Auf den Spuren meiner Väter - Ruth Zimmermann-Heckmann - E-Book

Auf den Spuren meiner Väter E-Book

Ruth Zimmermann-Heckmann

4,9

Beschreibung

Das 20. Jahrhundert war das Zeitalter der Moderne. In allen Bereichen gab es enorme Veränderungen, die sich in rasanter Geschwindigkeit vollzogen haben. Nicht nur die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen wandelten sich, sondern auch grundlegende Wertevorstellungen innerhalb der Gesellschaft, insbesondere auf individueller Ebene. Soziale Gefüge veränderten sich: Die Rollen von Männer, Frauen und Kindern wurden neu definiert, ebenso die Familie und Geschlechterbeziehungen, Erziehung und Bildung erfuhren mehr Toleranz und man strebte immer mehr Gleichberechtigung an. Die Einstellung zur Arbeit veränderte sich, zum Wehr- oder Zivildienst, zu Staat und Nation, zu Religion und Kirche.

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Das `Deutsche Reich´ von 1900 war ein Zusammenschluss aus den vier Königreichen Preußen, Bayern, Württemberg und Sachsen. Außerdem gehörten sechs Großherzogtümer (Baden, Mecklenburg-Schwerin, Hessen, Oldenburg, Sachsen-Weimar-Eisenach und Mecklenburg-Strelitz), die fünf Herzogtümer (Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Anhalt, Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Altenburg) und noch weitere sieben Fürstentümer (Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonderhausen, Reuß jüngere Linie, Reuß ältere Linie und Schaumburg-Lippe) dazu, daneben die drei freien Städte Lübeck, Hamburg mit der Landgemeinde Cuxhaven und Bremen mit Bremerhaven und das Reichsland Elsass-Lothringen.

Das Staatsoberhaupt kam traditionell aus dem Haus der Hohenzollern. Friedrich Wilhelm II. war seit 1888 `Preußischer König´ und `Deutscher Kaiser´.

Er hatte im so genannten `Drei-Kaiser-Jahr´ seinen Vater Friedrich III. abgelöst, der nur neunundneunzig Tage im Amt geblieben und an einer schweren Erkrankung verstorben war. Dieser hatte zuvor die Thronfolge seines Vaters Wilhelm I. übernommen. Wilhelm I. war seit 1858 Regent und seit 1861 König von Preußen, ab 1866 Präsident des Norddeutschen Bundes und ab 1871 der erste `Deutsche Kaiser´.

Inhaltsverzeichnis

Königreich Sachsen

Berlin - Hauptstadt Preussens

Deutschland - Einig Vaterland

Die neue Republik

Hyperinflation und Ruhrkampf

Das Ruhrgbiet lockt

Die neue Heimat - Mülheim an der Ruhr

Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus

Entwicklung zum zweiten Weltkrieg

Der Krieg in Mülheim (1938-45)

Kriegsende und Neuanfang

Weltwirtsdchaftswunder

Gründung von BRD und DDR

Weiterentwicklung

Nachwort

Schlusswort

I.

KÖNIGREICH SACHSEN

Mit dem Wiener Kongress von 1815 wurden die Machtverhältnisse in Europa neu geordnet. Sachsen verlor dabei zwei Drittel seiner Fläche sowie ein Drittel seiner Bevölkerung an Preußen und wurde außerdem Mitglied des `Deutschen Bundes´.

Von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Frankreich beeinflusst, insbesondere durch die Französische Revolution 1789, gab es danach in allen anderen europäischen Staaten Bestrebungen, die Monarchien abzuschaffen. Die Zeiten waren unruhig und geprägt vom Gegensatz zwischen absolutistischer Restauration auf der einen Seite und andererseits vom Liberalismus und einer neuen, nationalen Bewegung.

Die Monarchen wollten an ihrer „von Gott gegebenen“ Legitimation festhalten und versuchten alles, um Veränderungen des monarchischen Prinzips durch Überwachung und Zensur zu verhindern. Unterstützung bekamen sie dabei vom Adel, der sich seine finanziellen Vorteile und Sonderrechte auch weiterhin sichern wollte. Trotzdem konnte sich daneben ein selbstbewusstes Bürgertum entwickeln, das zum Teil Reichtum und kommunalen Einfluss erlangt hatte. Reiche Kaufleute einer Stadt fanden es irritierend und bald auch unzumutbar sich nach den Anordnungen eines adligen Landrats richten zu müssen. So kam es immer öfter zu Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bürgertum, wobei der Ruf nach einem liberalen Verfassungsstaat immer lauter wurde.

Die Forderung eines liberalen Bürgertums sah die Einrichtung eines politischen Systems vor, in dem alle Menschen gewisse Grundfreiheiten haben sollten, wie zum Beispiel die Rede- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. Als Schutz vor staatlicher Willkür sollten Grundrechte wie `die Unverletzlichkeit der Person´ eingeführt werden, außerdem Teilnahmerechte an politischen Entscheidungen. Vor allem bestand man auf ein Wahlrecht, das allerdings an Einkommenshöhe, Vermögen und Schulabschluss gebunden sein und damit eingeschränkt bleiben sollte. Da das Bürgertum Steuern zahlen musste, verlangte es vom Staat auch ein Mitspracherecht in der Steuer-, Wirtschafts- und Rechtspolitik. Bald gab es die Forderung nach Verfassungen, in denen der Umfang der Herrschaftsrechte der Monarchen eingeschränkt werden sollte. Gewünscht wurde ein monarchischkonstitutionelles System, um die Macht zwischen Exekutive und Legislative, also zwischen Monarch und Parlament, gerechter zu verteilen. Man berief sich dabei auf die Naturrechtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert, nach deren Auffassung das Volk der eigentliche Souverän des Staates sein sollte.

Der Übergang zu einem Verfassungsstaat gestaltete sich in einigen Ländern sehr schwierig. Preußen und Österreich konnten sich noch lange nicht zu neuen Verfassungen entschließen. Aber auch hier setzten sich mit der Zeit liberale Ideen des Besitz- und Bildungsbürgertums durch.

Seit 1830 löste sich allmählich ein eigenes demokratisches Lager mit republikanischen und frühsozialistischen Strömungen vom breiten Spektrum des deutschen Liberalismus ab. Die Forderungen der Demokraten sah vor allem die Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts für alle volljährigen Männer vor; außerdem sollten die Bildungsmöglichkeiten für die unteren Schichten der Bevölkerung verbessert werden. Als weitere Ziele strebte man die Bewahrung der persönlichen Freiheit an und die Errichtung einer einheitlichen deutschen Republik. Alle Gewalt sollte vom Volk ausgehen und auch von diesem kontrolliert werden können.

Gleichzeitig war in den einzelnen europäischen Staaten eine Tendenz zum Kampf für die eigene Nation und Nationalität festzustellen. Diese Nationalstaatsbewegungen bargen das Potenzial zur radikalen Umformung der bestehenden Staatenordnung, was von den regierenden Landesfürsten nicht gern gesehen wurde. Ebenso gefährlich waren soziale Unruhen und Aufstände in der einfachen Bevölkerung, die aufgrund von Hungersnöten und allgemeinen Wirtschaftskrisen ausgelöst wurden. Die größte Armut war bei der Landbevölkerung festzustellen.

Im Jahr 1830 kam es in Sachsen, vor allem in Leipzig und Dresden zu Unruhen, die den König schließlich zur Anerkennung von bürgerlichen Reformen und einer sächsischen Verfassung bewegten. Die neue Verfassung vom 4. September 1831 beschnitt die Rechte des Königs und die Vorrechte der Stände und räumte den Bürgern ein beschränktes Wahlrecht ein. Die Kunstsammlungen und zahlreiche sächsische Schlösser gingen in Staatseigentum über. Das `Geheime Kabinett´ wurde aufgelöst. Es wurde die neue `Ständekammer´ gegründet, die sich im Jahr 1832 im `Alten Landhaus´ in Dresden einrichtete. Der sächsische Staat und der königliche Hof besaßen fortan eine getrennte Finanzierung. Die Minister unterstanden nun einem aus zwei Kammern bestehenden Landtag, der aufgrund seiner Zusammensetzung allerdings nicht das sächsische Volk, sondern die einflussreichsten bürgerlichen und adligen Kräfte des Landes repräsentierte.

Mit der neuen Verfassung verloren zwanzig sächsische Gebiete wie die Oberlausitz, die Schönburgische Herrschaft und das Hochstift Meißen ihre bisherigen Hoheits- und Sonderrechte. Sachsen wurde in vier Kreisdirektionen - Dresden, Bautzen, Zwickau und Leipzig – gegliedert. In den Städten richtete man Stadtverordnetenversammlungen ein, die den Stadträten zur Seite standen. Auf dem Land wurden die Fronpflicht und weitere Belastungen für die Bevölkerung abgeschafft.

1836 bestieg König Friedrich August II. von Sachsen nach fünf Jahren Tätigkeit als Mitregent seines greisen Onkels Anton den sächsischen Thron. Bei seinem Amtsantritt wurde er als freundlich und intelligent sowie „recht liberal“ beschrieben.

Sachsen war Mitglied des `Deutschen Bundes´ unter Führung eines immer stärker werdenden preußischen Kaisers. Hier wie in den anderen zahlreichen Einzelstaaten des Deutschen Bundes entwickelte sich zunehmend eine neue Nationalbewegung und Widerstand gegen die Herrschaft eines gesamtdeutschen Kaisers, die 1848 in der Märzrevolution gipfelte.

Bei der Wahl der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wurde verfasst, dass das `Deutsche Reich´ als ein Bundesstaat mit zentraler Regierung unter Leitung eines erblichen Kaisertums und einem Reichstag als Legislative geführt werden sollte. Diese `Paulskirchenverfassung´ wurde vom sächsischen König abgelehnt. Daraufhin kam es auch in Sachsen im Mai 1849 zu bewaffneten Unruhen, die mit Hilfe preußischer Truppen blutig niedergeschlagen wurden. Der König floh auf die sächsische Staatsfestung Königstein.

Unter den etwa dreitausend Barrikadenkämpfern des Maiaufstandes befanden sich auch der Komponist und Hofkapellmeister Richard Wagner und der Architekt Gottfried Semper. Beide mussten nach der Niederschlagung des Aufstandes aus Sachsen fliehen.

Minister Friedrich Ferdinand von Beust löste im Jahr 1850 die beiden Kammern des sächsischen Landtages auf und richtete die alten Landstände wieder ein. Er arbeitete gegen die politische Vereinigung Deutschlands und machte Sachsen zum Verbündeten Österreichs.

Friedrich August II. starb 1854, danach stieg sein Bruder Johann auf den sächsischen Thron. 1871 wurde Sachsen Teil des neu gegründeten Deutschen Reiches. Die konstitutionelle Monarchie in Sachsen unter König Johann blieb zwar weiterhin bestehen, verlor aber immer mehr an Bedeutung. Thronfolger war zunächst sein Sohn Albert, von 1873 bis 1902, danach für zwei Jahre dessen Bruder Georg.

1904 wurde Georgs ältester Sohn Friedrich August III. der letzte König von Sachsen.

Im kleinen sächsischen Sohra erblickte am 5. September 1903 mein Großvater väterlicherseits das Licht der Welt. Gut behütet von seinen Eltern Maximilian Zimmermann und Emma geborene Fuchs, wuchs er im Tal des wilden Sohrbachs mit seinen fünf Geschwistern auf. Die Familie gehörte zur evangelischen Gemeinde und so wurde er zwei Tage später in der St. Nicolai Kirche von Oberbobritzsch auf den Namen Paul Alfred getauft. Paul, weil eine seiner Großmütter Pauline hieß und Alfred nach seinem Patenonkel, einem Bruder seiner Mutter. Paul Alfred hatte drei ältere Brüder: Walter, Rudolf und Kurt, und eine ältere Schwester namens Ilse. Später kam noch die kleine Schwester Gertrud hinzu.

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Die Ortschaft Sohra gehörte seit 1539 zur Kirchengemeinde Oberbobritzsch und seit 1696 zum Rat Freiberg. Sohra wurde in einem geplanten Rodungsgebiet als Reihen- oder Waldhufendorf entlang des Sohrbachs angelegt, der seinen Ursprung im nahe gelegenen Oberbobritzsch hatte. Dieser Ort erhielt seinen Namen nach dem Flüsschen Bobritzsch. Westlich grenzte Oberbobritzsch an das erzgebirgische Weißenborn, südlich an Burkersdorf und östlich schloss es mit der Gemarkung nach Pretzschendorf den Landkreis Bobritzsch-Hilbersdorf ab.

Oberbobritzsch war Ende des 13. Jahrhunderts zugehörig zum Hospital St. Johannis zu Freiberg, was die früheren Bezeichnungen als `Freiberger Hospitaldorf´ oder später als `Freiberger Ratsdorf´ erklärt. Im Jahr 1546 zählte das Dorf inklusiver aller Ortschaften 175 Einwohner, wovon die meisten so genannte `besessene Männer´ oder `Häusler´ waren. Dies waren Besitzer kleinster Anwesen. Es waren Dorfbewohner, die ein eigenes Haus, aber nur wenig eigenes Land besaßen. Sie hielten, wenn überhaupt, nur Kleinvieh wie Hühner oder Kaninchen. Da der eigene landwirtschaftliche Besitz nicht zum Lebensunterhalt ausreichte, waren sie auf einen Nebenerwerb angewiesen.

Die alteingesessenen Kleinbauern, so genannte `Hufner´ verfügten dagegen über Felder und Wiesen, besaßen Rinder, Schweine und kleineres Viehzeug.

Häusler traten in größerer Zahl ab dem 16. Jahrhundert auf. Der Hauserwerb bedeutete für sie einen sozialen Aufstieg innerhalb des Dorfgemeinschaft, aber nicht im Allgemeinen. Aufgrund ihrer schwachen sozialen Stellung wurden sie in den meisten Gebieten überproportional mit Abgaben und Steuern des Landesherren belastet. Dennoch galten sie als freie Arbeiter im Gegensatz zu den Leibeigenen, standen aber im Regelfall am Rande oder außerhalb der von `Hufnern´ geprägten Dorfgemeinschaft. Daneben gab es in den Dörfern zahlreiche Handwerker, die sich schon früh im Mittelalter in Zünften zusammengeschlossen hatten. So gehörten bereits 1586 in Oberbobritzsch 56 Maurer und 4 Meister einer Maurer-Innung an.

Im 19. Jahrhundert wurden viele der `Häusler´ zu Tagelöhnern, die der jeweilige Grundherr immer nur befristet in Dienst stellte. Weitere Erwerbsmöglichkeiten ergaben sich als Kleinhandwerker, Dienstbote, Schulmeister oder als Viehhirt.

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Der Familienname Zimmermann weist darauf hin, dass meine Urahnen als Zimmerleute tätig gewesen sein müssen. Ein handwerkliches Geschick kann also vorausgesetzt werden, was sich in den nachkommenden Generationen auch immer wieder gezeigt hat.

Da in frühen Zeiten fast jeder Hausbesitzer sein Haus selbst zimmern musste, ist dieser Name sehr häufig anzutreffen. Als sich später die Berufe mehr und mehr spezialisierten, wurde auch der Beruf des Zimmerers eigenständig. Im frühen Mittelalter schlossen sich die Meister dieses Handwerks in Zünften oder Innungen zusammen.

Meine Vorfahren aus dem sächsischen Sohra gehörten zu den so genannten `Häuslern´. Sie besaßen einen kleinen Kotten, der Anfang des 19. Jahrhunderts von Paul Alfreds Urgroßvater Carl Friedrich Zimmermann erbaut worden war.

Das kleine Häuschen war äußerst bescheiden und mittlerweile in einem sehr schlechten Zustand. Im Erdgeschoss gab es nur zwei Räume: Küche und daneben die `gute Stube´. Beide waren mit Schlafmöglichkeiten ausgestattet und unterm Dach gab es noch drei winzige Kammern. Zwei davon waren zum Schlafen geeignet und eine diente als Vorratsraum, in dem Stroh und einige Lebensmittel gelagert wurden. Neben dem Wohngebäude befand sich ein kleiner Stall für Kaninchen. Draußen im Garten, etwas abseits, stand ein hölzernes Plumsklo mit Sickergrube. Eine Pumpe für Frischwasser gab es nicht, also wurde das Wasser direkt aus dem Sohrbach geholt und auch als Trinkwasser benutzt. Das Grundstück gab nicht viel her. Es war immer feucht und schattig. Für einen kleinen Obst- und Gemüsegarten genügte es nicht, also musste die Familie alles, was sie zum Leben brauchte, kaufen. musste Aber das reichte natürlich nicht aus. Um das Nötigste zum Leben kaufen zu können, musste die Familie dazu verdienen, was in dieser trostlosen, abgelegenen Gegend nicht einfach war.

Obwohl Maximilian die verschiedensten Dienste im Bereich der Holzverarbeitung anbot, kam nicht genug Geld herein. So musste die ganze Familie mitarbeiten. Frau und Kinder verdienten ein Zubrot mit der Herstellung von Körben oder Holzspielzeug. Gerade in den langen und dunklen Wintermonaten verbrachten Paul Alfred und seine Geschwister viel Zeit zuhause mit der Heimarbeit, oftmals mit den Großeltern zusammen.

Das Erzgebirge war berühmt für seine Holzfiguren und es gab einige Betriebe, die die billige Produktion durch Heimarbeiter zu schätzen wussten. Die Eigentümer dieser Manufakturen brauchten sich nicht mit irgendwelchen Vorschriften oder einer sozialen Absicherung der Beschäftigten auseinander zu setzen; sie mussten lediglich die fertigen Waren abholen, bezahlen und dann teurer in den Verkauf geben.

Das geschah einmal in der Woche, meistens am Samstag. Dann kam ein gut gekleideter Herr aus der Stadt vorbei, begutachtete die mühsam hergestellten Figürchen und bezahlte sie pro Stück. Dafür erwartete er aber auch, dass die schweren Holzkisten mit dem Spielzeug noch zu seiner Kutsche geschleppt und darin verstaut wurden. Sobald der feine Herr davon gefahren war, lief Mutter Emma zum nächsten Kolonialwarenladen, der sich in Oberbobritzsch befand. Dort kaufte sie dann für die nächsten Tage üppig ein. Wenn Paul Alfred sie begleitete, um die Einkäufe anschließend mit nach Hause zu tragen, bekam er von dem freundlichen Händler ein Bonbon geschenkt.

Am Abend genoss die Familie dann ein kleines Festmahl. Dabei saßen alle um den großen Küchentisch herum und ließen sich den Braten oder die Fleischklopse schmecken, die es ansonsten nie zu essen gab.

Das bescheidene Häuschen platzte bald aus allen Nähten: neben der achtköpfigen Familie wohnten auch noch zwei unverheiratete Schwestern von Maximilian bei ihnen. Und von der Arbeit, mit der sich die Familie Tag für Tag abplagte, war nicht mehr genug zu verdienen, um alle satt zu machen und schon gar nicht um sich etwas Luxus leisten zu können. Die Lebensverhältnisse wurden immer schwieriger und deshalb suchte Maximilian schon lange nach einem Ausweg. Als er von einer neuen Telegrafenstation in Colmnitz gehört hatte, bewarb er sich bei der Regierung.

Alle hatten die Hoffnung, dass sich ihr Leben mit einer Anstellung bei der `Deutschen Post´ wesentlich verbessern würde. Sie wollten endlich `raus aus dem dunklen und feuchten, mit Schwarzpappeln durchzogenen Sohrbach-Tal, in dem sich die Sonne nur selten blicken ließ.

Was den Erwachsenen mit der Zeit aufs Gemüt schlug, hatte für die Kinder im Dorf aber auch einige schöne Seiten. Für sie war die Natur ein wundervoller Spielplatz, der direkt vor ihrer Haustüre lag: am Wasser, im Wald oder auf den nahe gelegenen Wiesen gab es immer etwas zu entdecken. Raum, um Abenteuer zu erleben, war genug da, aber wegen der Heimarbeit nicht immer genügend Zeit zum Spielen. Und dann gab es ja auch noch die Schulpflicht, die die älteren Kinder zu erfüllen hatten. Da es in Sohra keine Schule gab, mussten sie nach Oberbobritzsch, also kilometerweit laufen, um für einige Stunden morgens und dann noch mal am Nachmittag die Schulbank zu drücken. Das nahm viel Zeit und Energie in Anspruch.

Mit der Industrialisierung, die in England schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, hatten sich die Berufswelt und damit die Lebenssituation der Menschen gravierend verändert. Die agrarischen Produktionsweisen wurden von den industriellen abgelöst, die Landbevölkerung zog es in die großen Industriestädte und mit der Zeit löste sich die Agrargesellschaft immer weiter auf. Es entstand eine Industriegesellschaft mit einer großen Arbeiterschaft und einem wachsenden, gut situierten Mittelstand, der sich aus Kaufleuten, Industriebesitzern und Intellektuellen zusammensetzte.

Mit den gesellschaftlichen Veränderungen kam es auch zur Aufweichung des bisherigen `Drei-Klassen-Systems´. Alles wurde in Frage gestellt, vor allem die Regentschaft eines „von Gott gegebenen“ Monarchen.

Die Arbeiter gehörten nun zur unteren sozialen Schicht, die von den Reichen und Großindustriellen unter dem Motto „Viel Arbeit für wenig Geld“ maßlos ausgebeutet wurden. Die Verelendung innerhalb der Arbeiterschicht nahm stetig zu und sorgte für Unruhen, Streiks und Arbeitskämpfen.

Im `Deutschen Reich´ sowie in den anderen europäischen Ländern machte sich erst im 19. Jahrhundert der technische Fortschritt bemerkbar. In der sächsischen Region blieb noch für lange Zeit die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle. Neben Getreide wurde vor allem Flachs angebaut, aus dem die verschiedensten Produkte gemacht werden konnten, unter anderem auch Textilien. Daneben hatte sich im Erzgebirge schon früh der Bergbau entwickelt: Seit 1511 wurde in einigen Gruben Silbererz und silberhaltiges Kupfererz abgebaut. Auf Dauer warfen die Mienen nicht mehr genug ab, so dass dieser Wirtschaftszweig in der Region bereits um 1860 keine Rolle mehr spielte.

Mit der Industrialisierung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den europäischen Ländern einsetzte, zogen immer mehr Landbewohner in die Städte, in denen sich nun neue Industriezweige entwickelten und viele neue Arbeitsplätze entstanden.

Während die politischen Reformen in Sachsen im Vergleich zu anderen deutschen Ländern recht schleppend verliefen und herbe Rückschläge erlitten, erfuhr das Land ab 1825 eine rasante Industrialisierung. Allein in der Textilindustrie wurden bis zum Jahr 1830 etwa 200 neue Fabriken gegründet. Im Erzgebirgsvorland, im Vogtland und in der südlichen Oberlausitz brachte dieser Industriezweig die für Sachsen charakteristischen `Industriedörfer´ hervor.

Anno 1829 entstand der Sächsische Industrieverein. Vor allem auf Druck der expandierenden Textilindustrie trat Sachsen im Jahr 1834 dem Deutschen Zollverein bei, der unter der politischen Kontrolle Preußens stand, aber bald von Sachsen ökonomisch dominiert wurde. Mit der Industrialisierung waren auch große Fortschritte im Eisenbahnverkehr und in der Transport-Schifffahrt zu verzeichnen. Zur ersten deutschen Fernverkehrsstrecke zwischen Leipzig und Dresden gehörten eine 345 m lange Elbebrücke bei Riesa und ein 513 m langer Felsentunnel in Oberau, bei deren Bau die damals modernsten Technologien zum Einsatz kamen. Schon im ersten Jahr beförderte diese Bahnlinie etwa 40.000 Passagiere. Die Industrie nutzte die neuen Möglichkeiten per Bahn oder Schiff für den Gütertransport. Im Gefolge der Dampfschifffahrt und des Eisenbahnverkehrs entwickelte sich in Sachsen, beginnend im Elbtal und im Elbsandsteingebirge, der zu jener Zeit in Europa noch kaum bekannte Tourismus.

Mit dem kunstsinnigen und an Wissenschaften interessierten König Johann von Sachsen saß von 1854 bis 1873 ein Gelehrter auf dem sächsischen Thron. Er war nicht nur ausgebildeter Jurist, sondern auch Sprachwissenschaftler und Philosoph. Innenpolitisch galt König Johann als sehr konservativ und außenpolitisch operierte er wenig glücklich.

In der Schlacht bei Königsgrätz im Jahr 1866, die mit dem Sieg Preußens endete, standen 32.000 sächsische Soldaten auf österreichischer Seite. Mit dieser Niederlage büßte Sachsen auch noch den Rest seiner politischen Bedeutung ein. Das Land sah sich zum Beitritt zu Bismarcks Norddeutschem Bund gezwungen.

Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 stellte Sachsen die Maas-Armee; sächsische Truppen waren an der Niederschlagung der Pariser Kommune und an der Annexion von Elsaß-Lothringen beteiligt. Prinz Albert von Sachsen wurde Marschall des Deutschen Reiches, 1873 bestieg er den sächsischen Thron. 1902 löste ihn König Georg für nur zwei Jahre ab.

Die um 1825 in Sachsen beginnende und sich nach den revolutionären Ereignissen von 1849 beschleunigt fortsetzende Gründerzeit hatte viele neue Firmen und Banken entstehen lassen. Das in politischen Angelegenheiten weniger erfolgreiche Königreich definierte seine Rolle in Deutschland nun vor allem über seine wissenschaftlichtechnischen und seine künstlerischen Leistungen. In Sachsen setzte eine rasante wirtschaftliche Entwicklung ein. Leipzig erlangte als Messestadt für Muster-Ausstellungen eine noch größere Bedeutung, auch im Pelzhandel war sie die führende Stadt.

Mit der Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs auch die Bevölkerung in ganz Sachsen stark an. Die rasant zunehmende Arbeiterschaft kam in großen tristen Mietskasernen an den sich schnell ausweitenden Stadträndern unter. In den Stadtzentren dagegen entstanden nun repräsentative Bauten im Stil des Neohistorismus, der sich durch Formen der Gotik, Renaissance und des Barocks auszeichnete.

Wie an allen anderen schnell gewachsenen Industriestandorten herrschten auch in Sachsen unerträgliche Arbeitsbedingungen, die von Hungerlöhnen, Kinderarbeit und einer schnelle Verelendung der Arbeiterschaft bei Krankheit und im Alter gekennzeichnet waren. So wundert es nicht, dass sich gerade in Leipzig das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie entwickelte. Im Jahr 1863 wurde in Leipzig der `Allgemeine Deutsche Arbeiterverein´ gegründet. Hier wirkten auch der sozialistische August Bebel und der sozialdemokratische Wilhelm Liebknecht mit, die 1872 im `Leipziger Hochverratsprozess´ wegen ihrer Parteinahme für die `Pariser Kommune´ und ihrer Verurteilung der Annexion Elsass-Lothringen zu je zwei Jahren Festungshaft verurteilt wurden.

In den Jahren 1874 und 1877 wurden Bebel und Liebknecht zusammen mit sieben weiteren Sozialdemokraten in den deutschen Reichstag gewählt. Nach Inkrafttreten des unter Bismarck beeinflussten `Sozialistengesetzes´ wurde die SPD für die nächsten Jahre verboten. Bei den Landtagswahlen 1891 war die Partei wieder dabei und konnte trotz des geltenden Zensuswahlrechts, bei dem nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen wählen durften, einen Wahlsieg verzeichnen.

Der Arbeiterkampf erreichte anno 1903 einen Höhepunkt. Mit den etwa 10.000 Fabrik- und Heimarbeitern, die in Crimmitschau, einem Zentrum der Textilindustrie, für höhere Löhne und die Verkürzung der Arbeitszeit streikten, solidarisierten sich Arbeiter aus ganz Deutschland und mehreren europäischen Ländern. Die von der Regierung unterstützten Textilunternehmer konnten den Streik nach 21 Wochen brechen, doch bei den Reichstagswahlen, die 1903 stattfanden, führte die starke soziale Bewegung zum Sieg der SPD in 22 von 23 sächsischen Wahlkreisen. Nur in Bautzen wurden die Konservativen gewählt.

Sachsen gelang es, mehr und mehr zu einem führenden deutschen Industrieland aufzusteigen. Um 1900 waren 58% der Bevölkerung in der Industrie, 14% im Handel und 15% in der Landwirtschaft beschäftigt. Im Vergleich dazu lag der Landesdurchschnitt bei 39% in der Industrie, 25% im Handel und immer noch 36% in der Landwirtschaft.

Sachsen hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem schnell wachsenden, leistungsstarken Industriestaat mit einer enorm hohen Bevölkerungsdichte entwickelt.

Am 1. Januar 1872 war die Verfassung des Deutschen Reiches in Kraft getreten, mit ihr das Gesetz über das Postwesen, das Posttaxwesen und die Postordnung der Reichspost. Das Post- und Telegraphenwesen ging auf das Reich über, wobei Bayern und Württemberg ihre eigene Post- und Telegraphenverwaltung behielten.

Das Postwesen wurde ständig verbessert: 1896 wurden Fahrräder, ab 1898 versuchsweise Kraftwagen im Postdienst eingesetzt, ab 1903 wurden in den großen Städten innerhalb des Reichspostgebietes für die Güterpost- und im Paketzustelldienst immer mehr Automobile benutzt.

Mit Einführung der ersten Telegraphensysteme, die optische sowie akustische Signale nutzten, war endlich eine Nachrichtenübertragung über große Entfernungen möglich. Die Telegraphie, sprich die Signalübertragung eines Tickersignals von einem Gebergerät zu einem Empfangsgerät, wurde 1865 von den Schweizern Hasler & und Hipp erfunden und später in ` Telegrafenämtern´ der Postverwaltung, Bahnhöfen und auf Stellwerken an Bahnübergängen von der Eisenbahnverwaltung eingesetzt. Das Gerät hatte mit einer Länge von 22 cm, Breite 11 cm und Höhe 15 cm ein handliches Maß. Es war mit einer Papierrolle ausgerüstet, auf die sich die Ticker-Zeichen drucken ließen. Diese `codierten´ Nachrichten wurden dann vom Telegrafisten abgehört und von Hand niedergeschrieben. Die Übertragung erfolgte entlang der Bahnstrecken oder Hauptstraßen, die mit Telegrafenmasten für Kupferdrähte ausgestattet waren. Zur Vermeidung von Fehlerströmen wurden die Kupferdrähte mit isolierenden Porzellanköpfen an den Masten befestigt. In der Nachfolgetechnik kam es zur Entwicklung elektrischer Telegraphen und die Masten wurden später auch für die Übertragung der Telefonsignale benutzt.

Da es sich bei Post oder Bahn um hoheitliche Aufgaben handelte, wurden nun wieder zahlreiche Beamte eingestellt, was aber nach wie vor an einige Voraussetzungen geknüpft war. Vor allem war dies eine gute, höhere Schulausbildung, die sich nur die besser gestellte Gesellschaftsschicht leisten konnte. Von Vorteil war außerdem ein mehrjähriger Dienst bei der Armee, der zum Teil auch unbezahlt sein konnte. Das Anstellungsverhältnis als Beamter oder `Staatsdiener´ war eine auf Treue basierende Bindung an den Monarchen. Der angestellte Diener widmete seinem Herrscher auf Lebenszeit die volle Arbeitskraft und erhielt dafür Schutz und einen angemessenen Lebensunterhalt für sich und seine Familie. Die Grundsätze des Berufsbeamtentums, so etwa das Lebenszeitprinzip, die Treuepflicht des Beamten und als Gegenleistung dazu die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, fanden in einer ersten Regelung des Beamtenrechts in Deutschland im `Allgemeinen Preußischen Landrecht´ von 1794 unter Friedrich dem Großen ihren Ursprung. Im 19. Jahrhundert wurde die Stellung des Berufsbeamtentums im öffentlichen Leben gefestigt. Die Gesetzgebung in den Einzelstaaten war Vorbild für die Reichsgesetzgebung nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871. Die Rechtsverhältnisse der Beamten wurden erstmals umfassend mit dem `Reichsbeamtengesetz´ vom 31. März 1873 geregelt. Es enthielt auch Vorschriften über das Disziplinarrecht; Einzelgesetze über die Besoldung sowie die Unfall- und Hinterbliebenenfürsorge ergänzten das Gesetz.

Waren die Aufgaben der Beamten zunächst hauptsächlich auf die Verwaltung bezogen, wurden sie unter Wilhelm II. nun auf viele andere Tätigkeitsbereiche ausgeweitet. Aber weiterhin galten die konservativen Aufnahmenbedingungen mit einer höheren Schulausbildung, die sich nur adlige und gut betuchte Kaufleute leisten konnten. Damit blieb dem `einfachen Mann´ eine Beamtenlaufbahn auch weiterhin verwehrt. Für die eher handwerklichen Tätigkeiten, zum Beispiel die Verlegung neuer Drähte sowie die Instandsetzung vorhandener Einrichtungen, stellte die Regierung aber auch Bewerber aus der unteren Gesellschaftsschicht ein.

Mein Urgroßvater Maximilian hatte dieses Glück. Er bekam eine Anstellung als Telegrafenassistent beim preußischen Postamt in Colmnitz, das zu Klingenberg gehörte. Dazu musste die Familie in das nahe gelegene Dorf umziehen. In der Nähe des Bahnhofs, der bereits 1862 an der Strecke Dresden-Werdau in Betrieb genommen wurde, war in den darauf folgenden Jahren eine neue Siedlung für die Staatsbediensteten entstanden. `Am Bahnhof 45´ bekam die achtköpfige Familie Zimmermann eine Wohnung zugewiesen, die zwar nicht viel mehr Platz bot als ihr Häuschen in Sohra, aber dafür neu und komfortabler war. Immerhin besaßen sie jetzt einen Wasseranschluss in der Küche, im Treppenhaus gab es ein Bad sowie eine separate Toilette, die sie sich mit den anderen Mietern teilen mussten. Außerdem gab es im Keller eine Waschküche und hinter dem Haus einen kleinen Garten, der von allen Bewohnern genutzt werden konnte.

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Colmnitz wurde 1348 erstmalig urkundlich als `Colbenitz´ erwähnt. Es wurde am Südrand des Tharanter Waldes als ehemaliges Waldhufendorf zu beiden Seiten des Colmnitzbaches auf einer Länge von etwa 7,5 Kilometer angelegt. Der Colmnitzbach entspringt oberhalb von Pretzschendorf und mündet südwestlich von Colmnitz in die Bobritzsch. Der Ort gehörte ab 1590 zum kursächsischen beziehungsweise königlich-sächsischen Kreisamt Freiberg.

Am Rande des Freiberger Silberbergbaus entwickelte sich Colmnitz mit seinen zahlreichen Gehöften zunächst zu einem Bauerndorf mit vielseitigem Handwerk. Mit der Anbindung durch den Bahnhof Colmnitz-Klingenberg an die Bahnstrecke von Dresden nach Tharandt in Richtung Freiberg im Jahre 1862 und dem Bau der Schmalspurbahn nach Frauenstein anno 1898 gab es auch in Colmnitz einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Es begann die Geschichte des Stuhlbaus, einem Handwerk, in dem viele Gewerke gefragt waren: Drechsler und Holzbildhauer ebenso wie Flechter, Polierer und Polsterer.

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Paul Alfred und seine Geschwister besuchten in Colmnitz die inzwischen achtklassig ausgebaute Volksschule. Das zweigeschossige Gebäude war ein Neubau aus den Jahren 1879/80. Neben den vier Klassenzimmern waren noch drei Lehrerwohnungen eingerichtet. Alle Räume waren mit Ofenheizungen ausgestattet.

Gelehrt wurden die Grundfächer Lesen, Schreiben und Rechnen, darüber hinaus die Fächer Religion, Zeichnen und Singen sowie Heimat- und Naturkunde. Zusätzlich wurde für die Mädchen Handarbeiten und für die Jungs körperliche Ertüchtigung angeboten. Erst ab 1911 durften auch die Schülerinnen am Turnunterricht teilnehmen.

Die Kinder gingen gerne zur Schule, denn sie waren von Natur aus wissbegierig und neugierig. In den Pausen durften sie auf dem Schulhof spielen und toben und manchmal machten sie mit den Lehrern Ausflüge in die nähere Umgebung, zum Beispiel in den Tharanter Wald, was immer sehr lehrreich und spannend war. Nur einige Lehrer, die zur übertriebenen Strenge neigten, machten ihnen das Leben schwer. So zum Beispiel der Lehrer Schlegel, der jeden Morgen einen Blick auf die Hände seiner Schüler warf und wehe, wenn diese nicht sauber gewaschen waren… dann gab es schon `mal etwas mit dem Rohrstock auf die Finger´. Bei anderen Verfehlungen erteilte er ihnen Nachsitzen und Strafarbeiten oder zitierte die Eltern zu einem ernsten Gespräch zur Schule, was dann später zuhause noch weiteren Ärger bedeutete.

Mit ungefähr vierzehn Jahren verließen die Kinder die achte Klasse, um anschließend ins Berufsleben einzutreten.

Für die Söhne von Maximilian und Emma war eine handwerkliche Ausbildung vorgesehen; das hatte in der Familie Tradition. Da Paul Alfred immer von kleiner, zierlicher Statur war, schien er prädestiniert für eine Schneiderlehre und es war naheliegend, dass er diese bei seinem Patenonkel absolvieren würde, der als Schneidermeister in der Kreisstadt Freiberg ein eigenes Atelier besaß.

Für die Töchter wurde eine Berufsausbildung eher als unwichtig erachtet, denn diese sollten ja früh heiraten und dann ihren Ehemännern bei allen Belangen zur Seite stehen. Und wenn erst einmal Kinder da waren, hatten sie sich ganz und gar der Familie zu widmen. Bis dahin wurde es ihnen erlaubt als Dienstmädchen in einem der angesehenen, `besseren´ Haushalte etwas Geld dazu zu verdienen.

II.

BERLIN – HAUPTSTADT PREUSSENS

Nach dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs kam es 1871 unter preußischer Führung zur `Kleindeutschen Lösung´: In den Jahren zuvor gab es die Bestrebungen der deutschen Nationalbewegung nach Einheit, Freiheit und Demokratie. Sie führten 1848 in Berlin zur Märzrevolution, die ein demokratisches Deutschland zum Ziel hatte und 1849 scheiterte. 1866 führte der `deutsche Dualismus´ zwischen Preußen und Österreich zum Krieg zwischen beiden Ländern, der mit dem Sieg Preußens endete. Eine `großdeutsche´ Lösung der deutschen Frage, also eine Einheit mit Österreich war damit unmöglich.

1871 wurde das `Deutsche Reich´ gegründet mit Wilhelm I. als Kaiser, Otto von Bismarck als Reichskanzler und Berlin als Hauptstadt. Dies hatte für die Stadt eine rasante Entwicklung zur Folge: Da jetzt repräsentative Gebäude gefragt waren, bekam der Reichstag, der zunächst provisorisch in die Leipziger Straße gezogen war, ein eigenes Gebäude am Königsplatz. Am alten Standort entstand ein Gebäudekomplex für das `Preußische Herrenhaus´ und den `Preußischen Landtag´.

Bis zur Jahrhundertwende entwickelte sich Berlin zu einer der größten Industriestädte Europas. Mit der Ansiedlung neuer Wirtschaftszweige wuchs die Einwohnerzahl so rapide an, dass ein schneller Ausbau der Infrastruktur zwingend nötig war. Schon in den 1860er Jahren hatte die öffentliche Hand mit dem Ankauf von Grundstücken im historischen Stadtkern begonnen. Nach und nach wurden viele alte Gebäude abgerissen und man begann die Altstadt in ein modernes Stadtzentrum umzuformen. Neue kommunale Einrichtungen entstanden: Ein zweites Rathaus musste her, das Polizeipräsidium zog in die Dirksenstraße, Land- und Amtsgericht in die Littenstraße, wo auch die städtischen Gaswerke ein neues Geschäftshaus bezogen. Am Rande der Altstadt siedelten sich weitere Geschäfte, bedeutende Firmen sowie Banken an. An der Leipziger Straße entstand zunächst ein Wertheim-Warenhaus und bald darauf eröffnete in der Stadt das Kaufhaus des Westens. Das Gebiet um den Kurfürstendamm entwickelte sich bald zu einem zweiten Berliner Zentrum.

Die Stadtplaner bemühten sich auch um eine gute Infrastruktur: Um den aufkommenden Verkehr besser regeln zu können, wurden Straßen und Plätze miteinander verbunden. Außerdem gab es in Berlin schon Anfang des 19. Jahrhunderts eine gut funktionierende Stadtbahn, die teilweise dem Verlauf des alten Festungsgrabens folgte und die einzelnen Stadtteile miteinander verknüpfte. Die Stadt verfügte bereits 1893 über eine flächendeckende Kanalisation und bis zur Jahrhundertwende über ein gut ausgebautes Elektrizitätsnetz, das 1902 die erste U-Bahnstrecke vom Stralauer Tor bis zum Potsdamer Platz möglich machte.

Nach und nach stieg die Zahl an Stromkraftwerken, womit die Elektrifizierung des gesamten Stadtgebietes möglich wurde. Mit der 1879 entstandenen `Technischen Hochschule´ und den im selben Jahr gegründeten `Elektrotechnischen Verein Berlin´ entwickelte sich bald die `Elektropolis´ Berlin, was eine Ansiedlung großer Unternehmen aus diesem Bereich nach sich zog. Die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft AEG eröffnete ihre Werke im Wedding und in Moabit eine Turbinenfabrik. Neben der Elektroindustrie entstand mit der chemischen Industrie ein weiterer Wirtschaftszweig. Zwischen Charlottenburg und Spandau entstand ein ganzer Stadtteil, der nur von Industrie geprägt wurde. Mit Oberschöneweide bildete sich im Südosten von Berlin ein weiteres Fabrik- und Arbeiterquartier.

Im so genannten `Wilhelminischen Ring´, also im Bereich Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Wedding, begann man schon früh mit dem Bau von Mietskasernen, um billigen Wohnraum für die hinzu strömenden Arbeiter zu schaffen. Die Quartiere der Arbeiterschaft waren hoffnungslos überbelegt, die Häuser waren vom Keller bis zum Dach mit kinderreichen Familien gefüllt, die sich die spärliche, wenn überhaupt vorhandene, sanitäre Ausstattung teilen mussten. Immerhin gab es meistens ein separates `Wasser-Klosett´ im Treppenhaus, auf jeder Etage eins für etwa zwanzig Personen. Für ein Badezimmer war kein Platz. Für ihre Hygiene benutzten die Bewohner das Spülbecken in der Küche oder sie stellten Zinkwannen auf, in denen wenigsten die Kinder gebadet werden konnten. Einmal pro Woche war Badetag, in der Regel war dies der Samstag.

Damit sich die Leute `mal richtig waschen konnten´ beziehungsweise duschen und baden konnten, wurden öffentliche Badeanstalten gebaut. In jedem Stadtteil entstanden so, meist architektonisch im Jugendstil gestaltete `Volksbäder´ mit mindestens zwei Schwimmbecken, damit sich Männer und Frauen getrennt voneinander bewegen konnten. Auch Duschen und Umkleidekabinen waren nach Geschlechtern getrennt.

Durch dichte Bebauung entstanden lichtarme Hinterhöfe, in denen kein Platz für eine Bepflanzung war. Auch in den zahlreichen Straßen fehlte das Grün. Luftverschmutzung und Lärm, die die Industriebetriebe verursachten, erschwerte das Leben der hart arbeitenden Bevölkerung noch zusätzlich. Viele litten an Unterernährung und Atemwegserkrankungen.

In Lichterfelde dagegen, im Südwesten der Stadt, wurden ab 1850 großzügige Villenkolonien für das wohlhabende Bürgertum gebaut, gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgten im Westen mit dem Grunewald oder dem Westend weitere Villenviertel.

Entlang der neuen Kaiserstraße, die Lichterfelde mit Charlottenburg verband, entstanden die Gartenvororte Friedenau und Wilmersdorf, die sich später zu dicht bebauten, bürgerlichen Wohnviertel entwickelten, zum Beispiel das Viertel um den Viktoria-Luise-Platz, das Bayrische Viertel und das Rheinische Viertel.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden vor der eigentlichen Stadt einige Gartenstädte errichtet: Die `Freie Scholle´ in Tegel, die Waldsiedlung `Hakenfelde´, die Gartenstadt `Staaken´ und die Gartenstadt `Falkenberg´. Durch die im Reformbaustil errichteten Wohnhäuser um den Rüdesheimer Platz herum versuchten die Stadtplaner Gartenstadt und Großstadt zu verbinden. Wohnungsbaugenossenschaften ermöglichten den Bau von gemeinnützigen Wohnanlagen, zum Beispiel in Friedrichshain, die für Beamte angedacht waren.

Die Industrialisierung in ihrer Gesamtheit steigerte in erheblichem Maße die Nachfrage nach Arbeitskräften und bewirkte einen starken Zustrom von Menschen in die deutschen Großstädte, insbesondere nach Berlin. Allein in den Gründerjahren 1871-1873 kamen 400.000 Menschen in die Stadt, vorwiegend im Alter von 20 bis 30 Jahren. Es entstanden neue Siedlungen in den Außenbezirken, die die Stadtgebietsfläche vergrößerten, die städtebauliche Struktur Berlins weiter veränderten und die Einwohnerdichte erhöhten. Auch die Städte und Gemeinden im Berliner Umland wuchsen. Insgesamt nahmen die Stadtentwicklungsprobleme im 19. Jahrhundert zu. Zählte Berlin anno 1830 noch 247.500 Einwohner, waren es 1850 schon 418.733. Im Jahr 1877 wurde Berlin zur Millionenstadt, 1905 waren es bereits zwei Millionen. Damit hatte sie die höchste durchschnittliche Bevölkerungsdichte pro Grundstück unter allen europäischen Großstädten erreicht.

Die Hauptstadt erfuhr durch die Industrialisierung auch enorme gesellschaftliche Veränderungen. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin bis zu 20.000 Fabrikarbeiter, darunter über 4.500 Frauen und an die 1.000 Kinder unter 14 Jahren. Hinzu kamen 17.000 Tagelöhner, Erd- und Eisenbahnbauarbeiter, 20.000 bis 25.000 Gehilfen, Gesellen und Lehrlinge aus den verschiedensten Gewerben, 5.700 männliche und 16.900 weibliche Dienstboten sowie etwa 17.000 weitere Lohnarbeiter. Im Zeitraum von 1861 bis 1875 stieg die Zahl der in Industrie, Gewerbe und Verkehr Beschäftigten um 137 Prozent an. In der Metall- und Maschinenbaubranche wuchs die Beschäftigtenzahl von 21.000 auf 33.000, die Zahl der Dienstboten, die meist weiblicher Natur waren, wuchs von 32.000 auf über 76.000 an.

In Berlin waren die gesellschaftlichen Gegensätze vor allem auch an der Kleidung zu erkennen. Die feinen Herrschaften legten Wert auf ein modisches Erscheinungsbild. Die weibliche Silhouette wurde bestimmt durch das enge Korsett, das fest um die Taille geschnürt wurde. Damit ließ sich ein Bauch kaschieren und die Brust hervorheben. In der `Belle Epoque´ im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden noch immer Kleider mit Rüschen und Schleppen getragen, nun aber in Kombination mit strengen Jackenkleidern. Der Po wurde betont durch Schößchen und mehrere Lagen von Unterröcken.

Eine Dame trug nicht den ganzen Tag das Gleiche. Sie besaß für jede Tageszeit und für jeden Anlass die passende Kleidung mit den passenden Accessoires. Am Abend war die Mode besonders prachtvoll: Die Kleider waren lang und gingen oft in eine kleine Schleppe über. Darüber trugen die Damen Pelz und Spitze. Der Stil der jeweiligen Garderobe hing immer von der Gelegenheit ab, zu der sie getragen wurde.

Es gab aber schon Trends die vorherrschende Mode aufzulösen. Der Designer Paul Poiret entwarf ein langes, in losen Falten am Körper hinab gleitendes, korsettfreies Kleid, das aber nur von sehr schlanken Frauen getragen werden konnte. 1911 kreierte er den ersten Hosenrock. Beides konnte sich in der Bevölkerung noch nicht durchsetzen.

Für die einfachen Leute spielte die Mode sowieso keine Rolle, Kleidung musste vor allem praktisch sein: Einfache knöchellange Kleider, die mit einem Gürtel gehalten wurden, aus Baumwolle oder Leinen, sowie locker geschnittene Anzüge mit viel Bewegungsfreiheit. In der Herrenmode gab es nur kleinere Veränderungen wie zum Beispiel Hosenumschläge.

Aber allen gemein war die Pflicht eine passende Kopfbedeckung zu tragen. Mit blankem Kopf aus dem Haus zu gehen, war ein absoluter Fauxpas des guten Benehmens. Und dies blieb lange Zeit so.

In den Anfängen des 20. Jahrhunderts waren es die ausladenden Hut-Modelle, welche die Dame von Welt zu tragen hatte. Die Größe nahm dann später immer weiter ab, wurde aber ersetzt durch skurrile Formen, welche die Kopfbedeckung zu kuriosen Kunstwerken werden ließ. Die einfachen Arbeiterfrauen trugen Kopftücher oder Hauben, Fabrikarbeiter eine Schlägermütze oder Schiebermütze, genannt nach den Vorarbeitern in der Fabrik.

Berlin war in dieser Zeit die größte Mietskasernenstadt der Welt. Einschließlich der dreiundzwanzig Vororte lebten hier mehr als zweieinhalb Millionen Menschen. In der Stadt zählte man eine Million Wohnungen, davon waren 400.000 mit nur einem Raum und weitere 300.000 mit zwei Räumen ausgestattet.

Berlin platzte bald aus allen Nähten… und mitten drin, genauer gesagt in Oberschöneweide, wurde am 21. November 1905 mein Opa mütterlicherseits, also der Vater meiner Mutter, geboren. Im Beisein seines Vaters Wilhelm Max Kurth brachte ihn seine gesundheitlich angegriffene Mutter Hedwig geborene Weidlich, unter Schmerzen in einem schäbigen Zimmer in einem Arbeiterviertel zur Welt. Einige Tage später taufte man ihn in der evangelischen Gemeinde auf den Namen Wilhelm Heinrich Louis. Er war der erste Sohn des jungen Ehepaares und deshalb hatte er auch das Anrecht auf den Vornamen seines Vaters, also Wilhelm. Heinrich sowie Louis hießen die beiden Großväter. Von klein auf wurde er ´Willi´ genannt.

Im November 1912 bekam er noch eine kleine Schwester namens `Erna´. In den Jahren zuvor war seine Mutter Hedwig einige Male schwanger gewesen, aber sie erlitt eine Fehlgeburt nach der anderen. So erging es ihr wie vielen anderen Frauen in diesem Milieu, die an chronischer Unterernährung oder anderen schweren Erkrankungen wie Tuberkulose litten. Zum Glück bekam Willi davon wenig mit, er war noch zu jung, um die dunklen Seiten des Lebens zu begreifen.

Oberschöneweide erhielt seinen Namen wegen „der schönen Weiden an der Spree“, die über viele Jahrzehnte das Gebiet prägten und zugleich wichtigste Einnahmequelle ihrer Besitzer waren. Schon zu Zeiten des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1674) gab es die Gastwirtschaft `Quapenkrug´, benannt nach dem Namen des Wirtes Quappe. Schiffer und Reisende durften auf dem Wege zwischen Köpenick und Berlin in diesem Gasthaus am Ufer der Spree Rast gemacht haben. Nach häufigen Besitzerwechseln erwarb im Jahre 1814 Oberfinanzrat Reinbeck das inzwischen Forst- und Landgut gewordene Areal und ließ das Gebäude schlossähnlich ausbauen. Mit königlichem Einverständnis nannte er es nach dem Vornamen seiner Frau `Wilhelminenhof´, aus dem anno 1894 ein beliebtes Ausflugslokal hervorging. Um 1850 lebten im Gutsbezirk Oberschöneweide etwa 100 Einwohner. Letzter Verwalter des Gutes war bis zur eigentlichen Ortsgründung 1898 Wilhelm Weiskopff.

Im Jahre 1897 wurde die inzwischen 626 Einwohner zählende Gemeinde Oberschöneweide zum Hauptstandort der von Emil Rathenau gegründeten `Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft´ (AEG). In der Folgezeit zogen zahlreiche Unternehmen der Elektro-Großindustrie, darunter das `Kabelwerk Oberspree´, die ` Akkumulatorenwerke Oberschöneweide´, die `Deutschen Nileswerke´ und die `Nationale Automobilgesellschaft´ Tausende von Arbeitern an, so dass sich die Bevölkerungszahl in wenigen Jahren verzehnfachte.

Unter Einbeziehung großer Teile des Gutsbezirks Köpenicker Forst wurde Oberschöneweide anno 1898 zunächst mit 149 Hektar als selbstständige Landgemeinde ausgegliedert. In den folgenden Jahren vergrößerte sich die Fläche stetig. Am westlichen Rand der Gemeinde wurde 1899 auf dem Gelände der ehemaligen `Försterei Neue Scheune´ ein großes Petroleumlager angelegt – der `Nobelhof´. Als weiteren Industriebetrieb gründete die AEG 1901 die `Neue Automobil-Gesellschaft AG´ (N.A.G.).

Die Bebauung konzentrierte sich auf das Ortszentrum von Oberschöneweide an der Spree. So blieb das Gelände am westlichen Uferstreifen weitgehend unbebaut. Auch der Uferstreifen im Osten nach Köpenick wurde nur vereinzelt mit Villen und kleineren Fabriken bebaut. Seit Ende des

19. Jahrhunderts kamen hier mehrere Klub- und Bootshäuser von Rudersportvereinen hinzu, wie das von der AEG in Auftrag gegebene `Bootshaus Elektra´.

Die Kettenfähre, die 1885 zur Überquerung der Spree angelegt worden war, wurde bereits 1891 durch eine Holzbrücke ersetzt, die wiederum 1908 durch die stählerne Stubenrauchbrücke ausgetauscht wurde. Mit dem Kaisersteg, einer Fußgängerbrücke, entstand 1897 ein zweiter Spreeübergang. Der stetig wachsende Verkehr führte 1903/1904 zur Errichtung des dritten Spreeübergangs, der Treskowbrücke.

Die Grundrentengesellschaft legte noch vor der Jahrhundertwende die Trasse der Industriebahn Oberschöneweide an. Sie durchzog die gesamte Wilhelminenhofstraße und verband siebzehn Fabriken mit den Bahnhof Niederschöneweide-Johannisthal und dem Betriebsbahnhof Rummelsburg.

Schnell entstand ein industrielles Ballungsgebiet aus fünfundzwanzig Großbetrieben und einer Vielzahl von kleinen Betrieben, Werkstätten und Labors. Ein Drittel der Firmen gehörte zur Elektroindustrie. Das `Elektrizitätswerk Oberspree´ war das erste außerhalb Berlins gelegene Großkraftwerk und das erste Drehstromkraftwerk im Deutschen Reich. Es wurde zum Vorreiter der modernen Stromerzeugung, denn zum ersten Mal wurde elektrische Energie in ein Versorgungsnetz eingespeist und weiterverteilt.

Um 1900 hatten sich in Oberschöneweide viele große Unternehmen aus dem Bereich der Elektroindustrie angesiedelt, Metallverarbeitung und Maschinenbau kamen hinzu und sorgten für einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Die AEG setzte hier eine Reihe sozialer Ideen um, die für die deutsche betriebliche Sozialpolitik eine wegweisende Bedeutung hatten. Darunter fielen zum Beispiel die Einrichtung einer Stelle als `Fabrikpflegerin´, die sich um die Belange der weiblichen Beschäftigten kümmern sollte oder die Gründung einer der ersten `Kinderkrippen´. Hier konnten die Arbeiterinnen des Kabelwerks und anderen Schöneweider Betrieben ihren Nachwuchs abgeben.