Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien - Bibiane Krapfenbauer-Horsky - E-Book

Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien E-Book

Bibiane Krapfenbauer-Horsky

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Beschreibung

Die Blütezeit der medizinischen Schulen verhalf Wien zu Weltruhm. Bereits vor 200 Jahren standen das Allgemeine Krankenhaus, der Narrenturm und das Josephinum als "Musts" auf der Besichtigungsliste vieler Reisender. Doch die erlebbare Medizingeschichte Wiens reicht viel weiter zurück, denn bereits vor mehr als 650 Jahren wurde die Medizinische Fakultät gegründet. Lassen Sie sich entführen in die Welt des Mittelalters, der Klostermedizin und der 14 Notheiligen. Erfahren Sie mehr über das "sündige" Wien, über die bahnbrechenden und weit über die Grenzen Österreichs hinausreichenden Erkenntnisse der Wiener Medizinischen Schulen und was es mit der sprichwörtlich "schönen Leich" in Wien auf sich hat. Entdecken Sie mit diesem Buch das unbekannte medizinische Wien in einer Fülle von Geschichten, die letztlich auch zeigen, dass die hier wirkenden Ärzte vergangener Zeiten nicht nur Einfluss auf die österreichische, sondern oft auch auf die europäische Geschichte hatten.

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Inhalt

Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien

Tour 1

Die heilende Kraft der Kirche

Treff 1

Stephansdom

Ein Nebenweg:

Der Zahnwehherrgott am Stephansdom

Treff 2

Churhaus

Ein Nebenweg:

Das fahrende Volk am Hohen Markt und Mehlmarkt

Treff 3

Deutschordenshaus

Treff 4

Weihburggasse 10–12

Treff 5

Pestsäule am Graben

Tour 2

Drachenblut und die 14 Nothelfer

Treff 1

Griechenviertel

Ein Nebenweg:

Von Drachen und Teufeln

Ein Nebenweg:

Die 14 Nothelfer

Treff 2

Lugeck 6

Treff 3

Altes Universitätsviertel

Treff 4

Heiligenkreuzerhof

Tour 3

Wien als Mekka der Medizin

Treff 1

Arkadenhof der Universität

Treff 2

Altes AKH

Hof 1

Hof 7

Hof 6

Tour 4

Kokain und Inzucht

Treff 1

Maria-Theresien-Platz

Treff 2

Heldenplatz

Treff 3

Elisabeth-Denkmal im Volksgarten

Ein Nebenweg:

Sisi und die Ernährung/Sport

Ein Nebenweg:

Sisi und das Rauchen

Ein Nebenweg:

Sisi und die Melancholie

Tour 5

Gegen die Sittlichkeit: Das sündige Wien

Treff 1

Michaelerplatz

Treff 2

Josefsplatz

Treff 3

Hotel Sacher

Ein Nebenweg:

Die Syphilis

Treff 4

Franziskanerkirche

Tour 6

Mozart und seine Zeitgenossen

Treff 1

Palais Collalto, Am Hof 13

Treff 2

Judenplatz 3–4

Treff 3

Milchgasse 1/Petersplatz 8

Treff 4

Graben

Treff 5

Stephansplatz/Dom

Treff 6

Domgasse 5/Mozarthaus

Treff 7

Rauhensteingasse 8

Tour 7

Vom Josephinum zur Mariannengasse

Treff 1

Josephinum

Treff 2

Boltzmanngasse

Treff 3

Sensengasse/Spitalgasse

Treff 4

Lazarettgasse

Treff 5

St. Anna Kinderspital

Treff 6

Mariannengasse

Tour 8

Die Wiener und ihre Nähe zum Tod

Treff 1

Zentralfriedhof, Eingangstor

Ein Nebenweg:

Per Rohrpost zum Friedhof

Treff 2

Gruppe 30 A, Reihe 1: Die Opfer des Ringtheaterbrands

Ein Nebenweg:

150.000 Gulden für die Errichtung eines Spitals

Treff 3

Gruppe 14 A: Die Pioniere der Medizin

Ein Nebenweg:

Der Platz auf den Friedhöfen wird knapp

Treff 4

Gruppe 32 C: Braune Schatten

Treff 5

Gruppe 33 E: Der Kaiser wird hinzugezogen

Im Text erwähnte Museen

Literaturnachweise, Quellen & Publikationen

Die Autoren

Bibiane Krapfenbauer-Horsky

Hans-Peter Petutschnig

 

Auf den Spuren der alten

HEILKUNSTin Wien

Medizinische Spaziergänge durch die Stadt

 

Wir danken Alexandra Wolffinger (Ärztekammer für Wien) für die große Hilfe bei der Beschaffung des historischen Bildmaterials.

 

© Verlagshaus der Ärzte GmbH, Nibelungengasse 13, 1010 Wien, Österreich

www.aerzteverlagshaus.at

1. Auflage 2021

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwendung, vorbehalten.

ISBN 978-3-99052-266-0

Umschlag & Satz: Grafikbüro Lisa Hahsler, 2232 Deutsch-Wagram

Umschlagfoto: Griechengasse (Foto von Stefan Seelig)

Projektbetreuung: Hagen Schaub

Sämtliche Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit – vor allem in Hinblick auf die Vermeidung einer ausufernden Verwendung von Pronomen – haben wir uns dazu entschlossen, alle geschlechtsbezogenen Wörter nur in eingeschlechtlicher Form – der deutschen Sprache gemäß zumeist die männliche – zu verwenden. Selbstredend gelten alle Bezeichnungen gleichwertig für Frauen und transsexuelle Personen.

VORWORT

Die Blütezeit der Wiener Medizinischen Schulen hat Wien zu Weltruhm verholfen. Mit Gerard van Swieten, Ignaz Philip Semmelweis und Theodor Billroth verbindet man bis heute Medizingeschichte. Bereits vor 200 Jahren standen das Allgemeine Krankenhaus, der Narrenturm und das Josephinum.

Dabei reicht die erlebbare Medizingeschichte Wiens noch viel weiter zurück. Denn bereits vor mehr als 650 Jahren wurde die Medizinische Fakultät im Schatten von St. Stephan gegründet. Der Beginn der Heilkunst liegt daher im Herzen Wiens und führt uns durch versteckte Gässchen und unentdeckte Ecken.

Vor etwas mehr als sieben Jahren haben wir uns entschlossen, Wiener Ärztinnen und Ärzten die Medizingeschichte Wiens näherzubringen und medizingeschichtliche Führungen anzubieten. Anfangs waren wir noch eine kleine Gruppe von 20 bis 30 Personen, mittlerweile sind 150 Teilnehmer keine Seltenheit mehr.

Acht der interessantesten Rundgänge haben wir für Sie in diesem Buch zusammengefasst. Lassen Sie sich entführen in die Welt des Mittelalters, der Klostermedizin und der 14 Notheiligen. Erfahren Sie mehr über das „sündige“ Wien, über die bahnbrechenden Erkenntnisse der Wiener Medizinischen Schulen und was es mit der sprichwörtlich „schönen Leich“ auf sich hat. Und immer wieder begegnen wir dem Haus Habsburg, nicht nur, aber vor allem, im Rundgang „Kokain und Inzucht“.

Es sind Rundgänge, die den medizinhistorisch interessierten Wienerinnen und Wienern Unbekanntes ihrer Heimatstadt näherbringen sollen. Die Rundgänge werden aber auch jene Gäste unserer Stadt interessieren, die Neues entdecken möchten. Und wenn der eine oder andere Teilnehmer medizinischer Kongresse – und derer gibt es in Wien sehr viele – Zeit findet, den Vortragssaal kurz zu verlassen, um unter Mithilfe dieses Buchs den medizinhistorischen Pfaden der Stadt zu folgen, freut uns dies ganz besonders. Es gibt viel zu entdecken.

Bibiane Krapfenbauer-Horsky

Hans-Peter Petutschnig

Wien, März 2021

TOUR 1

DIE HEILENDE KRAFT DER KIRCHE

 

Krankheiten und Seuchen begleiteten die Menschen im Mittelalter tagtäglich. Von der daraus resultierenden Frömmigkeit zeugt ein Spaziergang rund um den Stephansdom.

 

Die Menschen im Mittelalter lebten stark jenseitsbezogen. Die schwere Arbeit, Kriege, schlechte hygienische Verhältnisse, Hunger oder auch Krankheiten machten den Tod quasi zu einem täglichen Begleiter, mit dem man sich letztlich auch theologisch auseinandersetzte.

Man „arrangierte“ sich meist mit dem eigenen Schicksal auf Erden, bereitete sich auf den eigenen Tod vor, der dann ein schöneres, entbehrungsfreies Leben beziehungsweise Dasein für die Seele im Jenseits versprach. Somit spielte auch der religiöse Alltag eine wesentliche Rolle. Seelenheil und Trost erhielten die Menschen im Glauben und in der Kirche. An die Bedeutung von Eigenverantwortung, auch hinsichtlich der eigenen Gesundheit, dachte kaum jemand. Heilung versprach man sich vom Kirchgang und Gebeten, Ärzte im heutigen Sinn gab es kaum und waren nur für die Wohlhabenden leistbar – genauso wie die Arzneien aus den Apotheken.

Wie stark die Macht der Kirche in den Köpfen der Menschen im Mittelalter präsent gewesen sein musste, lässt sich auch an der Architektur festmachen: Oft waren die Kirchen die einzigen Gebäude aus Stein, die die Menschen während ihres ganzen Lebens betraten.

Auch die Fenster aus buntem Glas mussten entsprechenden Eindruck gemacht haben, denn die meisten Menschen der damaligen Zeit verfügten lediglich über kleine Öffnungen in ihren Hütten, die sie bei Kälte mit Stroh ausstopften. Selbst Burgen oder die Häuser der Patrizier wiesen zwar verzierte Fenster auf, aber nur in den wichtigsten Räumlichkeiten waren diese auch verglast.

 

Treff 1

Stephansdom

 

Die Anbetung der Heiligen schafft Linderung bei Leid und Krankheit.

„Ich bin die Tür der Schafe; wer durch mich hineingeht, wird ein- und ausgehen und Weide finden.“ – Es ist der Locus classicus aus dem Johannesevangelium, die Schriftätiologie für jede christologisch gedeutete Tür schlechthin.

„Jesus als die Tür – durch Jesus hineingehen: Damit erhält die Tür zur Kirche eine zentrale heilsvermittelnde Bedeutung.“ So beschrieb einmal der evangelische Kirchenhistoriker Martin Walraff die Bedeutung von Kirchenportalen. Was im Evangelium abstrakte Metapher war, wurde im Mittelalter konkret architektonisch umgesetzt. Aus christlicher Sicht wurde damit „eine neue Stufe der theologischen Sinnverdichtung“ erreicht.

Dieses Konzept lässt sich tatsächlich an den meisten Kirchen des Mittelalters erkennen – der Stephansdom macht da keine Ausnahme. Die Baumeister dieses wohl prominentesten Wahrzeichens von Wien wussten sehr genau, was auf die Menschen Eindruck machte. Keine Heiligenfigur, kein Fabelwesen, keine Ornamentik wurde zufällig platziert. Und vieles hatte mit dem Versprechen zu tun, durch den Übertritt ins Innere Erleichterung zu finden – bei körperlichen wie auch bei seelischen Qualen.

Im mittelalterlichen Verständnis war der Mensch nur ein kleines Sandkorn im Dasein. Man wollte und konnte Gott Vater nicht mit seinen Alltagssorgen, zum Beispiel Krankheit und Schmerzen, belästigen. Aber es gab Vermittler: die Heiligen. Allein im Stephansdom befinden sind insgesamt 107 Heiligenfiguren – genügend Möglichkeiten also für die Gläubigen, um für ihr Seelenheil zu beten (siehe auch Die 14 Nothelfer).

Heute betreten Gläubige und Besucher den Dom meist durch das zentrale Riesentor – der Name hat übrigens nichts mit dessen imposanter Größe zu tun, sondern bezieht sich auf die Trichterform des nach innen tief und schräg abfallenden Portals (mittelhochdeutsch „risen“, was so viel bedeutet wie „sinken“, „fallen“). Die Gläubigen des Mittelalters jedoch betraten den Dom meist von der Seite aus, zum Beispiel durch das Bischofstor. Die prunkvolle Pforte in der nördlichen Langhauswand wurde erst zwischen 1365 und 1373 fertiggestellt. Dort, direkt über der Schwelle des Tors, befindet sich noch immer der sogenannte „Kolomani-Stein“.

Viel ist über den irischen Heiligen, der um die vorvorige Jahrtausendwende lebte und während einer Pilgerfahrt ins Heilige Land als vermeintlicher Spion bei Stockerau gefangen und hingerichtet wurde, nicht bekannt. Als sein Leichnam nicht verweste und sich an seiner Grabstätte Wundertaten ereigneten, sah man darin göttliche Fügung und verbrachte den Leichnam nach Melk in die damalige Residenz der Babenberger. Obwohl die angestrebte Heiligsprechung nie erfolgte, hatte Koloman für die Menschen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit hierzulande große Bedeutung, schützte er doch vor Krankheiten jeglicher Art.

Den Stein ließ Herzog Rudolf IV. im Zuge der Erweiterung der Kirche am 3. Mai 1361 einmauern. Der Überlieferung nach soll über dem Stein das Blut des Heiligen geflossen sein, was den Herzog dazu bewog, dort eine Reihe von Heiligenreliquien zu platzieren.

Die Verbundenheit des Herzogs mit dem Heiligen belegt auch der Umstand, dass sich Rudolf IV. im Gewände unmittelbar oberhalb des Kolomani-Steins in Stein abbilden ließ. Koloman war der erste Landespatron Österreichs und spielte damit auch politisch eine wichtige Rolle, indem er die noch junge Landesherrschaft festigen und wohl auch die Loslösung vom Bistum Passau zugunsten eines eigenen neuen Bistums forcieren sollte. In der Hand hält Rudolf IV. ein Modell seiner Kirche auf einem Tuch – was ihn als Kirchenstifter ausweist. Belege seiner weltlichen Macht sind Zepter und Bindenschild auf der Gürtelschnalle.

Rudolf IV. war der einflussreichste Habsburger des 14. Jahrhunderts. Trotz seiner kurzen Lebenszeit von knapp 26 Jahren prägte er in politischer und kultureller Hinsicht sein Herrschaftsgebiet nachhaltig, nicht nur mit dem Ausbau des Stephansdoms, sondern auch mit der Gründung der Wiener Universität, der „Alma Mater Rudolphina“, im Jahr 1365. Seit damals gibt es auch die Wiener Medizinische Fakultät (siehe auch Churhaus).

Es lohnt, im Inneren des Doms zur Kanzel zu gehen, deren Aufgang mit Kröten, Salamandern und Schlangen versehen ist. Sie sind ein Sinnbild für den täglichen Kampf im Menschen zwischen Gut und Böse.

Im Mittelalter waren Kröten eine wichtige Medizin: Hildegard von Bingen berichtete 1150 in ihrem „Tier- und Atznayen­buch“ von der „credda“ (= Kröte), die durch das Bebrüten eines Schlangen- oder Hühnereies einen jungen Basilisken zeugt, der dann in der Erde heranwächst. Sie beschreibt daher die Kröte als Teufelskreatur, die dem Schlechten gleichzusetzen sei. Andererseits empfiehlt sie das Tier aber auch als Arznei gegen Geschwülste, da es mit großer Bitterkeit ausgestattet ist.

Ein sehr populäres Mittel gegen Krankheiten war auch das Aufbinden lebender Kröten auf schwer heilbare Geschwüre. War die Kröte dann verendet, hatte sie die Krankheit aufgesogen und man konnte den toten Körper entsorgen. Bereits der gallische Arzt Marcellus Empiricus beschreibt im 5. Jahrhundert die Kröte als Arznei. Die Kröte sei ein giftig anziehendes Tier, das ein wirksames Fiebermittel binden kann. Im Mittelalter betrachtete die Klostermedizin die Kröte als Arzneilieferant und empfahl deren Leber gegen „Skrofeln“ (Gelbsucht, Drüsenentzündung).

Erd- und Wechselkröten galten lange Zeit auch als Heilmittel gegen die Pest, weiters gegen Gicht und Rheuma. Die Volksmedizin empfahl bis ins 19. Jahrhundert Kröten und Froschpräparate bei Karzinomen, Warzen, Milzbrand und Hämorrhoiden. Frösche setzte man vor allem bei Hals-, Haut- und Augenkrankheiten ein. Die heute noch gebräuchliche Redensart „einen Frosch im Hals haben“ dürfte auf diese Praktik zurückzuführen sein.

 

 

EIN NEBENWEG:

Der Zahnwehherrgott am Stephansdom

 

Im Mittelalter ging man bei Zahnschmerzen zum „Zahnbrecher“, der mit verschiedenen Haken und Zangen die Zähne im Mund des Patienten bearbeitete. Damit dieser vor Angst und Schmerzen bei der Zahnbehandlung nicht davonlief, band der Bader den Kopf des Patienten mit Lederriemen fest. Der Zahn wurde mit Gewalt und ohne Betäubung herausgerissen. Reiche Wiener konnten sich zwar Zahnprothesen leisten, doch die hielten nicht lange und waren beim Essen zudem keine wirkliche Hilfe.

Es verwundert nicht sehr, dass viele Menschen der Tortur durch den Bader aus dem Weg gingen und lieber auf Hilfe „von oben“ hofften. Die Darstellung von Christus als Schmerzensmann mit Wundmalen und Dornenkrone zierte viele Kirchen des ausgehenden Mittelalters. Auch am Stephansdom befindet sich eine solche Schmerzensmanndarstellung, und zwar an der östlichen Außenseite hinter dem Chor. Seinen Namen als „Zahnwehherrgott“ verdankt er einer Sage. Als Studenten in der Nacht den Stephansfriedhof überquerten, verspotteten sie den Schmerzensmann. Früher war es üblich, Christusdarstellungen mit Blumen zu schmücken. Bei besagtem Halbrelief waren die Blumen mit einem Tuch über dem Kopf befestigt – was die jungen Zecher flugs als Zahnschmerzen beim Herrgott deuteten. Noch in derselben Nacht bekamen die drei aber selbst fürchterliche Zahnschmerzen, die erst wieder nachließen, als sie am darauffolgenden Tag zum Dom zurückkehrten und sich entschuldigten. Seither besuchten zahlreiche Wienerinnen und Wiener den „Zahnwehherrgott“, um so von ihren Leiden geheilt zu werden.

Wie oft dies von Erfolg gekrönt war, ist leider nicht überliefert. Aber es gab Alternativen, so zum Beispiel die Anbetung der heiligen Apollonia. Sie wird meist als Jungfrau mit den Attributen ihres Martyriums dargestellt – Märtyrerpalme, Krone beziehungsweise Lorbeerkranz sowie Zange oder Zähne. Wegen der Art ihres Martyriums wurde sie von den Menschen vor allem bei Zahnschmerzen oder -leiden angebetet. Heute ist sie die Schutzpatronin der Zahnärzte.

Ebenfalls „Hilfe von oben“ versprach die Auseinandersetzung mit dem Mond. Sobald bei Neumond zum ersten Mal die Mondsichel – „dat nüe Licht“ (das neue Licht) – am Himmel sichtbar wurde, musste der von Zahnschmerzen Geplagte sich mit einem der nachfolgenden Reime an den Mond wenden: „Ach du liebes neues Licht! / Behüte mich, mein Gott, vor meiner Zähne Gicht! / Dass sie mich nicht möchten reizen – spreizen – schwären – quälen.“ Oder: „Alle Psalmen sind gesungen / Alle Glocken sind verklungen / Alle Evangelien sind gelesen / Alle Heiligen sind gewesen / Das Feuer in meinen Zähnen soll verwesen.“

Noch obskurer war da nur mehr das Übertragen von Zahnschmerzen auf Bäume – eine häufig praktizierte Methode, wenn sonst nichts mehr half. Ein gewisser Michael Babst von Rochlitz etwa empfahl 1592 allen Schmerzgeplagten, in einen Holunder ein Loch zu bohren, darin die abgeschnittenen Hand- und Fußnägel sowie Haare zu stecken und es anschließend dicht zu verschließen: „Für die Wehtagung der Zeene. Wenn man etwas von den Nägeln an henden vnd füssen / deßgleichen auch etwas von Haaren abschneidet / vnd dasselbige zusammen in ein Holunderbaum vermachet / vnd das Loch fein sauber wider zumachet / so solle die wehtagung nachlassen.“

Auch hier fehlen Angaben über den Erfolg dieser Methode. Aber zumindest hat sie keinen weiteren Schaden bei den bedauernswerten Schmerzpatienten verursacht.

Dass Zähne gepflegt werden müssen, war übrigens auch früher schon bekannt. Um die Zähne weiß zu halten, wurden sie mit Korallen- oder Bimssteinpulver poliert – um den damit auch zerstörten Zahnschmelz kümmerte man sich weniger.

Zum Gurgeln verwendete man Salpetersäure.

Schätzungen sprechen davon, dass in etwa 80 Prozent der Bevölkerung im Mittelalter unter Zahnfäule litten. Oft war dann das Zahnziehen durch den Bader die letzte Rettung – wer sich denn weder auf den „Zahnwehherrgott“, die heilige Apollonia, den Mond oder den Holunder verlassen wollte.

Treff 2

Churhaus

 

Bei Streitigkeiten zwischen Badern und Hebammen wurde die Fakultät angerufen.

Im Stiftungsbrief der „Alma Mater Rudolphina“ vom 12. März 1365 sah Rudolf IV. die Reservierung des Stadtteils zwischen Schotten-, Herren- und Schauflergasse als sogenannte „Pfaffenstadt“ vor.

Es sollte ein eigenes Universitätsviertel werden. Allerdings regte sich massiver Widerstand seitens der Bürger, der dazu führte, dass Rudolf IV. seine Pläne wieder zurückziehen musste – die Universität kam provisorisch in den Räumen der Bürgerschule zu St. Stephan (Teil des heutigen Churhauses, Stephansplatz 3) unter.

Für die Zeit ab 1399 sind Fakultätsakten erhalten, die belegen, dass die Wiener Medizinische Fakultät bei Streitigkeiten zwischen Badern, Hebammen und regionalen Grundherren als Schlichtungsstelle angerufen wurde. Und der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät, Johannes Silber, vermerkte, dass ab sofort alle abgehaltenen Prüfungen sowie Vorkommnisse an der Universität in ein Buch eingetragen werden müssen: die „Acta Facultatis Medicae“.

Auch wenn die Gründung in das Jahr 1365 fällt, kann von einer wissenschaftlich-medizinischen Lehre in Wien erst 30 Jahre später gesprochen werden, etwa zu dem Zeitpunkt, als Galeazzo di Santa Sofia nach Wien berufen wurde. Er studierte an der 1222 gegründeten Universität in Padua, die als das führende Zentrum der Medizin in Europa galt.

Galeazzo verfasste mehrere wissenschaftliche Abhandlungen. Die „Simplicia“, eine Arbeit über Arzneimittel, erlangte an der Hochschule große Bedeutung. Weiters schrieb er Theorien über die Ursachen der Pest, an der er übrigens 1427 verstarb. Er war es, der erstmals auf die Einschleppungsgefahr durch den Handel hingewiesen hatte. Damit stellte er sich gegen die damals vorherrschende Meinung, wonach die Pest an Ort und Stelle „durch verderbte Luft“ entstehen würde.

Galeazzo wurde zum Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät ernannt. Eine seiner Neuerungen war die Einführung der Anatomie als Lehrgegenstand. 1404 hielt er die erste Anatomievorlesung. Möglicherweise unter seiner Leitung wurde im selben Jahr, am 12. Februar, die erste Leichensektion im deutschsprachigen Raum zur anatomischen Demonstration durchgeführt. Diese Obduktion war auch gleichzeitig die erste nördlich der Alpen. Seziert wurde im „Hospital Wiennensi“, wahrscheinlich im Heiligengeistspital, oder möglicherweise auch im Bibliotheksraum des Fakultätshauses in der Weihburggasse, dem heutigen Sitz der Ärztekammer für Wien auf Nummer 10–12 (siehe auch Weihburggasse 10–12 und Heiligenkreuzerhof). Die Apotheke in der Operngasse 16 trägt noch den Namen des oben erwähnten Spitals – „Zum Heiligen Geist“.

In Wien wurden insgesamt aber nur sehr wenige Sektionen vorgenommen. Dies hatte mehrere Gründe: Seziert wurden nur Leichname der zum Tode verurteilten Menschen, die von der Fakultät angekauft werden mussten. Die Fakultät musste zudem den Henker und dessen Gehilfen sowie auch Messe- und Begräbniskosten übernehmen. Mitfinanziert wurden die Obduktionen von Studenten und anderen Zuschauern. Alles in allem also eine recht kostspielige Geschichte.

Daher sind für die Zeit zwischen 1404 und 1498 in Wien lediglich 14 Sektionen dokumentiert. 1455 forderten die Studenten, „es möge jedes Jahr eine Leiche, abwechselnd eine männliche und eine weibliche, zergliedert werden“. Viele akademisch ausgebildete Buchärzte in Wien übten also ihren Beruf aus, ohne jemals die inneren Organe eines Menschen gesehen zu haben.

Nicht immer lief bei den Sektionen alles glatt, und es konnte auch passieren, noch lebend auf dem Seziertisch zu landen. Passiert ist dies zum Beispiel 1492 einem gewissen Konrad Praitenauer. Als man begann, die angebliche Leiche zu öffnen, bemerkte man noch schwache Lebenszeichen an ihm. Man ließ ihn zur Ader, worauf Schaum aus seinem Mund hervortrat. Der bei der Sektion anwesende Arzt meinte, das sei ein sicheres Zeichen des Todes, aber zur Vorsicht bemühte man sich dennoch weiter um den „Toten“ und konnte ihn schließlich wieder „erwecken“. Auf Fakultätskosten wurde er sogar gesundgepflegt – er stand ja im Eigentum der Fakultät, die ihn vom Henker gekauft hatte. Praitenauer waren dann noch einige hoffentlich glückliche Jahre in seiner Heimatgemeinde Alt-Ötting beschieden, eher er, dann allerdings mit Erfolg, ein zweites Mal aufgrund wiederholten Diebstahls gehenkt wurde.

An die erste Universität in Wien erinnert aus baulicher Sicht nichts mehr. Der heutige Bau des Churhauses stammt aus den Jahren 1738 bis 1740.

 

EIN NEBENWEG:

Das fahrende Volk am Hohen Markt und Mehlmarkt

Ein Großteil des „gemeinen“ Volkes konnte sich keinen akademisch gebildeten Arzt leisten. Es wurde von fahrenden Wundärzten, Badern, Starstechern und Steinschneidern – meist sehr brachial – behandelt.

Im Allgemeinen zählten die damaligen „Ärzte“ in Wien zum „fahrenden Volk“ und brachten neben Hexensalben und Pillen ein Versprechen auf Heilung mit in die Stadt. Die Behandlungen erfolgten auf dem Hohen Markt und dem Mehlmarkt sowie an weiteren Orten im Rahmen von Jahrmärkten und Messen.

Ein wenig seriöser wurde es erst mit dem Ende des Mittelalters. So hatten sich Wiener Bader und Wundärzte nach ihrer Meisterprüfung ab 1517 auch einer Prüfung der Medizinischen Fakultät zu unterziehen, um ihre Tätigkeit ausüben zu dürfen. Ab 1539 unterzogen sich dann auch die Starstecher einer Prüfung. Und 1591 erteilte die Fakultät einem gewissen Leonhart Eberhart per Brief mit Siegel die Erlaubnis, die Kunst des Okulisten sowie des Stein- und Bruchschneiders in ganz Österreich frei auszuüben – für diese Berufe brauchte man eine ganz besondere Geschicklichkeit.

Der Starstich war über Jahrtausende eine einfache Operationsmethode zur Behandlung des Grauen Stars, die seit dem Altertum bis in die Frühe Neuzeit angewandt wurde. Dabei wird mit einer sogenannten „Starstichnadel“ in das Auge gestochen und die getrübte Augenlinse auf den Boden des Augapfels gedrückt. Dadurch kann das Licht ohne Hindernis auf die Netzhaut fallen, der Patient kann besser sehen, wenngleich durch die fehlende Brechkraft der Linse in der Regel eine starke Übersichtigkeit die Folge ist.

Starstiche wurden von reisenden Wundärzten vorgenommen – ein Grund dafür mag wohl auch gewesen sein, dass der Operateur bei Misslingen der Operation vor Verfolgung sicher war. Möglicherweise waren auch Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel Opfer solcher Komplikationen. Beide wurden von demselben Okulisten John Taylor behandelt. Bach wurde 1750 am Grauen Star operiert und starb an der daraus entstandenen Infektion einige Monate später. Auch Händel unterzog sich neun Jahre später der Heilkunst Taylors und starb ebenso an den Folgen.

Das Steinschneiden wiederum war ein bis ins 19. Jahrhundert ausgeübter medizinischer Beruf, der vielfach gleichzeitig mit der Tätigkeit als Okulist und Chirurg – siehe Leonhart Eberhart – praktiziert wurde. Der Steinschneider kümmerte sich unter anderem um die Entfernung von Blasensteinen.

Die Chirurgie galt früher nur als „niedere Arbeit“ – das Wort kommt aus dem lateinisch-griechischen „chirurgia“ und bedeutet so viel wie „Handwirkung, Handwerk“. Die Habsburger hatten ihre Leibchirurgen, die unter der Anleitung eines akademisch gebildeten Arztes operierten. Es wäre undenkbar gewesen, dass ein studierter Bucharzt mit Knochensäge und Skalpell gearbeitet hätte.

Ihre Kenntnisse in der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Zahnpflege erlangten Wundärzte über die Ausbildung bei halbprofessionellen Laien, nicht selten beim sozial geächteten Henker, der seine anatomischen Kenntnisse wiederum von der Folterbank hatte. Weiteres Wissen konnte man sich beim Bader aneignen, der auch für den Aderlass und das Schröpfen zuständig war. Wundärzte waren die Ausführenden, gewissermaßen der verlängerte Arm des akademisch gebildeten Arztes.

Erst im 18. Jahrhundert unter Kaiser Joseph II. wurde diese Zweiteilung in Innere Medizin und Chirurgie schön langsam überwunden (siehe auch Josephinum).

Treff 3

Deutschordenshaus

 

Über Salerno verbreitete sich die orientalische Heilkunde auch im christlichen Abendland.

Dem in der Nähe des Stephansplatzes in der Singerstraße 7 gelegenen Deutschordenshaus werden wir später noch im Kapitel „Auf Spurensuche Mozarts und seiner Zeitgenossen“ auf Mozart und seine Zeitgenossen begegnen. Hier wollen wir uns zunächst mit der Rolle des Ordens bei der Krankenpflege beschäftigen.

Ritterorden wurden ursprünglich (auch) zum Zweck der Krankenpflege gegründet – was sie im Übrigen nicht von Klöstern unterschied, die im Mittelalter ebenfalls diese Aufgabe hatten und noch heute in Form der Ordensspitäler fortführen (siehe auch Heiligenkreuzerhof).