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Epsilon Eridani erwartet Dich! Im 23. Jahrhundert hat die Menschheit ihr Sonnensystem weitgehend erforscht und begibt sich mit riesigen Generationsraumschiffen in den interstellaren Raum, um diesen zu besiedeln. Zweihundert Jahre später ist auf Novara, dem zweiten Planeten im Epsilon Eridani System eine Kolonie entstanden, die wächst und gedeiht. Doch nicht alles ist so friedlich, wie es auf den ersten Blick scheint, denn immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit den Ureinwohnern Novaras. Als die Exobiologin Jenna und ihre Freundin Ivy zu einer Exkursion aufbrechen, ahnen die Frauen nicht, dass sie fernab jeglicher Zivilisation auf den verunglückten Raumschiffsoffizier Azaan Andrar und dessen Sohn Arron treffen, die in der Wildnis notlanden mussten. Bei dem Versuch, den verletzten Astronauten zu Hilfe zu eilen, entdeckt Jenna nur wenige Meter von der Absturzstelle entfernt den Eingang in eine mysteriöse Welt. Tief unter der Oberfläche Novaras wartet ein Geheimnis auf sie, das nicht nur ihr Leben, sondern auch die Zukunft der gesamten Menschheit verändern wird.
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HK Kohfink
Das Erwachen der Skreeh
Impressum
ISBN: 9783759277916
Copyright © 2024 Heiko Kohfink
Erste Auflage
Verfasser: Heiko Kohfink (Pseudonym HK Kohfink)
Uhlandstr.7, 72124 Pliezhausen
Kontakt: https://www.heiko-kohfink.de
Covergestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise: ©Svarun, ©Liu zishan, ©Pavel Chagochkin,
©ASPARINGGA – shutterstock.com
©Elen11 - istockphoto.com, elements.envato.com
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HK KOHFINK
Zu diesem Buch: Im 23. Jahrhundert hat die Menschheit ihr Sonnensystem erforscht und begibt sich mit riesigen Generationsraumschiffen in den interstellaren Raum, um ferne Welten zu besiedeln. Zweihundert Jahre später ist auf Novara, dem zweiten Planeten im Epsilon Eridani System eine Kolonie entstanden, die wächst und gedeiht.
Als die Exobiologin Jenna und ihre Freundin Ivy zu einer Exkursion aufbrechen, ahnen sie nicht, dass sie fernab jeglicher Zivilisation auf den verunglückten Raumschiffsoffizier Azaan Andrar und dessen Sohn Arron treffen werden, die in der Wildnis notlanden mussten.
Bei dem Versuch, den verletzten Astronauten zu helfen, entdeckt Jenna den Eingang in eine mysteriöse Welt. Tief unter der Oberfläche Novaras wartet ein Geheimnis auf sie, das nicht nur ihr Leben, sondern auch die Zukunft der gesamten Menschheit verändern wird.
Heiko Kohfink, 1967 in Reutlingen geboren, ist Techniker und lebt mit seiner Frau, die ebenfalls schriftstellert, in der Nähe seiner Heimatstadt.
Inspiriert durch das Lesen, das schon immer seine größte Leidenschaft war, hat er sich vor einiger Zeit ans Schreiben gewagt. Dabei zählen vor allem Science-Fiction und Fantasy, aber auch Humor zu seinen bevorzugten Genres.
Wenn er nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt und über neuen Buchprojekten brütet, verbringt er gerne Zeit im Garten, unternimmt lange Spaziergänge mit seiner Frau, liest viel und bringt mit seinem oft sehr speziellen Humor seine Familie an den Rand der Verzweiflung.
Für Markus
Vorwort
Wer die Abenteuer von Ithan, Nelia und Selim in der Zeit nach dem großen Krieg der Menschheit bereits gelesen hat, weiß, dass die Skreeh eine zentrale Rolle gespielt haben. Doch wo kommt diese seltsame Rasse geflügelter Wesen her? Und wie sind die Menschen auf sie gestoßen?
Das Erwachen der Skreeh gibt Antworten auf diese Fragen. Und obwohl Ithan und seine Freunde nun erst einmal nicht mehr dabei sind, da die vorliegende Geschichte Jahrhunderte vor ihrer Zeit spielt, fand ich es wichtig, die Ereignisse zu beleuchten, die letztlich zum großen Krieg gegen die Mokarja geführt haben.
Ich wünsche spannende Stunden mit dem zweiten Band der Skreeh-Reihe. Denn obwohl die Seestadt mit ihren Einwohnern, das Raumschiff Oberon und die Skreeh in ihrem Nest hoch über T’gart in weiter Zukunft liegen, lassen sich auch lange vor dieser Zeit im Sonnensystem Epsilon Eridani wunderbare Abenteuer erleben!
Aufbruch ins Ungewisse
Erdorbit, Jahr 2412, T minus vier Stunden: Jon Sigler schloss mit einer beiläufigen Armbewegung die goldbedampfte Visierscheibe seines Raumhelmes, als die Sonne aufging. Die ersten Strahlen tasteten sich über den Horizont und die Erdatmosphäre brach das Licht in Abertausende glitzernde Fragmente. Eine Corona aus sämtlichen Spektralfarben waberte um die vor ihm im Orbit hängende Montageraumstation VII, die seit vielen Jahren sein Zuhause war, und umhüllte sie wie ein bunter Nebel.
Der afrikanische Kontinent, der bislang schräg unter ihm in der Dunkelheit gelegen hatte, und nur durch die künstlichen Lichter seiner Megametropolen beleuchtet gewesen war, wurde aus den Schatten gerissen und erneut war Jon überwältigt.
»Von hier oben sieht man nichts von dem ganzen Mist, der dort unten vor sich geht«, dachte er und bemerkte erst, als sein Interkom quakend zum Leben erwachte, dass er dies keineswegs lautlos getan hatte.
»Zentrale für Sigler«, schnarrte eine weibliche Stimme in seinen Kopfhörern. »Wie war das? Bitte wiederholen!«
»Ah, Zentrale«, zuckte er zusammen. »Bist du das Mia? Nicht so wichtig. Ich war nur von der unglaublichen Sicht beeindruckt. Ist auch nach so vielen Jahren immer noch überwältigend.«
»Ja, hier Mia«, drang die Stimme erneut aus seinem Interkom und Jon konnte sie in der Kommandozentrale der Raumstation geradezu nicken sehen. »Und ich verstehe, was du meinst – daran gewöhnt man sich nie, oder? Konzentriere dich bitte trotzdem auf die Arbeit. Schließlich bleiben nur noch knapp vier Stunden bis zum Start. Wie sieht es mit deinen Aufgaben aus?«
Ohne auf die Liste zu sehen, die über das zehn Zoll große Display flackerte, das mit Klettbändern am linken Unterarm seines klobigen Raumschweißeranzuges befestigt war, antwortete er sofort: »Nur noch eine Strebe übrig, dann habe ich alles fertig.«
»Gratuliere. Ist dir eigentlich klar, was du dort oben gerade machst?«
»Ich schweiße die letzte Strebe am Fusionstriebwerk zweiundvierzig fest«, grollte Jon. »Was soll die Frage?«
Mias leises amüsiertes Lachen drang aus seinem Lautsprecher, während er langsam auf den Träger zustapfte, sich einklinkte und den Plasmabrenner zündete, um seinen heutigen Außenauftrag fertigzustellen.
»Echt jetzt, Sigler. Du hast wirklich keine Ahnung, dass du eben den letzten Träger der Excalibur verschweißt? Danach muss nur noch ein Frachtschiff seine Ladung löschen, dann ist Kartoffel IV fertiggestellt.«
»Oh, na klar«, erwiderte Jon. »Das ist ja ein Ding.«
Begeisterung schwang in seiner Stimme jedoch nicht mit. Schließlich waren die Generationsraumschiffe, die mittlerweile jeder Kartoffel I bis IV nannte und die hier im Erdorbit von Tausenden Spezialisten wie ihm montiert worden waren, auch nur Aufträge wie alle anderen.
Deutlich größer und viel langwieriger als sonst, dachte der Orbitalschweißexperte, doch im Endeffekt eben nicht mehr als ein Job.
Er schaltete die Plasmaflamme ab, kontrollierte gewissenhaft die Schweißnaht und stieß sich kraftvoll von der felsigen Oberfläche ab. Schon wenige Meter entfernt wirkte die künstliche Schwerkraft des riesigen Sternenschiffes nicht mehr auf ihn und Jon Sigler ließ sich zusätzlich von den an seinem Anzug angebrachten winzigen Schubdüsen von dem Generationsraumschiff wegtreiben. Je größer die Distanz zwischen ihm und dem vierzig Kilometer langen Zylinder der Excalibur wurde, desto mehr Details konnte er erkennen.
Hatte eben noch der mächtige Trichter von Triebwerk zweiundvierzig neben ihm aufgeragt, reihte sich das zweihundert Meter durchmessende schüsselförmige Antriebselement nun in den Ring seiner achtzig Brüder und Schwestern ein, die sich am Heck des Kolosses verteilten.
Er beobachtete, wie der letzte der vielen Frachter, welche die vier Schiffe seit Monaten mit unzähligen Tonnen von Vorräten beluden, in die riesige Heckschleuse der Excalibur glitt. Die Tore schlossen sich, doch im Vakuum des Weltraumes war – vom leisen Zischen der Luftzufuhr in seinem Helm einmal abgesehen – nicht das Geringste zu hören.
Jon aktivierte die winzigen Anzugsdüsen erneut und versetzte sich so selbst in eine langsame Drehung. Nacheinander wanderten die Artus, die Galahad und die Parzival durch sein Sichtfeld, die mit der Excalibur in einer lockeren Rautenformation über der Erde schwebten und deren Besatzungen bereits seit Wochen ungeduldig auf den Tag der Abreise warteten. Nur bei der Excalibur hatte sich der Einbau der Triebwerke etwas verzögert, doch jetzt war alles fertiggestellt.
Einen letzten Blick auf die Erde werfend, die im sanften Licht der Morgensonne azurblau schimmerte, steuerte er sich in die Hauptschleuse von Raumwerft VII. Die Station, die wie ein silbernes Wagenrad im geostationären Orbit hing, drehte sich langsam um ihre Mittelachse, auf die Jon jetzt zuglitt. Sie nutzte das gleiche Prinzip wie die riesigen Generationsraumschiffe, neben denen sie geradezu winzig wirkte, und erzeugte durch ständige Rotation in der Reifsektion eine erdähnliche Schwerkraft.
Jon erreichte die Schleuse, öffnete sie und glitt hinein. Er schloss die Außenluke und wartete geduldig, bis der Druckausgleich hergestellt war. Als die Warnlampe über dem Innenschott grün aufleuchtete, entriegelte er mit einem erleichterten Schnaufen den Verschluss seines Helmes. Obgleich man die Luft in der Station nicht gerade als eine frische Morgenbrise bezeichnen konnte, inhalierte er das nach Ozon und Reinigungsmitteln riechende Gemisch tief in seine Lungen.
»Alles ist besser als zehn Stunden alten Jon Sigler einzuatmen«, brummte er und schwebte zu seiner Ankleidestation hinüber, die ihm den Anzug vollautomatisch vom Körper zog. Während die Roboterarme ihn aus der schweren Montur schälten, schweiften seine Gedanken zurück zu den Anfängen des Auftrages, der heute zu Ende gegangen war und ihm eine stattliche Summe Credits in die Taschen gespült hatte.
Vor über zehn Jahren hatte man die riesigen zylinderförmigen Asteroiden aus dem Kuipergürtel in den Erdorbit geschleppt. Erst hier waren sie zu den vier Generationsraumschiffen umgebaut worden, die nun wie überdimensionale Kartoffeln draußen vor der dicken Schleusenluke hingen. Jon erinnerte sich noch genau daran, wie die schweren Orbitallaser die vierzig Kilometer langen zylindrischen Gesteinsbrocken anschließend ausgehöhlt hatten.
Erst danach waren die vierhundert Meter dicken Mittelachsen eingebaut worden, die sich vom Bug bis zum Heck der vier Schiffe zogen und in denen auch während der langen Reise absolute Schwerelosigkeit herrschen würde. Nur das Fehlen der Schwerkraft und die starken magnetischen Eindämmungsfelder im Zentrum der Raumschiffe sorgten dafür, dass die drei Hauptreaktoren überhaupt funktionierten.
Jon dachte an den Moment zurück, als man die im Vakuum der Mittelröhren schwebenden Fusionssonnen gezündet hatte. Er arbeitete damals im Innenraum der Excalibur an den Verankerungen der Aufzugsschächte, als die drei Miniatursterne hoch über ihm das erste Mal warm auf die von Menschen geschaffene Welt im Inneren des Gesteinsbrockens herabgeschienen hatten.
Auch damals hatte er seine Helm-Visierblende hastig herabgezogen und trotzdem flackerten ihm noch minutenlang die grellen Lichtreflexe vor den Augen, welche die hell strahlenden Fusionssonnen in Sekundenbruchteilen in seine Netzhaut gebrannt hatten. Überwältigt war er dagestanden und hatte in die Sonnen gestarrt, die Jahrhunderte lang Licht, Wärme und Strom für das mächtige Raumschiff erzeugen würden.
Die Rotationstriebwerke, welche die Giganten in Drehung versetzten, waren sofort angesprungen. Sie hatten in kürzester Zeit dafür gesorgt, dass man sowohl auf der Außen- wie auch auf der Innenhülle herumspazieren konnte. Die wenigen Arbeiter, die damals an den Außenseiten der Achse gearbeitet hatten, waren langsam nach allen Richtungen zu Boden gesunken und auch er selbst war immer schwerer geworden. Am Ende seiner Schicht war Jon damals heilfroh gewesen, der ungewohnten Schwerkraft wieder zu entfliehen, die der Gravitation auf dem Zielplaneten entsprach und ihn mit dem Anderthalbfachen seines sonstigen Gewichtes zu Boden drückte.
Monatelang hatten Frachtschiffe danach Unmengen fruchtbares Erdreich, Tausende Tonnen Wasser und unzählige Pflanzen von der Erde heraufgeschafft. Und jedes Mal, wenn Jon im Schiff arbeitete, staunte er über die künstlich angelegten Wälder, Felder, Seen und Flüsse, die hier mitten im Weltraum in einem ausgehöhlten rotierenden Gesteinsklumpen entstanden waren.
»Hallo, Jon?«, holte ihn die Stimme seiner Partnerin Elizabeth aus den Gedanken. »Bist du schon wieder in der Station? Denk dran, wir wollten uns den Abflug vom Foyer aus ansehen. Ich reserviere dir einen Platz!«
Er aktivierte das Kom-Implantat durch leichten Druck des Zeigefingers gegen sein linkes Ohr. »Ja, bin schon drin. Keine Sorge, Liz. Ich werde pünktlich zum Start da sein.«
Schnell schloss er die magnetischen Verschlüsse seiner Tuchschuhe und stieß sich in Richtung der Innenschleuse ab, die mit einem leisen Zischen beiseite glitt. Er stoppte seinen Flug an einer der sechs Röhren ab, die wie Speichen in den Außenring der Raumstation führten, und hangelte sich an der Leiter hinab. Je weiter er sich von der Achse entfernte, umso mehr erfasste ihn die durch die Rotation erzeugte Schwerkraft. Als er schließlich schweratmend in der Ringsektion ankam, machte er eine kurze Verschnaufpause, um sich nach den vielen Stunden der Schwerelosigkeit wieder zu akklimatisieren.
Anschließend lief er direkt in die Kantine, von deren lang gezogener Fensterfront man die beste Sicht auf die vier Raumschiffe hatte. Er kämpfte sich an den dicht nebeneinanderstehenden Menschen vorbei, die das Schauspiel draußen verfolgten, und umarmte schließlich seine Frau, die es tatsächlich geschafft hatte, in der ersten Reihe einen Platz für ihn freizuhalten. Aufstöhnend sank er neben ihr auf seinen Sitz und gab ihr einen Kuss.
»Puh, du stinkst nach Schweiß«, rümpfte sie angewidert die Nase, doch das Blitzen in ihren Augen verriet Jon, dass sie es nicht wirklich ernst meinte.
»War leider keine Zeit mehr für eine Ultraschalldusche«, erwiderte er und schnupperte an seinem Overall. »Aber du hast recht. Ich rieche tatsächlich etwas streng.«
»Etwas streng? Du müffelst wie ein ...«
Ein Aufblitzen und leises Gemurmel der versammelten Crew von Raumwerft VII ließ sie verstummen. Jon wandte den Blick von ihr ab und fixierte die Artus, die in diesem Moment die Fusionstriebwerke zündete und sich langsam aus der Erdumlaufbahn schob. Nur Augenblicke später flackerten die Schubdüsenringe der Galahad und der Parzival auf, die ihrem Schwesterschiff folgten. Und schließlich machte sich auch die Excalibur auf, den Erdorbit zu verlassen und mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Mond zuzusteuern. Von dort aus würde sie ihr Weg zusammen mit der Artus nach Epsilon Eridani führen, während sich die beiden anderen Schiffe auf die lange Reise in das über vier Lichtjahre entfernte System Alpha Centauri begaben.
Trotz der interstellaren Sonden, die dort schon vor vielen Jahren bewohnbare Planeten entdeckt haben, dachte Jon, als er den Giganten hinterherblickte, würde mich nichts und niemand dazu bringen, in diesen ausgehöhlten Felsbrocken mitzufliegen.
»Hätten wir nicht vielleicht doch mitfliegen sollen?« Als könne Liz seine Gedanken lesen, stand plötzlich die Frage von ihr im Raum. Als zwei der Fachkräfte, die von Anfang an das Projekt Aufbruch begleitet hatten, war ihnen bereits frühzeitig ein Platz auf einem der Generationsschiffe angeboten worden. Und natürlich übte es einen gewissen Reiz aus, ins Unbekannte vorzudringen.
Doch sowohl Liz als auch er hatten diese Frage schon vor langer Zeit für sich beantwortet. Sie konnten sich beide nicht vorstellen in diesen überdimensionalen ausgehöhlten Gesteinsbrocken zu einem Ziel aufzubrechen, das sie zu Lebzeiten niemals erreicht hätten. Erst ihre Enkel wären in der Lage gewesen, die neuen Welten mit eigenen Augen zu sehen.
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte er leise. »Wir haben uns richtig entschieden. Es ist ja nicht einmal sicher, ob diese Kolosse überhaupt so lange funktionieren, dass die Kolonisten ihre Ziele erreichen. Ich habe größten Respekt vor allen, die dieses Wagnis eingehen, aber mir wäre das viel zu riskant.«
Er wandte den Blick der Erde zu, über deren Meere und Kontinente dunkle Wolken wie die Vorboten eines nahenden Unheils trieben. Obwohl der Planet aus dieser Höhe noch immer blau funkelte, wusste Jon, dass der Schein trog. Unwetter, Dürren, Kriege und Überbevölkerung machten der Menschheit schwer zu schaffen.
»Nein, mein Schatz«, flüsterte er erneut mit einem Blick auf die Südküste Afrikas, über der ein Sturm tobte, dessen Blitze bis in die Raumstation hinauf zu erkennen waren. »Wir gehören weder dort hinunter, noch sind wir für das Leben in einer riesigen Kartoffel gemacht.«
»Du bist auch so eine Kartoffel«, lachte Liz hell auf. »Aber du hast recht. Wir bleiben in unserer Raumwerft und kümmern uns um die nächsten Aufträge.«
»So machen wir es. Ich habe gehört, die Streitkräfte wollen einen großen Träger bauen, um die Kreuzer draußen im Kuiper zu unterstützen. Es kommt da wohl immer häufiger zu Plünderungen der Erzabbauanlagen. Die Piraten setzen denen dort offenbar mächtig zu.«
Liz nickte: »Ja, habe ich auch schon läuten hören. Und das Beste daran ist, dass das Schiff in unserer Werft gebaut werden soll. Das bedeutet Arbeit für mindestens zwei Jahre.«
»Und eine Menge Credits«, lachte Jon.
»Ja, auch das«, stimmte Elizabeth Sigler zu, während sich die Excalibur immer schneller entfernte und schließlich am Rand der Aussichtsfenster verschwand. Nur noch einige kleinere Transporter trieben dort draußen, die letzte Vorräte an Bord der vier Kolosse geschafft hatten und nun wieder zur Erde zurückkehrten. Während rings um sie die Menschen aufbrachen, zog Jon seine Frau an sich.
»Lass uns doch hierbleiben«, flüsterte er. »Ich lade dich zum Essen ein. Genügend Credits haben uns die vier Kartoffeln ja eingebracht.«
Während sie scherzend an einen der nun leeren Tische hinüber schlenderten, dachte Jon noch einmal über ihre Worte nach und schüttelte erneut den Kopf.
Auf eine Reise nach Alpha Centauri, die fast siebzig Jahre dauerte, hatte er keine Lust. Und Epsilon Eridani war sogar doppelt so weit entfernt.
So schlecht es vielleicht auch um die Erde bestellt ist, dachte er, während der Sturm unten auf der Planetenoberfläche sich schon über halb Afrika ausbreitete, auf so ein Schiff bekommen mich keine zehn Pferde.
Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er daran dachte, was bereits bei Flügen im eigenen Sonnensystem alles schiefgehen konnte. Und eine so lange Reise wie die, welche die Artus und die Excalibur nun vor sich hatten, war noch nie unternommen worden.
Sicher gab es bereits seit Jahren automatische Sondenschiffe mit extrem starken Antrieben, die mit vierzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit in entlegene Regionen der Galaxie vordrangen. Doch diese Schiffe waren für menschliche Crews ungeeignet, welche den physischen und psychischen Belastungen der oft mehrere Jahrzehnte dauernden Missionen nicht gewachsen waren.
Es gab zwar bereits Erfolge mit Stasiskammern, in welchen die Menschen in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt werden konnten. Doch in diesen bauten sich die Muskeln so stark ab, dass Flüge zu den weit entfernten extrasolaren Systemen ebenfalls unmöglich waren. Nur deutlich langsamere Generationsschiffe wie die Excalibur, bei denen die Gesundheit der Besatzungen durch die künstliche Schwerkraft der sich beständig drehenden Zylinder aufrechterhalten wurde, waren in der Lage, weit entfernte Sonnensysteme zu erreichen.
Der Preis dafür war die Jahrhunderte dauernde Reise. Doch von der ursprünglichen Besatzung war niemand mehr am Leben, wenn das Ziel endlich in Reichweite kam.
»Ich bin froh, dass wir nicht mitgeflogen sind« schloss Jon das Thema endgültig ab. »Aber ich wünsche allen an Bord eine gute Reise.«
Sie tippten ihre Bestellungen in die Tischcomputer und der Robotkellner stellte schon kurz darauf die Aperitifs vor ihnen ab. Liz hob ihr Glas und ließ es mit leisem Klirren gegen das seine stoßen. »Ja, du hast recht«, beteuerte sie erneut. »Trinken wir auf die mutigen Menschen an Bord der vier Kartoffeln.«
»Auf die Raumfahrer in ihren Riesenkartoffeln«, lachte Jon und ergänzte mit einem verliebten Ausdruck in den Augen: »Und vor allem auch auf uns!«
Jenna
Sonnensystem Epsilon Eridani, Planet Novara, einhundertsiebzig Jahre später:
»Lauf nicht so weit weg und komm rechtzeitig wieder«, ertönte die Stimme von Jennas Pflegemutter aus der Küche. »Denk daran, dass wir Nestor zum Essen eingeladen haben.«
»Ist gut, Kara«, rief die Zweiundzwanzigjährige aus dem Flur, griff nach dem kleinen Strahler, den sie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und öffnete die Haustür. »Ich bleibe nicht zu lange weg. Ivy will nur was für ihr Schulprojekt morgen mit mir besprechen. Und danach wollen wir noch raus ans Kap. Sind aber vor Sonnenuntergang wieder zurück.«
»Dann nimm bitte deine Pistole mit«, erinnerte sie die Stimme aus der Küche an die kleine silberne Waffe, die Jenna bereits in ihre Jackentasche gleiten ließ. »In der Dämmerung sind die Granoks immer besonders aggr ...«
Der Rest des Satzes ging im leisen Knall der Haustür unter, die hinter Jenna ins Schloss fiel. Vor ihr breitete sich die Hauptinsel Novaras aus, die jetzt im Licht der Nachmittagssonne einen fantastischen Anblick bot. Doch momentan war sie viel zu aufgebracht, um den Ausblick genießen zu können, den sie sonst so liebte.
»Als ob ich das nicht selbst wüsste«, murmelte sie und verdrehte genervt die Augen. In ihrer Tasche spürte sie das beruhigende Gewicht der kleinen, aber dennoch starken Waffe, die sie von Nestor bekommen hatte und mit der sie mittlerweile gut umgehen konnte.
Vor allem deshalb, dachte Jenna grinsend, weil Onkel Nestor mir das Schießen bei seinen seltenen Besuchen gezeigt hat.
Sie mochte den stets gut gelaunten und ausgeglichenen Mann, der allein und weit draußen auf einem abgeschiedenen Hof lebte. Nestor kam nur selten in die Stadt und die Einwohner hier begegneten dem einsiedlerischen Sonderling meist mit Respekt und noch häufiger mit Angst. Keiner wusste so genau, wo Nestor herkam. Nach allem, was Jenna über ihn in Erfahrung gebracht hatte, war er vor vielen Jahren auf Novara aufgetaucht und hatte sich draußen vor der Stadt ein Haus gebaut, in dem er lebte. Ihr war es egal, ob er von der Excalibur, die den Planeten umkreiste, geflohen, oder ob er – wie die abergläubischen Farmer sich erzählten – vom Himmel gefallen war. Für Jenna zählte nur, dass er stets ein offenes Ohr für sie hatte, wenn sie sich wieder einmal davonschlich, um ihn draußen in seiner Burg zu besuchen.
Die Burg, lächelte sie in sich hinein. Wann habe ich eigentlich begonnen, seinen Hof so zu nennen?
Sie durchquerte nachdenklich das hölzerne Gartentor, das in die hohe Mauer eingelassen war, welche das Haus ringförmig umgab. Gewissenhaft schloss sie die Tür hinter sich, wobei sie einen letzten Blick auf das gedrungene eingeschossige Gebäude warf. Kara stand in der Küche und winkte ihr zu. Sie grüßte flüchtig zurück, bevor das schwere Tor ins Schloss fiel und Jenna sich der Stadt zuwandte.
Kara! Sie tat wieder einmal gerade so, als hätte sie es noch mit dem hilflosen Kleinkind zu tun, das vor achtzehn Jahren zitternd und weinend vor der Stadtmauer gekauert hatte. Bis heute hatte niemand herausgefunden, wo das kleine Mädchen, das sich Jenna nannte, so plötzlich hergekommen war.
Am allerwenigsten ich selbst.
Kein Tag war seither vergangen, an dem sie sich nicht den Kopf über ihre Herkunft zermartert hatte. Doch die Erinnerungen an alles, was vor ihrem Auftauchen am Haupttor der Stadt geschehen war, schienen vollständig aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden zu sein.
In Gedanken strich sie über das goldene Armband, das sich wie üblich um ihr rechtes Handgelenk schlang. Das wie die Federn eines Narakvogels geformte Schmuckstück trug Jenna schon, als man sie schluchzend vor dem Tor der Siedlung gefunden hatte.
Kara Morath, die Exobiologin der Ansiedlung, die auch gleichzeitig eine der wenigen Ärztinnen im Ort war, hatte die Kleine mit den goldenen Haaren damals bei sich aufgenommen und seither lebte sie bei ihr.
Jenna war der Mittvierzigerin dankbar. Immerhin hatte Kara sie nach der Schule ebenfalls zur Exobiologin ausgebildet, und die beiden Frauen gingen oft auf Expeditionen, um die Flora und Fauna des Planeten zu erforschen. Doch weder Kara noch Nestor konnten bisher das Mysterium ihrer Herkunft entwirren, oder was es mit dem Armreif auf sich hatte.
Und da ich das Rätsel ganz sicher auch heute nicht lösen werde, dachte sie mit einem Achselzucken, kann ich mich genauso gut auf das bevorstehende Abenteuer mit Ivy freuen und nicht länger darüber nachdenken.
Jenna schüttelte sich, als könne sie die trüben Gedanken damit hinter sich zurücklassen. Während sie den gewundenen Weg in die Siedlung hinablief, der sich jetzt am Nachmittag mit Sonnenenergie auflud, sog sie die frische klare Luft Novaras tief in sich ein und begann, sich zu entspannen. Sie spürte die warmen Strahlen der orangeroten Sonne, den kühlenden Wind, der über ihre Arme strich und die feinen goldenen Härchen auf ihrer Haut zum Vibrieren brachte. Und sie lauschte auf das leise Knirschen der Leuchtkiesel, mit denen alle Fußwege der Stadt geschottert waren. Im Tageslicht grau und unscheinbar, schillerten die Steine in einem spektakulären Kaleidoskop der unterschiedlichsten Farben, wenn Epsilon Eridani am Horizont versunken war. Der gewundene Pfad führte von ihrem Zuhause in den kleinen Ort hinab, der von den ersten Siedlern auf Novara vor über neunzig Jahren gegründet worden war.
Jenna schlenderte an den Feldern vorbei, auf denen Yumawurzeln und Kojokbohnen gediehen. Die blau lumineszierenden Knollen der Yumas und die mattschwarzen Kojoks bildeten die Hauptnahrungsmittel der Siedlung und standen kurz vor der Ernte. Was an dem herrlich würzigen Duft gut zu erkennen war, der von den Feldern herüberwehte und den Jenna mit einem schwärmerischen Ausdruck im Gesicht tief inhalierte.
Ein leises Rascheln zu ihren Füßen ließ sie innehalten. Das Moggosch, das sie bisher wohl nicht wahrgenommen hatte, lugte unter den fleischigen Blättern einer Bohnenpflanze hervor und sah sie lauernd an. Seine lidlosen kugelrunden Augen richteten sich wie kleine blaue Scheinwerfer auf Jenna, während das Wesen abzuschätzen schien, ob sie eine Gefahr darstellte, oder nicht. Doch erst der Schatten eines großen Naraks, der in der wolkenlosen azurblauen Weite des novaranischen Himmels über sie hinwegglitt, ließ den kleinen Nager erschrocken fiepen und wieselflink unter den Pflanzen verschwinden.
Die Worte Karas spukten ihr durch den Kopf und spülten erneut Ärger über ihre Pflegemutter hoch, die ganz offensichtlich nicht verstehen konnte, dass Jenna mit ihren zweiundzwanzig Jahren durchaus auf sich aufpassen konnte. Sie kannte die Gefahren genau, die vor den Stadtmauern auf unvorsichtige Siedler warteten. Schließlich war kaum jemand auf Novara so oft draußen wie sie. Zunächst hatte sie Kara bei deren Exkursionen begleitet. Nachdem sie endlich volljährig geworden war, zog sie oft allein los, um den Planeten zu erkunden. Und natürlich kannte sie die Granoks und wusste, dass diese gedrungenen Ureinwohner in der Dämmerung noch aggressiver als tagsüber waren.
»Wenn das überhaupt möglich ist«, murmelte sie leise und schüttelte sich vor Ekel bei dem Gedanken an diese fremdartigen Wesen, die den Menschen von Anfang an feindlich gegenübergestanden und die Besiedlung Novaras schwer gemacht hatten. Eine Verständigung war nicht möglich, denn wo auch immer die Siedler auf Granoks trafen, griffen diese sofort mit ihren primitiven Waffen an. Seit der ersten Landung gab es kaum einen Monat ohne Überfälle der gedrungenen grauen Wesen, die in den undurchdringlichen Höhlenlabyrinthen hausten, welche sich tief unter der Hauptinsel Novaras ausbreiteten und diese geradezu durchlöcherten. Niemand wusste genau, wo die Humanoiden mit den drei riesigen gelben Augen auf ihren unförmigen Köpfen herkamen, welche in der Nacht regelmäßig die Ernteroboter draußen vor den Mauern Newtens angriffen, um sie auszuschlachten. Sie tauchten scheinbar aus dem Nichts auf und verschwanden spurlos, bevor die Farmer auch nur in ihre Nähe kamen.
Automatische Spürsonden, die von Zeit zu Zeit in die kilometerlangen Gänge hinabgeschickt wurden, kehrten nie von ihren Erkundungen zurück und von den Einwohnern Newtens wagte sich ebenfalls niemand in die düsteren Tiefen dieser unterirdischen Welt.
So blieben die Raubzüge der Granoks – genau wie Jennas unerklärliches Auftauchen – mehr als rätselhaft und viele der Siedler brachten gar deren Erscheinen und ihr eigenes in Verbindung. Ob Jenna wirklich in den Höhlensystemen Novaras gehaust hatte und von den dort lebenden Granoks aufgezogen worden war, bevor man sie vor den Toren der Stadt fand, wusste niemand zu sagen. Doch die meisten Bewohner Newtens glaubten daran und mieden die junge Frau mit den goldenen Haaren daher, wo es nur ging.
Was nicht weiter schlimm gewesen wäre, dachte sie, wenn sie diesen Unsinn nicht überall verbreiten und vor allem auch noch an ihre Kinder weitergeben würden.
Seit sie in Newten lebte, kursierten diese Gerüchte der abergläubischen Farmer, und Jenna wurde von vielen der Stadtbewohner wie eine Aussätzige gemieden. Nur Ivy, ihre beste und einzige Freundin, hielt immer zu ihr. In der Schule hatte Jenna auf die sechs Jahre jüngere introvertierte Ivy achtgegeben und sie gegen die Anfeindungen und den Spott der anderen verteidigt. Daraus war eine Freundschaft entstanden, der nichts und niemand etwas anhaben konnte, und die auch noch Bestand hatte, nachdem Jenna die Schulzeit hinter sich hatte. Schon seit zwei Jahren arbeitete sie mit Kara zusammen, um Exobiologin zu werden. Mit ihrer brennenden Neugier auf alles, was sie umgab, hatte sie mittlerweile selbst Ivy angesteckt, und so verbrachten die beiden Frauen viel Zeit damit, den Planeten, auf dem sie lebten, gemeinsam zu erforschen, wann immer sich die Gelegenheit ergab.
Auf den heutigen Tag bin ich besonders gespannt, grinste sie in sich hinein. Sie freute sie schon auf Ivys begeisterte Blicke, wenn sie ihr erzählte, wohin der Ausflug heute gehen sollte. Sie wird es lieben, da bin ich mir ganz sicher.
Jenna sah ein letztes Mal in Richtung des Moggosch, dessen grüngelber Kopf erneut raschelnd zwischen den Feldpflanzen auftauchte und das sie argwöhnisch musterte. Wie das kleine Kerlchen es geschafft hatte, die Stadtmauer zu überwinden, war ihr ein Rätsel. Jedes Jahr zur Erntezeit der Bohnen versuchten die pelzigen Nager, deren Äußeres an bunt gestreifte Erdhörnchen erinnerte, über die hohe Mauer zu klettern, welche die gesamte Siedlung und auch die meisten Kojokfelder umgab. Die Tierchen liebten die schmackhaften Feldfrüchte und waren überraschend einfallsreich, wenn es darum ging, in die Stadt und damit an die Früchte zu gelangen. Oben auf der Mauerkrone scheiterten sie jedoch meist an den elektrisch geladenen Gittern und purzelten außen an der glatten Wand hinab. Oft hörte man sie die halbe Nacht über, wie sie knurrend und fiepsend versuchten, die Mauer zu überwinden, um bei Tagesanbruch wieder in den Wäldern zu verschwinden. Die Moggosch scheuten den hellen Sonnenschein von Epsilon Eridani, der sein gelborangenes Licht jeden Tag für gute vierzehn Stunden auf Novara herniederscheinen ließ. Doch hin und wieder reichte den flinken grauen Wesen die ebenso lange Nacht aus, um trotz der Abwehrmaßnahmen das Hindernis zu überwinden. Und die neugierigen kleinen Eindringlinge richteten nicht nur auf den Feldern erhebliche Schäden an, sondern knabberten alles in der Siedlung an, was nicht härter als ihre spitzen Zähne war.
Und das wäre ja dann so ziemlich jeder Gegenstand, den es hier in Newten gibt, dachte Jenna, als sie von dem kleinen Weg auf die Hauptstraße abbog. Newten – auch so ein bescheuerter Name.
Die Menschen, die sich nach dem über ein Jahrhundert dauernden Raumflug hier angesiedelt hatten, mussten die erste und immer noch einzige Ansiedlung auf Novara natürlich ausgerechnet »Newtown« nennen.
»Einfallsloser ging es ja wohl echt nicht mehr«, murmelte Jenna leise und schüttelte verständnislos den Kopf. »Bloß gut, dass wir daraus Newten gemacht haben.«
Über der westlichen Stadtmauer, die wie ein überdimensionaler Strang Zahnpasta aussah, den ein Riese planlos in der Umgebung verteilt hatte, stand die Sonne noch immer drei Handbreit hoch am Himmel.
»Genug Zeit, für unsere kleine Spritztour«, freute sich Jenna auf das vor ihr liegende Abenteuer und beschleunigte ihre Schritte, als sie in die Nebenstraße abbog, in der Ivy mit ihrer Familie wohnte. Eilig lief sie auf das Haus zu und klopfte an der Tür aus einheimischem Kaulaholz. Diese Bäume, deren Holz hart wie Stahl, aber dennoch leicht und gut zu bearbeiten war, wuchsen überall auf der Hauptinsel von Novara und wurden für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt. Darüber hinaus bestand das kleine frei stehende Gebäude aus geschäumtem Plasbeton. Dieser Baustoff, der zu einer ausgesprochen stabilen Masse aushärtete, sobald er mit Sauerstoff in Berührung kam, wurde für fast alles verwendet und dementsprechend sah der kleine Ort aus. Da während der ersten Siedlungsphase nur Wert darauf gelegt worden war, die Menschen schnell unterzubringen, waren die Häuser weder rechtwinkelig noch entsprachen sie dem ästhetischen Verständnis der meisten Stadtbewohner. Kara meinte immer, sie würde sich vorkommen, als ob sie auf einem Backblech voller zerlaufener Muffins wohnen würde und Jenna fand den Vergleich durchaus treffend. Doch im Gegensatz zu ihrer Pflegemutter mochte sie die unförmigen Häuser, in denen nirgendwo rechte Winkel oder gerade Wände zu finden waren.
Sie klopfte ein zweites Mal, während sie ganz automatisch zum Himmel aufsah, an dem die Excalibur wie ein funkelnder Diamant hing, den man sogar am hellen Tag sehen konnte.
Verdammte Orbs, dachte sie, ohne sich über diese Formulierung Gedanken zu machen, welche die Farmer Newtens stets voller Verachtung für alle Bewohner der Excalibur gebrauchten. Schon immer wurden die Nachkommen der Menschen so genannt, die es nach der Ankunft im Epsilon-Eridani-System vorgezogen hatten, weiterhin auf dem Generationsschiff zu bleiben.
Jenna konnte sich nicht vorstellen, was einen dazu bewegte, in einem steinernen Sarg durch das Weltall zu fliegen, wenn man sein Leben auch auf einem nahezu grenzenlos großen Planeten wie Novara verbringen konnte. Während sie noch darüber nachdachte, wurde das Raumschiff, das wie festgenagelt in der geostationären Bahn über der Hauptinsel und damit auch über Newten hing, von einem Schwarm Naraks verdeckt. An ihren gefüllten Gasblasen hängend trieben die riesigen Vögel langsam durch den novaranischen Himmel. Jenna beschattete ihre Augen mit der Hand und sah den imposanten Tieren dabei zu, wie sie den Gipfeln des südlichen Gebirges entgegen drifteten. Dann öffnete sich die Tür, und ein Rotschopf mit kurzen Locken stand vor ihr und blickte sie verschwörerisch an.
»Na, kleine Schwester, bereit für unser Abenteuer?«
»Hallo, Jenna«, antwortete Ivy, griff nach ihrem Arm und zog sie stürmisch ins Haus. »Natürlich – ich warte schon seit einer Stunde darauf, dass du endlich auftauchst!«
Arron
Arron seufzte leise, während er durch die dicken Scheiben des Null-G-Erholungsdecks der Excalibur auf den Planeten hinabblickte, der ab morgen für zwei Wochen zu seinem Zuhause werden würde. Hinter ihm tobte das Airballspiel in der Schwerelosigkeit der Achse, doch die aufgeregten Stimmen seiner Mitspieler drangen nur leise an seine Ohren. Während er die Ruhe spürte, die von der unglaublichen Weite des Alls draußen auf ihn überging, wurde das Spiel bedeutungslos.
Novara schwebte wie ein glitzerndes azurblaues Juwel in der Schwärze des Weltraums. Arron blickte auf die schneeweißen Polkappen, die grünblau schillernden Meere und die Inselgruppen Novaras hinab, die über den gesamten Äquatorbereich des Planeten verteilt waren. Doch mehr noch als diese funkelnde Welt interessierte ihn der Sternenhimmel, der sich rund um die Excalibur bis in die Unendlichkeit ausdehnte. Seit Arron denken konnte, hatte ihn der Weltraum fasziniert.
Kein Wunder, dachte er, immerhin bin ich mittendrin aufgewachsen.
Er liebte den beruhigenden Anblick der Sterne. Hier im hintersten Teil der Nabe, wo er sich absolut schwerelos vor den wenigen Aussichtsfenstern treiben lassen konnte, die es an Bord der Excalibur gab, war das Erlebnis unvergleichlich. Ein Schatten fiel auf ihn und für einen kurzen Augenblick ließ er sich von dem atemberaubenden Anblick des Weltraums draußen ablenken. Eine der riesigen lichtabsorbierenden Nachtblenden schob sich langsam vor die zweite Fusionssonne, die im Zentrum des vierzig Kilometer langen zylinderförmigen Raumschiffes schwebte und den mittleren Bereich des Schiffes mit Licht versorgte. Durch die Verdunklung breitete sich auf der darunterliegenden Landfläche die künstliche Nacht über den Feldern, Städten, Seen und Flüssen aus, auf die Arron aus der zentralen Achse der Excalibur hinabblickte. Träge in der Schwerelosigkeit treibend sah er dabei zu, wie der Schatten in rasender Geschwindigkeit über das Land glitt, das sich fünf Kilometer unter seinen Füßen auf der Innenseite des mächtigen hohlen Raumschiffes ausbreitete. Innerhalb weniger Minuten wurde alles in schwarze Nacht getaucht und für die Menschen dort brach der Schlafzyklus an, während die übrigen zwei Drittel der gewölbten Innenfläche weiterhin in den lebensspendenden wärmenden Strahlen der künstlichen Sonnen gebadet wurden.
Wenn man sich immer im selben Rhythmus wie die Blende durch die Excalibur bewegen würde, fuhr Arron ein Gedanke durch den Kopf, dann würde man sein ganzes Leben keine Dunkelheit kennenlernen.
Erneut ließ er den Blick über den dunklen Bereich gleiten, in dessen Randzonen Lichter in den Häusern derjenigen aufflammten, die noch nicht schlafen wollten oder sich bereits wieder auf den kommenden Tag vorbereiteten. Nur in der Mitte der Nachtzone, wo alles schlief, war es fast vollkommen finster.
Seit über zwei Jahrhunderten sorgten drei dieser Blenden, die sich in achtundzwanzig Stunden einmal um die künstlichen Sonnen der Excalibur drehten, für den stetigen Wechsel von Tag und Nacht im Inneren des Sternenschiffes. Vierzehn Stunden Tag, vierzehn Stunden Nacht: Der Zyklus, welcher vor über zweihundert Jahren von den Konstrukteuren auf der Erde festgelegt worden war, als sich die Excalibur auf den langen Flug nach Epsilon Eridani begeben hatte.
Und damit exakt die Zeitspanne, dachte Arron, die Novara für eine Umdrehung benötigt.
Das Generationsraumschiff, in dem er schon sein ganzes Leben verbracht hatte, nötigte ihm noch immer Respekt vor den Menschen ab, die dieses technische Wunder erdacht und gebaut hatten. Arron ließ seine Blicke über die hell erleuchteten Zonen des Landes schweifen und beobachtete die kaum noch erkennbaren winzigen Bewohner der Excalibur, die dort vor allem ihrer Arbeit auf den riesigen Feldern nachgingen. Er konnte die kleinen und großen Schiffe sehen, die auf den künstlichen Seen und Flüssen ihren Zielen entgegenfuhren, und blickte auf die Monorails hinab, die Tag und Nacht Tausende von Passagieren zu den unterschiedlichsten Orten brachten. Über dieser ganzen Betriebsamkeit schwebten die schweren Frachtzeppeline wie schwerelose, silbern glitzernde Wale durch die Lüfte, während die kleineren wendigen Passagierflitzer Delfinen gleich um sie herumjagten.
All das strahlte eine Leichtigkeit aus, die Arron mit Stolz auf seine künstliche Heimat erfüllte. Doch gleichzeitig wusste er, dass der Anblick trog. Denn dieses bunte Treiben dort unten war nur möglich, weil Tausende Menschen im Inneren der Wandsektionen lebten und arbeiteten und dafür sorgten, dass die Maschinen der Excalibur auch weiterhin funktionierten. Die unzähligen Maschinenhallen, Büroräume, Hangare und Druckschleusen, die sich in der Außenhülle befanden, konnte Arron von der Nabe aus nicht sehen. Doch sie waren da und die Menschen, die dort Tag und Nacht arbeiteten, sorgten dafür dass Licht, Luft, Wärme und Nahrung in ausreichender Menge in dieser künstlichen Welt zwischen den Sternen zur Verfügung stand.
Die Excalibur war auch nach fast einhundert Jahren im Orbit über Novara die Heimat von achttausend Menschen. Bereits vor der Ankunft im Epsilon Eridani System hatten sich an Bord zwei Lager gebildet: Die Farmer, die den neuen Planeten so schnell wie möglich besiedeln wollten und die Raumfahrer, welche nicht gewillt waren, die vertraute Umgebung der Excalibur aufzugeben und ihre Zukunft auch weiterhin im Inneren des Generationsraumschiffes sahen. Nach der Ankunft im Orbit waren die Siedler von Bord gegangen und seither gab es nur noch selten Menschen, die ihren Wohnort wechselten. Und Arron gehörte ganz sicher nicht zu denen, die sich ein Leben als Farmer auf Novara vorstellen konnten!
Das Smartband an seinem Handgelenk ließ ihn zusammenzucken, als es sich mit leisem Vibrieren aktivierte und orange aufblitzte. Er strich mit der linken Hand über das rotierende Emblem des Anrufers und das holografische Gesicht von Azaan Andrar erschien direkt vor ihm, während gleichzeitig dessen leicht genervte Stimme erklang.
»Arron, wo steckst du denn? Hast du vergessen, dass wir schon vor einer halben Stunde aufbrechen wollten?«
Wie könnte ich?, beantwortete Arron die zweite Frage missmutig, jedoch nur in Gedanken. Selbstverständlich dachte er überhaupt nicht daran, diese Überlegung laut auszusprechen. Auf die Beantwortung der rein rhetorischen Frage nach seinem Aufenthaltsort verzichtete er ebenso. Immerhin hatte sein Vater als zweiter Offizier der Excalibur die höchste Freigabeeinstufung, die es an Bord gab und konnte diese Informationen jederzeit abrufen. Zumindest, solange Arron sein Smartband nicht abnahm.
»Hey, Dad«, antwortete er daher laut und versuchte, sich seinen Unmut über die bevorstehende Reise nicht allzu sehr anmerken zu lassen. »Ich bin nur noch mal kurz mit meinen Freunden ins Null-G-Spielfeld rauf, um ein paar Bälle zu werfen. Ich komme sofort runter. Bist du schon am Hangar?«
»Klar bin ich schon dort«, meinte Azaan und schwenkte sein Armband hin und her, sodass Arron sehen konnte, dass sein Vater bereits im Shuttle saß. »Du brauchst auch zu Hause nicht mehr vorbeizugehen. Ich hab dein Gepäck schon mitgenommen. Und falls du es vergessen haben solltest: Unser Atmosphärenhüpfer steht in Bucht IV.«
»Super, danke«, erwiderte Arron mit wenig Begeisterung in der Stimme. Zwar würde ihm der direkte Weg zum Hangar die Standpauke seiner Mutter ersparen, doch dafür musste er die Reise auch einige Minuten früher antreten als gedacht.
Keine Ahnung, was besser ist, dachte er missmutig, stieß sich vom Aussichtsfenster ab und winkte seinen Freunden ein letztes Mal zu, bevor er in Richtung der Aufzugsschächte davon glitt. Als er den Ausgang aus dem Airball-Spielfeld fast erreicht hatte, traf ihn ein gut gezielter Schuss von hinten und ließ ihn gegen die Schleusentür trudeln. Ohne darüber nachzudenken, fing er sich geschickt ab, schnappte sich den kleinen leuchtenden Ball und schleuderte ihn mit einer gekonnten Drehung auf den Werfer zurück.
»Kommst du noch mal ins Spiel?«, grinste Kendro, der das gut gezielte Wurfgeschoss ebenso routiniert aus der Luft fischte, bevor es ihn traf. »Oder wolltest du dich heimlich davonstehlen?«
Fragend schwebte er nur wenige Meter vor Arron.
»Kann leider nicht mehr bleiben«, knurrte dieser missmutig. »Mein Dad wartet schon im Shuttle. Ihr müsst wohl ohne mich weiterspielen.«
»Schade, Mann.« Kendro verzog das Gesicht zu einem mitleidigen Grinsen. »Viel Spaß da unten. Grüß mir die Wühler!«
Der Sechzehnjährige, der mit Arron in dieselbe Schulklasse ging und seit Jahren sein bester Freund war, salutierte spielerisch in seine Richtung. Er vollführte in der Schwerelosigkeit einen Salto und schleuderte den Airball wieder zurück ins Spielfeld.
»Ja, klar, mach ich ganz sicher«, rief Arron ihm sarkastisch nach. »Wir sehen uns in zwei Wochen!«
Campingurlaub bei den Wühlern, dachte er verächtlich, kann es etwas noch Schlimmeres geben?
»Während du weg bist«, riss ihn Kendro aus den Gedanken, »werde ich deinen Rekord im Raumflugsimulator knacken!«
»Kannst es ja versuchen.«
»Du wirst schon sehen ...«
»Träum weiter«, lachte Arron. »Das schaffst du nie. Du bist zwar gut, aber ich bin der Beste!«
Mit einer eleganten Drehung wandte er sich endgültig von seinen Freunden ab und ließ sich langsam auf das geschlossene Schott der Umkleidekabinen zutreiben, hinter denen sich auch die Aufzugsschächte befanden.
Natürlich freute er sich, dass sein Vater Zeit für ihn hatte und mit ihm seinen Urlaub verbrachte. Doch wieso das ausgerechnet in der Wildnis Novaras sein musste, wollte ihm nicht in den Kopf. Schließlich gab es auch auf der Excalibur unzählige Möglichkeiten, sich zu zerstreuen. Eine Segeltour durch den Zylinder zum Beispiel oder – wenn es schon unbedingt Camping sein musste – wäre Arron das auf einer der Inseln des vierten Kontinentalstreifens, die für diese Art der Erholung vorbereitet waren, deutlich lieber gewesen.
»Dort hätte es wenigstens sanitäre Einrichtungen und die Möglichkeit gegeben, mit meinen Freunden in Kontakt zu bleiben«, murrte er leise und warf einen letzten Blick auf das Airballfeld, in dem das Spiel ohne ihn weiterlief. »Verdammt, Paps, wieso unbedingt Zelten auf Novara und kein Urlaub auf dem Schiff? Oder noch besser ein Flug zu den äußersten Planeten?«
Verstimmt glitt er auf einen der Expressaufzüge zu, die durch die Stützschächte der Zentralröhre zur Oberfläche hinabführten. Er setzte sich in die ankommende Kabine, schloss die Gurte und bekam kaum mit, wie die durchsichtige Kapsel in Richtung Boden schoss. Je weiter sie sich der Außenhülle näherte, desto stärker spürte Arron die zunehmende Schwerkraft. Kurz bevor er auf der Oberfläche ankam, vibrierte erneut sein Armband. Dieses Mal leuchtete es in aggressivem Rot und das Emblem seiner Mutter flammte auf.
So viel zu der verpassten Standpauke, seufzte er und aktivierte schicksalsergeben die Verbindung.
»Arron, bist du auf dem Weg zu deinem Vater?«
»Natürlich, Mum«, antwortete er und setzte den arglosen Hundeblick auf, der seine Mutter normalerweise schnell besänftigte. »Wieso fragst du?«
Auch diesmal funktionierte es und Malina Andrar lachte leise auf. »Hör auf, mich für dumm verkaufen zu wollen.«
»Aber Mum, das würde mir nie einfallen!«
»Und zudem lügst du mittlerweile, ohne rot zu werden«, entgegnete sie. »Vielleicht wäre ein Studium in Politikwissenschaft doch besser für dich geeignet als die Raumflugakademie?«
Das amüsierte Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand für einen kurzen Augenblick. »Ich weiß genau, dass du dir für deine letzten Ferien einen anderen Ausflug mit Azaan gewünscht hättest. Aber er freut sich schon so lange darauf, mit dir nach Novara zu fliegen. Also sei so nett und versuche wenigstens, so etwas Ähnliches wie Interesse zu zeigen, ja?«
»Ist gut, Mum«, erwiderte Arron. »Ich werde mir die größtmögliche Mühe geben, auch wenn es schwerfällt!«
»Tu das«, lachte sie erheitert. »Wir sehen uns dann in vierzehn Tagen wieder.«
Sie deaktivierte die Verbindung bereits, als er die Expresskabine verließ und zu den Aufzugsschächten lief, die weiter in die Tiefe der Excalibur hineinführten.
»Augenblick noch«, rief er einem Wartungsmonteur in silberblauem Overall zu, der gerade in einen Aufzug stieg, über dem die neonfarbene Aufschrift Hangardeck-III-VI leuchtete. »Warten Sie bitte auf mich.«
Er lief auf die Kabine zu, nachdem der Mann auf die Wartetaste gehämmert hatte, und quetschte sich in den überfüllten Innenraum. Hier im Mantel der Excalibur war immer viel Betrieb und nur selten ergatterte man eine Kabine für sich allein.
Und schon jetzt vermisse ich die Null-G-Achse, dachte Arron und versuchte, den Geruchsmix aus verschiedensten Parfüms, Ölen und Schweiß, den die Menschen in dem engen Aufzug verströmten, nicht zu tief zu inhalieren. Verdammt, wieso lässt mich Vater die letzten Schulferien meines Lebens nicht einfach so verbringen, wie ich es möchte? Dann würde ich jetzt nicht hier eingepfercht herumstehen, sondern könnte noch immer mit Kendro und den anderen der Abschlussklasse Zeroball spielen oder an den Aussichtsfenstern dort oben vor mich hin träumen.
Bedauernd warf er einen letzten Blick zur Achse hinauf, bevor sich die Tür schloss und die Aufzugskabine mit leisem Zischen in die Tiefe schoss.
Froh darüber, die Enge des Lifts und vor allem den Gestank darin hinter sich lassen zu können, torkelte er nur wenige Minuten später an der Endhaltestelle durch die geöffnete Tür. Hier unten war er noch nie zuvor gewesen und er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sich Hangardeck IV befand. Er ging zu einem der Orientierungsterminals hinüber, die an jeder Aufzugsstation zu finden waren. Arron tippte seinen Zielort auf der holografischen Matrix vor sich an und hielt das Smartband über den blau leuchtenden Transferpunkt. Nur Sekundenbruchteile später blinkte es grün und zeigte damit an, dass die gewünschten Daten gespeichert worden waren. Er wandte sich von dem Terminal ab und folgte dem durchscheinenden Pfeil, der nun über seinem Handgelenk schwebte und ihm den Weg wies. Nur wenige Minuten später kam er schweratmend am Eingang des gesuchten Shuttledecks an. Er streckte einem Wachposten sein Band entgegen und blieb abwartend stehen, während der seine Daten auf einem Pad abglich, das er gelangweilt vor sich hielt.
»Arron Andrar«, las er von der Anzeige ab. »Freigabe als Passagier mit Ziel Novara?«
»Korrekt«, gab Arron zurück. »Mein Vater wartet bereits im Shuttle.«
»Ich weiß«, bestätigte der Wachposten und grinste Arron an, nachdem er erneut einen Blick auf das Pad mit den Flugplänen geworfen hatte. »Commander Andrar ist schon vor einer halben Stunde eingetroffen.«
Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen kleinen Atmosphärenhüpfer, der ganz vorne in dem riesigen Hangar stand und dessen Triebwerke bereits hellrot glühten. Der Mann betätigte eine Taste auf seinem Datenpad und vor Arron leuchteten im Abstand von zwei Metern grüne Streifen am Boden auf, die schnurgerade auf das kleine Raumschiff zuführten.
»Bleib bitte auf dem Pfad«, meinte der Posten abschließend und erneut überzog ein halb mitleidiges, halb amüsiertes Grinsen sein Gesicht. »Na, dann viel Spaß bei den Wühlern.«
»Ja, klar, danke auch! Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«
Arron ignorierte das leise Lachen der Wache und ging langsam in den Hangar hinein. Obgleich sich seine Freude auf den bevorstehenden Ausflug in engen Grenzen hielt, sah er sich interessiert um. Auf die Flugdecks kam man in seinem Alter allenfalls mit der Schulklasse, wenn eine Exkursion der äußersten Hülle auf dem Plan stand. Arron war auf diese Weise bisher nur einmal auf eines der zwölf Shuttledecks gekommen, die gleichmäßig in der Excalibur verteilt waren. Vier vorne im Bug, weitere vier ziemlich genau in der Mitte des vierzig Kilometer langen Hauptzylinders und die übrigen hinten am Heck.
Arron ging langsam auf dem gekennzeichneten Pfad entlang und versuchte, jede Einzelheit des betriebsamen Hangars in sich aufzusaugen. Sein Weg führte ihn an den kleineren Shuttles vorbei, die vor allem für Wartungsarbeiten an der Außenhülle benötigt wurden. Eines davon startete, als er vorbeilief, und glitt in mehreren Metern Höhe auf das mächtige innere Tor der Schleuse zu, die sich schloss, nachdem das Schiff darin verschwunden war.
Er passierte eines der großen Transportschiffe, die Waren zwischen Newtown und der Excalibur austauschten. Der graue Rumpf glänzte matt im hellen Licht der Hangarbeleuchtung.
Wie schön muss es sein, diese Maschinen durch den Weltraum zu steuern?
Obwohl grundsätzlich alles für das tägliche Leben auf dem Generationsschiff angebaut und hergestellt werden konnte, gab es einen regelmäßigen Austausch an Gütern. Die Siedler waren in erster Linie an Ersatzteilen für ihre Fahrzeuge und Generatoren interessiert und tauschten diese gegen Mineralien und Erze, die auf der Excalibur dringend benötigt wurden. Und auch Luxusgüter wie schwarzglänzendes Kaulaholz, oder die überaus schmackhaften Sternenfische, welche in riesigen Schwärmen in den Ozeanen Novaras lebten, waren begehrte Tauschobjekte.
Sicher waren die Frachterflüge zum Planeten und zurück nichts wirklich Aufregendes, doch er beneidete die Besatzungen, die diese Reisen täglich unternehmen durften. Schon immer hatte er davon geträumt, Pilot zu werden. Jede freie Minute verbrachte er mit Kendro in den Simulatoren der Excalibur und feilte an seinen Fähigkeiten. Bisher hatten sie beide noch keine einzige reale Flugstunde vorzuweisen. Doch in den Raumkampfsimulationen waren sie die ungeschlagenen Meister.
Auch wenn es Mum und Dad nicht gerne sehen, ging es ihm trotzig durch den Kopf, während seine Hand über die vernarbte Außenhaut eines der wenigen Atmosphärenjäger glitt, die es noch auf der Excalibur gab. Ich werde mir meinen Wunsch erfüllen und nach der Schule auf die Flugakademie wechseln, um dort das Raumflugpatent zu machen.
Allein dafür, durch diese gigantische Halle laufen zu dürfen und dabei diesem schlanken tödlichen Raumjäger so nahezukommen, hatte sich der Ausflug schon beinahe gelohnt.
»Aber nur fast«, murmelte er, als ihm wieder bewusst wurde, wieso er hier war und wo sein Vater und er bald die nächsten vierzehn Tage verbringen würden.
Die Bucht der Sternenfische
»Und du bist dir sicher, dass du mit einem Flitzer umgehen kannst?« Ivy sah argwöhnisch zu ihrer älteren Freundin hinüber, die sich bereits in den Fahrersattel der kleinen roten Maschine geschwungen hatte und darauf wartete, dass sich das Garagentor endlich öffnete.
»Immerhin gehört er meinem großen Bruder Carl und ich will keinen Ärger bekommen, weil wir mit seinem brandneuen Hoverbike gegen einen Kaulabaum geknallt sind, oder es im Sumpf versenkt haben.«
»Ängstliches kleines Moggosch«, erwiderte Jenna lachend und drückte den Starter. Das Bike erhob sich sofort mit leisem Summen in die Luft und glitt auf das nach oben ratternde Tor zu, als sie den rechten Griff sacht drehte. »Ich weiß genau, wie man mit den Dingern umgeht. Schließlich hat mich Onkel Nestor schon oft genug mit seinem fahren lassen. Also los jetzt, schwing deinen Hintern endlich in den Sattel. Carl wird nicht einmal merken, dass wir damit unterwegs waren.«
Ivy, deren Gesichtsausdruck noch immer einen ordentlichen Anteil Skepsis widerspiegelte, setzte den Helm auf, klappte das Visier herunter und ließ sich auf den hinteren Sitz des Bikes gleiten. Mit leisem Heulen beschleunigte das mit vier Rotoren ausgestattete Fahrzeug und schwebte aus der Garage. Geschickt steuerte Jenna den zweisitzigen Schweber durch die engen Gassen Newtens, die jetzt am frühen Nachmittag von den Einwohnern, die ihren Geschäften nachgingen, verstopft waren. Als sie die Hauptstraße erreichte, auf der sie kurz zuvor noch zu Fuß unterwegs gewesen war, wurde das Fahren einfacher. Doch nun musste sie sich zwischen den riesigen Erntemaschinen, Hoverbikes, Transportschlitten und einer Vielzahl weiterer Fahrzeuge hindurchschlängeln. Erst als sie endlich vor dem Haupttor stoppte, wurde es einsamer. Da mit Ausnahme der automatischen Ernter kaum jemand die Stadt verließ, waren Jenna und Ivy die einzigen Menschen an dem vier Meter breiten Ausgang, der von einem engmaschigen Gittertor gesichert wurde. Sie hielten einem gelangweilt dreinblickenden Wachposten ihre ID-Armbänder vor den Scanner.
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte er mit einer Miene, die vermuten ließ, dass er an der Antwort eigentlich nicht wirklich interessiert war.
Jenna lächelte den Mann entwaffnend an. »Wir fahren raus zu meinem Onkel.«
»Zu deinem Onkel?«
»Nestor Cortena. Er wohnt einige Kilometer nördlich vor der Stadt.«
»Ich weiß, wo der verrückte Cortena haust«, gab der Wachposten kopfschüttelnd zurück. Ganz offensichtlich konnte er nicht verstehen, wie man auf die Idee kommen konnte, außerhalb der schützenden Mauern zu leben oder so jemanden zu besuchen. Doch er öffnete das Tor und ließ sie passieren.
»Na, dann viel Spaß«, rief der Wächter, als Jenna bereits langsam durch das Tor fuhr. »Und lasst euch nicht von den Granoks fressen!«
»Ja, klar«, meinte Ivy mit säuerlicher Miene. »Das ist unheimlich witzig.«
Jenna atmete befreit auf, als die Stadtmauer mit den engen Straßen endlich hinter ihnen lag und sich die weiten Grasebenen Novaras vor Ivy und ihr öffneten. Sie beschleunigte und das Hoverbike flitzte zwischen den endlos anmutenden Feldern am Stadtrand hindurch, über denen mächtige Staubwolken wirbelnd in den azurblauen Himmel stiegen. Jenna kannte die Wolkengebilde, die zu dieser Jahreszeit wie Dutzende Tornados rund um die Stadt aufstiegen und von den automatischen Erntemaschinen bei ihrer langsamen Fahrt auf den Yumafeldern stammten. Direkt vor ihnen trieb ein Schwarm Naraks an ihren gefüllten Gasblasen hängend träge über den Himmel.
»Sind das nicht faszinierende Geschöpfe?«, schreckte sie Ivys Stimme im Helm-Interkom auf. »Wenn ich nächstes Jahr meinen Abschluss mache, will ich auf jeden Fall auch Exobiologin werden wie du. Wir könnten dann die Naraks, die Plesios, die Granoks und all die anderen Lebewesen Novaras zusammen studieren, von denen wir noch kaum etwas wissen. Wäre das nicht herrlich?«
Jenna antwortete lachend. »Da werden wir viel zu tun haben. Ich glaube nicht, dass wir bisher auch nur zehn Prozent der Bewohner auf diesem Planeten kennen. Und die meisten von ihnen sind nicht gerade für ihre Gastfreundlichkeit bekannt! Da werde ich wohl wie damals in der Schule auf dich achtgeben müssen, damit dir keines deiner Studienobjekte eine Keule über den Kopf zieht.«
»Ach, du wieder mit den alten Geschichten«, schmollte Ivy. »In der Schule tut mir schon lange niemand mehr etwas.«
»Liegt vielleicht daran, dass ich damals nach meinem Abschluss deinem größten Widersacher eine Abreibung verpasst habe, die er sicher nicht vergessen hat.«
Ivy lachte laut. »Und außerdem hast du auch dafür gesorgt, dass es alle mitbekommen haben. Toa Muzu ist seither der höflichste Schüler in Newten, den man sich nur vorstellen kann. Der tut keinem Moggosch mehr etwas zuleide ...«
»Was man von den meisten Bewohnern Novaras nicht behaupten kann«, grinste Jenna. »Dann passe ich wohl auch in Zukunft wieder auf dich auf, obwohl ich dachte, dass das nach der Geschichte mit Muzu ausgestanden wäre ...«
»Du bist doof!«
»Und du wirst sicher eine ganz außergewöhnliche Exobiologin«, konterte Jenna, »wenn du nicht vorher gefressen wirst!«
Sie lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Obwohl Ivy sicher alles andere als eine draufgängerische toughe Forscherin war, musste sie ihr in einem Punkt zustimmen: Die Naraks, die mithilfe der prall gefüllten Methangasblasen an ihrem Oberkörper immer höher in den Himmel stiegen, waren ein beeindruckendes Schauspiel. Und obwohl die Menschen nun schon seit fast einhundert Jahren auf Novara siedelten, wussten sie dennoch kaum etwas von den Einwohnern dieser faszinierenden Welt.
»Es ist auf jeden Fall eine gute Idee«, lenkte sie daher ein. »Farmer haben wir schließlich genug. Und eine Biologin mehr, die endlich mal mit dem Aberglauben der Bauern aufräumt, könnten wir gut gebrauchen. Vielleicht entdeckst du ja heute schon eine neue Spezies, der wir deinen Namen geben können?«
»Und wie soll die dann heißen?«
»Wie wäre es mit Ivysaurier?«
»Du bist blöd!«
Jenna spürte einen empörten, jedoch nicht ernst gemeinten Knuff in ihrem Rücken und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Mit einer weiteren Drehung des Geschwindigkeitsreglers beschleunigte sie das Hoverbike auf Höchstgeschwindigkeit und schoss die schnurgerade Piste entlang, die geradezu zu Abenteuern und Entdeckungen einlud. Hier draußen – ohne die einengenden Mauern der Stadt – fühlte sich Jenna lebendig und glücklich. Newten mit ihren ewig misstrauischen und engstirnigen Bewohnern verschwand in der auffächernden Staubwolke des Bikes hinter ihr. Eine Zeit lang genoss sie nur den Fahrtwind, der an ihrer Jacke zog, die wärmenden Strahlen Epsilon Eridanis und die rechts und links vorbeifliegenden Felder.
Ein Shuttle im Landeanflug, das direkt über ihnen ihre Route kreuzte, ließ sie aufblicken und gleichzeitig die Geschwindigkeit reduzieren. Die Flugmaschine flog so tief, dass die Abgasstrahlen seiner Triebwerke wie ein heißer Atem über das Hoverbike hinwegwehten.
»Wieso fliegt ihr nicht einfach noch tiefer an?«, rief Jenna erbost und schüttelte die Faust gegen das Raumschiff. »Dann könnt ihr auch gleich noch die Felder abfackeln!«
Doch ohne von ihnen Notiz zu nehmen, schwebte das Shuttle in Richtung einer nahen Hügelkette davon und setzte dort nach wenigen Sekunden in einer weithin sichtbaren Staubwolke auf.
»Was für Schwachköpfe«, meinte Ivy und schüttelte verständnislos den Kopf. »Denen sollte man die Fluglizenz entziehen!«
»Verdammte Orbs«, machte auch Jenna ihrem Unmut Luft. »Kommen wieder mal angeflogen und stehlen uns die Bodenschätze. Und wir sind so blöd und bauen ihnen das Zeug auch noch ab.«
»Bist du da nicht ein wenig zu streng?«, gab Ivy besänftigend zurück. »Die sind sicher nicht die Hellsten, was das Fliegen angeht, aber immerhin tauschen wir für die Erze Medikamente und Ersatzteile für unsere Maschinen, die wir selbst nicht herstellen können.«
»Vielleicht, weil uns die Rohstoffe fehlen, die alle auf der Excalibur landen?«, ereiferte sich Jenna. »Hast du darüber schon mal nachgedacht? Ohne diese ständigen Lieferungen könnten wir das doch längst selbst produzieren. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Stadträte diesen Abgaben nicht endlich einen Riegel vorschieben.«
Ivy zuckte mit den Schultern und beschloss, das Gespräch auf ein weniger brisantes Thema zu lenken. »Weiß ich auch nicht. Aber schau doch mal: Ist das da vorne nicht das Haus deines Onkels?«
Jenna nickte. »Ja, stimmt. Onkel Nestor kommt später noch zum Abendessen bei uns vorbei. Wir sollten also rechtzeitig wieder zurückfahren.«
Sie blickte nach links, wo sich inmitten eines kleinen Wäldchens mächtiger Kaulabäume das Anwesen von Nestor Cortena erhob. Das turmartige Hauptgebäude, das aus dem schwarz schimmernden Holz der Kaulas errichtet war, ragte drohend hinter der weiß getünchten Mauer aus dem obligatorischen Plasbeton hoch in den Himmel und überragte dabei den Wald um viele Meter. In ganz Newten gab es kein höheres Gebäude als den Turm ihres Onkels und soweit Jenna wusste, hatte auch niemand ein Haus, das vollständig aus Holz gebaut war.
»Der alte Cortena wohnt hier draußen vollkommen allein«, ertönte erneut Ivys Stimme aus dem Interkom und riss Jenna aus der Betrachtung des Anwesens. »Soll ja ein richtiger Einsiedler sein. Mensch, so einen coolen Onkel hätte ich auch gerne.«
»Ja, der ist schon ganz in Ordnung«, befand Jenna und wandte sich wieder der Piste zu. »Aber jetzt sollten wir uns mal auf unser Ziel konzentrieren.«
Eine gute Stunde später stoppte sie das Hoverbike mitten auf einem weitläufigen purpurroten Strand und schwang sich aus dem Sattel, während die vier Rotoren mit leisem Sirren ausliefen. Ivy, die bereits abgestiegen war, als das Bike noch nicht einmal richtig stand, riss sich den Helm vom Kopf, ließ ihn achtlos in den weichen Sand fallen und drehte sich begeistert im Kreis.
»Ist das nicht absolut fantastisch hier?«
»Ja, ist es«, erwiderte Jenna lachend, die ihren Helm behutsam an den Lenker hängte und aus ihren Schuhen schlüpfte. Der feinkörnige Sand rieselte warm zwischen ihren Zehen hindurch und sie stieß einen wohligen Seufzer aus. »Da hat es sich doch gelohnt, dass wir das Hoverbike deines Bruders entführt haben, oder?«
»Oh ja, das hat es! Aber wir haben es nicht entführt, sondern nur geliehen. Und mit etwas Glück bringen wir es zurück, bevor Carl überhaupt merkt, dass es weg war.« Unsicherheit blitzte in Ivys Augen auf. »Vielleicht hätten wir ihn doch fragen sollen?«
»Ist nicht dein Ernst, oder?«, lachte Jenna. »Nie und nimmer würde uns Carl sein Schätzchen ausleihen.«
Sie streckte sich, um die Muskeln nach der langen Fahrt zu lockern, und warf einen Blick auf das Bike. Nicht gerade besonders bequem, aber zumindest ist es schnell.
Mit Karas Schweber wären sie stundenlang unterwegs gewesen. Und an das altertümliche Gefährt von Onkel Nestor, das er Jenna vermutlich ebenfalls ausgeliehen hätte, wollte sie gar nicht erst denken. Nein – das neue Bike von Carl auszuborgen, war ganz sicher die beste Idee gewesen.
Sie schlenderte hinter Ivy her zum Meeressaum hinunter. Ihre Freundin hatte sich ebenfalls die Stiefel ausgezogen und tanzte am Strand ausgelassen durch die Brandung. Draußen im Ozean glitt eine Herde Plesiowale durch das grünblaue Wasser. Die bis zu zwanzig Meter langen Meeressäuger schienen mit ihren vier paddelartigen Flossen eher durch das Meer zu schweben als darin zu schwimmen. Jungtiere jagten sich spielerisch gegenseitig durch die Wellen und gelegentlich sprang eines davon meterhoch in die Luft, um anschließend wieder mit lautem Klatschen im Ozean einzutauchen. Jenna sah ihnen zu, bis sie hinter einer kleinen vorgelagerten Insel verschwanden. Die Anmut der Wale war trügerisch und täuschte darüber hinweg, dass es sich bei den Tieren um gefährliche Fleischfresser handelte. Doch sie hatte heute ganz sicher nicht vor, diesen Raubtieren zu nahe zu kommen.
Als die letzten Plesios hinter den wellenumschäumten Klippen der Insel verschwanden, beschleunigte Jenna ihre Schritte, um Ivy einzuholen, die schon ein gutes Stück den Strand hinaufgelaufen war und nun aufgeregt winkend dastand.
»Sieh doch, Jenn«, rief sie ihr über das Tosen der Brandung hinweg zu. »Ich habe eine Soranuss gefunden.«