Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Marcel Proust - E-Book

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit E-Book

Marcel Proust

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Beschreibung

Der Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (frz. Originaltitel: À la recherche du temps perdu, geschrieben 1908/09 bis 1922 und erschienen zwischen 1913 und 1927) ist das Hauptwerk von Marcel Proust. Enthält den 1919 mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis ausgezeichneten zweiten Band ›Im Schatten junger Mädchenblüte‹ (›À l'ombre des jeunes filles en fleurs‹) sowie den kompletten dritten Band in der Übersetzung von Walter Benjamin und Franz Hessel. Das Buch wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen. "Um verzweifelt zu sein, muß man am Leben, auch wenn es nur noch unglücklich sein kann, gleichwohl und trotz allem hängen." [Marcel Proust] Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 2120

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Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Teilausgabe

Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Teilausgabe

(A la recherche du temps perdu)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Franz Hessel, Walter Benjamin 2. Auflage, ISBN 978-3-954186-42-6

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Inhaltsverzeichnis

Buch und Au­tor

Im Schat­ten der jun­gen Mäd­chen

Die Her­zo­gin von Gu­er­man­tes

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

Die Er­zie­hung des Her­zens

und wei­te­re …

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Buch und Autor

Der Ro­man Auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit (frz. Ori­gi­nal­ti­tel: À la re­cher­che du temps per­du, ge­schrie­ben 1908/09 bis 1922 und er­schie­nen zwi­schen 1913 und 1927) ist das Haupt­werk von Mar­cel Proust.

Ent­hält den 1919 mit dem wich­tigs­ten fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur­preis aus­ge­zeich­ne­ten zwei­ten Band ›Im Schat­ten jun­ger Mäd­chen­blü­te‹ (›À l’om­bre des jeu­nes fil­les en fleur­s‹) so­wie den kom­plet­ten drit­ten Band in der Über­set­zung von Wal­ter Ben­ja­min und Franz Hes­sel.

Das Buch wur­de in die ZEIT-Biblio­thek der 100 Bü­cher auf­ge­nom­men.

*

»Um ver­zwei­felt zu sein, muß man am Le­ben, auch wenn es nur noch un­glück­lich sein kann, gleich­wohl und trotz al­lem hän­gen.« [Mar­cel Proust]

Im Schatten der jungen Mädchen

1.

Mei­ne Mut­ter sprach, als da­von die Rede war, Herrn von Nor­pois zum ers­ten­mal ein­zu­la­den, ihr Be­dau­ern aus, daß Pro­fes­sor Cot­tard auf Rei­sen und sie selbst au­ßer al­lem Ver­kehr mit Swann sei, denn bei­de wä­ren ohne Zwei­fel für den ehe­ma­li­gen Bot­schaf­ter in­ter­essant ge­we­sen; mein Va­ter ant­wor­te­te, ein Gast von der Be­deu­tung, ein Ge­lehr­ter vom Ran­ge Cot­tards sei bei ei­nem Di­ner im­mer am Plat­ze, aber Swann mit sei­nem hoch­fah­ren­den We­sen, der auf­dring­li­chen Art, sei­ne be­lang­lo­ses­ten gleich­gül­tigs­ten Be­zie­hun­gen aus­zu­po­sau­nen, sei ein ge­wöhn­li­cher Wich­tig­tu­er, den der Mar­quis von Nor­pois, wie er sich aus­drück­te, »übel« fin­den wür­de. Die­se Er­wi­de­rung mei­nes Va­ters er­for­dert ein paar er­klä­ren­de Wor­te, da sich man­cher wohl noch ei­nes recht mit­tel­mä­ßi­gen Cot­tard und ei­nes Swann ent­sin­nen wird, der in ge­sell­schaft­li­chen Din­gen zu­rück­hal­tend dis­kret und äu­ßerst takt­voll war. Al­lein, es war mit die­sem al­ten Freun­de mei­ner El­tern da­hin ge­kom­men, daß er »Swann ju­ni­or« und den Swann vom Jockey­klub um eine neue Per­sön­lich­keit ver­mehrt hat­te (und es soll­te die letz­te nicht sein), um den Gat­ten Odet­tes. Wenn er den schlich­ten Am­bi­tio­nen die­ser Frau In­stinkt, Be­gier und Um­sicht, wie sie im­mer ihm ge­eig­net hat­ten, an­paß­te, so ge­sch­ah, es in der Ab­sicht, weit un­ter sei­ner al­ten Stel­lung eine neue an­zu­le­gen, die der Ge­fähr­tin, die sie mit ihm tei­len soll­te, ent­sprach. Er zeig­te sich als ganz neu­er Mensch. Da er (ohne sei­nen ei­ge­nen Ver­kehr mit per­sön­li­chen Freun­den auf­zu­ge­ben, de­nen er Odet­te nicht auf­drän­gen woll­te, so­weit sie sich nicht aus ei­ge­nem An­trieb um ihre Be­kannt­schaft be­müh­ten) ein zwei­tes Le­ben in Ge­mein­schaft mit sei­ner Frau mit­ten un­ter neu­en We­sen be­gann, hät­te man noch ver­ste­hen kön­nen, daß er, um den Rang die­ser Leu­te und dement­spre­chend sei­ne per­sön­li­che Ge­nug­tu­ung an ih­rem Be­such ab­zu­schät­zen, als Ver­gleichs­punkt zwar nicht die glän­zends­ten Er­schei­nun­gen der Ge­sell­schaft, in de­rer vor sei­ner Ehe ver­kehr­te, aber doch Odet­tes frü­he­re Be­zie­hun­gen ge­nom­men hät­te. Al­lein selbst wenn man wuß­te, daß er jetzt mit un­ele­gan­ten Be­am­ten und zwei­fel­haf­ten Frau­en, den Blü­ten der Mi­nis­ter­bäl­le, an­zu­knüp­fen wünsch­te, muß­te man sich doch wun­dern, ihn, der ehe­dem und auch heu­te noch eine Ein­la­dung nach Twi­cken­ham oder Buck­ing­ham Palace so an­mu­tig zu ver­heim­li­chen ver­stand, laut ver­kün­den zu hö­ren, die Frau ei­nes stell­ver­tre­ten­den Ka­bi­nett­chefs habe Frau Swann ih­ren Be­such ab­ge­stat­tet. Man wird das viel­leicht so ver­ste­hen: die Ein­fach­heit des ele­gan­ten Swann sei nur eine be­son­ders raf­fi­nier­te Form der Ei­tel­keit ge­we­sen, und der alte Freund mei­ner El­tern habe nach Art ge­wis­ser Is­rae­li­ten ab­wech­selnd die ver­schie­de­nen Zu­stän­de dar­zu­stel­len ver­stan­den, wel­che die Leu­te sei­ner Ras­se vom naivs­ten Sno­bis­mus und der fle­gel­haf­tes­ten Form­lo­sig­keit bis zur vollen­de­ten Höf­lich­keit nach­ein­an­der durch­ge­macht ha­ben. Aber der Haupt­grund war ei­ner, der sich auf Men­schen im all­ge­mei­nen an­wen­den läßt: un­se­re Tu­gen­den be­sit­zen nicht an sich selbst die freie Be­weg­lich­keit, die uns be­stän­dig über sie ver­fü­gen lie­ße; sie ge­hen in uns im Lau­fe der Zeit so enge Ver­bin­dung mit den Ge­le­gen­hei­ten ein, bei de­nen sie aus Pf­licht von uns ge­übt wer­den, daß eine ab­wei­chen­de Wirk­sam­keit uns un­vor­be­rei­tet fin­det und wir gar nicht auf den Ge­dan­ken kom­men, sie ge­stat­te die An­wen­dung eben die­ser Tu­gen­den. Bei sei­nem Ei­fer um die neu­en Be­zie­hun­gen, die er mit Stolz er­wähn­te, hat­te Swann et­was von der Be­schei­den­heit und Hoch­her­zig­keit großer Künst­ler, die sich am Ende ih­res Le­bens mit Kü­che und Gar­ten­bau ab­ge­ben und eine nai­ve Zufrie­den­heit über die Kom­pli­men­te se­hen las­sen, die man ih­ren Ge­rich­ten oder Gar­ten­bee­ten spen­det, in die­ser Sa­che aber sich Kri­tik nicht bie­ten las­sen wür­den, die sie, wo es um ihre Meis­ter­wer­ke geht, gern hin­neh­men; so ge­ben sie auch ei­nes ih­rer Bil­der für nichts her, wer­den aber gleich schlech­ter Lau­ne, wenn sie im Do­mi­no zwei Fran­ken ver­lie­ren.

Dem Pro­fes­sor Cot­tard wird man viel spä­ter, wenn wir auf dem Schlos­se La Ras­pe­liè­re sind, mit Muße nä­her­tre­ten. Für den Au­gen­blick mö­gen, was ihn be­trifft, ei­ni­ge Be­mer­kun­gen ge­nü­gen. Bei Swann hat die Ver­än­de­rung, streng ge­nom­men, et­was Über­ra­schen­des, da sie be­reits voll­zo­gen war und ich sie nicht ver­mu­tet hat­te zur Zeit, als ich Gil­ber­tes Va­ter in den Champs-Élysées sah, wo er mich üb­ri­gens nie an­re­de­te und so­mit sei­ne po­li­ti­schen Be­zie­hun­gen vor mir nicht zur Schau tra­gen konn­te (nun, und selbst wenn er es ge­tan hät­te, wäre mir sei­ne Ei­tel­keit viel­leicht auch nicht gleich auf­ge­fal­len, denn die Vor­stel­lung, die man sich län­ge­re Zeit von je­man­dem ge­macht hat, blen­det die Au­gen und ver­stopft die Ohren; drei Jah­re hin­durch be­merk­te mei­ne Mut­ter nicht die Schmin­ke, die eine ih­rer Nich­ten auf die Lip­pen tat, sie schi­en sich un­sicht­bar in et­was Flüs­si­gem ge­löst zu ha­ben, bis dann ei­nes Ta­ges ein we­nig Neu­auf­ge­leg­tes oder sonst ir­gend­ei­ne Ur­sa­che das Phä­no­men der so­ge­nann­ten Über­sät­ti­gung her­bei­führ­te, die gan­ze nie wahr­ge­nom­me­ne Schmin­ke kris­tal­li­sier­te, und mei­ne Mut­ter an­ge­sichts die­ses plötz­li­chen las­ter­haf­ten Über­ma­ßes an Far­be er­klär­te, wie man in Com­bray ge­tan hät­te, es sei eine Schan­de, und fast ganz den Ver­kehr mit ih­rer Nich­te ab­brach). Für Cot­tard aber lag die Epo­che, da er Swanns ers­tem Auf­tre­ten im Hau­se Ver­du­rin bei­ge­wohnt hat­te, schon ziem­lich weit zu­rück; nun kom­men Ehren und öf­fent­li­che Aus­zeich­nun­gen mit den Jah­ren; fer­ner kann man un­ge­bil­det sein, al­ber­ne Wit­ze ma­chen und da­bei eine be­son­de­re Be­ga­bung be­sit­zen, die durch kei­ne all­ge­mei­ne Kul­tur zu er­set­zen ist, wie etwa die Be­ga­bung des großen Stra­te­gen oder des großen Chir­ur­gen. In der Tat be­trach­te­ten sei­ne Kol­le­gen den Dok­tor Cot­tard nicht ein­fach als einen prak­ti­schen Arzt, der mit der Zeit eine eu­ro­päi­sche Grö­ße ge­wor­den war. Die klügs­ten un­ter den jun­gen Me­di­zi­nern er­klär­ten -- we­nigs­tens ein paar Jah­re hin­durch, denn die Mo­den wech­seln, da sie sel­ber aus dem Be­dürf­nis nach Wech­sel ent­ste­hen --, daß Cot­tard der ein­zi­ge Meis­ter sei, dem sie ihre Haut an­ver­trau­en woll­ten, wenn sie je­mals krank wür­den. Im ge­sell­schaft­li­chen Ver­kehr be­vor­zug­ten sie al­ler­dings ge­wis­se an­de­re Pro­fes­so­ren, die ge­bil­de­ter und kunst­sin­ni­ger wa­ren, mit de­nen sich von Nietz­sche und Wa­gner spre­chen ließ. Wenn Frau Cot­tard mu­si­ka­li­sche Aben­de ver­an­stal­te­te, bei de­nen sie die Kol­le­gen und Schü­ler ih­res Gat­ten emp­fing in der Hoff­nung, daß er ei­nes Ta­ges De­kan der Fa­kul­tät wer­de, so zog Cot­tard es vor, im an­sto­ßen­den Sa­lon Kar­ten zu spie­len, statt zu­zu­hö­ren. Je­doch der schnel­le, gründ­li­che und si­che­re Blick sei­ner Dia­gno­sen war be­rühmt. Was end­lich die Ge­samt­wir­kung von Pro­fes­sor Cot­tards Be­neh­men auf einen Mann wie mei­nen Va­ter be­trifft, so ist zu be­mer­ken, daß die Na­tur, die wir in der zwei­ten Hälf­te un­se­res Le­bens se­hen las­sen, wohl oft, aber nicht im­mer eine Wei­ter­ent­wick­lung oder Ent­stel­lung, Ver­grö­be­rung oder Ver­küm­me­rung un­se­rer ur­sprüng­li­chen Na­tur ist; bis­wei­len ist sie de­ren Um­keh­rung, das nach al­len Re­geln der Kunst ge­wen­de­te Kleid. Au­ßer bei den Ver­du­rin, die nun ein­mal eine Vor­lie­be für ihn fühl­ten, hat­te Cot­tards un­si­che­res Auf­tre­ten, sei­ne über­trie­be­ne Lie­bens­wür­dig­keit und Schüch­tern­heit ihm in sei­ner Ju­gend be­stän­di­ge Sti­che­lei­en ein­ge­tra­gen. Wel­cher barm­her­zi­ge Freund riet ihm dann, eine ei­si­ge Mie­ne auf­set­zen? Das wur­de ihm durch das An­se­hen sei­ner Stel­lung leich­ter ge­macht. Über­all, au­ßer im Hau­se Ver­du­rin, wo er in­stink­tiv wie­der er selbst wur­de, gab er sich kalt, ab­sicht­lich schweig­sam, ab­wei­send, schnei­dend, wenn er spre­chen muß­te, und ver­gaß nie, Un­an­ge­neh­mes mit ein­flie­ßen zu las­sen. Die neue Hal­tung konn­te er an sei­nen Pa­ti­en­ten aus­pro­bie­ren, die ihn nicht von frü­her her kann­ten und des­halb au­ßer­stan­de wa­ren, Ver­glei­che zu zie­hen; sie hät­ten sich ge­wun­dert zu er­fah­ren, daß er von Na­tur gar nicht grob war. Vor al­lem be­müh­te er sich, den Ge­fühl­lo­sen zu spie­len, und selbst, wenn er in der Kli­nik einen sei­ner Wit­ze zum bes­ten gab, über die alle Welt, vom Ober­arzt bis zum jüngs­ten Ex­ter­nen, lach­te, zuck­te kein Mus­kel in sei­nem Ge­sicht, das üb­ri­gens, seit er Schnurr­bart und Ba­cken­bart hat­te ab­neh­men las­sen, nicht wie­der­zu­er­ken­nen war.

Und schließ­lich wol­len wir noch sa­gen, wer der Mar­quis von Nor­pois war. Nach­dem er vor dem Krie­ge be­voll­mäch­tig­ter Mi­nis­ter und am 16. Mai Bot­schaf­ter ge­we­sen, wur­de er doch zum Er­stau­nen vie­ler zu wie­der­hol­ten Ma­len be­auf­tragt, Frank­reich in au­ßer­or­dent­li­chen Mis­sio­nen zu ver­tre­ten, un­ter an­derm so­gar mit der Kon­trol­le der ägyp­ti­schen Staats­schuld­zah­lung, wo­bei er dank sei­nen großen fi­nan­zi­el­len Fä­hig­kei­ten wich­ti­ge Diens­te leis­te­te; die­se Auf­trä­ge er­teil­ten ihm ra­di­ka­le Ka­bi­net­te, de­nen ein ein­fa­cher bür­ger­li­cher Re­ak­tio­när sei­ne Diens­te ver­wei­gert ha­ben wür­de und bei de­nen Herrn von Nor­pois’ Ver­gan­gen­heit, sei­ne Be­zie­hun­gen und An­schau­un­gen von Rechts we­gen Ver­dacht er­re­gen muß­ten. Aber of­fen­bar ga­ben sich die­se weit links ste­hen­den Mi­nis­ter dar­über Re­chen­schaft, daß sie mit ei­ner sol­chen Wahl ihre be­son­de­re Auf­ge­schlos­sen­heit, so­bald es um die hö­he­ren In­ter­es­sen Frank­reichs ging, be­wie­sen, sie über­rag­ten das Gros der Po­li­ti­ker (er­war­ben sie doch das Ver­dienst, selbst vom Jour­nal des Dé­bats als Staats­män­ner an­er­kannt zu wer­den) und zo­gen aus dem Pres­ti­ge, das sich an einen ad­li­gen Na­men knüpft, und aus dem Auf­se­hen, das der Thea­ter­coup ei­ner Wahl, die kei­ner vor­aus­sah, er­weckt, ih­ren Nut­zen. Sie wuß­ten, die­ser Vor­teil war ih­nen si­cher, wenn sie den Herrn von Nor­pois be­rie­fen; von ihm war ein Man­gel an po­li­ti­scher Loya­li­tät nicht zu be­fürch­ten: sei­ne Her­kunft war ih­nen nicht eine War­nung, son­dern eine Ga­ran­tie. Und dar­in soll­te sich die Re­gie­rung der Re­pu­blik nicht täu­schen. Denn zu­nächst ist eine be­stimm­te Adels­schicht von Kind­heit an er­zo­gen, ih­ren Na­men als einen in­ne­ren Vor­teil an­zu­se­hen, den ihr nichts rau­ben kann (als einen Wert, den ih­res­glei­chen und die, wel­che an Ge­burt über ihr ste­hen, ge­nau schät­zen kön­nen), und sie weiß, sie kann sich die -- nach­träg­lich so gut wie re­sul­tat­lo­sen -- Be­mü­hun­gen vie­ler Bür­ger­li­cher, nur wohl­ge­lit­te­ne Mei­nun­gen zu be­ken­nen und nur mit wohl­ge­sinn­ten Leu­ten zu ver­keh­ren, er­spa­ren, da sie ja doch ih­rem Wer­te da­mit nichts hin­zu­fü­gen wür­de. Hin­ge­gen ist die­se Adels­klas­se be­strebt, in den Au­gen der fürst­li­chen und her­zog­li­chen Fa­mi­li­en, an wel­che ihre ei­ge­ne Stel­lung sie sehr nah her­an­rückt, zu ge­win­nen, und zwar, in­dem sie wohl­weis­lich das An­se­hen ih­res Na­mens ver­mehrt um et­was, das nicht in ihm lag, et­was, das ihm un­ter ih­res­glei­chen ein Plus gibt: po­li­ti­scher Ein­fluß, li­te­ra­ri­scher oder künst­le­ri­scher Ruhm oder ein großes Ver­mö­gen. Und die Un­kos­ten, die sie dem nutz­lo­sen Kraut­jun­ker ge­gen­über, um den sich die Bür­ger be­mü­hen, er­spart (ein Fürst von Ge­blüt wür­de des­sen un­frucht­ba­re Freund­schaft ihr gar nicht an­rech­nen), die wen­det sie an Po­li­ti­ker, und sei­en es auch Frei­mau­rer, durch die man in der Ge­sandt­schafts­kar­rie­re vor­wärts­kommt und bei Wah­len pous­siert wird, an Künst­ler und Wis­sen­schaft­ler, die einen da­bei un­ter­stüt­zen, sich in dem Fach, in dem sie die ers­ten sind, ›durch­zu­set­zen‹, an alle end­lich, die neu­en Ruhm zu ver­lei­hen oder zu ei­ner rei­chen Hei­rat zu ver­hel­fen im­stan­de sind.

Was nun Herrn von Nor­pois per­sön­lich be­trifft, so hat­te er sich in lan­ger di­plo­ma­ti­scher Pra­xis vor al­lem mit je­nem ne­ga­ti­ven Geist kon­ser­va­ti­ver Rou­ti­ne voll­ge­so­gen, den man ›Re­gie­rungs­men­ta­li­tät‹ nen­nen könn­te und der in der Tat al­len Re­gie­run­gen und un­ter al­len Re­gie­run­gen ins­be­son­de­re wie­der den Kanz­lei­en ei­gen ist. Sei­ne Lauf­bahn hat­te ihm Ab­nei­gung, Vor­sicht und Miß­ach­tung ge­gen­über den mehr oder we­ni­ger re­vo­lu­tio­nären, zu­min­dest in­kor­rek­ten Maß­nah­men ein­ge­ge­ben, zu de­nen die Op­po­si­ti­on ihre Zuf­lucht nimmt. Au­ßer bei ei­ni­gen Un­ge­bil­de­ten aus der Mas­se und der Ge­sell­schaft, für die der Un­ter­schied der Le­bens­ar­ten to­ter Buch­sta­be bleibt, be­steht das aus­glei­chen­de Mo­ment über­all nicht in der Ge­mein­schaft der Über­zeu­gun­gen, son­dern in der Bluts­ver­wandt­schaft der Geis­ter. Ein Aka­de­mi­ker vom Schla­ge Le­gou­vés, der etwa An­hän­ger des Klas­si­zis­mus wäre, wür­de eher dem Lobe Vic­tor Hu­gos von Sei­ten ei­nes Ma­xi­me Du­camp oder Mé­zières Bei­fall ge­spen­det ha­ben als dem Boi­le­aus von Sei­ten Clau­dels. Ge­mein­sa­mer Na­tio­na­lis­mus ge­nügt, um Barrès sei­nen Wäh­lern nahe zu brin­gen, die ver­mut­lich kei­nen großen Un­ter­schied zwi­schen ihm und Herrn Ge­or­ges Ber­ry ma­chen, ge­nügt aber nicht den­je­ni­gen sei­ner Kol­le­gen von der Aka­de­mie ge­gen­über, die sei­ne po­li­ti­schen Mei­nun­gen tei­len, aber eine an­de­re Geis­tes­art ha­ben und ihm so­gar Geg­ner wie Ri­bot und De­scha­nel vor­zie­hen, de­nen sich wie­der­um man­che treu­en Mon­ar­chis­ten viel nä­her füh­len als ei­nem Maur­ras oder Léon Dau­det, ob­wohl die­se gleich­falls die Rück­kehr des Kö­nigs wün­schen. Da Herr von Nor­pois mit Wor­ten geiz­te, nicht nur aus Vor­sicht und Zu­rück­hal­tung (Ge­wohn­hei­ten sei­nes Be­ru­fes), son­dern auch, weil Wor­te mehr Ge­wicht und grö­ße­ren Reich­tum an Nuan­cen für die ha­ben, die ihre zehn­jäh­ri­gen Be­mü­hun­gen um die An­nä­he­rung zwei­er Län­der -- in ei­ner Rede oder ei­nem Pro­to­koll -- durch ein ein­fa­ches schein­bar ba­na­les Ad­jek­tiv, in dem aber für sie eine gan­ze Welt liegt, zu­sam­men­fas­sen und wie­der­ge­ben --, so galt er für sehr kalt in der Kom­mis­si­on, wo er sei­nen Sitz ne­ben mei­nem Va­ter hat­te, den je­der­mann zu der Freund­schaft, die ihm der ehe­ma­li­ge Bot­schaf­ter be­wies, be­glück­wünsch­te. Mein Va­ter war selbst der ers­te, der sich über sie wun­der­te. Im all­ge­mei­nen nicht eben lie­bens­wür­dig, war er gar nicht ge­wohnt, daß man sich au­ßer­halb sei­nes en­gern Freun­des­krei­ses um ihn be­müh­te, und schlicht und auf­rich­tig ge­stand er das. Ihm war ganz klar, daß in dem Ent­ge­gen­kom­men des Di­plo­ma­ten der ganz in­di­vi­du­el­le Stand­punkt zu­ta­ge trat, von dem aus je­der sich zu sei­nen Sym­pa­thi­en ent­schei­det, und alle geis­ti­gen Vor­zü­ge oder eine Fein­füh­lig­keit, die man­chen von uns är­gert und reizt, kei­ne so gute Emp­feh­lung sind wie mun­te­res of­fe­nes Sich-Ge­ben, das wie­der­um in den Au­gen vie­ler an­de­rer für leer, leicht­fer­tig und nich­tig gilt. »Nor­pois hat mich wie­der zum Es­sen ein­ge­la­den; merk­wür­dig! Alle sind ganz ver­blüfft in der Kom­mis­si­on, wo er zu nie­mand per­sön­lich Be­zie­hun­gen hat. Ich bin si­cher, er wird mir wie­der Auf­re­gen­des vom Krie­ge Sieb­zig er­zäh­len.« Mein Va­ter wuß­te, daß Herr von Nor­pois viel­leicht als ein­zi­ger den Kai­ser auf die wach­sen­de Macht und die krie­ge­ri­schen Ab­sich­ten Preu­ßens auf­merk­sam ge­macht hat­te und daß Bis­marck sei­ne Klug­heit be­son­ders hoch ein­schätz­te. Letzthin noch bei Ge­le­gen­heit der Gala­vor­stel­lung in der Oper zu Ehren des Kö­nigs Theo­do­si­us nah­men die Zei­tun­gen No­tiz von dem aus­ge­dehn­ten Ge­spräch, in das der Mon­arch Herrn von Nor­pois ge­zo­gen. »Ich muß doch her­aus­be­kom­men, ob der Be­such des Kö­nigs wirk­lich wich­tig ist«, sag­te mein Va­ter, der sich sehr für äu­ße­re Po­li­tik in­ter­es­sier­te, zu uns. »Ich weiß ja, daß der alte Nor­pois sehr zu­ge­knöpft ist, aber mit mir kann er von rei­zen­der Of­fen­heit sein.«

Für mei­ne Mut­ter hat­te der geis­ti­ge Ha­bi­tus des Bot­schaf­ters an sich wohl nichts be­son­ders An­zie­hen­des. Und ich muß sa­gen, die Aus­drucks­wei­se des Herrn von Nor­pois gab ein so voll­stän­di­ges Re­per­toire der über­leb­ten Re­de­wen­dun­gen, wie sie zu ei­ner be­stimm­ten Kar­rie­re, Klas­se und Epo­che -- ei­ner Epo­che, die für die­se Klas­se und Kar­rie­re viel­leicht wirk­lich noch nicht er­le­digt ist -- pas­sen, daß es mir manch­mal leid tut, nicht ganz rein und un­ver­än­dert die Wor­te be­hal­ten zu ha­ben, die ich von ihm hör­te. Da­mit hät­te ich das Alt­mo­di­sche höchst ef­fekt­voll und eben­so leicht und tref­fend her­aus­ge­bracht wie je­ner Schau­spie­ler vom Palais-Roy­al, den man frag­te, wo er denn sei­ne über­ra­schen­den Hüte fän­de, und der ant­wor­te­te: »Ich fin­de mei­ne Hüte nicht; ich be­hal­te sie.« Mit ei­nem Wort, ich glau­be, mei­ne Mut­ter fand Herrn von Nor­pois ein biß­chen vieux jeu, was ihr in be­zug auf sei­ne Ma­nie­ren bei­lei­be nicht miß­fiel, sie aber we­ni­ger ent­zück­te im Be­rei­che nicht ge­ra­de der Ide­en -- denn die des Herrn von Nor­pois wa­ren sehr mo­dern -- son­dern der Aus­drucks­wei­se. Al­lein sie fühl­te, daß es ih­rem Gat­ten in zar­ter Wei­se schmei­chel­te, wenn sie ihm mit Be­wun­de­rung von dem Di­plo­ma­ten sprach, der eine so sel­te­ne Vor­lie­be für ihn be­zeug­te. Wenn sie mei­nen Va­ter in sei­ner gu­ten Mei­nung von Herrn von Nor­pois be­stärk­te und ihn so dazu brach­te, auch von sich selbst eine gute Mei­nung zu be­kom­men, war sie sich be­wußt, eine ih­rer Pf­lich­ten zu er­fül­len, näm­lich die, ih­rem Gat­ten das Le­ben an­ge­nehm zu ma­chen, wie sie es tat, wenn sie dar­über wach­te, daß die Kü­che ge­pflegt war und die Be­die­nung sich schweig­sam voll­zog. Und da sie au­ßer­stan­de war, mei­nen Va­ter zu be­lü­gen, trai­nier­te sie sich in­ner­lich, den Bot­schaf­ter zu be­wun­dern, um ihn auf­rich­tig lo­ben zu kön­nen. Üb­ri­gens hat­te sie ein na­tür­li­ches Wohl­ge­fal­len an sei­ner gü­ti­gen Mie­ne und sei­ner alt­mo­di­schen ze­re­mo­ni­ösen Höf­lich­keit (wenn er hoch­auf­ge­rich­tet des We­ges kam und sah mei­ne Mut­ter im Wa­gen vor­bei­fah­ren, so warf er die kaum an­ge­rauch­te Zi­gar­re weg, ehe er den Hut zog), fer­ner an sei­ner ge­mes­se­nen Kon­ver­sa­ti­on: er sprach so we­nig wie mög­lich von sich selbst und zog im­mer in Be­tracht, was sei­nem Un­ter­red­ner an­ge­nehm sein konn­te; end­lich an sei­ner Pünkt­lich­keit im Beant­wor­ten von Brie­fen; die war er­staun­lich: wenn mein Va­ter ihm ge­schrie­ben hat­te und einen Brief er­hielt, auf des­sen Um­schlag er Herrn von Nor­pois’ Hand­schrift er­kann­te, so war sei­ne ers­te Re­gung, an­zu­neh­men, ihre Brie­fe hät­ten sich durch einen un­glück­li­chen Zu­fall ge­kreuzt; es war, als fän­den für Herrn von Nor­pois auf der Post Ex­tra-Lu­xus-Lee­run­gen statt. Mei­ne Mut­ter fand es wun­der­bar, daß er trotz so ge­häuf­ten Be­schäf­ti­gun­gen so ge­nau, trotz aus­ge­dehn­tem Ver­kehr so lie­bens­wür­dig war, und be­dach­te nicht, daß die­se ›Trotz‹ ei­gent­lich lau­ter ›Weil‹ wa­ren und -- wie Grei­se für ihr Al­ter er­staun­lich, Kö­ni­ge schlicht, Klein­städ­ter im­mer auf dem lau­fen­den sind -- ge­ra­de sei­ne Le­bens­ge­wohn­hei­ten Herrn von Nor­pois ge­stat­te­ten, so­viel Be­schäf­ti­gun­gen ge­recht zu wer­den und zu­gleich so or­dent­lich in sei­nen Ant­wor­ten zu sein, in Ge­sell­schaft zu ge­fal­len und uns lie­bens­wür­dig ent­ge­gen­zu­kom­men. Über­dies be­ruh­te der Irr­tum mei­ner Mut­ter wie der al­ler zu Be­schei­de­nen dar­auf, daß sie, was sie selbst be­traf, den An­ge­le­gen­hei­ten der an­dern un­ter­ord­ne­te und so­mit von ih­nen ab­son­der­te. Die schnel­le Ant­wort, die sie dem Freun­de mei­nes Va­ters hoch an­rech­ne­te und die doch nur des­halb um­ge­hend ein­traf, weil er tag­täg­lich vie­le Brie­fe schrieb, nahm sie von der großen An­zahl sei­ner Brie­fe aus, ob­wohl es nur ei­ner un­ter vie­len war; sie kam nicht dar­auf, daß ein Di­ner bei uns für Herrn von Nor­pois ei­ner der zahl­lo­sen Akte sei­nes so­zia­len Le­bens war, sie er­wog nicht, daß der Bot­schaf­ter von sei­ner di­plo­ma­ti­schen Tä­tig­keit her ge­wohnt war, Di­ne­rein­la­dun­gen als Teil sei­ner Funk­tio­nen an­zu­se­hen, und daß es zu­viel von ihm ver­langt ge­we­sen wäre, die ein­ge­wur­zel­te Gra­zie, die er bei sol­cher Ge­le­gen­heit ent­fal­te­te, ei­gens ab­zu­tun, wenn er zu uns es­sen kam.

Sein ers­tes Di­ner bei uns nahm Herr von Nor­pois zu ei­ner Zeit ein, als ich noch in den Champs-Élysées spiel­te, und es ist in mei­nem Ge­dächt­nis ge­blie­ben, weil ich am Nach­mit­tage des glei­chen Ta­ges end­lich die Ber­ma in ei­ner Ma­tinée als Phèdre hö­ren soll­te, auch, weil mir im Ge­spräch mit Herrn von Nor­pois plötz­lich und auf be­son­de­re Art be­wußt ward, daß al­les, was Gil­ber­te Swann und ihre El­tern be­traf, bei mir ganz an­de­re Ge­füh­le er­weck­te als die­se Fa­mi­lie bei jed­we­dem sonst aus­lös­te.

Si­cher­lich hat­te mei­ne Mut­ter die Nie­der­ge­schla­gen­heit be­merkt, in die mich die Nähe der Neu­jahrs­fe­ri­en ver­senk­te, in de­nen ich, wie sie mir selbst an­ge­zeigt hat­te, Gil­ber­te nicht se­hen soll­te, und, um mich zu zer­streu­en, sag­te sie ei­nes Ta­ges zu mir: »Wenn du noch im­mer so große Lust hast, die Ber­ma zu hö­ren -- der Va­ter wird, glau­be ich, viel­leicht er­lau­ben, daß du hin­gehst; die Groß­mut­ter könn­te dich mit­neh­men.«

Da­ran war Herr von Nor­pois schuld, der mei­nem Va­ter ge­sagt hat­te, er sol­le mich doch die Ber­ma hö­ren las­sen, das gäbe ei­nem jun­gen Men­schen einen Ein­druck fürs gan­ze Le­ben; und mein Va­ter, bis­her sehr da­ge­gen, daß ich mit Din­gen mei­ne Zeit ver­lö­re, die er zum Är­ger mei­ner Groß­mut­ter nutz­lo­ses Zeug nann­te, das mei­ner Ge­sund­heit schlecht an­schla­gen kön­ne, war nun nahe dar­an, den von dem Bot­schaf­ter an­ge­prie­se­nen Thea­ter­be­such von un­ge­fähr in die Ge­samt­heit der Re­zep­te ein­zu­fü­gen, die für eine glän­zen­de Lauf­bahn von Wert sind. Für die Groß­mut­ter war es ein großes Op­fer ge­we­sen, mich auf den Nut­zen ver­zich­ten zu las­sen, den es nach ih­rer Mei­nung für mich hat­te, die Ber­ma spie­len zu sehn, ein Op­fer, das man der Rück­sicht auf mei­ne Ge­sund­heit brin­ge, und nun muß­te sie mit­an­se­hen, daß die­se Rück­sicht auf ein blo­ßes Wort des Herrn von Nor­pois ver­nach­läs­sigt wer­den soll­te. Als un­ver­bes­ser­li­che Ra­tio­na­lis­tin setz­te sie ihre Hoff­nung in das mir ver­ord­ne­te Re­gime der frei­en Luft und des Früh-zu-Bett-Ge­hens, be­klag­te die Ver­let­zung die­ser Vor­schrif­ten, die ich be­ge­hen wür­de, als ein Un­ge­mach und sag­te ganz be­trübt zu mei­nem Va­ter: »Wie leicht­sin­nig Sie sind!« Wü­tend er­wi­der­te er: »Wie? Jetzt wol­len mit ein­mal Sie nicht mehr, daß er hin­geht! Das ist doch stark! Nach­dem Sie uns im­mer wie­der­holt ha­ben, es kön­ne ihm von Nut­zen sein.«

Aber in ei­nem für mich noch viel wich­ti­ge­ren Punk­te hat­te Herr von Nor­pois die Ab­sich­ten mei­nes Va­ters ge­än­dert. Die­ser hat­te im­mer ge­wünscht, ich sol­le Di­plo­mat wer­den; mir aber war, auch für den Fall, daß ich eine Zeit­lang ei­nem Mi­nis­te­ri­um an­ge­glie­dert blie­be, der Ge­dan­ke un­er­träg­lich, man kön­ne ei­nes Ta­ges als Bot­schaf­ter mich in Haupt­städ­te schi­cken, die Gil­ber­te nicht be­woh­nen wür­de. Da wäre ich lie­ber auf die li­te­ra­ri­schen Plä­ne von frü­her zu­rück­ge­kom­men, die ich im Ver­lauf mei­ner Spa­zier­gän­ge in der Ge­gend um Gu­er­man­tes auf­ge­ge­ben hat­te. Al­lein mein Va­ter hat­te be­stän­dig da­ge­gen Ein­spruch er­ho­ben, daß ich der li­te­ra­ri­schen Lauf­bahn mich zu­wen­de; er stell­te sie tiefer als die Di­plo­ma­tie und sprach so­gar den Na­men ›Lauf­bahn‹ ihr ab,-- bis zu dem Tage, da Herr von Nor­pois, der die di­plo­ma­ti­schen Be­am­ten neu­en Schla­ges nicht be­son­ders lieb­te, ihm ver­si­cher­te, man kön­ne als Schrift­stel­ler eben­so ho­hes An­se­hen ge­win­nen, eine nicht ge­rin­ge­re Wirk­sam­keit aus­üben und mehr Un­ab­hän­gig­keit be­wah­ren als in den Bot­schaf­ten.

»Das hät­te ich nicht ge­dacht: der alte Nor­pois hat gar nichts ge­gen den Ge­dan­ken, daß du Li­te­ra­tur treibst«, hat­te mein Va­ter zu mir ge­sagt. Und da er sel­ber ziem­lich ein­fluß­reich war, mein­te er, es gäbe nichts, das sich nicht im Ge­sprä­che un­ter Män­nern von Ge­wicht ar­ran­gie­ren und zu ei­ner glück­li­chen Lö­sung füh­ren lie­ße. »Ich wer­de ihn einen die­ser Aben­de aus der Kom­mis­si­on zum Es­sen mit­brin­gen. Du wirst ein biß­chen mit ihm plau­dern, da­mit er dich schät­zen ler­ne. Schreib et­was Hüb­sches, das du ihm zei­gen kannst; er steht sehr gut mit dem Di­rek­tor der Re­vue des Deux-Mon­des, da wird er dich hin­ein­brin­gen, das schafft er, er ist schlau; er scheint wahr­haf­tig zu fin­den, daß die Di­plo­ma­tie heut­zu­ta­ge ...!« Der Ge­dan­ke an das Glück, nicht von Gil­ber­te ge­trennt zu wer­den, mach­te mich be­gie­rig, nicht aber fä­hig, et­was Schö­nes, das man Herrn von Nor­pois zei­gen kön­ne, zu schrei­ben. Nach ei­ni­gen vor­läu­fi­gen Sei­ten fiel mir vor Über­druß die Fe­der aus der Hand, ich wein­te vor Wut dar­über, daß ich nie Ta­lent ha­ben wür­de, daß ich un­be­gabt sei und nicht ein­mal den Glücks­fall, den Herrn von Nor­pois’ be­vor­ste­hen­der Be­such bot, nüt­zen kön­ne, um auf die Dau­er in Pa­ris zu blei­ben. Ein­zig der Ge­dan­ke, man wer­de mich die Ber­ma hö­ren las­sen, lenk­te mich von mei­nem Kum­mer ab. Aber wie ich mir nicht wünsch­te, Stür­me an an­de­rer Stät­te als an den Küs­ten zu er­le­ben, wo sie am hef­tigs­ten sind, so woll­te ich die große Schau­spie­le­rin auch nur in ei­ner der klas­si­schen Rol­len hö­ren, in de­nen sie, wie mir Swann ge­sagt hat­te, an das Er­ha­be­ne gren­ze. Denn da wir in un­serm Ver­lan­gen nach ge­wis­sen Ein­drücken der Na­tur oder Kunst der Hoff­nung le­ben, et­was Kost­ba­res zu ent­de­cken, ha­ben wir Be­den­ken, un­se­re See­le statt ih­rer ge­rin­ge­re Ein­drücke auf­neh­men zu las­sen, die uns über den ge­nau­en Wert des Schö­nen ir­re­füh­ren könn­ten. Die Ber­ma in An­dro­maque, in Les Ca­pri­ces de Ma­ri­an­ne, in Phèdre, das ge­hör­te zu den groß­ar­ti­gen Din­gen, die mei­ne Phan­ta­sie so sehr be­gehrt hat­te. Ich wür­de das glei­che Ent­zücken er­le­ben wie an dem Tage, da mich die Gon­del zu Fü­ßen des Ti­zi­an der Fra­ri-Kir­che oder der Car­pac­cio von San Gior­gio dei Schia­vo­ni ab­set­zen wer­de, wenn ich je­mals von der Ber­ma wür­de die Ver­se sa­gen: ›Man sagt, Euch nimmt von uns ein ra­scher Ab­schied fort, o Herr usw.‹ Ich kann­te sie in der ein­fa­chen Wie­der­ga­be Schwarz auf Weiß, wel­che die ge­druck­ten Aus­ga­ben bie­ten, aber, als soll­te eine Rei­se wirk­lich wer­den, schlug mir das Herz bei dem Ge­dan­ken, die­se Ver­se tat­säch­lich end­lich ba­den zu se­hen in Luft und Son­ne der gol­de­nen Stim­me. Ein Car­pac­cio in Ve­ne­dig, die Ber­ma in Phèdre, die­se Meis­ter­wer­ke bil­den­der und dra­ma­ti­scher Kunst wa­ren für mich von ei­nem Nim­bus um­ge­ben, der ih­nen eine be­son­de­re Le­ben­dig­keit und Un­ab­lös­bar­keit gab: hät­te ich einen Car­pac­cio in ei­nem Saal des Lou­vre oder die Ber­ma in ei­nem Stücke, von dem ich noch nie ge­hört hat­te, se­hen sol­len, es hät­te mich nicht so herr­lich be­stürzt, end­lich die Au­gen auf­zu­he­ben zu dem un­faß­ba­ren ein­zi­gen Ge­gen­stand mei­ner tau­send Träu­me. Fer­ner er­war­te­te ich von dem Spiel der Ber­ma Of­fen­ba­run­gen über be­stimm­te Er­schei­nungs­for­men des Adels, des Schmer­zes, und so muß­te für mich das Gro­ße und Wahr­haf­te ih­res Spie­les noch grö­ßer und wahr­haf­ter wer­den, wenn die Künst­le­rin es über ein Werk von wirk­li­chem Wert aus­brei­te­te statt Wah­res und Schö­nes in ein mit­tel­mä­ßi­ges und ge­wöhn­li­ches Ge­we­be zu sti­cken.

Schließ­lich wür­de es mir, wenn ich die Ber­ma in ei­nem neu­en Stück zu hö­ren be­käme, nicht leicht sein, ihre Kunst, ihre Dik­ti­on zu be­ur­tei­len, denn ich könn­te nicht schei­den zwi­schen ei­nem mir noch nicht be­kann­ten Text und dem, was Ton­fall und Ge­bär­de hin­zutä­ten, sie wür­den für mich eine Ein­heit mit ihm bil­den; die al­ten Wer­ke hin­ge­gen, die ich aus­wen­dig konn­te, er­schie­nen mir wie wei­te Spiel­räu­me, die der Künst­le­rin zur Ver­fü­gung wa­ren, ihr of­fen­stan­den, und ich konn­te bei ih­nen ge­wiß die Ge­stal­tungs­kraft der Ber­ma un­ein­ge­schränkt wür­di­gen, die sie ge­wis­ser­ma­ßen al fres­co mit im­mer neu­en Ein­ge­bun­gen ih­rer In­spi­ra­ti­on be­de­cken wür­de. Nun hat­te sie lei­der seit Jah­ren die großen Büh­nen ver­las­sen, mach­te das Glück ei­nes Bou­le­vard­thea­ters, wo sie der Star war, und spiel­te nichts Klas­si­sches mehr; um­sonst sah ich die An­zei­gen durch, die im­mer nur mo­der­ne Stücke an­kün­dig­ten, ei­gens für sie von be­lieb­ten Au­to­ren ver­fer­tigt, -- bis ich ei­nes Mor­gens auf der An­schlag­säu­le die Ma­ti­ne­en der Neu­jahrs­wo­che stu­dier­te und zum ers­ten­mal -- als zwei­ten Teil ei­ner Vor­stel­lung nach ei­nem ver­mut­lich un­we­sent­li­chen Ein­ak­ter, des­sen Ti­tel mir dun­kel blieb, weil er auf eine mir ganz un­be­kann­te Hand­lung hin­deu­te­te, -- zwei Akte Phèdre mit Frau Ber­ma ent­deck­te und an den fol­gen­den Ma­ti­ne­en Le Demi-Mon­de und Les Ca­pri­ces de Ma­ri­an­ne, Ti­tel, die wie Phèdre für mich durch­sich­tig wa­ren, ganz von Klar­heit er­füllt, -- so gut kann­te ich die Wer­ke --, bis auf den Grund er­leuch­tet vom Lä­cheln der Kunst. Es schi­en mir Frau Ber­ma einen neu­en Adel zu ge­ben, als ich in den Zei­tun­gen las, sie selbst habe sich ent­schlos­sen, in ei­ni­gen ih­rer frü­he­ren Schöp­fun­gen vor das Pub­li­kum zu tre­ten. Die Künst­le­rin wuß­te, daß ge­wis­se Rol­len ein In­ter­es­se ha­ben, das ihr ers­tes Er­schei­nen oder den Er­folg ih­rer Wie­der­auf­nah­me über­dau­ert; sie be­trach­te­te de­ren Dar­stel­lung als Vor­füh­rung von Mu­se­ums­stücken, Mo­del­len für die Ge­ne­ra­ti­on, die sie dar­in be­wun­dert, und die, wel­che sie noch nicht dar­in ge­se­hen hat­te. Und wenn sie nur mit­ten un­ter Stücken, die nur dazu be­stimmt wa­ren, einen Abend lang die Zeit zu ver­trei­ben, Phèdre an­zeig­te, ein Ti­tel, nicht län­ger als der der an­dern und in den glei­chen Let­tern ge­druckt, gab sie da­mit etwa das­sel­be zu ver­ste­hen wie eine Haus­frau, die uns, wenn man zu Ti­sche geht, den Gäs­ten vor­stellt und mit­ten un­ter den Na­men von Ein­ge­la­de­nen, die nur Ein­ge­la­de­ne sind, im glei­chen Ton­fall, mit dem sie die an­de­ren nennt, sagt: Herr Ana­to­le Fran­ce.

Der Arzt, der mich be­han­del­te -- der, wel­cher mir das Rei­sen ganz ver­bo­ten hat­te -- riet mei­nen El­tern da­von ab, mich ins Thea­ter ge­hen zu las­sen; ich wür­de krank da­von wer­den, viel­leicht für lan­ge Zeit, und schließ­lich und end­lich mehr Lei­den als Ver­gnü­gen da­von ha­ben. Solch eine Be­sorg­nis hät­te mich ge­hemmt, wenn das, was ich von der Auf­füh­rung er­war­te­te, nur ein Ver­gnü­gen ge­we­sen wäre, das durch spä­te­re Lei­den ein­fach im Aus­gleich auf­ge­ho­ben wer­den kann. Aber -- ge­ra­de wie von der Rei­se nach Bal­bec oder der nach Ve­ne­dig, die ich so sehr er­sehn­te -- woll­te ich von der Ma­ti­nee et­was ganz an­de­res als ein Ver­gnü­gen: Wahr­hei­ten woll­te ich, die ei­ner Welt an­ge­hör­ten, wirk­li­cher als die, in der ich leb­te, und die, ein­mal er­wor­ben, mir nicht mehr von un­be­deu­ten­den, ob auch für mei­nen Kör­per schmerz­haf­ten Zu­fäl­len mei­nes mü­ßi­gen Da­seins ent­ris­sen wer­den konn­ten. Min­des­tens er­schi­en mir das be­vor­ste­hen­de Ver­gnü­gen bei der Auf­füh­rung als im Er­fas­sen die­ser Wahr­heit viel­leicht un­um­gäng­li­che Form, und so konn­te ich mei­ne Wün­sche dar­auf be­schrän­ken, die vor­her­ge­sag­ten Un­päß­lich­kei­ten soll­ten erst nach Schluß der Vor­stel­lung ein­set­zen, da­mit mein Ein­druck durch sie nicht be­ein­träch­tigt oder ver­fälscht wür­de. Fle­hent­lich bat ich mei­ne El­tern, die es seit dem Be­su­che des Arz­tes nicht mehr woll­ten, mich zu Phèdre ge­hen zu las­sen. Be­stän­dig sag­te ich mir die Rede auf: ›Man sagt, Euch wird von uns ein ra­scher Ab­schied tren­nen‹ und such­te da­bei nach al­len Be­to­nun­gen, die man hin­ein­le­gen konn­te, um bes­ser das Uner­war­te­te der einen zu er­mes­sen, wel­che die Ber­ma fin­den wer­de. Ver­bor­gen wie das Al­ler­hei­ligs­te vom ver­hül­len­den Vor­hang, hin­ter dem ich ihr je­den Au­gen­blick einen neu­en Aspekt ver­lieh -- im An­schluß an Ber­got­tes Wor­te, in der von Gil­ber­te ent­deck­ten Bro­schü­re, die mir in den Sinn ka­men: ›Plas­ti­scher Adel, christ­li­ches Buß­hemd, jan­se­nis­ti­sche Bläs­se, Prin­zes­sin von Trözen und von Cle­ve, my­ke­ni­sches Dra­ma, del­phi­sches Sym­bol, Son­nen­my­thos‹ --, so thron­te die gött­li­che Schön­heit, wel­che das Spiel der Ber­ma mir of­fen­ba­ren soll­te, Tag und Nacht über be­stän­dig flam­men­dem Al­tar in der Tie­fe mei­nes Geis­tes, -- mei­nes Geis­tes, der je nach der Ent­schei­dung mei­ner stren­gen und leicht­fer­ti­gen El­tern für im­mer die Voll­kom­men­hei­ten der Göt­tin, die sich auf der­sel­ben Stät­te ent­hüllt, wo ihre un­sicht­ba­re Ge­stalt sich er­hob, um­schlie­ßen soll­te oder nicht. Und so kämpf­te ich, die Au­gen auf das un­faß­ba­re Bild ge­hef­tet, von mor­gens bis abends ge­gen die Wi­der­stän­de, die mei­ne Fa­mi­lie mir ent­ge­gen­setz­te. Al­lein als die­se fie­len, als mei­ne Mut­ter -- ob­wohl die Ma­ti­nee ge­ra­de an dem Tage statt­fand, an dem mein Va­ter Herrn von Nor­pois nach der Kom­mis­si­ons­sit­zung zum Es­sen mit­brin­gen woll­te -- mir sag­te: »Höre, wir wol­len dich nicht be­trü­ben; wenn du glaubst, es wird dir sol­ches Ver­gnü­gen ma­chen, dann mußt du hin­ge­hen«, als die­ser bis­her ver­bo­te­ne Thea­ter­tag nur noch von mir ab­hing, jetzt zum ers­ten­mal, da ich mich nicht mehr mit der Auf­he­bung sei­ner Un­mög­lich­keit zu be­fas­sen brauch­te, frag­te ich mich, ob es denn wün­schens­wert sei, ob nicht an­de­re Grün­de als das Ver­bot der El­tern da­für sprä­chen, daß ich ver­zich­te. Hat­te ich zu­vor die Grau­sam­keit der El­tern ver­ab­scheut, so mach­te ihre Zu­stim­mung sie mir nun so teu­er, daß der Ge­dan­ke, sie zu be­küm­mern, mir sel­ber Kum­mer be­rei­te­te, durch den hin­durch mir als Sinn des Le­bens nicht mehr die Wahr­heit, son­dern die Lie­be er­schi­en und das Le­ben nur noch gut oder schlecht, je nach­dem mei­ne El­tern glück­lich oder un­glück­lich sein wür­den. »Lie­ber möch­te ich nicht hin­ge­hen, wenn es euch be­trübt«, sag­te ich mei­ner Mut­ter; sie hin­ge­gen be­müh­te sich, mich von dem Hin­ter­ge­dan­ken, sie kön­ne sich dar­um be­trü­ben, zu be­frei­en, der, mein­te sie, nur mein Ver­gnü­gen an Phèdre stö­ren wür­de, und um die­ses Ver­gnü­gens wil­len sei­en doch sie und der Va­ter von ih­rem Ver­bot zu­rück­ge­kom­men. Da aber kam mir die­se Art Ver­pflich­tung, Ver­gnü­gen zu emp­fin­den, recht schwer vor. Und dann: wür­de ich, wenn ich krank nach Hau­se käme, schnell ge­nug ge­ne­sen, um nach den Fe­ri­en in die Champs-Élysées zu ge­hen, so­bald Gil­ber­te wie­der hin­käme? Al­len die­sen Grün­den stell­te ich zum Ent­schei­dungs­kampf die hin­ter ih­rem Schlei­er un­sicht­ba­re Idee der Voll­kom­men­heit der Ber­ma ent­ge­gen. In die eine Wag­scha­le leg­te ich: »Füh­len, daß Mama trau­rig ist, ris­kie­ren, nicht in die Champs-Élysées ge­hen zu kön­nen, in die an­de­re ›jan­se­nis­ti­sche Bläs­se, Son­nen­my­thos‹, aber die­se Wor­te ver­dun­kel­ten sich schließ­lich selbst vor mei­nem Geist, sag­ten mir nichts mehr, ver­lo­ren al­les Ge­wicht; nach und nach wur­de das Zö­gern zu schmerz­lich: hät­te ich jetzt für das Thea­ter ent­schie­den, so wäre es nur ge­sche­hen, um die­sem Zö­gern ein Ende zu ma­chen und es ein für al­le­mal los zu sein. Nur noch, um mei­ne Lei­den ab­zu­kür­zen, nicht in der Hoff­nung mehr auf geis­ti­gen Ge­winn, noch in der Hin­ga­be an den Reiz des Voll­kom­me­nen hät­te ich mich zu der Göt­tin ge­lei­ten las­sen, die nun nicht mehr die wei­se Göt­tin war, son­dern die un­er­bitt­li­che Gott­heit ohne Ant­litz und Na­men, die ihr heim­lich hin­ter dem Schlei­er un­ter­ge­scho­ben wor­den. Da wur­de plötz­lich al­les an­ders. Mein Ver­lan­gen, die Ber­ma zu hö­ren, er­hielt von neu­em einen Schlag mit der Peit­sche, der mir er­laub­te, in freu­di­ger Un­ge­duld die Ma­ti­nee zu er­war­ten: als ich näm­lich vor der An­schlag­säu­le mei­ne täg­li­che, seit kur­z­em so qual­vol­le Sty­li­ten­sta­ti­on mach­te, sah ich, noch ganz feucht, die de­tail­lier­te An­zei­ge der Phèdre, die man ge­ra­de zum ers­ten­mal auf­ge­klebt hat­te (und auf der, die Wahr­heit zu sa­gen, die üb­ri­gen Ein­zel­hei­ten kei­nen neu­en ent­schei­den­den Reiz auf mich aus­üb­ten). Aber sie gab dem einen der Zie­le, zwi­schen de­nen mei­ne Un­ent­schie­den­heit schwank­te, eine kon­kre­te­re Form, die -- da die An­zei­ge nicht das Da­tum des Ta­ges trug, an dem ich sie las, son­dern des­sen, an dem die Auf­füh­rung statt­fin­den soll­te und noch dazu die Stun­de des Be­ginns -- et­was Nä­her­rücken­des, auf dem Wege der Ver­wirk­li­chung Be­grif­fe­nes hat­te, so daß ich freu­dig vor der Säu­le hüpf­te bei dem Ge­dan­ken, ich wer­de an die­sem Tage, ge­nau zu die­ser Stun­de auf mei­nem Plat­ze sit­zen und be­reit sein, die Ber­ma zu hö­ren; und aus Furcht, mei­ne El­tern könn­ten nicht mehr Zeit ha­ben, für die Groß­mut­ter und mich zwei gute Plät­ze zu be­schaf­fen, war ich mit ei­nem Satz wie­der zu Hau­se, ge­hetzt von den neu­en Zau­ber­wor­ten, die in mei­nem Geist ›jan­se­nis­ti­sche Bläs­se‹ und ›Son­nen­my­thos‹ er­setzt hat­ten, den Wor­ten: ›die Da­men müs­sen im Par­kett die Hüte ab­neh­men, die Saal­tü­ren wer­den um zwei Uhr ge­schlos­sen‹.

Ach, die­se ers­te Ma­ti­nee war eine große Ent­täu­schung. Mein Va­ter schlug vor, die Groß­mut­ter und mich auf sei­nem Wege zur Kom­mis­si­on vor dem Thea­ter ab­zu­set­zen. Vorm Weg­ge­hen sag­te er zu mei­ner Mut­ter: »Sieh zu, daß wir et­was Gu­tes zum Es­sen ha­ben; du weißt doch, ich soll Nor­pois mit­brin­gen.« Die Mut­ter hat­te es nicht ver­ges­sen. Und schon seit ges­tern war Françoi­se glück­lich, sich der Koch­kunst hin­ge­ben zu kön­nen, für die sie si­cher­lich Be­ga­bung be­saß, und noch be­son­ders feu­er­te sie die An­kün­di­gung ei­nes neu­en Tisch­gas­tes an; sie wuß­te, sie soll­te nach Metho­den, die nur ihr ei­gen wa­ren, den Boeuf à la gelée kom­po­nie­ren, und leb­te ganz in der Glut des Schaf­fens; da sie be­son­de­ren Wert auf die Qua­li­tät des Ma­te­ri­als leg­te, das not­wen­dig zur Her­stel­lung ih­res Wer­kes ge­hör­te, ging sie selbst in die Hal­len und ließ sich die schöns­ten Stücke Rums­teak, Rinds­bug und Kalbs­fuß ge­ben, dem Mi­che­lan­ge­lo ähn­lich, der acht Mo­na­te in den Ber­gen von Car­ra­ra ver­brach­te, um die voll­kom­mens­ten Mar­mor­blö­cke für das Denk­mal Ju­li­us’ II. aus­zu­wäh­len. Bei ih­rem Hin und Her leg­te Françoi­se sich der­art ins Zeug, daß Mama, als sie das er­hitz­te Ge­sicht un­se­rer al­ten Die­ne­rin sah, fürch­te­te, sie kön­ne krank wer­den von Übe­r­an­stren­gung wie der Schöp­fer der Me­di­ce­er­grä­ber in den Stein­brü­chen von Pie­tra­san­ta. Schon am Vora­bend hat­te sie den rosa Mar­mor des­sen, was sie Nev-York­schin­ken nann­te, zum Bä­cker ge­schickt, um ihn in schüt­zen­der Brot­teighül­le in den Ofen schie­ben zu las­sen. Da sie den Reich­tum der Spra­che un­ter­schätz­te und sich nicht auf ihre Ohren ver­ließ, hat­te sie ge­wiß, als sie zum ers­ten­mal von York­schin­ken re­den hör­te -- in der Mei­nung, es sei eine un­wahr­schein­li­che Ver­schwen­dung, daß im Vo­ka­bu­lar York und New-York zu­gleich exis­tie­ren soll­ten -- ge­glaubt, sie habe schlecht ver­stan­den und man habe ihr den Na­men sa­gen wol­len, den sie schon kann­te. So blieb denn für ihre Ohren und, wenn sie eine An­zei­ge las, für ihre Au­gen vor dem Wor­te York das New, wel­ches sie ›Ne­v‹ aus­sprach. Und in al­ler Treu­her­zig­keit sag­te sie zum Kü­chen­mäd­chen: »Ho­len Sie mir Schin­ken von Oli­da. Die gnä­di­ge Frau hat mir ein­ge­schärft, daß es Nev-Yor­ker sein soll.« Hat­te an die­sem Tage Françoi­se die glü­hen­de Si­cher­heit des großen Schöp­fers, so war mein Teil die quä­len­de Un­ru­he des Su­chen­den. Wohl emp­fand ich Freu­de, so­lan­ge ich die Ber­ma noch nicht ge­hört hat­te, Freu­de auf dem klei­nen Squa­re vor dem Thea­ter, wo zwei Stun­den spä­ter die kah­len Kas­ta­ni­en­bäu­me mit me­tal­li­schen Re­fle­xen auf­strah­len soll­ten, so­bald die La­ter­nen an­ge­steckt und die ein­zel­nen Blät­ter des Ast­werks be­leuch­tet sein wür­den; Freu­de vor den Kon­troll­be­am­ten, de­ren Wahl, Be­för­de­rung und Schick­sal von der großen Künst­le­rin ab­hin­gen -- sie be­hielt sich in der Ver­wal­tung alle Ent­schei­dun­gen vor, de­ren je­wei­li­ge rein no­mi­nel­le Di­rek­to­ren un­be­ach­tet wech­sel­ten. Die Be­am­ten nah­men un­se­re Bil­let­te, ohne uns an­zu­se­hen, sie wa­ren zu auf­ge­regt und be­sorgt, ob auch alle Vor­schrif­ten der Ber­ma dem neu­en Per­so­nal rich­tig über­mit­telt sei­en, ob man ver­stan­den habe, daß die Claque nie für sie klat­schen dür­fe, daß die Fens­ter of­fen sein soll­ten, so­lan­ge sie nicht auf der Büh­ne war, dann aber auch jede Tür ge­schlos­sen und in ih­rer Nähe ein Topf mit heißem Was­ser ver­steckt, um den Staub am Auf­stei­gen zu ver­hin­dern; nun muß­te ja gleich ihr Wa­gen mit den bei­den lang­mäh­ni­gen Pfer­den vor dem Thea­ter hal­ten und sie selbst, in Pel­ze gehüllt, aus­stei­gen, mit et­was mür­ri­scher Ges­te die Grü­ße er­wi­dern und eine aus ih­rer Ge­folg­schaft ent­sen­den, um sich über die Pro­sze­ni­ums­lo­gen, die für ihre Freun­de re­ser­viert wa­ren, über die Tem­pe­ra­tur des Saa­l­es, die Be­set­zung der Lo­gen, die Klei­dung der Lo­gen­schlie­ße­rin­nen zu in­for­mie­ren; Thea­ter und Pub­li­kum wa­ren für sie nur ein zwei­tes wei­te­res Ge­wand, in wel­ches sie glitt, ein bes­se­rer oder schlech­te­rer Wär­me­lei­ter ih­res Ta­len­tes. Auch im Saa­le selbst war ich glück­lich; seit ich -- im Ge­gen­satz zu der Vor­stel­lung, die lan­ge Zeit in mei­ner kind­li­chen Phan­ta­sie be­stan­den hat­te -- wuß­te, daß es für alle Welt nur eine Büh­ne gab, dach­te ich mir, die an­dern Zuschau­er müß­ten einen wie eine um­ge­ben­de Stra­ßen­men­ge am gu­ten Se­hen hin­dern, nun aber stell­te ich fest, daß viel­mehr je­der­mann dank ei­ner An­ord­nung, die gleich­sam das Sym­bol al­ler Wahr­neh­mung ist, sich als Mit­tel­punkt des Thea­ters emp­fin­det; und so er­klär­te ich mir, daß Françoi­se, die ein­mal zu ei­nem Sing­spiel auf den drit­ten Rang ge­schickt wur­de, nach­her zu Hau­se ver­si­chern konn­te, ihr Platz sei der al­ler­bes­te ge­we­sen, und statt sich zu weit ab zu füh­len, sei sie ein­ge­schüch­tert wor­den durch die ge­heim­nis­vol­le le­ben­di­ge Nähe des Vor­hangs. Mei­ne Freu­de wuchs noch, als ich be­gann, wir­re Geräusche, wie man sie un­ter der Eier­scha­le hört, wenn das Kücken her­aus will, hin­ter dem Vor­hang zu un­ter­schei­den; die­se Geräusche wur­den stär­ker, und plötz­lich rich­te­ten sie sich aus je­ner un­se­ren Au­gen un­durch­dring­li­chen Welt, die uns doch mit den ih­ren sah, un­zwei­fel­haft an uns selbst in der ge­bie­te­ri­schen Form drei­er Schlä­ge, er­re­gend wie Si­gna­le vom Pla­ne­ten Mars. Und als dann der Vor­hang auf­ging und auf der Büh­ne ein ganz ge­wöhn­li­cher Schreib­tisch und eben­sol­cher Ka­min an­deu­te­ten, die gleich auf­tre­ten­den Per­so­nen wer­den kei­ne Schau­spie­ler sein, die Ver­se auf­sa­gen kämen, wie ich das von ei­ner Abend­vor­stel­lung her kann­te, son­dern Leu­te, die bei sich zu Hau­se einen Tag ih­res Le­bens le­ben wür­den, in den ich ein­drang, ein­brach, ohne daß sie mich sa­hen --, da hielt mei­ne Freu­de im­mer noch vor; sie wur­de un­ter­bro­chen durch eine kur­ze Un­ru­he: ge­ra­de als ich die Ohren spitz­te, weil nun das Stück be­gin­nen soll­te, tra­ten zwei Män­ner auf die Büh­ne, die recht zor­nig wa­ren, sie spra­chen so laut, daß man im gan­zen Saal, der mehr als tau­send Men­schen faß­te, je­des Wort ver­stand, wäh­rend man doch in ei­nem klei­nen Café den Kell­ner fra­gen muß, was denn die bei­den In­di­vi­du­en da drü­ben, die sich an den Kra­gen ge­ra­ten, ei­gent­lich sa­gen; aber da gleich­zei­tig zu mei­ner Ver­wun­de­rung das Pub­li­kum, ohne zu pro­tes­tie­ren, zu­hör­te und ganz in ein­mü­ti­ges Schwei­gen ver­sun­ken war, auf wel­chem hier und da ein La­chen plät­scher­te, be­griff ich, die bei­den Un­ver­schäm­ten wa­ren Schau­spie­ler, und mit ih­rem Ge­spräch hat­te das klei­ne Stück be­gon­nen, das man le­ver de ri­deau nennt. Ihm folg­te eine ziem­lich lan­ge Pau­se: die Zuschau­er, die wie­der ihre Plät­ze ein­nah­men, wur­den un­ge­dul­dig und stampf­ten mit den Fü­ßen. Das er­schreck­te mich; es er­ging mir wie bei Lek­tü­re ei­nes Pro­zeß­be­rich­tes, in dem ich einen Mann von ed­ler Ge­sin­nung un­ter Nicht­ach­tung der ei­ge­nen In­ter­es­sen zu­guns­ten ei­nes Un­schul­di­gen zeu­gen sah und fürch­ten muß­te, man wer­de nicht freund­lich ge­nug zu ihm sein, ihm nicht dank­ba­re Aner­ken­nung ge­nug er­wei­sen, nicht nach Ver­dienst ihn reich be­loh­nen, so daß er sich schließ­lich an­ge­ekelt auf die Sei­te der Un­ge­rech­tig­keit schla­gen wer­de; so hat­te ich auch jetzt, Ge­nie und Tu­gend gleich­set­zend, Angst, die Ber­ma kön­ne sich är­gern der schlech­ten Ma­nie­ren ei­nes un­er­zo­ge­nen Pub­li­kums hal­ber -- un­ter dem ich sie doch so gern ei­ni­ge Berühmt­hei­ten hät­te er­ken­nen se­hen, auf de­ren Ur­teil sie Wert le­gen wür­de -- und es ihre Un­zu­frie­den­heit, ihre Ver­ach­tung füh­len las­sen, in­dem sie schlecht spie­le. Fle­hent­lich blick­te ich auf die bru­ta­len Stamp­fer: sie soll­ten nicht mit ih­rer Wut den ge­fähr­de­ten kost­ba­ren Ein­druck zer­stö­ren, den ich hier such­te. Die letz­ten Au­gen­bli­cke mei­ner Freu­de be­glei­te­ten die ers­ten Sze­nen von Phèdre. Im An­fang des zwei­ten Ak­tes er­scheint noch nicht Phèd­re selbst; und doch trat, so­bald der Vor­hang auf­ge­gan­gen war und ein zwei­ter aus ro­tem Samt sich ge­teilt hat­te, der in al­len Stücken, in de­nen der Star spiel­te, die Tie­fe der Büh­ne ab­trenn­te, durch die Mit­te eine Schau­spie­le­rin auf mit ei­nem Ge­sicht und ei­ner Stim­me, wie man mir die Ber­ma be­schrie­ben hat­te. Man hat­te wohl die Sze­nen­fol­ge ge­än­dert: alle Sorg­falt, die ich auf das Stu­di­um der Rol­le von The­seus’ Gat­tin ver­wen­det hat­te, wur­de nutz­los. Dann aber gab eine zwei­te Schau­spie­le­rin der ers­ten das Stich­wort. Ich muß­te mich ge­täuscht ha­ben, als ich die ers­te für die Ber­ma hielt, die zwei­te glich ihr noch mehr, hat­te mehr als die an­de­re ihre Dik­ti­on. Bei­de be­glei­te­ten üb­ri­gens die Wor­te ih­rer Rol­le mit ed­len Ge­bär­den, die ich deut­lich wahr­nahm und in ih­rer Be­zie­hung zum Tex­te ge­nau er­faß­te; sie lie­ßen ihre schö­nen Pe­p­la wal­len; auch an sinn­rei­chem Ton­fall, bald lei­den­schaft­lich, bald iro­nisch, lie­ßen sie es nicht feh­len, und ich be­griff die Be­deu­tung man­ches Ver­ses, über den ich zu Hau­se weg­ge­le­sen hat­te, ohne ge­nü­gend zu be­ach­ten, was er be­sa­gen woll­te. Aber plötz­lich er­schi­en in der Öff­nung des ro­ten Vor­hangs des Hei­lig­tums wie in ei­nem Rah­men eine Frau, und an der Angst, die mich be­fiel -- viel ban­ger als die der Ber­ma sein moch­te, Öff­nen ei­nes Fens­ters kön­ne sie stö­ren, das Ra­scheln ei­nes Pro­gramms den Klang ei­nes ih­rer Wor­te be­ein­träch­ti­gen, man kön­ne sie ver­stim­men, in­dem man ih­ren Ka­me­ra­den Bei­fall spen­de und ihr nicht ge­nug -- und an der Art, wie ich, noch un­be­ding­ter als die Ber­ma selbst, von die­sem Au­gen­blick an Saal, Pub­li­kum, Schau­spie­ler, Stück und mei­nen ei­ge­nen Kör­per als akus­ti­schen Empfangs­ap­pa­rat an­sah, der nur in dem Maße Be­deu­tung hat­te, als er sich den Mo­du­la­tio­nen die­ser Stim­me an­paß­te, be­griff ich, daß die bei­den seit ei­ni­gen Mi­nu­ten von mir be­wun­der­ten Schau­spie­le­rin­nen gar kei­ne Ähn­lich­keit mit der hat­ten, die zu hö­ren ich ge­kom­men war. Aber zu­gleich war es mit all mei­ner Freu­de vor­bei; um­sonst hef­te­te ich Au­gen, Ohren und Sinn auf die Ber­ma, da­mit mir von den Grün­den, die sie mir ge­ben wür­de, sie zu be­wun­dern, auch nicht das kleins­te Teil­chen ver­lo­ren gin­ge: es ge­lang mir nicht, einen ein­zi­gen zu ge­win­nen. Ich konn­te nicht ein­mal wie bei ih­ren Kol­le­gin­nen in der Dik­ti­on und im Spiel sinn­rei­chen Ton­fall und schö­ne Ge­bär­den wahr­neh­men. Ich hör­te sie, wie ich Phèdre ge­le­sen oder wie Phèd­re selbst im ge­ge­be­nen Au­gen­blick die Din­ge ge­sagt hät­te, die ich ver­nahm, ohne daß das Ta­lent der Ber­ma ih­nen für mich et­was hin­zutat. Ich hät­te je­den Ton­fall der Künst­le­rin, je­den Aus­druck ih­res Ge­sich­tes, um ihn tiefer zu er­grün­den, um sei­ne be­son­de­re Schön­heit zu ent­de­cken, fest­hal­ten, lan­ge Zeit ban­nen mö­gen; zum min­des­ten ge­dach­te ich, mei­ne geis­ti­ge Be­weg­lich­keit dar­ein zu set­zen, auf je­den Vers eine ganz ge­sam­mel­te, ge­reif­te Auf­merk­sam­keit zu rich­ten, von der Dau­er je­des Wor­tes, je­der Ges­te kein Bruch­teil über vor­be­rei­ten­den An­stal­ten zu ver­lie­ren und dank mei­ner An­span­nung so tief in Wor­te und Ges­ten ein­zu­drin­gen, als hät­te ich da­für noch lan­ge Stun­den zur Ver­fü­gung. Aber wie kurz war die­se Dau­er! Kaum hat­te mein Ohr einen Ton auf­ge­nom­men, so er­setz­te ihn schon ein an­de­rer. Bei ei­ner Sze­ne, in der die Ber­ma einen Au­gen­blick vor der De­ko­ra­ti­on, die das Meer dar­stellt, un­be­wegt steht, den Arm zu Ge­sichts­hö­he er­ho­ben und durch einen Be­leuch­tungs­ef­fekt in grün­li­ches Licht ge­taucht, brach der Saal in lau­ten Bei­fall aus, aber schon hat­te die Schau­spie­le­rin die Stel­lung wie­der ge­wech­selt, und das Bild, das ich stu­die­ren woll­te, exis­tier­te nicht mehr. Ich sag­te mei­ner Groß­mut­ter, ich sähe nicht gut. Sie gab mir ihr Opern­glas. Al­lein, wenn man an die Wirk­lich­keit der Din­ge glaubt, gibt der Ge­brauch ei­nes künst­li­chen Mit­tels, sie sich zei­gen zu las­sen, nicht das äqui­va­len­te Ge­fühl ih­rer Nähe. Ich dach­te, das sei nicht mehr die Ber­ma, was ich sah, son­dern nur ihr Bild im ver­grö­ßern­den Gla­se. Ich leg­te das Glas weg; aber war nun das Bild, das mein Auge durch die Ent­fer­nung ver­klei­nert emp­fing, ex­ak­ter? Wel­che der bei­den Ber­ma war die rich­ti­ge? Auf die Lie­bes­er­klä­rung an Hip­po­lyt hat­te ich sehr ge­rech­net; aus der sinn­rei­chen Be­deu­tung, die ihre Kol­le­gin­nen mir in we­ni­ger schö­nen Par­ti­en im­mer wie­der auf­zeig­ten, schloß ich, daß die Ber­ma si­cher einen Ton­fall fin­den wer­de viel über­ra­schen­der als al­les, was ich mir zu Hau­se bei der Lek­tü­re vor­zu­stel­len ver­sucht hat­te; aber sie er­reich­te nicht ein­mal, was Öno­ne und Ari­cie ge­fun­den hät­ten. Sie lei­er­te die gan­ze Ti­ra­de gleich­mä­ßig her­un­ter, in der doch so schar­fe Ge­gen­über­stel­lun­gen sich ver­schmel­zen, daß eine nur ei­ni­ger­ma­ßen in­tel­li­gen­te Tra­gö­din, und wäre es auch nur eine Ly­zeums­schü­le­rin, die Wir­kung nicht ver­nach­läs­sigt hät­te; üb­ri­gens sag­te sie das Gan­ze so schnell auf, daß mir erst, als sie beim letz­ten Ver­se an­ge­langt war, die ge­woll­te Mo­no­to­nie be­wußt wur­de, die sie in die ers­ten ge­legt hat­te. End­lich brach mein ers­tes Ge­fühl der Be­wun­de­rung aus: es wur­de her­vor­ge­ru­fen durch den fre­ne­ti­schen Bei­fall der Zuschau­er. Ich klatsch­te mit und such­te durch hef­ti­ges Wei­te­rap­plau­die­ren den Bei­falls­sturm zu ver­län­gern, da­mit die Ber­ma aus Dank­bar­keit sich heu­te selbst über­trä­fe und ich si­cher sei, sie an ei­nem ih­rer bes­ten Tage ge­hört zu ha­ben. Merk­wür­dig ist üb­ri­gens, daß ge­ra­de an der Stel­le, die den Bei­fall des Pub­li­kums ent­fes­sel­te, die Ber­ma, wie ich spä­ter er­fah­ren habe, einen ih­rer schöns­ten Ein­fäl­le hat. Es sen­den of­fen­bar be­stimm­te tran­szen­den­te Wirk­lich­kei­ten Strah­len um sich aus, für wel­che die Men­ge emp­fäng­lich ist. So er­re­gen ja auch, bei ge­wis­sen Er­eig­nis­sen, wenn zum Bei­spiel ein Heer an der Gren­ze in Ge­fahr, ge­schla­gen oder sieg­reich ist, die ziem­lich dunklen Nach­rich­ten, die ein­tref­fen und aus de­nen der Ge­bil­de­te nicht viel zu schlie­ßen weiß, in der Men­ge eine Be­we­gung, die ihn über­rascht und in der er, wenn ihn in­zwi­schen die Sach­ver­stän­di­gen über die wah­re mi­li­tä­ri­sche Lage un­ter­rich­tet ha­ben, die Fä­hig­keit des Vol­kes er­kennt, jene ›Au­ra‹ rings um die großen Er­eig­nis­se wahr­zu­neh­men, sie auf Hun­der­te von Ki­lo­me­tern zu se­hen. Man er­fährt einen Sieg ent­we­der nach­träg­lich, wenn der Krieg zu Ende ist, oder um­ge­hend durch die Freu­de des Por­tiers. Ei­nen ge­nia­len Zug im Spiel der Ber­ma ent­deckt man acht Tage, nach­dem man sie ge­hört, durch die Kri­tik oder um­ge­hend durch den Bei­fall des Par­ter­res. Da aber die­se un­mit­tel­ba­re Er­kennt­nis der Men­ge mit hun­dert an­de­ren ir­ri­gen ver­mengt ist, geht der Ap­plaus meis­tens fehl, ganz ab­ge­se­hen da­von, daß er me­cha­nisch von der Kraft frü­he­rer Bei­falls­stür­me er­regt wird, wie das Meer, das ein Sturm ge­nü­gend auf­ge­wühlt hat, fort­fährt an­zu­schwel­len, auch wenn der Wind nicht mehr wächst. Wie dem auch sei, in dem Maße als ich Bei­fall klatsch­te, schi­en mir, die Ber­ma habe bes­ser ge­spielt. Ne­ben mir sag­te eine ziem­lich ge­wöhn­lich aus­se­hen­de Frau: »Die gibt sich we­nigs­tens aus, macht sich’s sau­er, ra­ckert sich ab, das nen­ne ich mir noch Thea­ter spie­len.« Ich war ganz glück­lich, die­se Er­klä­run­gen für die Über­le­gen­heit der Ber­ma zu be­kom­men, ob­wohl ich ahn­te, daß sie sie nicht mehr er­klär­ten als den Per­seus von Ben­ve­nu­to Cel­li­ni oder die Gio­con­da der Aus­ruf ei­nes Bau­ern: »Gut ge­macht ist das schon! Ge­die­gen und sau­ber! Und wel­che Ar­beit!«, und trun­ken teil­te ich den der­ben Trank die­ser volks­tüm­li­chen Be­geis­te­rung. Als aber der Vor­hang fiel, fühl­te ich doch eine Ent­täu­schung, daß die so sehr er­sehn­te Lust nicht grö­ßer ge­we­sen, zu­gleich das Be­dürf­nis, sie zu ver­län­gern und nicht mit dem Ver­las­sen des Saa­l­es für im­mer dies Thea­ter­le­ben auf­zu­ge­ben, das für ein paar Stun­den mein ei­ge­nes ge­wor­den war. Wie bei ei­ner Abrei­se ins Exil hät­te ich mich los­rei­ßen müs­sen, und wie soll­te ich jetzt di­rekt nach Hau­se ge­hen kön­nen, wenn ich nicht hät­te hof­fen dür­fen, dort viel über die Ber­ma zu er­fah­ren von ih­rem Be­wun­de­rer, dem ich die Er­laub­nis zu Phèdre zu ge­hen, ver­dank­te, Herrn von Nor­pois. Ich wur­de ihm vor dem Es­sen von mei­nem Va­ter vor­ge­stellt, der mich dazu in sein Ar­beits­zim­mer rief. Bei mei­nem Ein­tritt er­hob sich der Bot­schaf­ter, reich­te mir die Hand, neig­te sei­ne hohe Ge­stalt und hef­te­te auf­merk­sam die blau­en Au­gen auf mich. Da die durch­rei­sen­den Frem­den, die ihm zur Zeit, als er Frank­reich re­prä­sen­tier­te, vor­ge­stellt wur­den, mehr oder we­ni­ger -- und wa­ren es auch nur be­kann­te Tenö­re -- Per­so­nen von Be­deu­tung wa­ren, von de­nen er spä­ter, wenn in Pa­ris oder Pe­ters­burg ihr Name fiel, sa­gen konn­te, er er­in­ne­re sich sehr wohl des Abends, den er in Mün­chen oder So­fia mit ih­nen ver­bracht habe, so hat­te er die Ge­wohn­heit an­ge­nom­men, neu Vor­ge­stell­ten durch lie­bens­wür­di­ges Ent­ge­gen­kom­men Zufrie­den­heit über die Be­kannt­schaft aus­zu­drücken; mehr noch: er war über­zeugt, daß man im Le­ben der Haupt­städ­te durch die Berüh­rung so­wohl mit den in­ter­essan­ten In­di­vi­dua­li­tä­ten, die sie durch­que­ren, als mit den Ge­bräu­chen des Vol­kes, das sie be­wohnt, eine ver­tief­te Kennt­nis, die Bü­cher nicht ge­ben kön­nen, von Ge­schich­te, Geo­gra­phie, den Sit­ten der ver­schie­de­nen Na­tio­nen und der geis­ti­gen Be­we­gung Eu­ro­pas ge­winnt, und so übte er an je­dem An­kömm­ling sei­ne schar­fen Beo­b­ach­tungs­ga­ben, um so­gleich zu mer­ken, mit was für ei­ner Art Mensch er zu tun habe. Seit lan­gem hat­te ihm die Re­gie­rung kei­nen Pos­ten im Aus­lan­de mehr an­ver­traut; so­bald man ihm aber je­mand vor­stell­te, be­gan­nen sei­ne Au­gen, als sei­en sie von sei­nem Austritt aus dem ak­ti­ven Dienst nicht amt­lich be­nach­rich­tigt wor­den, mit Nut­zen zu be­ob­ach­ten, wäh­rend er durch sei­ne gan­ze Hal­tung aus­zu­drücken such­te, daß ihm der Name des Frem­den nicht un­be­kannt sei. So sprach er denn auch zu mir gü­tig und mit der im­po­san­ten Mie­ne ei­nes Man­nes, der sich des wei­ten Fel­des sei­ner Le­bens­er­fah­rung be­wußt ist; da­bei er­forsch­te er mich un­auf­hör­lich mit scharf­sin­ni­ger, ihm nutz­brin­gen­der Neu­gier, als wäre ich eine exo­ti­sche Sit­te, ein lehr­rei­ches Denk­mal oder ein auf der Tour­nee be­grif­fe­ner Star. Er be­wies an mei­ner Per­son gleich­zei­tig die er­ha­be­ne Freund­lich­keit des wei­sen Men­tor und die eif­ri­ge Wiß­be­gier des jun­gen Anachar­sis.

Er bot mir kei­ner­lei Emp­feh­lun­gen an die Re­vue des Deux-Mon­des an, stell­te aber eine Rei­he Fra­gen über mein Le­ben, mei­ne Stu­di­en und mei­ne Nei­gun­gen, von de­nen ich zum ers­ten­mal in ei­ner Art spre­chen hör­te, als kön­ne man ih­nen ver­nünf­ti­ger­wei­se nach­ge­hen, wäh­rend ich bis­her ge­glaubt hat­te, es sei Pf­licht, ih­nen zu wi­der­stre­ben. Da die­se Nei­gun­gen auf sei­ten der Li­te­ra­tur la­gen, such­te er mich nicht von die­ser ab­zu­brin­gen; viel­mehr sprach er mit höf­li­cher Ach­tung von ihr wie von ei­ner ver­eh­rungs­wür­di­gen char­man­ten Per­son aus er­le­se­nem Krei­se, der man in Rom oder Dres­den das bes­te An­den­ken be­wahrt hat und die man be­dau­er­li­cher­wei­se durch den Zwang der Ver­hält­nis­se so sel­ten wie­der­trifft. Mit ei­nem fast schlüpf­ri­gen Lä­cheln nei­de­te er mir die an­ge­neh­men Stun­den, die sie mir Glück­li­che­rem und Freie­rem ver­schaf­fe. Aber die Wen­dun­gen, de­ren er sich be­dien­te, zeig­ten mir die Li­te­ra­tur sehr ver­schie­den von dem Bil­de, das ich mir in Com­bray von ihr ge­macht hat­te; und ich sah ein, daß ich dop­pelt recht ge­habt hat­te, ihr zu ent­sa­gen. Bis­her war mir nur zum Be­wußt­sein ge­kom­men, daß ich kei­ne Be­ga­bung zum Schrei­ben habe, jetzt nahm mir Herr von Nor­pois auch das Ver­lan­gen da­nach. Ich woll­te ihm aus­drücken, was ich mir er­träumt hat­te; in mei­ner zit­tern­den Er­re­gung hät­te ich mir Skru­pel ge­macht, wenn mei­ne Wor­te nicht das denk­bar auf­rich­tigs­te Äqui­va­lent des­sen, was ich fühl­te und bis­her noch nie zu for­mu­lie­ren ver­sucht hat­te, ge­we­sen wä­ren, und so wur­den die­se Wor­te na­tür­lich ganz un­klar. Vi­el­leicht aus Be­rufs­ge­wohn­heit, viel­leicht kraft der je­dem hoch­ge­stell­ten Mann ei­ge­nen Ruhe (denn, wenn man ihn um Rat fragt, ist er si­cher, den Gang des Ge­sprä­ches zu be­herr­schen, und läßt den Un­ter­red­ner sich auf­re­gen, ab­mü­hen und nach Her­zens­lust schuf­ten), viel­leicht auch, um den Cha­rak­ter sei­nes Kop­fes zur Gel­tung zu brin­gen (der, nach sei­ner Mei­nung trotz der großen ›Fa­vo­ris‹ grie­chisch war), pfleg­te Herr von Nor­pois, wäh­rend man ihm et­was dar­leg­te, eine ab­so­lut un­be­weg­li­che Mie­ne zu be­wah­ren: man sprach wie zu ei­ner tau­ben an­ti­ken Büs­te in ei­ner Glyp­to­thek. Plötz­lich er­klang dann wie der fal­len­de Ham­mer des Auk­tio­na­tors oder wie ein del­phi­sches Ora­kel die Stim­me des Bot­schaf­ters, und sei­ne Ant­wort war um so ein­drucks­vol­ler, als nichts in sei­ner Mie­ne hat­te ver­mu­ten las­sen, was für einen Ein­druck er von dem an­dern emp­fan­gen habe, noch was für eine Mei­nung er wohl äu­ßern wer­de.

Mit ein­mal sag­te er, als sei die Sa­che ent­schie­den, nach­dem er mich an­ge­sichts der un­be­weg­ten Au­gen, die kei­nen Au­gen­blick von mir ablie­ßen, lan­ge hat­te schwat­zen las­sen: »Gera­de ist mir der Sohn ei­nes mei­ner Freun­de ge­gen­wär­tig, dem es ›mu­ta­tis mu­tan­dis‹ geht wie Ih­nen« (und er nahm, um von un­sern ge­mein­sa­men An­la­gen zu spre­chen, einen be­gü­ti­gen­den Ton an, als hand­le es sich nicht um An­la­gen zur Li­te­ra­tur, son­dern zum Rheu­ma­tis­mus, und als wol­le er mir zei­gen, daß man nicht dar­an stirbt). »Die­ser jun­ge Mann hat es vor­ge­zo­gen, den Quai d’Or­say zu ver­las­sen, wo ihm doch der Weg durch den Va­ter ge­eb­net war, und ohne sich um das Ge­re­de der Leu­te zu küm­mern, hat er sich an­ge­schickt zu pro­du­zie­ren. Si­cher­lich hat er kei­nen An­laß, es zu be­reu­en. Er hat vor zwei Jah­ren -- er ist, ne­ben­bei be­merkt, na­tür­lich be­deu­tend äl­ter als Sie -- ein Werk ver­öf­fent­licht, das sich mit dem Ge­fühl des Unend­li­chen vom west­li­chen Ufer des Vik­to­ria-Nyas­sa-Sees be­faßt, und dies Jahr ein we­ni­ger wich­ti­ges, aber mit hur­ti­ger, bis­wei­len so­gar ziem­lich schar­fer Fe­der ge­schrie­be­nes Büch­lein über das Re­pe­tier­ge­wehr in der bul­ga­ri­schen Ar­mee, Ar­bei­ten, die ihm be­reits einen be­son­de­ren Platz ge­si­chert ha­ben. Er hat schon eine hüb­sche Stre­cke zu­rück­ge­legt und ist nicht der Mann, auf hal­b­em Wege ste­hen zu blei­ben. Wie ich weiß, hat man, ohne den Ge­dan­ken ei­ner Kan­di­da­tur ins Auge zu fas­sen, in der Aca­dé­mie des Sciences Mora­les im Lau­fe des Ge­sprächs sei­nen Na­men zwei-, drei­mal fal­len las­sen, und zwar in ei­ner durch­aus nicht un­güns­ti­gen Art. Kurzum, wenn man auch noch nicht be­haup­ten kann, daß er be­reits den Gip­fel des Par­naß er­klom­men habe, er hat mit küh­nem An­griff eine recht hüb­sche Stel­lung er­obert, und der Er­folg, der denn doch nicht im­mer nur den Stür­mern, Wirr­köp­fen und Wich­tig­tu­ern, de­ren We­sen eben meist nur Getu ist, zu­fällt, der Er­folg hat sei­ne Mühe ge­lohnt.«

Mei­nem Va­ter, der mich nun schon in ei­ni­gen Jah­ren Aka­de­mi­ker wer­den sah, war deut­lich eine Ge­nug­tu­ung an­zu­mer­ken, die Herr von Nor­pois auf die Spit­ze trieb, in­dem er mir nach kur­z­em Zö­gern und in sicht­li­cher Be­rech­nung der Fol­gen, die sein Schritt ha­ben könn­te, sei­ne Kar­te reich­te und sag­te: »Be­su­chen Sie ihn doch mit mei­ner Emp­feh­lung, er wird Ih­nen nütz­li­che Ratschlä­ge ge­ben kön­nen.« Die­se Wor­te ver­ur­sach­ten mir eine so pein­li­che Er­re­gung wie etwa die Mit­tei­lung, ich soll­te mich mor­gen als Schiffs­jun­ge auf ei­nem Seg­ler ein­schif­fen.

2.

Mei­ne Tan­te Leo­nie hat­te mir zu­sam­men mit vie­len läs­ti­gen Ge­gen­stän­den und Mö­beln fast ihr gan­zes flüs­si­ges Ver­mö­gen ver­erbt und so nach ih­rem Tode eine Zu­nei­gung of­fen­bart, die ich zu ih­ren Leb­zei­ten durch­aus nicht ver­mu­te­te. Mein Va­ter, der dies Ver­mö­gen bis zu mei­ner Mün­dig­keit zu ver­wal­ten hat­te, be­frag­te Herrn von Nor­pois über die An­la­ge ei­ni­ger Wer­te. Der Bot­schaf­ter riet zu schwach­ver­zins­ten Pa­pie­ren, die er für be­son­ders so­li­de er­ach­te­te, na­ment­lich zu Eng­li­schen Kon­sols und vier­pro­zen­ti­gen Rus­sen. »Mit die­sen erst­klas­si­gen Wer­ten«, sag­te er, »sind Sie, wenn der Zins­fuß auch nicht so hoch ist, we­nigs­tens si­cher, Ihr Ka­pi­tal nie ge­fähr­det zu se­hen.« Da­nach be­rich­te­te ihm mein Va­ter im großen gan­zen, was er für den Rest des Gel­des ge­kauft habe. Auf Herrn von Nor­pois’ Zü­gen er­schi­en ein kaum merk­li­ches Glück­wun­schlä­cheln: wie alle Ka­pi­ta­lis­ten sah er in ei­nem Ver­mö­gen et­was im­mer Be­nei­dens­wer­tes, fand es aber zart­füh­lend, sein Kom­pli­ment zu solch ei­nem Be­sitz nur durch eine kaum ein­ge­stan­de­ne Ge­bär­de des Ver­ständ­nis­ses aus­zu­drücken; da er selbst ko­los­sal reich war, hielt er es an­de­rer­seits für ge­schmack­voll, mit ei­nem im­mer­hin be­hag­lich-mun­te­ren Rück­blick auf die ei­ge­nen hö­he­ren Ein­künf­te die ge­rin­ge­ren der an­de­ren nicht un­be­trächt­lich zu schät­zen. Er nahm kei­nen An­stand, mei­nem Va­ter zu der »wohl­ab­ge­wo­ge­nen, über­le­ge­nen Si­cher­heit«, mit der er sein Por­te­feuil­le ›kom­po­nier­t‹ habe, zu gra­tu­lie­ren. Es war, als schrie­be er den Be­zie­hun­gen der Bör­sen­pa­pie­re zu­ein­an­der und auch den ein­zel­nen Pa­pie­ren eine Art äs­the­ti­schen Rang zu. Über ein ziem­lich neu­es un­be­kann­tes, das mein Va­ter er­wähn­te, äu­ßer­te Herr von Nor­pois, ähn­lich den Leu­ten, die ein Buch, das wir al­lein zu ken­nen glau­ben, auch ge­le­sen ha­ben: »Oh doch, ich habe mich eine Zeit­lang da­mit un­ter­hal­ten, es auf dem Kurs­zet­tel zu ver­fol­gen, es war in­ter­essant«, und hat­te da­bei das re­tro­spek­tiv ge­fes­sel­te Lä­cheln ei­nes Abon­nen­ten, der den letz­ten Ro­man ei­ner Re­vue in Fort­set­zun­gen ge­le­sen hat. »Ich will Ih­nen nicht da­von ab­ra­ten, sich bei der be­vor­ste­hen­den Lan­cie­rung an der Sub­skrip­ti­on zu be­tei­li­gen. Das Pa­pier hat et­was An­zie­hen­des, die An­teil­schei­ne wer­den Ih­nen zu ver­füh­re­ri­schen Prei­sen an­ge­bo­ten.« Als auf be­stimm­te äl­te­re Ef­fek­ten die Rede kam, an de­ren Na­men mein Va­ter sich nicht ge­nau er­in­ner­te, da sie leicht mit de­nen ähn­li­cher Ak­ti­en zu ver­wech­seln wa­ren, öff­ne­te er eine Schub­la­de und zeig­te die Pa­pie­re selbst dem Bot­schaf­ter. Ihr An­blick ent­zück­te mich: sie wa­ren ver­ziert mit Ka­the­dra­len­pfei­lern und al­le­go­ri­schen Fi­gu­ren, wie ge­wis­se alte Pub­li­ka­tio­nen aus der Zeit der Ro­man­tik, die ich frü­her durch­blät­tert hat­te. Al­les, was der glei­chen Epo­che ent­stammt, sieht sich ähn­lich; den Künst­lern, die Dich­tun­gen ei­ner Zeit il­lus­trie­ren, ge­ben auch die zeit­ge­nös­si­schen Finanz­ge­sell­schaf­ten Auf­trä­ge: und nichts er­in­nert mehr an ge­wis­se Lie­fe­run­gen von Notre-Dame de Pa­ris und von Gérard de Ner­vals Wer­ken, wie ich sie im Schau­fens­ter des Krä­mers von Com­bray ge­se­hen, als, in ih­rer recht­wink­li­gem, be­blüm­ten, von Fluß­gott­hei­ten ge­stütz­ten Ein­fas­sung, eine Ak­tie der Ge­sell­schaft der Was­ser­wer­ke.

Mein Va­ter hat­te für mei­ne Art, mich zu den Din­gen zu stel­len, eine Ver­ach­tung, die durch Zu­nei­gung ge­nug­sam ge­mil­dert war, um mei­nem Tun und Trei­ben ge­gen­über eine blin­de Nach­sicht wal­ten zu las­sen. So trug er denn kei­nen An­stand, mich ein klei­nes Ge­dicht in Pro­sa ho­len zu las­sen, das ich frü­her ein­mal in Com­bray nach ei­nem Spa­zier­gang ver­faßt hat­te. Ich hat­te es in ei­nem Zu­stand von schwär­me­ri­scher Be­geis­te­rung ge­schrie­ben, der, wie ich wähn­te, sich den Le­sern mit­tei­len müß­te. Aber Herrn von Nor­pois teil­te er sich nicht mit; ohne ein Wort zu sa­gen, gab er mir das Ge­dicht zu­rück.

Schüch­tern trat mei­ne Mut­ter, die vol­ler Ehr­furcht für des Va­ters Be­schäf­ti­gun­gen war, ins Zim­mer und frag­te, ob sie an­rich­ten las­sen dür­fe. Sie fürch­te­te, eine Un­ter­hal­tung zu un­ter­bre­chen, in die sie nicht ein­zu­be­zie­hen war. In der Tat sprach der Va­ter zu Herrn von Nor­pois im­mer wie­der von al­ler­hand nütz­li­chen Maß­nah­men, die sie bei­de bei der nächs­ten Kom­mis­si­ons­sit­zung be­für­wor­ten woll­ten, und zwar in dem be­son­de­ren Ton, den zwei Kol­le­gen in ei­ner un­ge­wohn­ten Um­ge­bung ha­ben: dar­in sind sie zwei Gym­na­sias­ten ähn­lich: ihre be­ruf­li­chen Ge­wohn­hei­ten schaf­fen ih­nen ge­mein­sa­me Erin­ne­run­gen und sie ent­schul­di­gen sich, wenn sie vor an­dern, de­nen die­se Din­ge un­zu­gäng­lich sind, dar­auf zu­rück­kom­men.

Aber die voll­kom­me­ne Un­ab­hän­gig­keit der Ge­sichts­mus­keln, zu der Herr von Nor­pois ge­langt war, er­laub­te ihm zu­zu­hö­ren, ohne daß er zu ver­ste­hen schi­en. Mein Va­ter ver­wirr­te sich schließ­lich: »Ich hat­te ge­dacht, die Mei­nung der Kom­mis­si­on zu be­fra­gen ...«, sag­te er nach lan­gen Um­schwei­fen zu Herrn von Nor­pois. Da ka­men aus dem Ge­sicht des ad­li­gen Vir­tuo­sen, der bis­her starr wie ein Or­che­s­ter­mu­si­ker ver­harrt hat­te, der sei­nen Ein­satz ab­war­tet, scharf und gleich­mä­ßig im Vor­trag, eben nur das Ende des an­ge­fan­ge­nen Sat­zes, doch in ei­nem neu­en Ton­fall, die Wor­te: »-- de­ren Stim­men Sie selbst­ver­ständ­lich un­ver­züg­lich zu­sam­men­brin­gen wer­den, um so mehr als die Mit­glie­der Ih­nen als In­di­vi­du­en be­kannt sind und sich leicht zu­sam­men­brin­gen las­sen.« Das war an und für sich nicht ge­ra­de er­staun­lich als Ab­schluß des Sat­zes; aber die vor­her­ge­gan­ge­ne Un­be­weg­lich­keit ließ es kris­tal­len, frap­pant, fast spöt­tisch sich ab­lö­sen, wie ge­wis­se mu­si­ka­li­sche Phra­sen, die in ei­nem Kon­zer­te von Mo­zart das bis­her schweig­sa­me Kla­vier dem Cel­lo ein­wirft.

»Nun, bist du von dei­ner Ma­ti­nee be­frie­digt ge­we­sen?« frag­te mein Va­ter mich, wäh­rend wir zu Tisch gin­gen: er woll­te mich zur Gel­tung brin­gen und hoff­te, Herr von Nor­pois wer­de mei­ne Be­geis­te­rung zu schät­zen wis­sen. »Er hat ge­ra­de die Ber­ma ge­hört, Sie er­in­nern sich, wir ha­ben dar­über mit­ein­an­der ge­spro­chen«, wand­te er sich dann an den Di­plo­ma­ten im Tone der re­tro­spek­ti­ven, ver­trau­li­chen An­spie­lung un­ter Fach­leu­ten, als hand­le es sich um eine Sit­zung der Kom­mis­si­on.

»Da wer­den Sie ent­zückt ge­we­sen sein, zu­mal wenn Sie die Künst­le­rin zum ers­ten­mal ge­hört ha­ben. Ihr Herr Va­ter mach­te sich Ge­dan­ken we­gen der even­tu­el­len Rück­wir­kung die­ses klei­nen Sei­ten­sprun­ges auf Ihren Ge­sund­heits­zu­stand, denn Sie sind, glau­be ich, et­was zart, ein we­nig sen­si­bel. Aber da habe ich ihn be­ru­higt. Die Thea­ter sind heut nicht mehr das, was sie vor zwan­zig Jah­ren noch ge­we­sen sind. Sie fin­den leid­lich an­ge­neh­me Sit­ze vor und einen gut durch­ge­lüf­te­ten Raum, ob­gleich wir noch viel zu tun ha­ben, um Deutsch­land und Eng­land ein­zu­ho­len, die uns in die­sem Punk­te wie in man­chen an­dern er­schre­ckend vor­an sind. Ich habe Frau Ber­ma in Phèdre