Moment abwartete. »Mögen die Würmer dich fressen!«
Er warf den Sprengkörper erst, als die Lunte schon fast heruntergebrannt war. Die Zangen des Skorpions schnappten sich reflexartig das auf ihn zufliegende Objekt und in dem Moment explodierte die Ladung mit einem infernalischen Knall und riss die Bestie auseinander. Zangen, Beine und Schwanzstücke flogen durch die Luft und der Humvee machte einen kleinen Satz nach vorne, als er von der Druckwelle erfasst wurde.
Das hielt die beiden Schotten nicht davon ab, ihren Sieg lauthals zu bejubeln. Sean zog sich eben durch die Luke wieder zurück, als ihn eine Bewegung zwischen den Häusern von Stonehaven innehalten ließ. Sie hatten während der wilden Verfolgungsjagd den kleinen Ort passiert, der ausgestorben an der Ostküste von Schottland lag. Schon vor der Vernichtung gab es hier nichts Sehenswertes, doch jetzt war es eine Geisterstadt.
Sean zückte sein Fernglas und stellte es mit dem kleinen Regler in der Mitte scharf. Was er dort zwischen den alten Wellblechschuppen eines ehemaligen Schrottplatzes sah, ließ ihn entsetzt aufstöhnen.
»Beim heiligen Andreas, das kann ja lustig werden«, stieß er fassungslos hervor.
»Was hast du gesagt?«, kam es fragend von unten.
Sean kletterte wieder auf seinen Sitz zurück. Er sah seinen Bruder schweigend an, bevor er leise antwortete.
»Für das, was ich da in Stonehaven gesehen habe, reichen unsere Molotowcocktails definitiv nicht aus. Lass uns so schnell wie möglich nach Hause fahren. Wir sollten uns auf einen mächtig großen Angriff vorbereiten!«
Colin nickte grimmig und trat das Gaspedal fast durchs Bodenblech, sodass der schwere Wagen schlingernd beschleunigte. Schweigend setzten die beiden ihre halsbrecherische Fahrt auf der ehemaligen Touristenstraße fort, die nach Dunnottar führte. Hier hatten sich die wenigen Überlebenden des Zusammenbruchs ein neues Zuhause auf den steilen Klippen errichtet. Schon im Mittelalter ragten die Mauern und Türme einer Burg auf diesem schroffen Felsen in den Himmel. Nur durch einen schmalen Pfad erreichbar, war das ehemalige Schloss der ideale Rückzugsort. Über Generationen hinweg hatten die wenigen Menschen, die in Schottland überlebt hatten, hier ein neues Zuhause gefunden und die fast vollständig zerfallenen Gebäude wiederaufgebaut.
Dieses Ziel hatte das dahinjagende Fahrzeug nun beinahe erreicht. Colin konnte schon die Schuppen des ehemaligen Bauernhofes erkennen, an dem er scharf links abbiegen musste, um die letzten Meter in Richtung der Burg zurückzulegen. Doch genau in dem Moment, als er abbremsen wollte, stürzten drei Baumwölfe aus einem Gebüsch am Rande der Straße und griffen den Jeep an. Den Ersten überrollte der zweieinhalb Tonnen schwere Humvee mit einem übelkeitserregenden Geräusch, während die beiden noch lebenden Bestien mit Riesensätzen auf das Fahrzeug sprangen. Eins der Tiere landete direkt auf dem ausladenden Kühler und knurrte die Insassen wütend mit gefletschten Zähnen an. Colin, dem somit auf einmal die Sicht genommen war, tat das Einzige, was ihm in dieser Situation einfiel. Er trat, so stark er konnte, das Bremspedal durch.
Der Baumwolf vor ihm verschwand von der Kühlerhaube, das zweite Exemplar rollte polternd vom Dach und fiel mit bläulich aufblitzendem Fell ebenfalls vor den immer noch viel zu schnellen Jeep. Mit lautem Knacken überrollte das robuste Fahrzeug auch diese Hindernisse, kam dabei aber ins Schlingern, sodass Colin die Kontrolle verlor. Es schanzte von der Straße, überschlug sich mehrmals polternd und krachte in einen der ehemaligen Ställe des Bauernhofs, wo es rauchend auf dem Dach liegen blieb.
Minutenlang rührte sich nichts. Nur die feine Rauchfahne und das sich leise quietschend drehende Rad zeugten vom abrupten Ende der Fahrt. Ein dumpfes Poltern erklang aus dem Inneren des auf der Seite liegenden Jeeps, gefolgt von einem deftigen, schottischen Fluch. Die Fahrertür wurde aufgeklappt und die beiden Brüder arbeiteten sich stöhnend und ächzend ins Freie.
»Verdammt sei der Teufel, der diese drei Mistviecher hergebracht hat«, kam es leise von Colin.
»Genau, Mann!«, knurrte Sean, während er versuchte, sich aufzurichten. Schwankend und mit Schürfwunden bedeckt, standen die zwei schließlich schweratmend neben dem Fahrzeug und beobachteten, wie unter dem Wrack eine klare Flüssigkeit austrat und im staubigen Boden der Scheune versickerte.
»Tja, das war’s dann wohl mit unserem Gin«, jammerte Sean weinerlich.
»Na ja, wenigstens sind wir noch am Leben. Aber der Ausflug hat sich nicht gelohnt, das stimmt wohl«, bestätigte Colin. Als die beiden Richtung Dunnottar Castle davon hinkten, fing Sean an zu kichern.
»Hast du gesehen, wie der blöde Hummer explodiert ist?«
»Skorpion, das war ein Skorpion, du Ignorant«, grinste Colin. »Aber du hast schon recht, das war ne reife Leistung.«
»Und die Wölfe hier haben wir auch erledigt. Höllenviecher, mögen die Würmer sie fressen«, wiederholte er den schottischen Fluch, den sein Bruder schon dem Skorpion entgegengebrüllt hatte, und spuckte in Richtung der drei verdrehten Körper aus, die auf der Straße lagen.
»Ich glaube, die Würmer bekommen bald einen ordentlichen Nachschlag«, grunzte Sean.
»Was meinst du denn damit?«, fragte Colin, während sein kleiner Bruder ihn einfach an den Schultern packte und herumriss.
»Autsch, sag mal, geht’s noch, wer hat dir denn…«, rief er aus, ließ seinen Satz aber unvollendet.
»Oh, na gut! Ja, ich verstehe, was du meinst«, flüsterte er deutlich leiser, als vier weitere Baumwölfe mit böse blitzenden Augen hinter dem Schuppen hervorkamen, in den sie gerade ihren Jeep versenkt hatten.
»Hast du noch Dynamit?«, fragte er seinen Bruder. Dabei gingen die beiden vorsichtig rückwärts und versuchten so, sich von den anpirschenden Raubtieren zu entfernen.
»Echt jetzt?«, zischte Sean. »Hast du noch alle Tassen im Schrank? Mann, ich bin froh, überhaupt aus dem Wagen rausgekommen zu sein. Da denke ich doch nicht an Dynamit.«
»Tja, da kannst du mal sehen, warum immer ich sage, wo’s langgeht«, grinste Colin seinen verdutzt schauenden kleinen Bruder an und zog eine Stange Sprengstoff aus einer der vielen Taschen seiner Jacke.
»Hast du mal Feuer für mich«, witzelte er todesverachtend, während sich die gefährlichen Wölfe immer näher heranpirschten.
»Na, klar, da bin ich doch mal so frei«, gab Sean zurück und ließ ein Sturmfeuerzeug aufschnappen.
»Bei drei schmeiß ich das Zeug und wir rennen, was wir können über die Straße in das alte Haus auf der anderen Seite. Eins…Zwei…Drei!«
Die zischende Dynamitstange beschrieb einen sanften Bogen auf den Anführer des Rudels zu. Der schnappte instinktiv nach dem seltsamen, rauchenden Stock, der da auf ihn zugeflogen kam. In diesem Moment explodierte die Ladung und riss dem Baumwolf den Kopf ab. Blut sprudelte aus dem Halsstumpf hervor, während der Körper zu Boden fiel. Die drei übrigen Wölfe sprangen irritiert einige Meter zurück.
Diesen Augenblick nutzten die Brüder und liefen auf das nahe Haus zu, hinter dem der Weg nach Dunnottar Castle führte. Colin blickte gehetzt über die Schulter zurück, während er rannte, so schnell er nur konnte. Die Wölfe erholten sich schnell von ihrem Schreck und jagten nun hinter den Flüchtenden her. Er wusste instinktiv, dass sie es niemals bis zu der angelehnten Haustür schaffen würden. Und schon gar nicht zu dem Waffenversteck, das sie im Wohnzimmer des kleinen, steinernen Hauses angelegt hatten.
Trotzdem wandte er sich um und folgte seinem Bruder, der zwei, drei Meter vor ihm lief. Doch der kurze Blick nach hinten hatte ihn aus dem Takt gebracht, er stolperte über einen auf der Straße liegenden Ast und knallte auf den harten Asphalt.
»Ahhh, das war’s dann wohl«, stieß er aus, drehte sich stöhnend auf den Rücken und zog in einer fließenden Bewegung sein Armeemesser. Kampflos würde er nicht sterben. Doch die Klinge wirkte gegen die von Geifer benetzten Hauer der Wölfe wie ein Spielzeug. Hinter sich hörte er Seans entsetzten Schrei, der bei dem Haus angekommen war.
»Colin, Fuck, Colin, mach, dass du herkommst.«
»Mach du gefälligst, dass du reinkommst, du Idiot. Mir kannst du nicht mehr helfen«, brüllte er zurück, während der Wolf, der ihm am nächsten stand, die Muskeln zum entscheidenden Sprung anspannte. Die Bestie bellte unheilvoll, sprang in die Luft und kam auf den am Boden Liegenden zugeflogen. Colin richtete sein Messer nach vorne, wusste aber, dass ihn das nicht retten würde.
»Heiliger Andreas steh mir bei«, flüsterte er und versuchte, sich wegzurollen.
Sean konnte nur hilflos zusehen, wie das riesige Raubtier einem Geschoss gleich auf seinen großen Bruder zuflog. All ihre Waffen hatten sie in dem Wrack des Hummers zurückgelassen und außer seinem Messer hatte er nichts mehr dabei, womit er Colin beistehen konnte. Bis er an die Waffen im Haus kam, war es um seinen Bruder längst geschehen!
»Neiiiinnn!«, brüllte er seinen Schmerz hinaus und seine Augen füllten sich mit Tränen.
In diesem Moment schoss ein Schatten mit lautem Getöse von hinten über das Haus hinweg. Maschinengewehrfeuer knatterte und der Wolf, der den Scheitelpunkt seiner Flugbahn erreicht hatte, wurde in der Luft nach rechts weggerissen. Er prallte Sekundenbruchteile später nur wenige Zentimeter neben Colin auf und rollte, sich überschlagend in den Straßengraben, wo er leblos liegen blieb.
Sean riss vollkommen überrascht die Augen auf und starrte in den Himmel, wo der Schatten sich zu einer kleinen, äußerst wendigen Flugmaschine manifestierte. In einer engen Kurve drehte sie mit aufheulenden Triebwerken, um beim zweiten Überflug einen weiteren Wolf zu erlegen. Der letzte Angreifer überlegte es sich daraufhin anders und hetzte in langen Sätzen einem nahe gelegenen Wäldchen entgegen. Doch der unbekannte Pilot wendete erneut, verfolgte die flüchtende Kreatur und kurz bevor der Wolf den Schutz der Bäume erreicht hatte, beendete eine gut gezielte Salve auch dessen Leben. Die Maschine flog auf die beiden fassungslosen Schotten zu und setzte mit ersterbenden Triebwerken direkt neben dem immer noch auf der Straße sitzenden Colin auf.
Die Kanzel wurde zurückgeschoben, ein junger Mann sprang mit einem Satz auf den Asphalt und hob grüßend die Hand, während er die andere dem perplex vor sich hinstarrenden Schotten hinhielt.
»Na, da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen«, rief er den beiden Schotten in gebrochenem Englisch zu. »Freut mich, euch lebendig und an einem Stück zu sehen. Da hat KoLar mal wieder im letzten Moment zwei Überlebenden den Arsch gerettet, was?«
»Ach ja, ganz vergessen: Ich bin Jonas. Aber jetzt sollten wir schauen, dass wir eure Festung erreichen, bevor uns die Pilzköpfe da hinten zu nahe kommen!«
Damit zeigte er in Richtung Norden die Straße entlang, die der Jeep noch vor wenigen Minuten befahren hatte. Stonehaven war hinter den grünen Hügeln nicht zu erkennen, aber von dort tauchte eine Armee aus lebenden Bäumen wie aus dem Nichts auf.
»Pilzköpfe? KoLar? Jonas? Wo kommst du her? Und was ist das für ein Flugzeug? Ich verstehe kein Wort. Aber das müssen wir wohl alles später bereden. Ich bin Colin. Colin McGraw vom Clan der McGraws. Danke für die Hilfe in letzter Minute!«
»Genau, Mann, so knapp war’s bisher noch nie. Diesmal hätten uns die Drecksviecher fast erwischt«, rief Sean, der vom Haus herübergelaufen kam. »Ich bin Sean. Ist mir ein ausgemachtes Vergnügen, dich kennenzulernen, mein Freund. Du hast einiges gut bei uns, was Colin. Und dein Kumpel KoLar, wer auch immer das sein mag, ebenfalls!«
Mit einem Blick auf die anrückenden Feinde fügte er hinzu: »Das ist unglaublich. So viele habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Wir müssen unsere Leute warnen und die Verteidigung aufbauen. Nichts, wie los jetzt!«
Damit drehte er sich um und lief auf die Burg zu, die, von leichtem Nebel umgeben, auf dem Felsen mitten im Meer lag. Colin nickte und folgte ihm, so schnell er konnte. Jonas kletterte wieder in seine Maschine und schoss nur wenige Meter über den Schotten auf die Feste zu.
Die Brüder hetzten die steilen, schmalen Betonstufen hinunter, die bis auf Meeresniveau hinabführten. Unten angekommen kämpften sie sich auf der anderen Seite den steilen Berg hinauf. Der Monolith, auf dessen Kuppe die wiederaufgebaute Festung thronte, stand inmitten der See und trotzte der Brandung, die in hohen Wellen die Gischt bis weit hinauf schleuderte. Colin sog den leicht salzigen Nebel gierig ein, als er nach dem Aufstieg atemlos durch das halbgeöffnete Tor aus dicken Eichenbohlen trat. Drinnen wurden sie schon von den Burgbewohnern erwartet. Stimmen wurden laut. Alle fragten wild durcheinander, sodass niemand zu verstehen war. Colin winkte ab und sie begaben sich in die Mitte des Plateaus, auf dem Jonas gerade gelandet war. Sein Flugzeug war von einer Traube neugieriger Bewohner umgeben, die ebenfalls laut aufeinander einredeten. Jonas stand wie ein Fels in der Brandung mitten unter ihnen und versuchte, alle Fragen gleichzeitig zu beantworten.
»Nun lasst doch mal den Mann in Ruhe«, brüllte Sean. »Wir haben jetzt andere Sorgen, als den Ärmsten hier auszuquetschen. Das muss warten. Bereitet alles für die Verteidigung vor, wir werden jeden Moment angegriffen!«
Dabei schob er sich wie ein Schneepflug durch die Menge, die nach allen Richtungen auseinanderstob, um sich auf den Kampf vorzubereiten.
»Was den Angriff angeht, da hab ich ne gute Nachricht für euch«, rief Jonas, als die Brüder direkt vor ihm standen.
»Schaut doch mal Richtung Südosten!«
Alle, die noch nahe genug gewesen waren, um zu verstehen, was Jonas in gebrochenem Englisch gerufen hatte, drehten die Köpfe und blickten auf das offene Meer hinaus. Tatsächlich tauchten dort zwischen den Wolken am Horizont mehrere dunkle Punkte auf, die schnell größer wurden. Nur wenige Minuten später setzten vier Transporter neben Jonas’ kleiner Jagdmaschine auf, und mit hydraulischem Kreischen senkten sich die Ladeluken.
Das Jubeln der Menschen, als schwerbewaffnete Männer und Frauen aus den Laderäumen der Transporter marschierten, ging in einen entsetzten Aufschrei über. Eins der gefürchteten Baummonster stapfte, nach vorne gebeugt, heraus. Kaum hatte es die Ladeluke hinter sich, richtete es sich knarrend zu seiner vollen Größe auf und schwenkte ein mächtiges Maschinengewehr herum. Die andere, knorrige Hand hielt eine gigantische Doppelaxt, die sich das Wesen auf die Schulter legte.
»Heiliger Andreas steh uns bei!«, stießen die McGraws gleichzeitig aus und starrten entsetzt auf die riesenhafte Kreatur.
Überfall in den Bergen
Die Dämmerwache war der anstrengendste Dienst auf der Mauer, den das Volk kannte. Entsprechend froh war Asker, als sich am Horizont die ersten fahlen Streifen des erwachenden Morgens ankündigten. Nur noch eine Stunde, dann würde er abgelöst und konnte endlich zu Hause in den wohlverdienten Schlaf fallen, dem er sich schon seit den frühen Morgenstunden entgegensehnte. Er blickte über das Feld vor der Stadt, an dessen Ausläufern im Norden die Knochenhügel der vernichteten Bestien vor sich hin bleichten. Die Angreifer hatten sie damals verbrannt und ihre geschwärzten Knochen lagen seither dort draußen als warnendes Mahnmal für alle, die vielleicht eine neuerliche Teufelei im Sinn hatten. Seit der großen Schlacht vor zwei Jahren hatte es keinen Angriff gegeben. Sogar die Kämpfe im Frühjahr waren ausgeblieben und die Bestien aus den strahlenden Wäldern waren seither nicht mehr gesichtet worden.
»Und trotzdem schlagen wir uns hier draußen die Nächte um die Ohren, während wir in unseren warmen Betten liegen könnten«, brummte Asker missmutig und schlenderte auf dem breiten Wehrgang der Mauer zum westlichen Turm. Unterwegs grüßte er Steffen, einen der wenigen aus der ersten Generation, der ebenfalls zur Wache eingeteilt war. Beim Turm angekommen, drehte er um. Er rieb sich die müden Augen und sah auf die friedliche Stadt hinunter, die sich innerhalb der mächtigen Mauer in dem kleinen Tal an die Berghänge der Voralpen schmiegte. Asker ließ den Blick über die Häuser und den Wasserfall im Talschluss gleiten, der im hellen Mondlicht glitzerte. Die rauschenden Wassermassen, deren Getöse bis hierher zu hören war, stürzten in einen kleinen See, aus dem sich dichter Nebel über weite Teile des Tales ausbreitete.
Von einer Bewegung aufgeschreckt, sah er zu den steilen Klippen hinauf. Einen Augenblick meinte er, dort oben auf den Überhängen, die sie zuverlässig vor einem Angriff von der Bergseite schützten, etwas wahrgenommen zu haben. Doch in dem Moment, als er sein Fernglas an die Augen hob und hinauf spähte, schob sich eine Wolke vor den Mond und die Sicht wurde schlecht. So angestrengt er auch die Berghänge absuchte, er konnte nichts entdecken.
Asker zuckte mit den Schultern.
»War vermutlich nur eine dieser Gämsen. Vielleicht ist auch mal wieder eine Ziege aus ihrem Stall ausgebüxt und da raufgelaufen. Wäre nicht das erste Mal.«
Bei dem Gedanken an den armen Besitzer, der am Morgen auf die Suche nach dem Ausreißer gehen musste, fing er an zu grinsen. Das war kein Spaß, in den steilen Hängen herumzukriechen, nur um so ein blödes Vieh wieder einzufangen.
Schließlich setzte er den Feldstecher ab und ging langsam zurück zu seinem Posten. Dort angekommen zog er fröstelnd den dicken, fellgefütterten Umhang enger um seine Schultern. »Verdammt kalt, heute Nacht.«
***
Gleichzeitig bewegte sich ein schwarz gekleideter Schatten oberhalb der Klippe vorsichtig von seiner Position vorne an der Kante zurück und fluchte leise in sich hinein.
»Du blöder Schwachkopf, das wäre beinahe schief gegangen«, schalt er sich selbst. »Nur weil du mal wieder nicht genug von deinem Plan bekommen kannst und einen letzten Blick auf diese elende Stadt werfen musstest.«
Hatte ihn der Wachposten dort unten bemerkt? Er lauschte in die Stille der Nacht, aber alles blieb ruhig und keine Alarmglocke begann zu läuten. Während er zurückwich, stieg ein wahnsinniges, leises Kichern in seiner Kehle nach oben, das er nicht unterdrücken konnte. Endlich war der Tag gekommen, an dem er seine Rache bekommen würde. Zuerst hier in den Allgäuer Bergen. Danach würde er mit seiner Armee nach Norden ziehen, wo seine Erzfeinde sich hinter ihrem lächerlichen Kraftfeld sicher fühlten. Aber wie den Menschen hier, würde er auch diesen eingebildeten Idioten in New Hope zeigen, dass es keinen Schutz vor ihm gab.
Er, Hagen Törnwald, war nicht umsonst der Anführer des Aufstandes gewesen, der ihm um ein Haar die Herrschaft über New Hope eingebracht hatte. Wären diese verfluchten Gutmenschen damals nicht so überraschend zäh und organisiert gewesen, er hätte schon vor Jahrzehnten seinen wohlverdienten Platz als uneingeschränkter Herrscher der Menschheit eingenommen. Vor allem um diesen Piloten, der ihn und seine Mitstreiter damals in der Wildnis abgesetzt und sich selbst überlassen hatte, würde er sich persönlich kümmern.
Sein Gesicht lief zornesrot an, als er daran dachte, wie ihn dieser rothaarige Hüne damals verspottet und zu allem Überfluss mit einem Tritt von der Ladeplattform des Schwebers befördert hatte. Auch nach all diesen Jahren war der Ärger über dieses Erlebnis so präsent, dass er es fast noch einmal körperlich spürte. Das hämische Lachen von dem Mistkerl würde er nie vergessen. Genau so wenig wie seinen Namen! Er würde Ulf höchstpersönlich das Messer in den dicken Wanst jagen, wenn es so weit war.
Doch nun war es erst einmal Zeit, sich um die schlafenden Dummköpfe im Tal zu kümmern, die sich hinter ihrer hohen Steinmauer so sicher fühlten.
»Das wird euch gleich vergehen!«, stieß er hasserfüllt aus. Törnwald hatte sich mittlerweile vom Eingang der Höhle, die seine Bestien in aller Heimlichkeit oberhalb der Klippen in den Felsen getrieben hatten, entfernt. Er wollte nicht in der Nähe dieses Teils der Berge sein, wenn der Sprengstoff, den sie nächtelang hierhergebracht hatten, hochging. Die Lunte, die er persönlich anzündete, sollte einige Minuten brennen. Höchste Zeit also, sich einen besseren Standpunkt weiter oben zu suchen, von dem aus er den Untergang beobachten konnte. Noch einmal lachte er hämisch auf, während er sich von einem der Baummonster aufnehmen ließ, das ihn mit großen Schritten den Berg hinauftrug.
***
Asker hatte zwischenzeitlich seinen Platz auf der Mauer wieder eingenommen und blickte mit müden Augen auf die Ebene vor der Stadt hinaus, auf der das erste Licht des Tages die Knochenhügel aus der Dunkelheit riss.
Er streckte sich und stellte nach einem Blick auf seine Uhr erfreut fest, dass ihn nur wenige Minuten von der Ablösung trennten. Dann würde er zu seinem Haus am östlichen Hang gehen und wie immer, nachdem er seine Nachtwache beendet hatte, mit seiner Frau einen Tee trinken. Er freute sich darauf, sich auf seinem Bett ausstrecken zu können, um den Schlaf nachzuholen, der ihm im Moment so bitter fehlte. Erneut streckte er seinen müden Körper. Das Knacken seiner Gelenke war überraschend laut zu hören. Dass es nicht nur seine Knochen waren, die sich nach der langen Nacht wieder ausrichteten, wurde ihm Sekunden später klar, als eine gewaltige Explosion erklang und er sich erschrocken zur Quelle des Lärms umdrehte. Ungläubig schaute er die Berge im Talschluss an, über denen eine gigantische Rauchwolke aufstieg. Gleichzeitig grollte es tief in der Erde und die gewaltige Mauer, auf der er stand, fing an, unter seinen Füßen zu schwanken.
»Was ist das? Ein Erdbeben?«, rief er Steffen zu, der über den schwankenden Wehrgang auf ihn zugeeilt kam.
»Vollkommen ausgeschlossen«, keuchte der, als er bei Asker ankam. »Noch nie hat es Erdstöße dieser Stärke hier gegeben. Das ist eine absolut sichere Gegend. Und warum sollte bei einem Beben der halbe Berg explodieren?«
Asker zuckte mit den Schultern. Antworten hatte er auch nicht. Doch für weitere Fragen war im Moment nicht der richtige Zeitpunkt. Entsetzt deutete er mit dem Arm in Richtung der Rauchwolke, die sich immer weiter in den Himmel wälzte.
»Schau, da oben! Der ganze Berghang bewegt sich! Das ist kein Erdbeben, sondern ein Erdrutsch. Was immer ihn ausgelöst hat, wir müssen unsere Leute warnen!«
Damit stürzte er in Richtung des Turmes davon, in dem die Alarmglocke hing. Dort angekommen schwang er das dicke Seil hin und her. Die dumpfen Glockenschläge dröhnten durch das Tal und rissen die Einwohner aus dem Schlaf. Hier und da waren Einzelne schon wach und rannten vor die Häuser, um zu sehen, was los war. Doch für die Menschen in der Stadt kam das warnende Geläut zu spät.
Mit einem Donnern, das Asker bis ins Mark erschütterte, kam der ganze hintere Hang des Tales langsam ins Rutschen. Erst unmerklich, dann immer schneller breiteten sich die Abbruchkanten der gigantischen Lawine aus, die den Hang ins Tal rissen. Der Wasserfall, der mitten in der Abbruchzone verlief, stockte. Die Kaskaden, die über die steilen Berghänge nach unten gestürzt waren, versiegten, während der komplette Hang mit einem ohrenbetäubenden Donnern zu Tal rutschte. Dann erreichten die Erdmassen den See, eine erstaunlich hohe Flutwelle trat über die Ufer und überschwemmte die Ebene des Tals in Sekunden. Nur wenig später kamen die Wassermassen bei den vor Schrecken erstarrten Wachen an und schwappten gurgelnd bis zur Mauerkrone herauf, bevor sie sich durch die Ritzen im Tor in die Ebene hinaus ergossen.
Doch diese Flutwelle war nur der Anfang vom Ende, denn die Geröll- und Schlammmassen wälzten sich meterhoch durch das Tal und begruben alles unter sich. Die Unglücklichen, die nicht schnell genug fliehen konnten, wurden fortgerissen und verschwanden in den braunen Massen. Nur wenige Menschen aus der Talebene schafften es nach oben in die Hänge.
»Das darf nicht wahr sein! Ich kann nicht fassen, dass das passiert!«, erwachte Asker stammelnd aus seiner Starre und blickte Steffen entsetzt an, dem das Grauen ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand. Dessen Haus lag in der Ebene dicht an der Mauer und war bisher verschont geblieben. In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau trat ins Freie. Sie sah sich um, erblickte die braune, meterhohe Lawine, die in erschreckender Geschwindigkeit auf sie zurollte und eilte nach einer Schrecksekunde auf die Mauer zu. Beim Näherkommen entdeckte sie Steffen, der bereits dabei war die Steintreppe hinabzueilen, um seiner Frau beizustehen.
»Maria, schnell, renn, was du kannst!«, schrie er aus Leibeskräften, während er die letzten fünf Stufen auf einmal hinuntersprang, sich abrollte und sofort weiterlief.
Asker war sich sicher, dass sein Freund nie rechtzeitig bei seiner Frau ankommen würde, doch Steffen schaffte es. In dem Moment, als er Maria erreichte und sie mit sich zur Seite zog, erfasste die Lawine die Flüchtenden und begrub sie unter sich. Der Schrei, den beide ausstießen, brach wie mit einem Messer durchschnitten ab, während die Erdmassen weiter auf Asker zurollten. Da wurde dem jungen Mann klar, dass sein Ende ebenfalls gekommen war. Die Massen schwappten auf die Mauer zu, er drehte sich weg und sprang auf die Ebene vor der Stadt hinunter. Dabei wollte es das Glück, dass er von einem Beschützer, der vor der Mauer stand, aufgefangen wurde. Doch bevor dieser aus der Gefahrenzone entkommen konnte, überflutete die Gerölllawine die Mauer und erreichte das mächtige Baumwesen. Mit einem dumpfen Knarren ging der Beschützer zu Boden und schleuderte im Fallen den Mann weit in die Ebene hinaus.
Als Asker die Augen öffnete, war das Erste, was er spürte, ein brennender Schmerz im linken Arm. Er zuckte zusammen, blickte hinunter und sah, dass der Unterarm in seltsamem Winkel abstand. Er brauchte keinen Arzt, um zu erkennen, dass er gebrochen war. Stöhnend versuchte er, sich aufzusetzen. Hilflos schluchzend rollte Asker sich schwerfällig herum und blickte zur Stadt hinüber, die fünfzig Meter entfernt, unter den Schlammmassen begraben dalag. Große Brocken der geborstenen Mauer ragten aus der Verwüstung. Die Lawine war nur wenige Meter hinter ihm zum Stehen gekommen. In den Talhängen konnte er Menschen sehen, die wie betäubt herumstanden und zu verstehen versuchten, was passiert war. Er kam mühsam auf die Beine, während der psychische Schmerz über den Verlust seiner Familie und Freunde den physischen des gebrochenen Armes bei Weitem überwog. Seine Frau und seine beiden Söhne hatten in der Ebene nahe dem See gewohnt. Wenn die Flutwelle sie nicht schon getötet hatte, dann waren sie von der folgenden Schlammlawine begraben worden.
Während der Schmerz über den Verlust übermächtig wurde und er laut aufschreiend zurück auf die Knie fiel, bemerkte er eine Bewegung neben sich, gefolgt von einem leisen, bösartigen Knurren. Fast blind vor Tränen erblickte er einen Baumwolf, der ihn aus kalten, blau leuchtenden Augen musterte. Während der Mann noch zu verstehen suchte, was hier in der letzten halben Stunde über sein Volk hereingebrochen war, zuckte der Kopf des Raubtieres in seine Richtung und biss ihm mit einer fast schon beiläufigen Bewegung die Kehle durch.
Asker griff sich reflexartig an den Hals, verwundert darüber, dass er nichts spürte. Dann aber brach der Schmerz in unbeschreiblichen Wellen über ihn herein. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Zucken seiner Muskeln nachließ. Während das Blut in pulsierenden Strömen über seine Brust sprudelte, fiel sein rechter Arm kraftlos nach unten und sein lebloser Körper kippte zur Seite. Von der Armee der Bestien, die hinter ihm aus den Wäldern strömte, bekam er schon nichts mehr mit. Auch nicht davon, wie sie die von der Lawine eingerissene Mauer hinauf in die Hügel hineinströmten, um den Tod zu den letzten Überlebenden der Katastrophe zu tragen.
***
Über alledem thronte Hagen Törnwald auf einem der Berggipfel oberhalb der zerstörten Stadt und beobachtete den kurzen, aber blutigen Kampf mit morbidem Interesse durch seinen Feldstecher. Als alles vorbei war und seine Armee sich wieder in die Wälder zurückzog, verließ er seinen Aussichtsplatz und stieg hinunter in die Ebenen. Er durchschritt die überschwemmte Mauer durch das geborstene Tor, das den Einwohnern für so lange Zeit Schutz vor den Bestien gewährt hatte. Dann stieg er die Stufen zu dem großen Gebäude hinauf, in dem die Ältesten das Geschick ihrer Leute all die Jahre geleitet hatten.
»Letztendlich waren sie nicht sehr erfolgreich darin«, ging es ihm durch den Kopf. Sein hämisches Kichern steigerte sich zu einem irren Lachen, das laut durch die leeren Gänge des Gebäudes hallte. Er betrat einen großen, kreisrunden Saal, in dessen Mitte ein wuchtiger Kamin stand. Eine Frau, die direkt neben der Tür verkrümmt in einem See von Blut lag, ignorierte er einfach. Ohne sie zu beachten, stieg er über die erkaltende Leiche hinweg und ging zur Feuerstelle, in der ein heruntergebranntes Feuer noch immer Wärme spendete. Hagen trat dicht heran und rieb sich die Hände, die er über die Glut hielt. Er wandte sich einer Theke mit einem lang gezogenen Regal zu.
»Eigentlich wäre doch jetzt der richtige Zeitpunkt, um den Sieg zu feiern!«
Gemütlich schlenderte er hinüber, suchte sich eine verschlossene Flasche Brandy aus und setzte sich an den mächtigen, runden Holztisch, der den hinteren Bereich des Raumes komplett ausfüllte. Er zog sich einen Sessel heran und legte seine Beine auf die massive Tischplatte, wobei er eine gläserne Platte mit Obst achtlos herunterriss. Klirrend zersprang die kunstvoll hergestellte Kristallschale. Äpfel und Birnen rollten über die rotbraunen Bodenfliesen. Hagen öffnete den Schraubverschluss, warf ihn zu den Scherben auf den Boden und nahm einen tiefen Schluck. Er war zufrieden mit dem von ihm ersonnenen Plan. Alles war genauso abgelaufen, wie er es vorhergesehen hatte. Wobei er zugeben musste, dass er nicht der alleinige Urheber dieser wundervollen Vernichtung gewesen war. Er hatte durchaus etwas von der verheerenden Niederlage der Bestien im Harz vor zwei Jahren profitiert, von der sich Moloch bis heute nicht erholt hatte. Zwar kannte er nur die Bilder eines Pterospähers, der den damaligen Angriff auf den Hauptknoten des verhassten Pilzes mit angesehen hatte, aber das tat dem Erfolg heute keinen Abbruch. Damals waren die Armeen Molochs in den Ebenen des Harzes durch die Wassermassen eines gesprengten Dammes vernichtet worden. Heute hatte er die gleiche Zerstörung über der Stadt der Menschen entfesselt.
Zufrieden mit sich selbst erhob er sich schließlich, zog einen Umschlag aus festem Pergament aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Er war sich sicher, dass dieser gefunden werden würde, wenn die wenigen Überlebenden, die seine Truppen zurückgelassen hatten, von dem Grauen erzählten, das über sie hereingebrochen war. Mit Sicherheit tauchten auch die verhassten Idioten aus New Hope irgendwann hier auf. Und dann sollten sie wissen, wer ihnen das hier angetan hatte. Er freute sich diebisch darüber, die Nachricht mit einem langen Dolch, den er aus seinem Schloss mitgebracht hatte, mitten auf der alten Tischplatte festzunageln.
Ein letzter Schluck Brandy rann durch seine Kehle, bevor er die Flasche achtlos gegen eine Wand warf, wo sie mit lautem Klirren in tausend Scherben zerbarst. Er kehrte der Halle den Rücken zu und begab sich mit den Wölfen, die seit Jahren seine Leibwächter waren, in sein nur wenige Kilometer entferntes Hauptquartier zurück.
Nur wenige Stunden nachdem das erste Grollen Asker aufgerüttelt hatte, legte sich Totenstille über die vollkommen zerstörte und menschenleere Stadt.
Traum oder Wirklichkeit
Zehn Jahre waren seit dem ersten Kontakt vergangen.
»Was ist denn passiert?«