Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Gesamtausgabe - Marcel Proust - E-Book
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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Gesamtausgabe E-Book

Marcel Proust

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Beschreibung

Gesamtausgabe mit Kommentarband in einem E-Book! Im Herbst 2016 erschien der siebte, abschließende Band der Neuübersetzung von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" bei Reclam – die erste Gesamtübersetzung des Romans aus einer Hand. Jetzt hat Bernd-Jürgen Fischer seiner Übersetzung ein 824-seitiges Handbuch beigefügt. Das E-Book-Bundle, bestehend aus allen sieben Bände und dem Kommentar des Übersetzers zum Gesamtwerk, erscheint zur Buchmesse 2017, auf der Frankreich Ehrengastland ist.

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Seitenzahl: 9140

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Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Übersetzung, Anmerkungen und Handbuch von Bernd-Jürgen Fischer

Reclam

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: AMMA Kommunikationsdesign

Coverabbildung: Marcel Proust. Foto von Otto Wegener, um 1895. picture alliance / Everett Collection

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15- 961800-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-030056-5

www.reclam.de

Inhaltsverzeichnis

Band 1Auf dem Weg zu Swann

Erster Teil: Combray

Zweiter Teil: Eine Liebe von Swann

Dritter Teil: Ländliche Namen: Der Name

Band 2Im Schatten junger Mädchenblüte

Erster Teil: In der Welt von Madame Swann

Zweiter Teil: Ländliche Namen: Das Land

Band 3Der Weg nach Guermantes

Erster Teil

Zweiter Teil

Band 4Sodom und Gomorrha

Erster Teil

Zweiter Teil

Band 5 Die Gefangene

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Band 6Die Entflohene

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Band 7 Die wiedergefundene Zeit

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

I. Kurzbiographie

II. Frühe Werke

III. Die »Suche nach der verlorenen Zeit«

IV. Korrespondenz

V. Bibliographien

VI. Marcel-Proust-Gesellschaften

VII. Die Geographie der »Suche«

VIII. Stammbäume

IX. Register zu den Bänden I–VII

Band 1Auf dem Weg zu Swann

Inhalt

Auf dem Weg zu Swann

Erster Teil

Combray

Zweiter Teil

Eine Liebe von Swann

Dritter Teil

Ländliche Namen: Der Name

Anhang

Zur Textgrundlage

Anmerkungen

Literaturhinweise

Inhaltsübersicht

Namenverzeichnis

MONSIEUR GASTON CALMETTE*

als Beweis tiefempfundener und herzlicher

Dankbarkeit zugeeignet,

MARCEL PROUST

[9]ERSTER TEILCombray*

I

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen*. Manchmal, wenn ich noch kaum die Kerze ausgelöscht hatte, schlossen sich meine Augen so schnell, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, mir zu sagen: »Jetzt schlafe ich ein.« Und eine halbe Stunde später weckte mich dann der Gedanke, dass es nun Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch, das ich noch in meinen Händen glaubte, zur Seite legen und mein Licht ausblasen; ich hatte auch während ich schlief nicht aufgehört, über das gerade Gelesene nachzudenken, aber diese Gedanken hatten einen etwas seltsamen Gang genommen; es erschien mir, als sei ich selbst das, wovon das gelesene Werk erzählte: eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen FranzI. und KarlV.*Diese Einbildung hielt sich noch einige Sekunden, während ich erwachte; sie verstörte nicht etwa meine Vernunft, sondern lag wie Schuppen auf meinen Augen und hinderte sie, sich darüber klar zu werden, dass der Kerzenleuchter nicht mehr brannte. Schließlich begann sie, mir immer unverständlicher zu werden, wie nach der Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz; der Gegenstand des Buches löste sich langsam von mir, ich war wieder frei, mich damit zu beschäftigen oder nicht; sogleich gewann ich auch das Sehvermögen zurück und war sehr erstaunt, um mich herum ein Dunkel zu finden, das sanft und erholsam war für meine Augen, abervielleicht sogar mehr noch für meinen Geist, dem es wie eine Sache ohne Ursache erschien, unverständlich, wie eine ganz und gar dunkle Sache. Ich fragte mich, wie spät es wohl sein mochte; ich hörte das Pfeifen der mehr oder weniger fernen[10]Züge, das wie ein Vogellied im Wald die Entfernungen verdeutlichte und mir die Weite der verlassenen Landschaft beschrieb, durch die der Reisende der nächsten Station zueilt; die kurze Strecke, der er folgt, wird sich seiner Erinnerung einzeichnen durch die Erregung, die er neuen Stätten verdankt, ungewohnten Tätigkeiten, der vor kurzem geführten Unterhaltung und dem Abschied unter einem fremdartigen Licht, der ihm noch nachfolgt in die Stille der Nacht, zu der bevorstehenden Süße der Heimkehr.

Ich schmiegte meine Wangen zärtlich an die sanften Wangen des Kissens, die so voll und frisch den Wangen unserer Kindheit gleichen. Ich riss ein Streichholz an, um auf die Uhr zu sehen. Gleich Mitternacht. Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der zu einer Reise gezwungen gewesen ist, in einem unbekannten Hotel hat einkehren müssen und von einem Anfall aufgeweckt wird, sich freut, wenn er einen Streifen Tageslicht unter der Tür entdeckt. Welch Glück, es ist ja schon Morgen! Gleich werden dieDienstboten aufgestanden sein, er wird läuten können, man wird kommen,ihm zu helfen. Die Hoffnung auf Erleichterung gibt ihmdie Kraft zu leiden. Eben schon hat er geglaubt, Schrittezu hören; die Schritte nähern sich, entfernen sich dann. Undder Streifen Tageslicht, der unter seiner Tür lag, ist verschwunden.Es ist Mitternacht: man hat gerade das letzte Gaslicht gelöscht;der letzte Dienstbote ist gegangen, und er wird die ganzeNacht leiden müssen ohne Beistand.

Ich schlief wieder ein und wachte nur zuweilen kurz auf, gerade lange genug, um das lebendige Knacken im Gebälk zu hören, die Augen zu öffnen, um das Kaleidoskop der Dunkelheit anzuhalten und in einem kurzen Bewusstseinsschimmer den Schlaf zu würdigen, in den die Möbel, das Zimmer gefallen waren, all das, wovon ich nur ein kleiner Teil war und mit dessen Bewusstlosigkeit ich mich rasch wieder vereinte. Oder aber ich hatte im tiefen Schlaf[11]ohne besondere Anstrengung ein für immer vergangenes Stadium meiner Kindheit wiedererlangt und Schrecken meiner jungen Jahre erneut durchlebt, wie etwa den, dass mein Großonkel mich an meinen Locken zog, und der sich an dem Tag – für mich der Beginn eines neuen Lebensabschnitts – in Nichts auflöste, an dem man sie mir abschnitt. Während des Schlafes hatte ich dieses Ereignis vergessen, fand die Erinnerung daran jedoch sofort wieder, sobald ich genügend wach geworden war, um mich den Händen meines Großonkels zu entwinden; zur Sicherheit vergrub ich aber doch meinen Kopf unter dem Kissen, ehe ich in die Welt der Träume zurückkehrte.

Zuweilen wurde während meines Schlafes aus einer falschen Lage meines Schenkels heraus ein Weib geboren, so wie Eva einer Rippe Adams entsprang. Obwohl ich sie der Lust verdankte, die zu genießen ich im Begriff war, stellte ich mir doch vor, dass vielmehr sie es war, die mir diese Lust verschaffte. Mein Körper, der in dem ihren seine eigene Brunst verspürte,wollte sich darin mit ihr vereinigen, und ich erwachte. Der Rest der Menschheit erschien mir wie in weite Ferne entrücktim Vergleich zu dieser Frau, die ich vor wenigen Augenblicken erst verlassen hatte; meine Wange war noch heiß von ihrem Kuss, mein Körper noch lahm von der Last ihrer Lenden. Wenn sie, wie es auch hin und wieder vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im wirklichen Leben gekannt hatte, so setzte ich anschließend alles an das eine Ziel: sie wiederzufinden, so wie es jenen ergeht, die eine Reise unternehmen, um mit ihren eigenen Augen eine ersehnte Stadt anzusehen, und dabei glauben, man könne auch in der Wirklichkeit den Zauber einer Träumerei genießen. Nach und nach verlor sich die Erinnerung an sie, ich hatte das Mädchen meines Traumes vergessen.

Ein Mensch, der schläft, hält in einem Kreis um sich das Band der Stunden, die Folge der Jahre und der Welten versammelt.[12]Erwacht er, orientiert er sich ganz instinktiv daran und liest in ihnen in einem Augenblick den Ort der Erde ab, an dem er sich befindet, die Zeit, die bis zu seinem Erwachen verronnen ist; doch ihre Ordnungen können sich vermengen, zerreißen. Wenn ihn gegen Morgen nach längerem Wachen der Schlaf mitten beim Lesen überrascht,in einer gänzlich anderen Haltung als der, in der er gewöhnlich schläft, genügt schon sein erhobener Arm, die Sonne anzuhalten* oder zurücktreten zu lassen, und in der ersten Minute seines Erwachens wird er die Uhrzeit nicht wissen und meinen, er sei gerade erst zu Bett gegangen. Und schläft er gar in einer noch unpassenderen und ungewohnteren Haltung ein, etwa nach dem Essen in einem Sessel sitzend, dann wird das Durcheinander der aus der Bahn gekommenen Welten noch vollständiger sein, der Zaubersessel wird ihn mit rasender Geschwindigkeit durch Zeit und Raum befördern*, und wenn er die Lider öffnet, so wird er fest davon überzeugt sein, sich vor einigen Monaten in einer gänzlich anderen Umgebung niedergelegt zu haben. Aber in meinem eigenen Bett genügte es schon, dass mein Schlaf tief war und meinen Geist gänzlich entspannte; dann entglitt ihm die Lage des Ortes, an dem ich eingeschlafen war, und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht nur nicht, wo ich mich befand, sondern sogar auch im ersten Augenblick nicht, wer ich war; ich hatte lediglich, in seiner ganzen urzeitlichen Natürlichkeit, jenes Gefühl bloßen Daseins, wie es in der Tiefe eines Tieres beben mag; ich war hilfloser als ein Höhlenmensch; aber dann kam die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich michbefand, aber doch an einige von denen, die ich bewohnthatte und an denen ich sein könnte – über mich wieHilfe in höchster Not, um mich aus dem Nichts zuziehen, aus dem ich allein nicht hätte herausfinden können;ich flog in einem Augenblick über Jahrhunderte der Zivilisation hinweg,und das verschwommen wahrgenommene Bild von[13]Petroleumlampen, dann von Hemdenmit Umlegekragen, fügte Schritt für Schritt die ursprünglichen Züge meines Ichs wieder zusammen.

Vielleicht ist den Dingen um uns her die Unbeweglichkeit nur aufgezwungen durch unsere Gewissheit, dass sie sie selber seien und nichts anderes, durch die Unbeweglichkeit unserer Vorstellung von ihnen. Wenn ich wieder erwachte, war es jedenfalls so, dass sich alles, noch während mein Geist erfolglos damit beschäftigt war, herauszufinden, wer ich sei, um mich im Dunkel zu drehen begann, die Dinge, die Länder, die Jahre. Mein Körper, zu steif sich zu rühren, suchte, je nach Art seiner Müdigkeit, die Lage seiner Glieder zu ermitteln, um daraus auf die Richtung der Wand zu schließen, auf die Stellung der Möbel, um daraus wiederum die Wohnung zu rekonstruieren und zu benennen, in der er sich befand. Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Rippen, seiner Knie, seiner Schultern, führte ihm nacheinander mehrere der Zimmer vor, in denen er geschlafen hatte, während um ihn her die unsichtbaren Wände, die ihren Ort wechselten je nach Gestalt des vorgestellten Raumes, in der Finsternis durcheinanderwirbelten. Und noch ehe mein Denken, das an der Schwelle der Zeiten und Formen zögerte, sich der Unterkunft durch die Verknüpfung der Einzelheiten versichert hatte, hatte er, mein Körper, sich einer jeden erinnert, der Art des Bettes, der Lage der Türen, des Lichteinfalls der Fenster, der Existenz eines Flurs, zusammen mit dem Gedanken, mit dem ich eingeschlafen war und den ich im Erwachen wiederfand. Meine steifgewordene Seite stellte sich in dem Bemühen, ihre Ausrichtung festzustellen, zum Beispiel vor, mit dem Gesicht zur Wand in einem großen Himmelbett zu liegen, und sobald ich zu mir sagte: »Schau an, so bin ich am Ende doch eingeschlafen, obwohl Maman nicht gekommen ist, gute Nacht zu sagen«, war ich auf dem Land bei meinem Großvater, der schon seit vielen Jahren tot war; und mein Körper, die Seite, auf der ich ruhte, treuer[14]Wächter einer Vergangenheit, die mein Geist niemals hätte vergessen dürfen, rief mir den Schein des urnenförmigen Nachtlichtes aus böhmischem Glas, das an Kettchen von der Decke hing, ins Gedächtnis zurück, den Kamin aus sienesischem Marmor in meinem Schlafzimmer in Combray bei meinen Großelternin jenen vergangenen Tagen, die mir in diesem Augenblick so gegenwärtig erschienen, ohne dass ich sie deutlich vor mir sah, die ich jedoch viel besser wiedererkennen würde, sobald ich tatsächlich ganz erwacht wäre.

Alsdann erstand zu einer neuen Körperhaltung die entsprechende Erinnerung auf; die Wand scherte in eine andere Richtung: ich war in meinem Zimmer bei Madame de Saint-Loup auf dem Land; mein Gott!, es ist mindestens schon zehn Uhr, man dürfte bereits das Abendessen beendet haben! Ich habe wohl die Ruhepause, die ich jeden Abend vor dem Umziehen einlegte, nachdem ich von meinem Spaziergang mit Madame de Saint-Loup zurückgekehrt war, zu sehr ausgedehnt. Es sind nämlich viele Jahre seit Combray vergangen, wo ich, selbst wenn wir verspätet heimkehrten, noch den roten Widerschein des Sonnenuntergangs auf den Scheiben meines Fensters sah. In Tansonville* bei Madame de Saint-Loup* pflegt man einen anderen Lebensstil, ich finde eine neue Art von Vergnügen darin, nicht vor Anbruch der Nacht auszugehen, im Mondschein jenen Wegen zu folgen, auf denen ich einstmals im Sonnenlicht spielte; und das Zimmer, in dem ich wohl eingeschlafen war statt mich fürs Abendessen umzuziehen, sehe ich von ferne, wenn wir zurückkehren, vom Schein der Lampe durchflossen, dem einzigen Leuchtfeuer in der Nacht.

Diese kreiselnden, verworrenen Erinnerungsbilder blieben nie länger als einige Augenblicke; häufig unterschied meine kurze Unsicherheit über den Ort meines Aufenthalts nicht besser zwischen der einen oder der anderen Vermutung, aus der sie entstand, als wir[15]bei einem laufenden Pferd seine aufeinanderfolgenden Haltungen erkennen können, die das Kinetoskop* uns zeigt. Aber bald hatte ich das eine, bald das andere der Zimmer wiedergesehen, die ich im Laufe meines Lebens bewohnt hatte, und das führte dazu, dass ich sie mir alle während der langen Gedankenspiele, die meinem Erwachen folgten, vergegenwärtigte; – winterliche Zimmer, in denen man, sobald man sich hingelegt hat, den Kopf in einem Nest birgt, das mansich aus den verschiedensten Dingen zusammengeklaubt hat: einem Zipfel des Kopfkissens, dem Rand der Bettdecke, dem Ende eines Schals, der Bettkante, und einer Ausgabe derDébats roses*, die man schließlich nach Art der Vögel* zusammenfügt, indem man sich unablässig gegen sie drückt; in denen man in Frostzeiten ein Vergnügen darin findet, sich von der Außenwelt abgeschnitten zu fühlen (wie die Seeschwalbe, die ihr Nest am Boden einer Senke in der Erdwärme anlegt), und in denen man, da das Kaminfeuer die ganze Nacht hindurch brennt, in einer weiten Umhüllung aus warmer und rauchiger Luft schläft, die das Flackern derfeuerfangenden Scheite durchzuckt, in einer Art von nicht greifbarem Alkoven,einer warmen Höhle, ausgehoben aus dem Schoße des Zimmers, einerglühenden Zone unsteter Temperaturen, durchweht von Luftzügen, die uns dasAntlitz erfrischen und aus den Ecken kommen, aus Stellen inder Nähe der Fenster oder aus solchen, die vom Feuerentfernt sind und schon erkaltet; – sommerliche Zimmer, in denen man mitder lauen Nacht verschmelzen möchte, in denen das Mondlicht, aufden halbgeöffneten Läden ruhend, an das Fußende des Bettes seine Zauberleiter wirft, in denen manso gut wie unter freiem Himmel schläft wie eine Meise,die auf der Spitze eines Halmes von der Brisegewiegt wird; – manchmal auch das Louis-Seize-Zimmer*, so heiter, dassich dort sogar am ersten Abend nicht allzu unglücklich gewesen war, und in dem die kleinen Säulen, die graziös die Decke trugen, mit so viel Anmut[16]auseinanderwichen, um den Platz des Bettes zu bezeichnen und freizugeben; manchmal dagegen auch jenes kleine Zimmer mit zu hoher Decke, in Form einer Pyramide ausgehoben über zwei Stockwerke hinweg und teilweise mit Mahagoni verkleidet, in dem ich vom ersten Augenblick an von dem unbekannten Geruch des Vetiver seelisch vergiftet wurde, überzeugt wurde von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der anmaßenden Gleichgültigkeit der Pendeluhr, die lauthals vor sich hin plapperte als sei ich gar nicht vorhanden; – in dem ein sonderbarer und gnadenloser rechteckiger Standspiegel, schräg in eine der Ecken des Zimmers gelehnt, sich unverfroren aus dem kostbaren Ganzen meines gewohnten Gesichtsfeldes ein nicht vorgesehenes Quartier aushob; – in dem mein Denken, nachdem es sich stundenlang bemüht hatte, sich zu verrenken, sich zu strecken, um die genaue Gestalt dieses Zimmers anzunehmen und schließlich seinen ungeheuren Trichter bis zu ganzer Höhe auszufüllen, eine Reihe zäher Nächte durchlitten hatte, während ich auf meinem Bett ausgestreckt dalag, die Augen emporgewandt, die Ohren verängstigt, die Nase widerwillig, das Herz klopfend: bis dann schließlich die Gewohnheit die Farbe der Vorhänge verändert, die Uhr zum Schweigen gebracht, den schrägen und grausamen Spiegel Mitleid gelehrt, den Geruch des Vetiver* wenn auch nicht gänzlich vertrieben,so doch gemildert, und vor allem die offenkundige Höhe derDecke verringert haben würde. Die Gewohnheit!, tüchtige, aber auch trägeHaushälterin, die unseren Geist erst einmal wochenlang in einem Provisoriumleiden lässt; die zu finden aber trotz allem ein großesGlück für ihn ist, denn ohne die Gewohnheit und alleinauf die eigenen Mittel angewiesen wäre er außerstande, eine Unterkunft für uns bewohnbar zu machen.

Gewiss war ich jetzt wirklich erwacht, mein Körper hatte sich ein letztes Mal umgedreht, und der gute Engel der Gewissheit hatte[17]alles um mich her angehalten, mich in meinem Schlafzimmer unter meinen Laken verpackt und im Dunkeln meinen Kleiderschrank, meinen Schreibtisch, meinen Kamin, das Fenster zur Straße und die beiden Türen annähernd an ihren Platz gestellt. Aber was nützte es mir zu wissen, dass ich mich nicht in den Wohnungen befand, die mir die Benommenheit des Erwachens einen Augenblick lang wenngleich nicht deutlich vor Augen gestellt, so doch als mögliche Gegenwart vorgegaukelt hatte, mein Gedächtnis war in Gang gesetzt worden; im allgemeinen versuchte ich nicht sofort, wieder einzuschlafen; ich verbrachte den größten Teil der Nacht damit, mich unseres damaligen Lebens zu entsinnen, in Combray bei meiner Großtante, in Balbec, in Paris, in Doncières*, in Venedig und anderenorts, mir die Stätten zu vergegenwärtigen und die Leute, die ich dort gekannt hatte, was ich von ihnen wahrgenommen, was man mir von ihnen erzählt hatte.

In Combray wurde jeden Tag bereits am späten Nachmittag, lange bevor jener Augenblickkam, in dem ich würde zu Bett gehen und fern von meiner Mutter und meiner Großmutter daliegen müssen, ohne zu schlafen, mein Schlafzimmer von neuem zum schmerzlichen Angelpunkt meiner bangen Erwartungen. Um mich an den Abenden, an denen man meine Miene allzu unglücklich fand, zu zerstreuen, war man auf den guten Gedanken verfallen, mir eine Laterna magica zu schenken, die meiner Nachttischlampe aufgesteckt wurde, während wir auf die Abendbrotzeit warteten; und sie ersetzte, ganz nach dem Vorbild der vorzüglichsten Architekten und der Meister der Glasmalerei zu Zeiten der Gotik, die Undurchdringlichkeit der Wände durch ein unfassbares Schillern, durch übernatürliche vielfarbige Erscheinungen, in denen Legenden abgebildet waren wie in einem schwankenden, vorübergleitenden Kirchenfenster. Doch meine Traurigkeit wurde dadurch nur größer, denn allein die Veränderung der Beleuchtung zerstörte[18]jene Vertrautheit mit meinem Zimmer, durch die es mir, von der Qual des Schlafengehens abgesehen, erträglich geworden war. Nun aber erkannte ich es nicht wieder und war darin so unruhig wie in dem Zimmer eines Hotels oder eines Ferienhauses, in dem ich mich nach einer Fahrt mit der Eisenbahn zum ersten Mal aufhielt.

Von seinem Pferd im Holperschritt getragen, kam Golo voll üblerRänke aus dem kleinen dreieckigen Wald hervor, der mit schwermütigemGrün den Hang eines Hügels samten umschmiegte, und näherte sichruckelnd dem Schloss der armen Genoveva von Brabant. Dieses Schlosswar entlang einer gekrümmten Linie abgeschnitten, bei der es sichlediglich um den Rand eines der Glasovale handelte, die indie Rähmchen eingelassen waren, die man ihrerseits in die Führungsrinnender Laterne einschob. Es war auch bloß ein Mauerstück voneinem Schloss, und vor ihm lag eine offene Steppe,auf der eine blau gegürtete Genoveva* träumte. Schloss und Steppewaren gelb, und ich hatte nicht erst ihren Anblick abwartenmüssen, um ihre Farben zu erkennen, denn noch vor demGlas der Bildrähmchen hatte sie mir der goldkäferbraune Klang desNamens »Brabant*« in größter Deutlichkeit gezeigt. Golo hielt einenAugenblick inne, um bekümmert den Märchengeschichten zu lauschen, die meineGroßtante vorlas und die er einwandfrei zu verstehen schien, denner passte sich dabei in seiner Haltung mit einer Fügsamkeit,die dennoch eine gewisse Hoheit nicht ausschloss, den Angaben desTextes an; dann entfernte er sich wieder im gleichen Holperschritt.Und nichts vermochte seinen schleppenden Ritt aufzuhalten. Rückte jemand dieLaterne weg, so konnte ich das Pferd Golos noch erkennen,wie es sich auf den Fenstervorhängen weiterbewegte, sich in ihrenWölbungen blähte, in ihre Senken niederstieg. Golos eigener Leib, von ebenso übernatürlicher Substanzwie der seines Rosses, bewältigte jegliches materielle Hindernis, jeden störendenGegenstand, dem er[19]begegnete, indem er ihn wie ein Knochengerüstergriff und in sich aufnahm, sogar auch den Türknauf,dem sich sein rotes Gewand oder sein bleiches, doch immerauch edles und melancholisches Gesicht anformte und über den esunbeirrbar hinwegschwamm, ohne irgendeine Betrübnis ob dieser Durchwirbelung* zu erkennen zu geben.

Gewiss, ich fand durchaus Gefallen an diesen glitzernden Gaukeleien, die sich aus einer merowingischen Vergangenheit herauszuschälen schienen und den Abglanz solch uralter Geschichte um mich herumspazieren ließen. Aber ich kann gar nicht sagen, welchen Kummer mir dieser Einbruch in das Geheimnis und die Schönheit einer Kammer bereitete, die ich schließlich doch so sehr mit meinem eigenen Ich ausgestattet hatte, dass ich ihr keine größere Aufmerksamkeit mehr schenkte als diesem selbst. Da die betäubende Wirkung der Gewohnheit nunmehr verflogen war, begann ich zu denken und zu fühlen, beides traurige Angelegenheiten. Dieser Türknauf meines Zimmers, der sich für mich von allen Türknäufen der Welt darin unterschied, dass er sich von ganz allein zu öffnen schien, ohne dass ich ihn hätte drehen müssen, derart unbewusst war mir seine Handhabung geworden, er also diente Golo nunmehr als Astralleib. Und sobald man zum Abendessen läutete, beeilte ich mich, ins Esszimmer zu rennen, in dem die aufgedunsene Hängelampe, die von Golo und von Blaubart nichts ahnte, dafür jedoch vertraut mit meinen Eltern und dem Rinderschmorbraten war, ihr allabendliches Licht verströmte, und mich in die Arme von Maman zu werfen, die mir durch die Leiden der Genoveva von Brabant noch teurergeworden war, während mich die Übeltaten des Golo veranlassten, mein eigenes Gewissen mit größerer Sorgfalt zu prüfen.

Ach, nach dem Abendessen musste ich schon bald Maman verlassen, die zurückblieb, um mit den anderen zu plaudern,[20]entweder im Garten, falls das Wetter schön war, oder im kleinen Salon, in den sich alle zurückzogen, wenn das Wetter schlecht war. Alle, bis auf meine Großmutter, die es »jammerschade« fand, »auf dem Lande drinnen eingesperrt zu sein«, und die endlose Auseinandersetzungen mit meinem Vater hatte, weil dieser mich an verregneten Tagen zum Lesen in mein Zimmer schickte statt draußen zu bleiben*. »So werden Sie ihn gewiss nicht widerstandsfähig und entschlossen machen«, sagte sie dann bekümmert, »dabei hat gerade dieser Kleine es so bitter nötig, seine Kräfte und seinen Willen zu stärken.« Mein Vater zuckte die Achseln und las das Barometer ab, denn er hatte eine Schwäche für Meteorologie, während meine Mutter ihn, alle Geräusche vermeidend, um ihn nur nicht zu stören, mit gerührter Bewunderung anblickte, dies jedoch nicht allzu unverwandt, um nicht zu versuchen, in das Geheimnis seiner Überlegenheit einzudringen. Meine Großmutter dagegen sah man bei jedem Wetter, selbst wenn der Regen tobte und Françoise Hals über Kopf hinausstürzte, um die kostbaren Rohrmöbel hereinzuholen ausAngst, sie könnten nass werden, im leeren, von Regenströmen durchpeitschtenGarten ihre in Unordnung geratenen grauen Haarsträhnen zurückstreichen, damit ihreStirn noch besser die wohltuende Wirkung des Windes und des Regens in sich aufsaugen konnte. Sie sagte: »Endlich kann man atmen!« und durchwandelte die aufgeweichten Gartenwege – welche übrigens nach ihrer Meinung von dem neuen Gärtner, der bar jeglichen Gefühls für die Natur war und den mein Vater schon seit dem frühen Morgen befragt hatte, ob sich das Wetter bessern werde, viel zu symmetrisch angelegt worden waren – mit ihrem kurzen, verzückten Holperschritt, weiteher gelenkt von den vielfältigen Bewegungen, die der Freudenrausch desUnwetters, die Wirkung gesunder Lebensführung, die Dummheit meiner Erziehung unddie Symmetrie der Gartenwege in ihrer Seele erregten, denn von[21]dem ihr fernliegenden Wunsch, ihrem pflaumenfarbenen Rock die Schlammspritzer zu ersparen, unter denen er schließlich bis zu einer Höhe verschwinden würde, die ihrer Kammerzofe immer wieder ein Entsetzen und eine Herausforderung war.

Fanden diese Gartenwanderungen meiner Großmutter nach dem Abendessen statt, dann gab es immerhin etwas, was sie ins Haus zurückzuholen vermochte: und das war, wenn bei einer der Gelegenheiten, wo die Umläufe ihres Spaziergangs sie in gleichmäßiger Wiederkehr wie ein Insekt an die Lichter des Salons heranführten, in dem schon die Getränke auf dem Spieltisch serviert worden waren, meine Großtante ihr zurief: »Bathilde! so komm doch und pass auf, dass dein Mann keinen Cognac trinkt!« Um sie (die in die Familie meines Vaters einen so anderen Geist eingebracht hatte, dass alle sich über sie lustig machten und sie quälten) zu necken, brachte nämlich meine Großtante meinen Großvater dazu, obwohl ihm Alkohol verboten war, ein paar Tropfen zu trinken. Meine arme Großmutter kam herein, beschwor ihren Mann, den Cognac zu lassen; der regte sich auf, trank nun gerade sein Teil, und meine Großmutter zog sich traurig, entmutigt, dennoch lächelnd wieder zurück, denn sie war so demütigen Herzens und so sanftmütig, dass ihr Zartgefühl für andere und ihre Geringschätzung der eigenen Person und der eigenen Leiden sich in ihrem Blick zu einem Lächeln zusammenfanden, das, im Gegensatz zu dem, welches man in den Gesichtern der meisten Menschen sieht, nur Ironie sich selbst gegenüber enthielt und für uns alle war wie ein Kuss mit den Augen, die auf ihren Lieben nichtruhen konnten, ohne sie hingebungsvoll mit Blicken zu liebkosen. Diese Pein, die meine Großtante ihr zufügte, der Anblick des vergeblichenBittens meiner Großmutter und ihrer Schwachheit, von vornherein unterlegen in dem nutzlosen Bemühen, meinem Großvater das Schnapsglas zu entwinden, das waren so die Dinge, an die man sich[22]später bis zu lächelnder Betrachtung gewöhnt, bis zu hinreichend entschiedener und vergnügter Parteinahme für den Verfolger, um sich einreden zu können, dass es sich gar nicht um Verfolgung handle; damals jedoch verursachten sie mir einen solchen Abscheu, dass ich am liebsten meine Großtante verprügelt hätte. Jedoch, sobald ich hörte »Bathilde!, so komm doch und pass auf, dass dein Mann keinen Cognac trinkt!«, tat ich, an Feigheit schon ein Mann, was wir alle tun, wenn wir einmal groß sind und Leiden und Ungerechtigkeiten vor unseren Augen stehen: ich weigerte mich, sie zu sehen; ich ging, um zu weinen, ganz nach oben ins Haus und unter dem Dach in eine kleine Kammer neben dem Studierzimmer, in der es nach Iris* roch und die zudem von einem wilden Johannisbeerstrauch durchduftet wurde, der draußen zwischen den Mauersteinen spross und einen Blütenzweig durch das halboffene Fenster trieb. Für einen spezielleren und gewöhnlicheren Gebrauch vorgesehen, diente diese Kammer, aus der man am Tag bis zum Wehrturm von Roussainville-le-Pin* blicken konnte, lange Zeit, wohl weil sie die einzige war, die zu verschließen mir gestattet war, als Zufluchtsstätte für mich und alle jene meiner Beschäftigungen, die unverletzliche Einsamkeit erforderten: Lektüre und Träumerei, Tränen und Wollust*. Ach!, ich hatte ja keine Ahnung, dass, viel schmerzlicher noch als die kleinen Ordnungsverstöße ihres Ehemanns, meine Willensschwäche, meine empfindliche Gesundheit, die Ungewissheit, die diese über meine zukünftige Laufbahn warfen, meine Großmutter während dieser unaufhörlichen Wanderfluchten am Nachmittag und am Abend beschäftigten, wenn man wieder und wieder im Vorbeigehen ihr schönes Angesicht, schräg zum Himmel erhoben, mit den bräunlich gefurchten Wangen erblicken konnte, die im Laufe des Alterns fast malvenfarbig geworden waren wie gepflügte Äcker im Herbst, die sie, wenn sie ausging, mit einem halb zurückgeschlagenen Schleier[23]verdeckte, und auf denen, hervorgerufen von der Kälte oder irgendeinem traurigen Gedanken, stets eine unbewusste Träne im Trocknen begriffen war*.

Wenn ich hinaufging, um mich schlafen zu legen, so war mein einziger Trost, dass Maman, wenn ich im Bett läge, kommen würde, um mir einen Gutenachtkuss zu bringen. Doch dieses Gutenachtsagen währte so kurz, sie ging schon so bald wieder hinunter, dass der Augenblick, in dem ich hörte, wie sie heraufkam, dann, wie das leichte Rauschen ihres Gartenkleides aus blauem Musselin, an dem kleine Quasten aus geflochtenem Stroh baumelten, den Flur mit der Doppeltür entlangwanderte, für mich ein schmerzvoller Augenblick war. Er kündigte jenen an, der ihm folgen musste, jenen, in dem sie mich verlassen haben, in dem sie wieder hinuntergegangen sein würde. Das ging so weit, dass ich schließlich wünschte, dieses von mir allzu geliebte Gutenachtsagen möge so spät wie möglich stattfinden, damit sichdie Gnadenfrist, in der Maman noch nicht erschienen war, verlängern würde. Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküsst hatte, die Tür öffnete, um davonzugehen, wollte ich sie zurückrufen, sie bitten: »Gib mir noch einen Gutenachtkuss«, aber ich wusste, dass sie sogleich ihr verstimmtes Gesicht aufsetzen würde, denn das Zugeständnis, das sie meinem Kummer und meiner Erregung machte, indem sie heraufkam, mich in den Arm zu nehmen, mir diesen Friedenskuss zu bringen, ärgerte meinen Vater, der dieses Ritual lächerlich fand, und eher hätte sie getrachtet, mir diese Gewohnheit auszutreiben, als mich diejenige annehmen zu lassen, sie um einen weiteren Kuss anzubetteln, während sie schon auf der Türschwelle stand. Doch sie verstimmt zu sehen machte all die Besänftigung wieder zunichte, die siemir gerade gebracht hatte, als sie ihr liebevolles Antlitz übermein Bett beugte und es mir darreichte wie die Hostienach dem Friedensgruß bei der Kommunion, während meine[24]Lippen aus ihrer leiblichen Anwesenheit* die Kraft zum Einschlafen schöpften. Aber jene Abende, an denen Maman insgesamt nur so kurze Zeit in meinem Zimmer verweilte, waren immer noch köstlich im Vergleich zu jenen, an denen Besuch zum Abendessen da war und an denen sie, eben deshalb, nicht heraufkam, mir gute Nacht zu sagen. Der Besuch bestand für gewöhnlich aus Monsieur Swann, der, abgesehen von einigen durchreisenden Fremden, so ziemlich der einzige Mensch war, der uns in Combray überhaupt besuchte, manchmal zu einem nachbarlichen Abendessen (dies seltener, seit er eine unstandesgemäße Ehe eingegangen war, denn meine Eltern wollten seine Frau nicht empfangen), manchmal unerwartet nach dem Essen. An den Abenden, an denen wir, vor dem Haus unter der großen Kastanie um den Eisentisch sitzend, am anderen Ende des Gartens nicht etwa das übereifrige und marktschreierische Geschelle hörten, das sich erhob und mit seinem metallischen, schier nicht versiegenden, gleichsam eingefrorenen Lärm jeden im Haus betäubte, der es beim Eintreten »ohne zu läuten« in Gang setzte, sondern vielmehr das schüchterne, ovale* und goldene, doppelte Anschlagen des Glöckchens für Fremde, so fragte sich jedermann sogleich: »Ein Besuch, wer kann das nur sein?«, wusste dabei jedoch nur allzu gut, dass dieses niemand anders sein konnte als Monsieur Swann*; meine Großtante ermahnte uns, dass wir nicht flüstern sollten, wobei sie, um ein gutes Beispiel zu geben, mit sehr lauter Stimme und in einem bemüht natürlichen Ton sprach; dass es gegenüber einer hinzukommenden Person nichts Unhöflicheres gebe, als sie in dieser Weise zu der Annahme zu veranlassen, man sei dabei, Dinge zu sagen, die sie nicht hören dürfe; und man schickte meine Großmutter als Spähtrupp vor, die stets über jeden Vorwand, eine zusätzliche Runde durch den Garten drehen zu können, glücklich war und die Gelegenheit nutzte, verstohlen im Vorbeigehen einige Rosenstützen herauszuziehen, um[25]den Rosen ein wenig Natürlichkeit zu belassen, wie eine Mutter, die ihrem Sohn durch die Haare fährt, um sie aufzulockern, nachdem der Friseur sie zu sehr geglättet hat.

Wir warteten alle gespannt auf die Informationen, die meine Großmutter uns in Kürze über den Feind bringen würde, als hätten wir unter einer großen Zahl möglicher Angreifer auswählen können, und über kurz oder lang sagte mein Großvater: »Ich erkenne Swanns Stimme.« Man erkannte ihn in der Tat nur an der Stimme, sein Gesicht mit der Adlernase, den grünen Augen unter einer hohen, von blonden, fast roten – nach der Art Bressants* gekämmten – Haaren eingerahmten Stirn war kaum zu erkennen, denn wir machten im Garten so wenig Licht wie möglich, um nicht die Mücken anzulocken, und ich ging unauffällig Bescheid sagen, dass man Fruchtsaft servieren solle; meine Großmutter legte größten Wert darauf, weil sie es liebenswürdiger fand, wenn nicht der Eindruck von etwas Ungewöhnlichem entstand, von etwas, das ausschließlich dem Besuch galt. Monsieur Swann war, obwohl viel jünger als mein Großvater, mit diesem eng befreundet, der seinerseits einer der besten Freunde von Swanns Vater gewesen war, eines trefflichen, aber seltsamen Mannes, bei dem, schien es, zuweilen schon eine Bagatelle genügte, um den Schwung seines Herzens zu unterbrechen, den Lauf seiner Gedanken umzuleiten. Mehrmals im Jahr konnte ich meinen Großvater bei Tisch die immer gleiche Anekdote erzählen hören über das Verhalten des alten Monsieur Swann beim Tod seiner Frau, bei der er Tag und Nacht gewacht hatte. Mein Großvater, der ihn seitlangem nicht mehr gesehen hatte, war sofort zu ihm aufden Landsitz geeilt, den die Swanns in der Nähe von Combray besaßen, und hatte, damit er nicht zugegen sein würde, wenn man sie in den Sarg legte, erreicht, dass Swann, noch ganz in Tränen aufgelöst, das Sterbezimmer verließ. Sie gingen ein paar Schritte durch den Park, in dem die Sonne[26]ein wenig schien. Plötzlich rief Monsieur Swann aus, wobei er meinen Großvater am Arm packte: »Ah!, alter Freund, welche Freude, bei so schönem Wetter gemeinsam spazieren zu gehen. Finden Sie diese ganzen Bäume nicht reizend, diesen Weißdorn und meinen Teich, zu dem Sie mir niemals gratuliert haben? Sie machen ja ein Gesicht wie eine Nachtmütze. Spüren Sie nicht diese leichte Brise? Ah!, sagen Sie wasSie wollen, das Leben hat trotz allem auch sein Gutes,mein lieber Amédée!« Unvermittelt kam ihm die Erinnerung an seineverstorbene Frau zurück, und da es ihm offenbar zukompliziert war herauszufinden, wie er sich in einem solchenAugenblick einer freudigen Regung hatte überlassen können, begnügte er sichmit einer Geste, die er zu machen pflegte wannimmer eine schwierige Frage sich seinem Geist stellte, nämlich der,sich mit der Hand über die Stirn zu fahren undüber die Gläser seines Kneifers und seine Augen zu wischen.Er konnte sich indes über den Tod seiner Frau nicht hinwegtrösten, sondern pflegte während der zwei Jahre, die er sie überlebte, zu meinem Großvater zu sagen: »Das ist komisch; ich denke oft an meine liebe Frau, aber ich kann nie viel auf einmal an sie denken*.« »Oft, aber nicht viel auf einmal, wie der gute alte Swann« war eine der Lieblingsredensarten meines Großvaters geworden, die er bei den mannigfaltigsten Gelegenheiten anbrachte. Swanns Vater wäre mir zweifellos als ein Ungeheuer erschienen, wenn nicht mein Großvater, den ich für den besten Richter hielt, einen Richter, dessen Urteil für mich die Gerechtigkeit selbst darstellte und der mich in späteren Jahren dazu anhielt, Nachsicht mit Fehlern zu üben, die ich vielmehr zu verdammen geneigt war, ausgerufen hätte: »Aber was denn? Er hatte ein Herz von Gold!«

Während vieler Jahre ahnten meine Großtante und meine Großeltern nicht, dass der jüngere Swann, obgleich er sie, insbesondere vor seiner Hochzeit, öfter in Combray besuchte,[27]überhaupt nicht mehr in jener Gesellschaft verkehrte, die mit seiner Familie Umgang gehabt hatte, und dass sie unter dem Schutz des Inkognitos, das ihm der Name Swann bei uns sicherte, mit der vollkommenen Unschuld ehrlicher Wirtsleute, die unwissentlich einen berüchtigten Banditen bei sich beherbergen, eines der vornehmsten Mitglieder des Jockey-Clubs*zu Besuch hatten, einen besonderen Freund des Grafen von Paris* und des Prinzen von Wales*, einen der gefragtesten Männer der höheren Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain.

Die Ahnungslosigkeit, in der wir uns hinsichtlich dieses glänzenden weltlichen Lebens Swanns befanden, rührte offensichtlich zum Teil von seinem zurückhaltenden und bescheidenen Charakter her, aber auch daher, dass das damalige Bürgertum sich von der Gesellschaft eine Vorstellung wie die Hindus machte und meinte, sie sei aus geschlossenen Kasten gefügt, in denen sich jeder, von seiner Geburt an, in eben der Position befand, die seine Eltern innegehabt hatten, und aus denen einen nichts außer den Unwägbarkeiten einer außergewöhnlichen Karriere oder einer unverhofft günstigen Ehe herausreißen könnte, um einen in eine höhere Kaste aufsteigen zu lassen. Der ältere Monsieur Swann war Börsenmakler gewesen; »Swann junior« fand sich also für den Rest seines Lebens einer Kaste zugehörig, in der die Vermögen wie in einer Steuerklasse nur zwischen diesem und jenem Einkommen* schwankten. Man wusste, welche Geschäftsbeziehungen sein Vater gehabt hatte, und wusste somit auch, welche er selbst hatte, mit welchen Leuten er »seinen Verhältnissen nach« verkehren konnte. Soweit er noch andere kannte, so waren das Jugendbekanntschaften, gegenüber denen die alten Freunde seiner Familie, wie etwa meine Eltern, umso wohlwollender die Augen schlossen, als er auch, nachdem er zur Waise gewordenwar, getreulich fortfuhr, uns zu besuchen; aber man konnte sich darauf verlassen, dass diese uns[28]unbekannten Leute, mit denen er sich traf, zu denen gehörten, die er nicht zu grüßen gewagt hätte, wenn sie ihm in unserer Anwesenheit begegnet wären. Wollte man unbedingt Swann einen sozialen Koeffizienten zuordnen, der ihn im Vergleich mit den Söhnen anderer Makler in ähnlicher Position wie der seiner Eltern charakterisierte, so wäre dieser Koeffizient für ihn etwas niedriger ausgefallen, denn als jemand mit einfachen Ansprüchen, der von jeher eine »Schrulle« für Antiquitäten und Gemälde hatte, hauste er inzwischen in einem alten Stadtpalais, in dem er seine Sammlungen anhäufte und das meine Großmutter nur allzu gern besichtigt hätte, das sich jedoch beim Quai d’Orléans* befand, einem Viertel, in dem zu wohnen meine Großtante für unwürdig befand. »Sind Sie wenigstens Kenner? Ich frage das nur in Ihrem eigenen Interesse, denn Sie werden es noch so weit bringen, sich von den Händlern deren Schinken andrehen zu lassen«, sagte meine Großtante zu ihm; letzten Endes traute sie ihm nicht die geringste Urteilskraft zu und hatte, sogar hinsichtlich seines Intellekts, keine allzu hohe Meinung von einem Mann, der sich bei der Konversation um ernsthafte Themen drückte und eine reichlich pedantische Genauigkeit an den Tag legte, nichtnur, wenn er uns Kochrezepte gab und dabei auf den geringsten Details herumritt, sondern sogar, wenn sich die Schwestern meiner Großmutter über künstlerische Themen unterhielten. Wurde er beispielsweise von ihnen aufgefordert, seine Meinung zu sagen, seine Bewunderung für ein Bildauszudrücken, so bewahrte er ein geradezu peinliches Schweigen, kam dagegen aber in Schwung, wenn er über das Museum, in dem sich das Bild befand, oder über den Zeitpunkt, zu dem es gemalt wurde, Auskünfte faktischer Natur erteilen konnte. Doch für gewöhnlich beschränkte er sich darauf, uns damit zu unterhalten, dass er jedesmal eine neue Geschichte erzählte, die ihm mit bestimmten Leuten aus unserem gemeinsamen Bekanntenkreis[29]gerade widerfahren war, mit dem Apotheker von Combray, mit unserer Köchin, mit unserem Kutscher. Diese Erzählungen brachten meine Großtante unfehlbar zum Lachen, ohne dass sie jedoch so recht zu sagen gewusst hätte, ob wegen der törichten Rolle, die Swann darin stets übernahm, oder wegen des geistreichen Witzes, mit dem er sie wiedergab: »Ich muss schon sagen, Sie sind ein echtes Original, Herr Swann!« Da sie die einzige etwas gewöhnliche Person in unserer Familie war, betonte sie, wenn von Swanndie Rede war, Fremden gegenüber gern, dass dieser, wenn er nur wollte, am Boulevard Haussmann* oder in der Avenue de l’Opéra wohnen könnte, dass er der Sohn von Monsieur Swann sei, der ihm vier oder fünf Millionen hinterlassen haben dürfte; aber dass das eben seine Marotte sei. Eine Marotte übrigens, die sie für so unterhaltsam für andere hielt, dass sie es in Paris, als Monsieur Swann ihr zu Neujahr eine Tüte glasierte Maronen brachte, nicht versäumte, obwohl alle Welt dabeistand, zu ihm zu sagen: »Ach ja! Herr Swann, Sie wohnen noch immer beim Weindepot*, damit Sie auch ganz gewiss den Zug nicht versäumen, wenn Sie nach Lyon wollen?«, wobei sie über ihr Lorgnon hinweg aus dem Augenwinkel die anderen Besucher musterte.

Doch hätte man meiner Großtante gesagt, dass dieser Swann, der als Swann junior bestens »qualifiziert« war, von der gesamten »guten Bürgerschaft«, von den angesehensten Notaren oder Advokaten von ganz Paris empfangen zu werden (ein Vorrecht, das er zunehmend zu vernachlässigen schien), gleichsam insgeheim noch ein gänzlich anderes Leben führte; dass er, nachdem er sich von uns in Paris mit den Worten verabschiedet hatte, er gehe nach Hause, um sich schlafen zu legen, gleich an der nächsten Straßenecke umkehrte und sich in einen Salon begab, auf dem noch keines Maklers oder Maklersozius Auge hatte ruhen dürfen, dann wäre das meiner Tante ebenso unglaublich erschienen wie für eine belesenere Dame[30]der Gedanke, persönlich bekannt mit Aristäus zu sein, von dem sie ja wüsste, dass er nach einer Plauderei mit ihr in den Schoß des Reichs der Thetis eintauchen würde, in ein Reich, das den Augen der Sterblichen verborgen ist und wo Vergil* ihn uns als mit offenen Armen empfangen schildert; oder – um sich an ein Bild zu halten, das ihr wohl eher vor das geistige Auge treten dürfte, da sie es auf unseren Nachtischtellern gemalt gesehen hatte – der Gedanke, Ali Baba* zum Abendessen bei sich zu haben, der, wenn er wieder allein wäre, in die von unvorstellbaren Reichtümern glitzernde Höhle eindringen würde.

Einmal, als er in Paris nach dem Abendessen zu uns kam und sich entschuldigt hatte, dass er in voller Gala komme, und nachdem Françoise, nach seinem Abschied, behauptet hatte, vom Kutscher gehört zu haben, dass er »bei einer Prinzessin« gespeist habe, hatte meine Tante die Schultern hochgezogen und mit gelassener Ironie erwidert, ohne auch nur die Augen von ihrer Strickarbeit zu heben: »Freilich, bei einer Halbwelt-Prinzessin!«

Außerdem hatte sich meine Großtante einen ziemlich ungehörigen Umgang mit ihm angewöhnt. Da sie meinte, er müsse sich durch unsere Einladungen geschmeichelt fühlen, fand sie es ganz selbstverständlich, dass er im Sommer nicht zu uns kam, ohne einen Korb mit Pfirsichen oder Himbeeren aus seinem Garten am Arm zu tragen, und dass er mir von seinen Reisen durch Italien Fotografien von verschiedenen Meisterwerken mitbrachte.

Man scheute nicht einmal davor zurück, ihn mit Erkundigungen zu beauftragen, wenn man ein Rezept für eine Sauce gribiche* oder einen Ananassalat für die großen Diners brauchte, zu denen man ihn jedoch nicht einlud, da man ihn nicht für hinreichend bedeutsam befand, als dass man ihn Fremden hätte vorsetzen mögen, die zum ersten Mal zu Gast waren. Kam etwa das Gespräch auf die Prinzen des französischen Königshauses, so sagte meine[31]Großtante zu Swann, der womöglich einen Brief aus Twickenham* in der Tasche hatte: »Das sind Leute, die weder Sie noch ich jemals kennenlernen werden und auf die wir auch verzichten können, nicht wahr?« Sie ließ ihn an Abenden, an denen die Schwester meiner Großmutter sang, das Klavier rücken und die Noten umblättern – wobei sie sich gegenüber diesem anderwärts so gesuchten Mann mit der unbefangenen Roheit eines Kindes verhielt, das mit einem geschätzten Sammlerstück mit ebenso wenig Vorsicht spielt wie mit einem billigen Gegenstand. Zweifellos war der Swann, mit dem zur gleichen Zeit so viele Klubgrößen bekannt waren, ganz verschieden von jenem, den meine Großtante erschuf, wenn sie abends in dem kleinen Garten in Combray, nachdem die beiden zögerlichen Schläge des Glöckchens erklungen waren, die dunkle und undeutliche Gestalt, die sich, gefolgt von meiner Großmutter, aus einem schattigen Hintergrund löste und die man an der Stimme erkannte, mit allem, was sie über die Familie Swann wusste, anfüllte und zum Leben erweckte. Denn sogar hinsichtlich der bedeutungslosesten Dinge des Lebens sind wir kein einfach gefügtes Ganzes, das für die Welt stets sich selbst gleich bleibt und von dem jeder bloß Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Frachtbrief oder einem Testament; unsere gesellschaftliche Persönlichkeit ist eine Schöpfung des Denkens der anderen. Selbst der so einfache Vorgang, den wir »einen Bekannten treffen«nennen, ist zum Teil eine intellektuelle Handlung. Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen, mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und innerhalb des Gesamtbildes, das wir uns machen, nehmen diese Vorstellungen gewiss den größten Teil ein. Es gelingt ihnen schließlich, so vollkommen die Wangen zu füllen, dem Umriss der Nase mit solcher Treue zu folgen, sie mischen sich so trefflich in die Abstufungen des Klangs seiner Stimme, als ob dieser nur eine durchscheinende Hülle wäre, dass[32]jedesmal, wenn wir dieses Gesicht sehen oder jene Stimme hören, es diese Vorstellungen sind, was wir wiederfinden, worauf wir horchen. Offenkundig hatten es meine Eltern bei dem Swann, den sie sich zusammengesetzt hatten, aus Unkenntnis unterlassen, eine Menge von Details aus seinem mondänen Leben unterzubringen, die für andere Leute, die mit ihm zusammen waren, einen hinreichenden Grund darstellten, Vornehmheit in seinen Zügen herrschen und an seiner Adlernase als ihrer natürlichen Grenze enden zu sehen; doch war es ihnen auchgelungen, in diesem von seinem Prestige unberührten, offenen und großflächigen Gesicht, am Grunde dieser unterschätzten Augen, den unbestimmten, süßen Rückstand – halb Erinnerung, halb Vergessen – unserer müßigen Stunden zu versammeln, die wir nach unseren wöchentlichen Diners gemeinsam um den Spieltisch oder im Garten während unserer Zeit ländlicher Gutnachbarschaft verbracht hatten. Die leibliche Hülle unseres Freundes war so prall damit wie auch mit einigen Erinnerungen an seine Eltern gestopft, dass dieser Swann zu einem vollständigen, lebendigen Wesen geworden war, und zwar in einem solchen Grade, dass ich den Eindruck habe, die eine Person zu verlassen und zu einer anderen, ganz verschiedenen, zu wechseln, wenn ich in meinem Gedächtnis von dem Swann, den ich später sehr genau kannte, zu jenem ersten Swann übergehe – zu jenem ersten Swann, durch den ich die reizenden Irrtümer meiner Jugendzeit wiederfinde und der im übrigen dem anderen weniger ähnelt als anderen Leuten, die ich zu der gleichen Zeit kannte, als ob es sichmit unserem Leben so verhielte wie mit einem Museum, indem die Porträts einer bestimmten Zeit alle eine gewisse Familienähnlichkeit,eine übereinstimmende Tönung aufweisen – zu jenem von Muße erfüllten erstenSwann, umweht vom Duft der großen Kastanie, der Himbeerkörbe und eines Zweiges Estragon.

[33]Eines Tages jedoch, als meine Großmutter ausgegangen war, um eine Gefälligkeit von einer Dame zu erbitten, die sie im Sacré-Cœur* kennengelernt hatte (und mit der sie wegen unseres Kastendenkens nicht in Verbindung zu bleiben wünschte trotz gegenseitiger Sympathie), der Marquise von Villeparisis aus dem berühmten Hause Bouillon*, hatte diese zu ihr gesagt: »Ich glaube, Sie kennen Herrn Swann sehr gut, der ein guter Freund meiner Neffen des Laumes* ist.« Meine Großmutter kehrte von ihrem Besuch völlig hingerissen von dem Haus zurück, das auf Gärten hinausging und wo Madame de Villeparisis ihr empfahl sich einzumieten, wie auch von einem Westenschneider und seiner Tochter, die ihre Werkstatt im Hof hatten und in die sie hineingegangen war, um zu fragen, ob man einen Stich an ihrem Rock anbringen könne, den sie auf der Treppe eingerissen hatte. Meine Großmutter hatte diese Leute vollendet gefunden, sie verkündete, dass die Kleine eine Perle sei und dass der Westenschneider der vornehmste, der beste Mensch sei, den sie jemals getroffen habe. Denn für sie war Vornehmheit etwas, das von gesellschaftlicher Stellung ganz und gar unabhängig ist. Sie war begeistert von einer Antwort, die der Westenschneider ihr gegeben hatte, und sagte darüber zu Maman: »Die Sévigné* selbst hätte es nicht besser sagen können!«; zum Ausgleich sagte sie über einen Neffen der Madame de Villeparisis, dem sie bei ihr begegnet war: »Oh, mein Kind, wie ist der gewöhnlich!«

Die Bemerkung über Swann hatte jedoch nicht die Wirkung, diesen im Geist meiner Großtante hinauf-, sondern vielmehr Madame de Villeparisis herabzustufen. Die Hochachtung, die wir aufgrund des Zeugnisses meiner Großmutter für Madame de Villeparisis* hegten, schien für diese die Verpflichtung nach sich zu ziehen, nichts zu tun, wodurch sie weniger würdig erscheinen könnte, und die sie verabsäumt hatte, indem sie die Existenz von Swann anerkannte und Verwandten von sich gestattete, mit ihm zu verkehren.[34]»Was, sie kennt Swann? Und das als eine Person, von der du behauptest, sie sei eine Verwandte des Marschalls Mac-Mahon*!« Diese Ansicht meiner Verwandten über Swanns Umgang schien für sie schon bald durch seine Heirat mit einer Frau aus dem übelsten Milieu bestätigt zu werden, praktisch einer Dirne, die er zwar niemals bei uns einzuführen suchte, vielmehr kam er weiterhin allein zu uns, wenn auch immer seltener, derentwegen sie jedoch glaubten, sich von dem ihnen unbekannten Milieu, in dem er gewöhnlich verkehrte – in der Annahme, er habe sie dort aufgegabelt –, ein Bild machen zu können.

Dann aber las mein Großvater in der Zeitung, dass Monsieur Swann einer der ständigen Gäste bei den Sonntagmittag-Empfängen des Herzogs von X… sei, dessen Vater und Onkel die herausragendsten Staatsmänner während der Regentschaft Louis-Philippes* gewesen waren. Mein Großvater war nun zwar neugierig auf alle die kleinen Einzelheiten, die ihm dabei behilflich sein könnten, gedanklich in das Privatleben solcher Männer wie Molé*, wie der Herzog Pasquier*, wie der Herzog von Broglie* einzudringen. Er war hocherfreut zu erfahren, dass Swann mit Leuten verkehrte, die diese gekannt hatten. Meine Großtante dagegen deutete diese Nachricht vielmehr in einem für Swann ungünstigen Sinn: jemand, der es vorzog, seinen Umgang außerhalb der Kaste zu suchen, in die er geboren war, außerhalb seiner eigenen gesellschaftlichen »Klasse«, unterwarf sich in ihren Augen einer fatalen Deklassierung. Es kam ihr vor, als verzichte man mit einem Schlag auf die Frucht all der schönen Beziehungen mit gutgestellten Leuten, die vorausschauende Familien löblicherweise für ihre Kinder gepflegt und eingeerntet hatten (meine Großtante selbst hatte den Umgang mit dem Sohn eines mit uns befreundeten Notars abgebrochen, weil er eine Prinzessin* geheiratet hatte und ihretwegen also aus dem respektablen Rang eines Notarssohnes in den eines jener Abenteurer,[35]ehemaligen Kammerdiener oder Stallburschen hinabgestiegen war, von denen man sich erzählt, dass selbst Königinnen zuweilen eine Neigung zu ihnen bewiesen hätten). Sie tadelte die Absicht meines Großvaters, Swann, wenn er am nächsten Abend zum Essen käme, über diese seine Freundschaften zu befragen, denen wir auf die Spur gekommen waren. Die beiden Schwestern meiner Großmutter, zwei alte Jungfern, die wohl ihren noblen Charakter, nicht aber ihren Geist hatten, erklärten dagegen, sie könnten nicht verstehen, welches Vergnügen ihr Schwager denn daran finden könne, über derlei Nichtigkeiten zu reden. Sie waren Damen mit höheren Ansprüchen und also außerstande, sich für das zu interessieren, was man gemeinhin Klatsch nennt, selbst wenn er von historischem Interesse sein sollte, und schoren alles über einen Kamm, was sich nicht unmittelbar auf einen ästhetischen oder tugendhaften Gegenstand bezog. Die Gleichgültigkeit ihres Denkens gegenüber allem, was auch nur andeutungsweise zum gesellschaftlichen Leben zu gehören schien, war so ausgeprägt, dass ihr Gehörsinn – der seine vorübergehende Nutzlosigkeit schließlich einsah, nachdem das Tischgespräch einen frivolen oder auch nuralltäglichen Ton angenommen hatte, ohne dass diese beiden alten Damenes auf Themen hätten zurücklenken können, die ihnen wichtig waren –seinen Aufnahmeorganen eine Ruhepause gönnte und sie dem unverkennbaren Anfangsstadium von Verkümmerung aussetzte. Wenn mein Großvater dann die Aufmerksamkeit der beiden Schwestern zu erregen suchte, musste er zu jenen praktischen Mitteln Zuflucht nehmen, die Irrenärzte bei bestimmten mentalen Zuständen krankhafter Abwesenheit anwenden: wiederholtes Anschlagen eines Glases mit einer Messerklinge unter gleichzeitigem energischen Aufruf durch Stimme und Blick – Gewaltmaßnahmen, die diese Psychiater oft auch in den alltäglichen Umgang mit gesunden Leuten übernehmen, ob nun aus beruflicher[36]Gewohnheit, oder aber, weil sie die ganze Welt für ein bisschen verrückt ansehen.

Weit mehr interessierte es sie, als meine Tante am Vorabend des Tages, an dem Swann zum Essen kommen sollte, und an dem er ihnen persönlich eine Kiste Asti* geschickt hatte, eine Nummer desFigarohochhielt, in der neben dem Namen eines Bildes aus einer Corot-Ausstellung* die Worte standen: »Aus der Sammlung Charles Swann«, und zu uns sagte: »Habt ihr gesehen, dass Swann ›die Ehre hat‹, imFigarozu stehen?« – »Aber ich habe euch ja schon immer gesagt, dass er viel Geschmack hat«, sagte meine Großmutter. – »Du natürlich, sobald es darum geht, anderer Ansicht zu sein alswir«, erwiderte meine Großtante, die wusste, dass meine Großmutter niemals der gleichen Ansicht war wie sie, sich jedoch nie ganz sicher war, ob wir ihr selbst schließlich recht geben würden, und uns deshalb eine allumfassende Verdammung der Meinungen meiner Großmutter abzwingen, uns mit Gewalt auf die ihrigen verpflichten wollte. Aber wir verharrten in Schweigen. Als die Schwestern meiner Großmutter die Absicht bekundeten, Swann auf diese Notiz imFigaroanzusprechen, riet meine Großtante davon ab. Wann immer sie bei anderen einen noch so kleinen Vorteil sah, den sie ihr voraushatten, redete sie sich ein, dass es gar kein Vorteil, sondern ein Übel sei, und bedauerte sie, um sie nicht beneiden zu müssen. »Ich glaube, dass ihr ihm damit keine Freude machen würdet; ich jedenfalls bin sicher, dass es mir sehr peinlich wäre, meinen Namen so auffällig in der Zeitung gedruckt zu sehen, und ich wäre ganz und gar nicht geschmeichelt, wenn man mich darauf anspräche.« Im übrigen versteifte sie sich nicht darauf, die Schwestern meiner Großmutter umzustimmen; denn diese trieben aus Abscheu vor aller Gewöhnlichkeit die Kunst, eine persönliche Anspielung unter ausgeklügelten Umschreibungen zu verbergen, so sehr ins Extrem, dass sie häufig sogar demjenigen[37]entging, dem sie galt. Was meine Mutter betrifft, so war sie völlig von dem Versuch in Anspruch genommen, meinen Vater zu überreden, mit Swann zwar nicht etwa über dessen Frau,wohl aber über seine Tochter zu sprechen, die er anbeteteund der zuliebe er, wie behauptet wurde, schließlich diese Ehe eingegangen war. »Du brauchtest zu ihm ja lediglich ein Wort zu sagen, ihn zu fragen, wie es ihr geht. Das Ganze muss doch so schrecklich für ihn sein.« Aber mein Vater fuhr auf: »Keinesfalls! Was hast du für abwegige Vorstellungen. Das wäre absurd.«

Der einzige unter uns, für den Swanns Besuch zum Gegenstand schmerzlicher Erwartungen wurde, war jedoch ich. Denn an Abenden, an denen Gäste da waren oder auch nur Monsieur Swann, kam Maman nicht in mein Zimmer hinauf*. Ich aß früher als alle anderen zu Abend und setzte mich dann mit an den Tisch, bis es um acht Uhr Zeit für mich wurde hinaufzugehen; jenen kostbaren und zerbrechlichen Kuss, den Maman mir nach unserer Gewohnheit in meinem Bett in dem Moment, in dem ich einschlief, anvertraute, musste ich nun vom Esszimmer bis in mein Zimmer befördern und die ganze Zeit, während ich mich auszog, auf ihn aufpassen, ohne dass seine Süßigkeit zerbrach, ohne dass seine beschwingte Keuschheit sich vergoss oder verflüchtigte, und ausgerechnet an diesen Abenden, an denen es mir so wichtig gewesen wäre, ihn mit besonderer Behutsamkeit zu empfangen, war es erforderlich, dass ich ihn mir nahm, ihn mir jäh raubte, öffentlich, ohne die Zeit und die notwendige Freiheit des Geistes zu haben, um dem, was ich tat, meine Aufmerksamkeit nach Art jener manisch Kranken zuzuwenden, die sich zwingen, an nichts anderes zu denken, während sie eine Tür schließen, damit, wenn die krankhafte Ungewissheit wieder über sie kommt, sie ihr siegesgewiss die Erinnerung an den Augenblick, da sie sie geschlossen haben, entgegenhalten können. Wir waren alle im Garten, als die zögerlichen zwei Schläge des[38]Glöckchens erklangen. Man wusste, dass das Swann war; dennoch sahen sich alle mit fragender Miene an, und meine Großmutter wurde auf Erkundung ausgeschickt. »Denkt dran, ihm auf verständliche Weise für seinen Wein zu danken, ihr wisst, er ist beste Qualität und die Kiste war riesig«, empfahl mein Großvater seinen beiden Schwägerinnen. »Fangt nicht an zu tuscheln«, sagte meine Großtante; »als ob es angenehm wäre, in ein Haus zu kommen, in dem alles flüstert!« – »Ah!, da ist ja Herr Swann! Wir wollen ihn fragen, ob er glaubt, dass morgen schönes Wetter wird«, sagte mein Vater. Meine Mutter hoffte, ein Wort von ihr könnte all den Kummer, den man Swann in unserer Familie seit seiner Heirat wohl bereitet hatte, wieder auslöschen. Es gelang ihr, ihn ein wenig auf die Seite zu ziehen. Aber ich folgte ihr; ich konnte mich nicht entschließen, auch nur einen Schritt von ihr zu weichen, wenn ich daran dachte, dass es nun bald notwendig werden würde, sie im Esszimmer zurückzulassen und in mein Zimmer hinaufzugehen, ohne, wie an den sonstigen Abenden, den Trost zu haben, dass sie kommen und mir gute Nacht sagen würde. »Nun, Herr Swann«, sagte sie zu ihm, »erzählen Sie mir ein wenig von Ihrer Tochter; ich bin sicher, dass sie schon einen Sinn für schöne Kunstwerke hat, wie ihr Vater.« – »Aber so kommt doch und setzt euch zu uns auf die Veranda«, sagte mein Großvater und kam heran. Meine Mutter war gezwungen, abzubrechen, zog aber aus dieser Beschränkung einen zusätzlichen zarten Gedanken, wie die guten Dichter, die die Tyrannei des Reimes nötigt, ihre größten Schönheiten zu ersinnen: »Wir werden ein andermal über sie sprechen, wenn wir beide allein sind«, sagte sie halblaut zu Swann. »Nur eine Mutter kann Sie verstehen. Ich bin sicher, dass die Mutter Ihrer Tochter meiner Meinung wäre.« Wir versammelten uns alle um den Eisentisch. Ich hätte es gern fertiggebracht, nicht an die Stunden der Herzensangst zu denken, die ich diesen Abend allein in meinem Zimmer[39]verbringen würde, ohne einschlafen zu können; ich versuchte, mir einzureden, dass sie unwichtig seien, da ich sie am nächsten Morgen vergessen haben würde, mich an Vorstellungen von Zukünftigem zu halten, die mich wie über eine Brücke auf die andere Seite des nahen Höllenschlundes führen sollten, vor dem mir graute. Doch mein Geist, angespannt durch meine Erwartungen, krummgebogen wie der Blick, den ich meiner Mutter zuwarf, ließ auch nicht einen einzigen fremden Eindruck in sich dringen. Die Gedanken wurden zwar von ihm eingelassen, aber nur unter der Bedingung, dass sie jeglichen Anteil von Schönheit oder auch nur Scherzhaftigkeit, der mich berührt oder abgelenkt hätte, hinter sich ließen. So wie ein Kranker dank örtlicher Betäubung in völliger Klarheit eine Operation mitverfolgen kann, die an ihm vorgenommen wird, ohne das geringste zu spüren, konnte ich mir Verse aufsagen, die ich liebte, oder die Anstrengungen beobachten, die mein Großvater unternahm, um Swann in ein Gespräch über den Herzog von Audiffret-Pasquier* zu ziehen, ohne dass die ersteren mich irgendwelche Gefühlsregungen, die letzteren irgendetwas wie Heiterkeit hätten empfinden lassen. Besagte Anstrengungen waren übrigens fruchtlos. Kaum hatte mein Großvater an Swann eine Frage bezüglich dieses großen Redners gerichtet, als auch schon eine der Schwestern meiner Großmutter, in deren Ohren diese Frage widerhallte wie eine tiefe, aber peinliche Stille, die zu brechen nur höflich wäre, der anderen zurief: »Stell dir nur vor, Céline,ich habe eine junge schwedische Lehrerin kennengelernt, die mich inhochinteressante Einzelheiten des Genossenschaftswesens in den skandinavischen Ländern eingeweiht hat. Sie muss unbedingt einmal zum Abendessen zu uns kommen.« – »Das will ich gern glauben!« antwortete ihre Schwester Flora*, »aber ich habe meine Zeit auch nicht vergeudet. Ich habe bei Monsieur Vinteuil einen alten Gelehrten getroffen, der Maubant gut kennt und dem Maubant* in[40]größter Ausführlichkeit erklärt hat, wie er die Gestaltung einer Rolle anpackt. Das ist außerordentlich interessant. Er ist ein Nachbar von Monsieur Vinteuil, ich wusste das gar nicht; und er ist sehr liebenswürdig.« – »Nicht nur Monsieur Vinteuil hat sehr nette Nachbarn!« rief meine Tante Céline mit einer Stimme, die die Schüchternheit zu laut und der Vorbedacht gekünstelt klingen ließen, wobei sie auf Swann das warf, was sie einen inhaltsschweren Blick nannte. Derweilen sah meine Tante Flora, die erkannt hatte, dass diese Wendung der Dank Célines für die Kiste Asti war, ebenfalls Swann mit einer Miene an, in der sich Anerkennung und Ironie vermischten, sei es nun einfach, um den Geistesblitz ihrer Schwester zu unterstreichen, oder sei es, weil sie Swann darum beneidete, ihn ausgelöst zu haben, oder sei es gar, weil sie ihn auf dem Präsentierteller wähnte und sich nicht enthalten konnte, sich über ihn lustig zu machen. »Ich glaube, es könnte einem gelingen, diesen Herrn zum Abendessen einzuladen«, fuhr Flora fort, »wenn man ihn auf Maubant bringt oder auf Madame Materna*, redet er stundenlang, ohne aufzuhören.« – »Das wäre einfach zu schön«, seufzte mein Großvater, in dessen Geist die Natur unglücklicherweise versäumt hatte, die Voraussetzungen für ein leidenschaftliches Interesse am schwedischen Genossenschaftswesen oder am Rollenstudium Maubants anzulegen, wie sie auch vergessen hatte, den Geist der Schwestern meiner Großmutter mit jenem Körnchen Salz auszustatten, das man selbst beisteuern muss, um Geschmack an einer Erzählung über das Intimleben Molés oder des Grafen von Paris finden zu können. »Warten Sie«, sagte Swann zu meinem Großvater, »was ich Ihnen erzählen will, hat mit dem, wonach Sie mich gefragt haben, mehr zu tun, als es zuerst den Anschein haben mag, denn in bestimmter Hinsicht haben sich die Dinge nicht wesentlich geändert. Mir fiel heute morgen bei Saint-Simon* eine Sache auf, die Ihnen Vergnügen bereiten dürfte. Sie[41]steht in dem Band über seine Zeit als Botschafter in Spanien; es ist nicht einer der besten, kaum mehr als ein Tagebuch, aber ein wundervoll geschriebenes Tagebuch, was schon einen grundlegenden Unterschied zu den sterbenslangweiligen Zeitungenbedeutet, die wir morgens und abends meinen lesen zu müssen.« – »Da bin ich nicht Ihrer Meinung, es gibt Tage, an denen mir die Zeitungslektüre außerordentlich erfreulich erscheint …«, unterbrach meine Tante Flora, um zu zeigen, dass sie den Satz über Swanns Corot imFigarogelesen hatte. »Wenn von Sachen oder von Leuten die Rede ist, die uns interessieren!« überbot sie meine Tante Céline. »Dagegen ist nichts zu sagen«, erwiderte Swann verblüfft. »Was ich den Zeitungen* vorwerfe, ist, dass sie uns Tag für Tag dazu anhalten, den unerheblichsten Dingen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, wogegen wir höchstens drei- oder viermal in unserem Leben die Bücher lesen, in denen wesentliche Dinge stehen. In dem Augenblick, in dem wir morgens fieberhaft die Banderole von der Zeitung reißen, sollte man alles vertauschen und in die Zeitung …, ja, ich weiß nicht, die …Penséesvon Pascal* setzen!« (Er hob diesen Titel mit einer ironischen Betonung hervor, um nicht schulmeisterlich zu wirken.) »Und in dem Band mit Goldschnitt, den wir höchstens einmal alle zehn Jahre aufschlagen«, fügte er hinzu, wobei er jene Herablassung gegenüber den weltlichen Dingen bezeugte, in der sich manche Männer von Welt gefallen, »würden wir dann lesen, dass die Königin von Griechenland* nach Cannes gereist ist, oder dass die Prinzessin von Léon* ein Kostümfest gegeben hat. Damit wäre das richtige Verhältnis wiederhergestellt.« Aber dann bedauerte er, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, von ernsthaften Dingen zu reden, wenn auch nur ein bisschen, und fügte ironisch hinzu: »Da führen wir ja wirklich eine schöne Unterhaltung; ich weiß gar nicht, warum wir uns auf solche ›Gipfel‹ begeben«, und sich zu meinem Großvater wendend: »Also, Saint-Simon erzählt,[42]dass Maulévrier die Dreistigkeit besessen habe, seinen, Saint-Simons, Söhnen die Hand zu reichen*. Sie wissen schon, das ist der Maulévrier*, von dem er sagt: ›Niemals habe ich in dieser dicken Flasche etwas anderes gesehen als Übellaunigkeit, Grobheit und Narreteien.‹« – »Dick oder nicht dick, ich kenne Flaschen mit ganz anderem Inhalt«, sagte Flora lebhaft, die Wert darauf legte, sich ebenfalls bei Swann bedankt zu haben, denn das Weingeschenk war an beide adressiert gewesen. Céline begann zu lachen. Swann fuhr verwirrt fort: »›Ich weiß nicht, ob es Dummheit war oder eine Falle‹, schreibt Saint-Simon, ›aber er wollte meinen Kindern die Hand geben. Ich bemerkte es noch zeitig genug, um ihn daran zu hindern.‹« Mein Großvater begeisterte sich schon über das »Dummheit oder Falle«, aber Mademoiselle Céline, bei der der Name Saint-Simon – ein Schriftsteller! – eine umfassende Betäubung der auditiven Fähigkeiten verhindert hatte, empörte sich bereits: »Wie? Das finden Sie auch noch gut? Also wirklich! Das ist ja reizend! Aber was soll das denn überhaupt bedeuten; ist nicht ein Mensch so gut wie der andere? Was soll das denn ausmachen, ob er Herzog ist oder Kutscher, wenn er Verstand hat und Herz? Der hatte ja eine schöne Art, seine Kinder aufzuziehen, Ihr Saint-Simon, wenn er ihnen nicht beigebracht hat, allen anständigen Menschen die Hand zu geben. Das ist ganz einfach abstoßend. Und Sie scheuen sich nicht, dergleichen wiederzugeben?« Und mein gequälter Großvater, der merkte, dass es angesichts dieses hinhaltenden Widerstandes unmöglich sein würde, Swann zur Erzählung jener Geschichten zu bewegen, die ihn unterhalten hätten, sagte leise zu Maman: »Erinner mich doch an den Vers, den du mir beigebracht hast und der mich in solchen Augenblicken tröstet. Ach ja!, ›So manche Tugend, Herr, lehrest du uns hassen!‹* Ah!, das tut wirklich gut!«

Ich ließ meine Mutter nicht aus den Augen, denn ich wusste, dass man mir, säße man erst einmal bei Tisch, nicht erlauben[43]würde, während des ganzen Abendessens dabeizubleiben, und dass Maman, um meinen Vater nicht zu verstimmen, sich nicht wiederholt und vor aller Augen umarmen lassen würde, wie wenn wir in meinem Zimmer gewesen wären. Außerdem nahm ich mir vor, schon im Esszimmer, während man mit der Mahlzeit beginnen und ich meine Stunde nahen fühlen würde, im voraus aus diesem Kuss, der kurz und flüchtig sein würde, alles zu machen, was ich allein daraus machen könnte, mit meinem Blick die Stelle auf ihrer Wange auszuwählen, die ich liebkosen würde, meine Gedanken vorzubereiten, auf dass ich, dank dieses vorgestellten Beginns des Kusses, die ganze Minute, die Maman mir zugestehen würde, dem Gefühl ihrer Lippen an meiner Wange widmen könnte, so wie ein Maler, der nur kurze Modellsitzungen bekommen kann, seine Palette vorbereitet und sich im vorhinein aus seinen Skizzen alles Nötige in Erinnerung ruft, um gegebenenfalls auch auf die Anwesenheit des Modells verzichten zu können. Aber nein!, noch bevor zum Essen gerufen wurde, besaß mein Großvater die unbewusste Grausamkeit zu sagen: »Der Kleine sieht müde aus, er sollte hinaufgehen und schlafen. Wir essen heute sowieso spät.« Und mein Vater, der nicht so gewissenhaft wie meine Mutter und meine Großmutter auf Vertragstreue achtete, sagte: »Ja, los, geh zu Bett.« Als ich gerade dabei war, Maman zu umarmen, hörte man die Tischglocke. »Also wirklich, nun lass deine Mutter los, ihr habt euch auch so schon genug gute Nacht gesagt, diese Darbietungen sind albern. Los, nach oben!« Und es blieb mir nichts anderes übrig, als ohne Wegzehrung* davonzugehen, jede einzelne Stufe der Treppe mit, wie der Volksmund sagt, »widrigem Herzen« hinaufzusteigen, wider mein Herz hinaufzusteigen, das zu meiner Mutter zurückkehren wollte, da sie ihm nicht, indem sie mich umarmte, die Erlaubnis erteilt hatte, mir zu folgen. Diese verwünschte Treppe, die ich immer so niedergeschlagen in Angriff nahm, strömte einen[44]Geruch von Firnis aus, der auf irgendeine Weise diese besondere Art des Kummers, den ich jeden Abend wieder verspürte, in sich aufgesogen hatte, ihn in sich bewahrte, und ihn für mein Empfinden womöglich noch heftiger machte, weil mein Verstand auf ihn in dieser geruchlichen Ausprägung keinen Zugriff hatte. Wenn wir schlafen und ein geringfügiger Zahnschmerz vorerst von uns nur in Gestalt eines jungen Mädchens wahrgenommen wird, das wir zweihundertmal hintereinander aus dem Wasser zu ziehen versuchen, oder nur als ein Vers von Molière*, den wir uns ohne Unterlass immer wieder aufsagen, dann ist es eine große Erleichterung aufzuwachen, damit unser Verstand den Gedanken des Zahnschmerzes von seiner heldenhaften oder rhythmischen Verkleidung befreien kann. Das Gegenteil dieser Erleichterung aber erfuhr ich, wenn der Kummer, in mein Zimmer hinaufzusteigen, auf eine ungeheuer schnelle, fast augenblickliche, dabei hinterhältige und ungestüme Weise durch das Einatmen – viel giftiger als die seelische Durchdringung – dieses der Treppe eigentümlichen Geruchs nach Firnis von mir Besitz ergriff. War ich schließlich in meinem Zimmer, musste ich alle Durchgänge zusperren, die Läden schließen, die Laken auseinanderschlagen und so mein eigenes Grab bereiten, das Leichentuch meines Nachthemdes anlegen. Doch bevor ich mich in meinem Eisenbett begrub, das man zusätzlich in mein Zimmer gestellt hatte, weil mir im Sommer unter den Ripsvorhängen des Himmelbettes zu warm geworden war, ergriff mich der Drang, mich aufzulehnen, ich wollte es mit der List eines Verurteilten versuchen. Ich schrieb meiner Mutter und bat sie inständig, in einer wichtigen Sache heraufzukommen, die ich ihr in meinem Brief nicht sagen könne. Ich hatte nur Angst, dass Françoise, die die Köchin meiner Tante war und den Auftrag hatte, sich um mich zu kümmern, während ich in Combray war, die Zustellung meiner Nachricht ablehnen würde. Ich fürchtete, dass es ihr ebenso[45]undenkbar erscheinen müsse, meiner Mutter vor allen Gästen eine Botschaft zu überbringen, wie dem Portier eines Theaters, einem Schauspieler auf offener Bühne einen Brief zu übergeben. Sie besaß hinsichtlich der Dinge, die man tut und die man nicht tut, einen gebieterischen, überreichen, fein- und starrsinnigen Kodex voller unbegreiflicher und müßiger Fallunterscheidungen (darin den altertümlichen Gesetzen ähnlich, die gleich neben blutrünstigen Vorschriften wie der, die Kinder an der Mutterbrust zu ermorden*, mit übertriebenem Zartgefühl verbieten, das Zicklein in der Milch seiner Mutter zu kochen*oder von einem Tier die Schenkelsehne zu essen*). Wollte man nach der plötzlichen Dickköpfigkeit urteilen, mit der sie sich weigerte, bestimmte unserer Aufträge auszuführen, so schien dieser Kodex eine mondäne Kultiviertheit und eine gesellschaftliche Komplexität vorauszusehen, die nichts in Françoises Umfeld oder in ihrem dörflichen Hausangestelltendasein ihr hatte nahelegen können; und es blieb einem dann nichts anderes übrig, als sich zu sagen, dass sie eine sehr alte französische Vergangenheit in sich trug, edel und kaum begriffen, so wie in den Fabrikstädten alte Stadtvillen bezeugen, dass es hiereinstmals ein höfisches Leben gab, und wo die Arbeitereiner chemischen Fabrik zwischen zartsinnigen Skulpturen arbeiten, die das Wunder des heiligen Theophilus* oder die vier Haimonskinder*