Auf freiem Fuß - Sabrina Fox - E-Book

Auf freiem Fuß E-Book

Sabrina Fox

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Beschreibung

Worum geht es? Wie läuft es sich barfuß durch alle vier Jahreszeiten? Konsequentes Barfußlaufen stellt unsere Lebensgewohnheiten in Frage und verbessert Gesundheit und Selbstbewusstsein. In ihrem Buch gibt die Autorin eine praktische Anleitung für den Schritt in eine neue Freiheit.

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Das Buch

»Was mich am meisten beim Barfußgehen überrascht hat, war das Gefühl von Freiheit, das man damit bekommt. Die Füße wachen wieder auf und man entdeckt ein neues Sinnesorgan.«

Eigentlich ist Barfußlaufen etwas ganz Natürliches. Sicher, aber etwas ganz Normales in unseren Breiten gewiss nicht. Das und noch vieles andere mehr hat Sabrina Fox in dem Jahr ihres Barfuß-Experiments erfahren müssen. Sie startete mit dem Bewusstsein, für sich und ihre Füße nur das Beste zu tun. Davon ist sie auch heute noch überzeugt. Dennoch hat sie die Reaktion ihrer Mitmenschen das ein oder andere Mal erstaunt.

Mit ihrem unnachahmlichen Humor berichtet sie von amüsanten Erlebnissen und gibt praktische Informationen rund um’s Barfußgehen.

Am Ende des Buches werden Sie sicherlich das ein oder andere Paar Schuhe entsorgen und hin und wieder barfuß gehen. Genießen Sie die Freiheit!

Die Autorin

Sabrina Fox beschäftigt sich seit fast fünfundzwanzig Jahren mit ganzheitlichen Themen. Von 1988 bis 2005 lebte sie in Los Angeles und begann dort ein intensives spirituelles Training. Sie absolvierte Ausbildungen als Hypnosetherapeutin, Mediatorin und Konflikt-Coach und studierte Bildhauerei und Gesang. Davor arbeitete sie als Moderatorin für das deutsche Fernsehen. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt jetzt wieder in ihrer Geburtsstadt München. Ihre Bücher haben eine Gesamtauflage von über einer Mio. Exemplaren.

Von Sabrina Fox sind in unserem Hause erschienen:

BodyBlessing – Der liebevolle Weg zum eigenen Körper

Kein fliegender Wechsel –Jede Frau wird älter, fragt sich nur wie

SABRINA FOX

Auf freiem Fuß

Ein Jahr ohne Schuhe?

Ein Experiment

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1225-5

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Ralf LayUmschlaggestaltung: Sukey Brandenburger, München, unter Verwendung privater Fotos der AutorinInnenillustrationen: © Sabrina Fox

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Irgendwann in der Zukunft

»Wo sind denn Ihre Schuhe?«

Willkommen im Barfuß-Land

Ist sie betrunken?

»Ist Ihnen nicht kalt?«

Der Körper lügt nicht

»Schuhe? Zweiter Stock!«

Eine Frau ohne Schuhe mitten im Winter?

»Sie ziehen das wirklich durch!«

»Warum tun wir Frauen uns das eigentlich an?«

»Das irritiert mich jetzt schon, dass Sie keine Schuhe tragen«

»Es ist nicht illegal, es ist nur ungewöhnlich«

»Ich hab noch nie jemanden gesehen, der hier barfuß rausgeht«

»Achtung! Achtung! Das ist ein Test!«

Die Entdeckung eines neuen Sinnesorgans

Dank

Anhang

Wie fange ich mit dem Barfußgehen an?

Barfußbücher und empfehlenswerte Links

Bücher

Empfehlenswerte Links

Barfußschuhe

Über die Autorin

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Gewidmet in Dankbarkeitder Münchner Straßenreinigung

Irgendwann in der Zukunft

»Mama, schau mal, was ich da gefunden habe!«

»Das sind Fotos. Damit haben sich in früheren Zeiten die Menschen erinnert.«

»Was haben die denn da alle an den Füßen?«

»Das sind Schuhe.«

»Schuhe?«

»Damit hat man früher die Füße abgedeckt.«

»Ja, aber …«

»Ich weiß, aber damals dachte man, dass man sie braucht, und sie waren eben mal modern.«

»Wo sind denn Ihre Schuhe?«

Der Mann, der mit mir an der roten Ampel wartet, schaut mich überrascht an, als er mir diese Frage stellt.

»Sie sind zu Hause in meinem Schrank.«

Ich lächle ihn an und merke im selben Moment, dass das so eigentlich nicht ganz stimmt. Meine Schuhe sind in drei Schränken untergebracht.

Ich habe hundertzwei Paar. Ich hatte zwar immer gewusst, dass ich viele Schuhe besitze, aber dass es so viele sind, hätte ich nicht gedacht. Niemand braucht hundertzwei Paar Schuhe (wie viele man wirklich braucht, würde ich bald herausfinden).

Allein Flipflops habe ich elf Paar! Ich besitze erstaunlicherweise zehn Paar schwarze Stiefel: schwarze Cowboyboots, flache Stiefel mit Lammfell und flache Stiefel ohne Fell. Overknees mit hohem Absatz und Overknees mit flachem Absatz. Ich habe einmal hohe Stiefel bis unters Knie mit breitem Absatz und einmal mit elegantem Absatz. Ebenfalls in unterschiedlicher Absatzhöhe besitze ich zwei Paar Ankleboots (auf Deutsch die gute Stiefelette, die knöchelhoch ist), vorn abgerundet, und zusätzlich noch zwanzig Jahre alte Ankleboots, die vorn spitz zulaufen. Die werden bestimmt wieder modern. Wann ich die zum letzten Mal getragen habe? Ich kann mich nicht erinnern. Zwölf, dreizehn Jahre ist das bestimmt her. Und dann besitze ich noch ein Paar schwarze australische Uggs. Die habe ich als Stiefel gar nicht mitgezählt, weil die eher so was wie ein Fell-Hausschuh für draußen sind. Ich mag meine Uggs. Sie sind so elegant wie ein Traktor, aber so nützlich wie eine Küche. Davon habe ich ein weiteres Paar in Hellbraun und noch eines in Dunkelblau. Da kann man einfach bequem rein- und rausschlüpfen.

Ich habe Schuhe, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr getragen habe. Jedes Mal, wenn ich in meinen Schränken aufräume und Sachen hergebe – Sie werden es nicht glauben, aber das mache ich tatsächlich –, habe ich dieses bestimmte Paar Wanderstiefel in der Hand, von denen ich immer wieder glaube, dass ich sie doch noch mal anziehe. Vielleicht brauche ich die mal, wenn ich über die Alpen wandere? Oder diese zwei Paar handbestickter Pantoletten von Emma Hope. Das sind Kunstwerke! Die hatte ich letztes Mal, lassen Sie mich nachdenken, 1991 an. Die haben ein Vermögen gekostet! Und sie sehen toll aus – in meinem Schrank.

In meinen drei Schränken.

Es gibt Schuhe, die ich vielleicht einmal im Jahr anziehe. Davon habe ich jede Menge: meine witzigen lila High Heels zum Beispiel. Weiße Pumps, die man wirklich so gut wie nie braucht. Und dann gibt es Schuhe, die habe ich noch nie getragen: beige Ankleboots mit schwarzer Spitze. (Was mich da geritten hat? Ich weiß es nicht.) Wie viele ich wirklich oft regelmäßig trage? Vielleicht fünfzehn, vielleicht achtzehn Paar.

In meinem rechten Schuhschrank befindet sich auch eine Schale mit Blasenpflaster für meine sehr empfindlichen Füße. Jedes Frühjahr, wenn sie aus den dicken Winterschuhen und den Socken in die Sommerschuhe mit den entzückenden Riemchen wechseln wollen, brauche ich Blasenpflaster. Jede Menge Blasenpflaster.

Ich habe immer Blasenpflaster in meinem Portemonnaie. Vor Jahren habe ich auch diese Gel-Pflaster entdeckt, die den Druck wegnehmen. Einfach hinten in den Schuh reindrücken, und schon wird er erträglich.

Ja, erträglich. So war das noch bis vor Kurzem.

»Was ist denn da passiert?«, werden Sie sich jetzt möglicherweise fragen.

Seit knapp fünfundzwanzig Jahren beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang von Seele, Körper und Geist. Gerade in den letzten Jahren legte sich der Fokus meiner Arbeit stärker darauf, unser Instrument – unseren Körper – zu verstehen: wie er mit uns kommuniziert, wie wir ihn unterstützen können, welche Warnzeichen er uns gibt, was wir über ihn wissen können, damit wir in unserer Gesamtheit ein glückliches und erfülltes Leben führen können. Wir – als unendliche Seele – können nur hier leben, wenn wir einen Körper haben. Und die Qualität unseres Lebens wird entscheidend davon beeinflusst, wie wohl wir uns in unserem Körper fühlen und mit welcher Sorgfalt wir ihn beachten. Der Körper lügt nicht. Wenn wir aufmerksam sind, erkennen wir seine Zeichen.

Ich schreibe in meinen eigenen Büchern seit Jahren auch immer über das Barfußgehen: darüber, die Füße zu erden, länger barfuß zu gehen und sich der eigenen Wurzeln wieder bewusst zu werden. Auf meiner Fan-Facebook-Seite gibt es einmal die Woche eine Übung, und immer mal wieder heißt es: »Schuhe aus und Mutter Erde spüren.« Mittlerweile ist das schon so etwas wie ein Running Gag geworden. Einer der Kommentare dazu kam eines Tages von einer Frau, die das Buch Füße gut. Alles gut von Carsten Stark gelesen hatte und es mir empfahl: »Da ist jemand, der auch über das Barfußgehen spricht. So wie Du.«

Ich flog von München nach Hamburg, um ein paar Termine wahrzunehmen, und ich las in dem Buch. Darin werden diverse Übungen vorgeschlagen, die ich in Reihe 14C allerdings nicht machen konnte, und so freute ich mich darauf, sie bei meinen Freunden Eva und Wolfram auszuprobieren.

Während unseres gemeinsamen Abendessens erzählte ich ihnen von meinem neuen Lesestoff und den Übungen. Bei der ersten sollten wir barfuß stehen, dann den großen und den kleinen Zeh entspannt am Boden liegen lassen und die drei mittleren Zehen nach oben und unten bewegen – so als ob sie winkten.

Drei Augenpaare starren jetzt auf meine nackten Zehen, die sich entweder alle oder gar nicht bewegen. Bei Eva und Wolfram klappt es auch nicht wie im Buch beschrieben. So weit ist es also schon mit uns gekommen: Wir haben Muskeln, die wir nicht mehr eigenständig bewegen können. Ich weiß, früher konnten wir auch mit den Ohren wackeln, was mittlerweile eine seltene Begabung ist, die nicht so oft gebraucht wird – aber die Zehen benutzen wir doch sehr viel häufiger in unserem Bewegungsapparat.

Die zweite Übung soll den Unterschied zwischen Fersen- und Ballengang aufzeigen. Wir stehen dazu auf, stecken uns Finger in die Ohren und gehen ein paar Schritte, wie wir normalerweise gehen würden: auftretend mit der Ferse. Gleichzeitig schauen wir uns erschrocken an: Meine Herren, ist das laut! Wum! Wum! Wum! Ich verspüre das dringende Bedürfnis, mich bei meinem Körper zu entschuldigen. Ich hatte ja keine Ahnung, was er mit jedem Schritt auf die Ferse aushalten muss.

Dann geht es weiter mit dem zweiten Teil der Übung: wieder die Finger in die Ohren und jetzt mit dem Vorderfuß – also dem Ballen – zuerst auftreten. Davon abgesehen, dass wir so aussehen, als wanderten wir vorsichtig über glühende Kohlen, ist es beglückend still im Körper.

Im Buch steht viel über den Ballengang, also unsere Möglichkeit, zuerst mit dem Vorderfuß aufzutreten, statt mit der Ferse hart aufzukommen und nach vorn abzurollen, wie wir das alle brav gelernt haben. Beim Barfußlaufen kommen wir automatisch zuerst mit dem Ballen auf. Die Ferse berührt nur am Schluss leicht den Boden. Wenn wir Schuhe tragen, ist es fast immer umgekehrt.

Ich gehe nachdenklich ins Bett. Was tue ich da mit jedem normalen Fersenschritt meinem Körper an? Ich fühle mich, wie sich ein Kinderschläger fühlen muss, dem mit einem Mal klar wird, dass Prügel keine Erziehungsmaßnahme ist. Auch ich schlage meinen Körper mit jedem Schritt. Das kann nicht richtig sein. Das klingt nicht gut!

Ich bin ein Klangmensch. Ich singe jeden Tag, und Töne sind für mich wichtig. Dieser Krach, das sind die »Töne«, denen mein Körper ständig ausgesetzt ist.

Am nächsten Morgen machen wir mit den zwei kleinen Hunden einen Spaziergang im Wald. Ich will gleich umsetzen, was ich gelesen habe, und ziehe meine Schuhe und Socken aus. Dieser Waldweg ist ideal fürs Barfußgehen: einfach nur eingestampfte Erde. Glatt. Gelegentlich kleine Steinchen, denen man ausweichen kann. Eva zieht ihre Schuhe auch für eine Weile aus, genießt das Erspüren des Waldbodens und übt – wie ich –, vorn aufzutreten. Wolfram ist vorausgejoggt und probiert es am Ende seines Laufs auch mit dem Ballengang. »Interessant«, meint er.

Beide sind nur halb so begeistert wie ich. Ich aber bebe innerlich. Mich hat's erwischt. Das kenne ich schon: Mit diesem ersten Impuls wird bei mir ein Forscherdrang ausgelöst, der so stark ist, dass ich ihm weder ausweichen kann noch ausweichen will. Ich werde auf dieser Spur bleiben, bis ich das gelernt habe, was für mich wichtig ist, auch wenn ich die Einzige auf weiter Flur bin. Was ich dann auch sein soll, wie ich schon bald merke.

Aber zuerst geht es zurück ins Auto. Einen Blick auf meine Füße, und mir wird klar, dass ich den halben Waldboden mit ins saubere Auto schleppen würde. Die beiden Hunde müssen hinten in den Kombi. Ich in Zukunft auch? Gott sei Dank habe ich immer Taschentücher dabei und reinige damit meine Fußsohlen. Mit Schuhen wäre ich einfach eingestiegen, obwohl ich da genauso viel Dreck ins Auto gebracht hätte. Nicht die einzige absurde Selbstverständlichkeit, die mir noch auffallen sollte.

Auf dem Rückweg zum Flughafen lese ich im Taxi. Ich lese, während ich beim Einchecken am Gate warte, ich lese im Flieger; und kurz bevor wir in München landen, bin ich dann fertig.

Mit dem Buch und mit den Schuhen.

Was wäre, so frage ich mich, wenn ich wirklich sehr viel öfter auf Schuhe verzichtete? Ich wohne zwar nicht mehr in einem Haus mit Garten, wo das Barfußgehen auf dem Rasen kein Problem wäre, sondern seit zehn Jahren mitten in der Stadt, und der weitläufige Englische Garten von München ist zwanzig Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt. Aber ich habe auch immer gedacht, dass auf Steinen zu gehen ungesund sei, doch jetzt lese ich, dass dies gar nicht stimmt. Es kommt darauf an, wieich auftrete: laut oder leise, mit der Ferse oder mit dem Ballen.

Ich spüre, dies ist ein neues Abenteuer. Eins, das nicht von mir erwartet, dass ich in fremde Länder reise, neue Sprachen lerne oder ein enormes Risiko eingehe. Sondern das im Grunde nur eines von mir verlangt: die Schuhe auszuziehen.

Ich entschließe mich, das auf der Stelle auszuprobieren. Wir sind schon im Landeanflug, als ich mir die Turnschuhe samt Socken ausziehe. Der Sitzplatz neben mir ist frei, niemand bemerkt etwas.

Sofort meldet sich eine meiner inneren Stimmen: »Also jetzt spinnst du ja komplett! Du wirst wahrscheinlich am Flughafen sofort wegen ungebührlichen Verhaltens verhaftet werden. Zieh dir sofort wieder deine Schuhe an! Das macht man nicht! Außerdem ist es kalt. In München hat's geregnet.«

Seit vielen Jahren beobachte ich mit großer Aufmerksamkeit diese inneren Stimmen, sprich Gedanken, in meinem Kopf, um sie zu entschlüsseln und sie dann gegebenenfalls zu beruhigen oder zu verstärken. Sie lassen sich mit Archetypen vergleichen. Archetypen sind Vertreter einer Idee. Diese inneren Stimmen, die wir mehr oder weniger alle hören, sind zu unserem Wachstum da. Je bewusster wir uns entscheiden, welcher wir zuhören und folgen wollen, desto wacher werden wir. Das sind keine »Wesen«, die mit uns sprechen und dabei eine unterscheidbare individuelle Sprache und Tonlage haben, sondern das sind Gedanken, die aus der Vergangenheit kommen.

Die Stimme, die sich jetzt gerade meldet, basiert auf einer Vorstellung davon, wie ich mich gefälligst zu verhalten habe. Diese Vorstellung kommt aus meinem genetischen Material, meiner Erziehung, meinen Erlebnissen und meinen Lernprozessen. Zusammen formt das meine Persönlichkeit beziehungsweise mein Ego.

Im Laufe des Lebens können wir unser Ego entweder wachsen lassen oder zurückfahren. Es wächst zum Beispiel durch Arroganz, Hass, Angst, Geltungstrieb oder Gier. Es wird zurückgefahren durch Freude, Wohlwollen, Respekt, Liebe und Demut. Aber um diese Stimmen – und ihren Ursprung – leichter einzuordnen, habe ich ihnen Namen gegeben.

Die gerade erwähnte heißt bei mir »Frau Obrigkeitshörig«. Meistens schmunzle ich, wenn ich sie wahrnehme. Früher hat sie mein Leben entscheidend beeinflusst. Ohne ihre »Erlaubnis« habe ich wenig unternommen. Heute ist sie ein Relikt meiner Vergangenheit wie eine Narbe auf der Haut, die zwar noch da ist, aber keinen Einfluss mehr auf mein Leben hat. Trotzdem nervt sie ab und zu.

Wie auch »Frau Pflichtbewusst«, die mir immer wieder einzureden versucht – manchmal auch erfolgreich –, dass Freude und Leichtigkeit frivol sind und nicht zu einer ernsthaften Person gehören. Sie ist es, der nie etwas gut genug ist und die mir gern sagt, was ich alles noch zu lernen, zu tun und zu machen habe.

Dann gibt es noch die Stimme der »Herbergsmutter«. So hat mich mal ein Freund vor dreißig Jahren genannt und meinte damit, dass ich mich – wie die Leiterin einer Herberge – um alles und jedes kümmere. Damals fand ich das nett, denn mir war nicht klar, dass ich harmoniesüchtig war. Frau Herbergsmutter will es ruhig im Haus haben: keine Probleme, keinen Streit, niemanden, der unglücklich ist. »Herberge« ist ein veraltetes Wort, und doch passt es – weil ich es auch als eine veraltete Angewohnheit von mir betrachte.

Alle drei Stimmen will ich nicht ganz loswerden. Ich mag Frau Pflichtbewusst und ihre guten Seiten. Das harmonische Umfeld, das die Herbergsmutter mag, ist auch mir wichtig, und selbst Frau Obrigkeitshörig ist gelegentlich nützlich. Aber sie müssen sich meinem Wachstum als Mensch unterordnen. Und diese Unterordnung fällt allen dreien sehr schwer.

Die innere Stimme, die ich »Frau Schönermachen« nenne, meldet sich auch gern. Sie liebt Harmonie und Balance. Sie mag es sauber und aufgeräumt: aufgeräumte Gedanken wie aufgeräumte Schuhschränke. Sie liebt es, Dinge zu verbessern und zu verschönern. Sei es der Abfall, der auf der Straße liegt, die Weltlage im Allgemeinen, eine energetisch schwere Wohnung, die Frisur einer Freundin. Sie liebt intelligente Entscheidungen und die Möglichkeit, dazuzulernen. Natürlich hat sie auch ihre Schattenseite. Ihre Herausforderung ist es, nicht immer alles »besser« machen zu müssen, nicht alles »perfekt« zu erledigen, sondern neben dem Genießen auch zu akzeptieren, was ist.

Eine weitere Stimme ist die von »Frau Freude«, die sich ihren Platz immer mal wieder erkämpfen muss. Ich verspreche ihr regelmäßig, mehr auf sie zu hören. Frau Pflichtbewusst kann sie überhaupt nicht leiden, und die Herbergsmutter empfindet sie als egoistisch – aber das ist bei den unterschiedlichen Aufgabengebieten auch kein Wunder.

Als ich die Schuhe auszog, meldete sich zuerst Frau Freude, aber sie wurde sofort von Frau Obrigkeitshörig unterbrochen. Meistens ignoriere ich ihre Ausbrüche, manchmal spreche ich mit ihr – wie jetzt – in der Hoffnung, dass sie sich weniger meldet: »Frau Obrigkeitshörig. Du reagierst nach antiquierten Vorstellungen aus meiner Kindheit. Wir können unsere Schuhe ausziehen, wenn wir das möchten. Da wird uns niemand davon abhalten. Wir sind erwachsen.«

»Erwachsen? Das sieht nicht nach erwachsen aus. Du gehst hier barfuß! Das ist kindisch! Kindisch und dumm! Wir werden auffallen!«

Tja, das ist allerdings blöd. Ich falle nicht gern auf. Im Berufsleben ist das etwas anderes. Wenn ich einen Vortrag halte, ist es ganz praktisch, wenn man mich bemerkt. Aber sonst, abseits einer Bühne, freue ich mich über Unauffälligkeit.

»Freutest du dich über Unauffälligkeit«, schimpfte Frau Obrigkeitshörig in mir. »Das ist mit deinen nackten Füßen vorbei. Überleg dir das gut.«

Das Flugzeug landet mit einem sanften Aufprall, und ich blicke auf meine Füße, die jetzt auch gelandet sind. Sie sehen eigentlich ganz entspannt aus, wie sie da auf dem Flugzeugteppich mit ihren manikürten beige lackierten Nägeln herumstehen.

Ich mag meine Füße. Das hilft wahrscheinlich beim Barfußgehen. Manche Füße sind wie ungewöhnliche Skulpturen. Da ich unter anderem auch Bildhauerin bin und mit Ton arbeite, hatte ich bei meinem Studium viel mit dem aufmerksamen Betrachten von Körperteilen zu tun. Füße übten schon immer eine Faszination auf mich aus. Sie können mich beglücken, aber auch anekeln. Sie können Persönlichkeit ausstrahlen oder auch Witz. Die Zehen meiner Schwester Susanne sind wie Schauspieler in einem Stück: die Heldin (große Zehe), mächtig, selbstsicher und stolz. Daneben die Anti-Heldin: sehr viel schmäler und nicht gerade glücklich darüber, die Nummer zwei zu sein. Das könnte jetzt ein Zwei-Personen-Stück werden, wenn sich nicht die drei viel kleineren Zehen auf die Bühne drängelten.

Die mittlere Zehe ist sehr unglücklich über den Größenunterschied von fast einem Zentimeter zu den anderen beiden. Da hilft es nichts, dass sie die Schönste ist: Sie hat den schönsten Nagel, die tadelloseste Figur, die eleganteste Ausrichtung. Aber das tröstet sie nicht, weil sie sich in der Mitte nicht wirklich beachtet fühlt. Der zweitkleinste Zeh sucht ihre Nähe, aber die Mittelzehe ist daran nicht interessiert. Sie will mit dem Kleinzeug nichts zu tun haben. Tja, und wir können uns vorstellen, was das mit dem zweitkleinsten Zeh macht: konstante Zurückweisung! Auch vom kleinsten Zeh, der nach unten schaut. In Amerika würde der kleinste Zeh Pinky heißen, der einzige Zeh, der einen eigenen Namen hat, aber hier wird er nur herumgestoßen: Stühle, Türen, Tische, Steine. Jeder scheint es auf ihn abgesehen zu haben. Kein Wunder, dass er den Kopf einzieht.

Die Zehen meiner Schwester sind großes Kino. Meine dagegen sind langweilig. Sie stehen etwas uninspiriert in Reih und Glied. Von meinen Zehen schert niemand besonders aus der Reihe. Meine Füße zeigen auch keine besondere Persönlichkeit. Bis auf die Ausbuchtung des äußeren Mittelfußknochens an der Hälfte meines Fußes, der den schönen und nicht wirklich merkfähigen Namen »Tuberositas« hat. Sie finden Ihren, wenn Sie auf Ihrem Fuß an der Außenkante entlangstreichen. Ziemlich genau in der Hälfte spüren Sie eine kleine, harte Ausbuchtung. Das ist das besagte Ende des äußeren Mittelfußknochens, der als reines Knochengerüst immer so aussieht, als wäre da etwas abgebrochen. Bei eleganten Füßen ist das kaum sichtbar, und der Fuß geht in der Mitte zusammen wie bei einer schmalen Taille. Meine hingegen sind in der Mitte fast genauso breit wie am Ballen. Trotzdem habe ich relativ schmale Füße.

Ich habe Schuhgröße 39½. Als meine Mutter mich zum ersten Mal aus der Windel schälte, fiel ihr auf, dass meine Füße größer waren als die der anderen Babys in der Säuglingsstation. Genau genommen waren meine doppelt so groß. Erschrocken zeigte sie der Krankenschwester ihr Neugeborenes. Wenn der Fuß so weitergewachsen wäre, hätten wir uns auf Schuhgröße siebzig einstellen müssen.

»Keine Sorge. Das verwächst sich. Ihre Tochter lebt eben auf großem Fuß«, beruhigte die Schwester.

Ich mag Füße und bin empfindlich, was Füße angeht. Ungepflegte Füße sind mir ein Gräuel. Bei zu langen Zehennägeln muss ich wegschauen, und vielleicht sind deswegen meine auch immer besonders kurz gehalten. Ich weiß, es gibt Leute, die den Anblick von Füßen allgemein nicht ertragen können. Obwohl es mit der Einführung der Flipflops kaum einen großen Unterschied zu meinen nackten Füßen gibt.

Es ist Juli. Die Leute haben sich schon an nackte Füße gewöhnt. Hoffe ich.

Das Flugzeug leert sich, und ich hole mir meinen Rollkoffer oben aus dem Gepäckfach. Werde ich auffallen, oder merken es die Leute gar nicht?

»Völlig egal. Geh einfach und genieß es.«

An dieser Stimme und an diesen Gedanken erfreue ich mich am meisten: Das ist die Stimme meiner Seele, die mir eine weise Instanz ist und deren Klarheit mich immer wieder entspannt. Ich atme tief durch und hole mich wieder von der Außen- in die Innenwahrnehmung. Ich beachte aufmerksam die Fahrt des Rollkoffers vor mir, bedanke mich beim Rausgehen bei den Flugbegleitern und mache meinen ersten Schritt in ein neues Land.

Ein Barfuß-Land.

Willkommen im Barfuß-Land

– Juli –

Ich ging seit vielen Jahren barfuß, aber immer an den üblichen Plätzen. Zu Hause. Auf einer Wiese. Am Strand. In meiner Yogastunde. Noch nie hingegen waren meine Füße auf den Gehwegen einer Stadt, in einem Restaurant, in einem Museum oder in einem Geschäft unbeschuht. Ich machte etwas, was »man« nicht macht. Und so fühlte es sich auch ein wenig an, als würde ich etwas falsch machen. Ich trat vom Flugzeug auf den dunklen Bodenbelag des Landefingers und war überrascht, wie viel kühler der doch war. Ich spürte Temperaturschwankungen, die mir bisher völlig entgangen waren.

Dann betrat ich den Flughafen und damit den Flughafenboden. Ich war begeistert! Ich hatte keine Ahnung, wie angenehm der Münchner Flughafenboden war. Da muss eine Fußbodenheizung drunterliegen. Ich ging langsam und bemüht im Ballengang. Streckte den Fuß wie eine Ballerina nach vorn, setzte zuerst den Ballen auf und sank erst dann ganz zum Boden. Ich musste mich konzentrieren, damit ich nicht automatisch mit der Ferse aufkam. Wenn meine Füße Augen gehabt hätten, hätten sie mich erstaunt angeschaut. Doch meine Augen waren beschäftigt. Wir suchten eine Apotheke.

Nach meinem gestrigen Spaziergang im Wald war mir klar, dass ich in Zukunft etwas zum Abwischen brauchte, was besser funktioniert als meine trockenen Taschentücher. Ich bin praktisch veranlagt. Ich würde ja nicht nur in meiner Wohnung barfuß gehen, sondern auch in den Wohnungen von Freunden oder Freunden von Freunden. Da wollte ich nicht mit schmutzigen Füßen herumlaufen. Ich brauchte ein Waschbecken. Zu Hause kein Problem, aber in einem Restaurant zum Beispiel schwierig umzusetzen. Ich musste also etwas mit mir herumtragen, was mich unabhängig von diversen Waschgelegenheiten sein ließ.

An der Schwelle zur Apotheke blieb ich kurz stehen. Darf man da überhaupt barfuß rein?

Frau Obrigkeitshörig meldete sich vehement: »Also nein, du wirst doch jetzt nicht in einen Laden einfach so …«

»Guten Abend. Haben Sie feuchte Abwischtücher?«

Vielleicht wären ja auch Abschminktücher ganz praktisch?

Die Apothekerin zeigte mir verschiedene Packungen. Ich entschied mich für die dickste. Wer weiß, wie oft ich die benutzen muss und wie viele Tücher ich jedes Mal brauche? Reicht da ein Tuch? Oder eines pro Fuß? Eine andere Apothekerin kam an die Theke, um eine neue Kundin zu bedienen. Ich stellte meinen Rollkoffer so, dass er meine Füße verdeckte.

Frau Obrigkeitshörig meldete sich: »Wundere dich nicht, wenn du eine schwere Hand auf deiner Schulter spürst und dich jemand anschnauzt, dass du gefälligst anständig bekleidet hier rumlaufen musst. Ich habe dich gewarnt.«

Auch die Herbergsmutter in mir war unglücklich. Sie mag keine Abenteuer. Nichts, bei dem man etwas tut, was andere eben nicht machen. Sie will keine Blicke auf sich ziehen und keine abschätzenden Kommentare hören. Da ist sie sich mit Frau Obrigkeitshörig ganz einig. Ihr Beweggrund ist allerdings ein anderer: Sie will es harmonisch.

Ich ging durch den Bereich der Zollkontrolle, und zwei Beamte starrten auf meinen Rollkoffer, um zu sehen, woher ich komme. Daneben gingen meine nackten Füße. Die Herbergsmutter bestand auf ein harmloses Lächeln, und Frau Obrigkeitshörig fühlte sich verängstigt und schickte mir kalten Schweiß. Ich konnte es nicht fassen: »Wie alt sind wir noch mal?«

Beide zogen sich beleidigt zurück.

Wir sind nicht verhaftet worden.

Ich schlängelte mich durch die Gruppe von wartenden Abholern und konzentrierte mich auf meinen Vorderfußgang. Das war gut so. Da fiel mir gar nicht auf, ob mich jemand beobachtete. Ich sah die verglaste Drehtür, durch die ich nach draußen kommen würde. Meine Augen sagten: »Brrr. Es ist zehn Uhr abends, und dieser Sommer war ja wirklich kein Sommer. Wir müssen uns Schuhe anziehen. Siehst du nicht, dass es kalt ist?«

Ich sah es schon, aber ich ging trotzdem einfach weiter. Meine Füße machten den ersten Schritt nach draußen. Schlagartig wurde mein Körper wacher. Ein kühler Wind ließ mich meine Jacke zumachen, aber meine Füße fanden das spannend. Wenn man den Gedanken »Kalt ist gleich unangenehm« weglässt, dann erlebt man das recht entspannt. Natürlich gab es einen Unterschied vom warmen Flughafenboden zum nasskalten Gehweg, aber unangenehm ist das nicht. Im Gegenteil. Es war ein anderes Gefühl. Ein waches Gefühl. Jeder Schritt war eine neue Offenbarung.

Meine Füße schickten Informationen des Wohlbefindens nach oben: »Was wisst ihr als Augen schon von Kälte? Ihr sitzt schön verpackt mitten im Kopf! Wir mögen das.«

Die Augen schauten erstaunt. »Das ist ja interessant, dass ihr das mögt. Und wir wollten euch schützen.«

Es war dunkel, und ich sah nicht genau, wo ich hintrat. Das wird schon irgendwie gehen.

Meine Füße bahnten sich neugierig den Weg von den Gehwegplatten zum Fliesenboden im Aufzugsbereich des Parkhauses. Immer im Ballengang. Nichts war mehr übrig von einem automatischen Gehen. Hier wurde Aufmerksamkeit verlangt. Wie wenn ich meditieren würde. Ich zahlte für mein Parkticket, ging in den Aufzug und dann zum Auto. Ich begegnete niemandem. Ich wischte mir meine Füße ab, die gar nicht so schmutzig waren, wie ich angenommen hatte, und startete mein Auto. Eiskalte Luft blies auf meine nackten Füße. Ich schaltete die Heizung an – mitten im Juli – und fuhr los.

Barfuß.

Darf man das überhaupt?

Frau Obrigkeitshörig zwang mich anzuhalten. Ich zog brav mein Smartphone heraus und googelte mit folgenden Suchwörtern: barfuß, Auto, fahren.

Man darf. Es ist nicht verboten. Würde ja auch keinen Sinn machen, denn schließlich habe ich mit nackten Füßen ein sehr viel besseres Gespür. High Heels, Flipflops oder dickes klobiges Schuhwerk wären da deutlich gefährlicher. Außerdem rutscht man nicht ab, und Kraft wie früher braucht man bei den heutigen Autos auch nicht mehr.

Frau Obrigkeitshörig biss sich prompt an einer nebensächlichen Stelle fest: »Bei einem Unfall kann es mit der Versicherung kritisch werden.« Den Satz danach aber übersah sie: Es muss bewiesen werden, dass der Autounfall durch das Fehlen von Schuhen entstanden ist.

Es kann bei einem Unfall kritisch werden, stand da. Und das konnte nun wirklich alles bedeuten. Und wie man den ursächlichen Zusammenhang beweisen will, war mir auch völlig unklar.

Ich gab Gas und erfreute mich an der warmen Luft, die jetzt auch langsam meine Füße wärmte.

Regel Nummer eins: Bewahre im Auto warme Schuhe zum Reinschlüpfen auf.

In meiner Abendmeditation fiel mir auf, wie sehr meine Fußsohlen kribbelten. Ich hatte sie noch nie in einer Meditation so intensiv gespürt.

Am nächsten Morgen stehe ich vor meinem offenen Schuhschrank beziehungsweise vor meinen drei offenen Schuhschränken. Tja, das sieht nicht gut aus. Eigentlich sieht es gut aus – meine Schuhe sind ordentlich aufgereiht und in einem guten Zustand –, es sei denn, man ist von der schieren Masse schockiert. Jetzt stehen die Sommerschuhe unten und die Winterschuhe oben. Im Herbst wird getauscht. Dazwischen stehen die Schuhe, die jahreszeitenunabhängig sind.

Meine Schuhe waren bisher nach Farben geordnet. Jetzt ordne ich sie nach einem anderen Kriterium: Was kann ich noch tragen und was nicht? Alles mit dicker und inflexibler Sohle ist nicht barfußgerecht. Tja, damit fallen schon mal achtzig Prozent raus. Sohlen waren mir immer egal. Außer ich brauche Profil im Winter. Aber da ich jetzt in einem Schuh möglichst viel von einem Barfußgefühl haben möchte, brauche ich eine sehr dünne und bewegliche Sohle.

Barfußgerecht heißt auch ohne Absatz. Tschüs zu Pumps, High Heels, Sandalen und sogar Turnschuhen – die haben bei mir auch einen kleinen Absatz. Meine geliebten Birkenstock-Hausschuhe gehen auch nicht mehr. Birkenstock, der Inbegriff des gesunden Schuhs, hat aber für meine Zwecke eindeutig eine zu dicke und inflexible Sohle.

Es bleiben übrig: Flipflops und …

Flipflops. Gut, dass ich davon elf Paar habe und jetzt Juli ist. Zu meinem Schrecken fällt mir gerade ein, dass Flipflops auch nicht gehen – weil da die Zehen vorn den Schuh festhalten müssen. Der Fuß verkrampft sich.

Tja.

So schnell kann das gehen. Von hundertzwei auf null in zwei Minuten. Und nun?

Halt!

Von hundertzwei auf einen. Ich habe doch ein Paar von diesen Vibram-FiveFingers-Schuhen! Ich ziehe sie triumphierend aus dem Schuhschrank. Sie sehen wie Handschuhe für die Füße aus. Gewöhnungsbedürftig, allein schon visuell. Jeder Zeh hat seinen eigenen Platz.

Wer mehr als einen Fuß gesehen hat, weiß, dass Zehen nicht gleichmäßig sind. Allein die Zehen in meiner Familie sehen so aus, als ob wir verschiedenen Planeten angehörten. Wie diese unterschiedlichen Zehen in diese gleichmäßigen Zehenschuhe gehen sollen, war mir damals schon ein Rätsel. Aber da ich gern Neues ausprobiere und bereit bin, meine vorgefassten Meinungen immer wieder auf die Probe zu stellen, habe ich sie mir damals auch gekauft. Dünne Sohle. Obermaterial Leder.

Bis ich meine Zehen in die vorgesehenen Abteilungen geschoben hatte, war es Abend. Innerhalb der ersten halben Stunde hatte ich die erste Blase da, wo die Außenkante des Schuhs rieb, und seitdem hab ich diese Schuhe nicht mehr getragen. Dass ich sie jetzt plötzlich besser vertragen werde, ist höchst unwahrscheinlich.

Ich war eigentlich immer schon auf der Suche nach dem perfekten Schuh gewesen, einem Schuh, der bequem ist, zu allem passt, schön aussieht, mit dem man gut verreisen kann und der mir keine Schmerzen zufügt. Gelegentlich hatte ich Modelle, die viele dieser Ansprüche erfüllten, aber nie alle auf einmal.

Zum Beispiel meine Uggs, die dicken Fellstiefel zum Reinschlüpfen: Ich habe sechzehn Jahre in Kalifornien gelebt. Uggs gehören in Los Angeles zum Stadtbild, und zwar zu allen (Jahres-)Zeiten und allen Gelegenheiten: Man sieht sie auch im Sommer zu Shorts, in Restaurants mit luftigen Kleidchen, vor und nach dem Sport. Uggs sind nicht schön. Viel zu klobig. Die Füße sehen riesig aus. Aber trotz all meiner europäischen Abwehr habe ich dann doch irgendwann einmal nachgegeben. Ein bisschen nach dem Motto: Was ist denn bloß dran an diesen Fellschuhen, dass sie jeder so gern trägt? So hatte ich dann mein erstes Paar gekauft. Und damit war es um mich geschehen, denn Uggs sind auf jeden Fall bequem, blasenfrei, reiseideal.

Bequemlichkeit war schon immer ein Thema für mich. Einmal fand ich relativ flache Schuhe mit Korksohle, die ein breites, wie gestricktes Band über dem Fußrücken hatten. Nichts rieb. Nichts störte. Ich konnte stundenlang darin gehen, und meine Haut war noch in einem Stück. Die Schuhe waren bequem, blasenfrei und reiseideal – wenn man sich damit abgefunden hat, dass man wie seine eigene Großmutter aussieht.

Ich habe in den USA oft Turnschuhe getragen, denn die sitzen auch wirklich gut; und wenn man nur Hosen trägt, passen sie auch fast zu allem.

Und dann noch die doch relativ unverzichtbaren High Heels. Fehlanzeige in Sachen »bequem, blasenfrei, ideal für die Reise, passen zu allem« – aber sie sind schön! Tja, das sind sie. Hohe Schuhe sehen klasse aus. Ich weigere mich allerdings, Schuhe mit so hohen Absätzen zu tragen, dass ich rechts und links einen Mann zum Einhängen brauche, damit ich aufrecht über die Straße komme. Der sprunghafte Höhenanstieg von Absätzen wurde von Männern kreiert, die sie selbst nicht tragen müssen. Viele High Heels sind Kunstwerke und lassen den Fuß auch wirklich toll aussehen. Wie Stiefel, die aber leider viel zu viel Platz in Koffern brauchen.

Haben wir schon über Loafers gesprochen? Google-Übersetzer nennt sie »Halbschuhe«. Meine ganz persönliche Schuh-Beziehungskrise: Ich mag sie. Sie mögen mich nicht. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, sie im Laufe der Jahre immer wieder voller Hoffnung zu kaufen. Ich war sicher, dass ich einfach nur noch nicht das richtige Paar gefunden hatte. Ich habe sieben Paar Loafers. Alle schön. Alle für mich nur mit Blasenpflastern tragbar. Aber wie das so ist mit einer unerfüllten Liebe. Einer liebt mehr als der andere. Mit Hunderten anderer Frauen schienen diese Loafers prima zurechtzukommen. Aber nicht mit mir.

Das erinnert mich an die Sommerzeit mit einer weiteren persönlichen Herausforderung, den Sandalen: Die Riemchen zu hart. Die Verschlüsse an Plätzen, wo ich Knöchel habe, die Zehen zu eingequetscht. Bei Sandalen kann man keine Socken tragen. Nun ja, man kann, aber das machen in der Regel nur Männer. Bestimmte Männer. Manche würden sagen: kluge Männer. Männer, die keine Blasen von ihren Sandalen haben wollen.

Ja, aber es sieht einfach … nicht gut aus.

Ballerinas und ich, das ist auch noch keine Liebesgeschichte geworden. Die Außenränder reiben sich an meiner Haut. Die kleinen Zehen bekommen Blasen. Die Ferse jammert. Und damit scheiden sie für Reisen aus.

Vielleicht sollte ich die Bewertung »reiseideal« erklären und warum das für mich so wichtig ist. Ich bin viel unterwegs. Viele Leute verreisen drei-, viermal im Jahr. Ich verreise drei-, viermal im Monat. Manchmal nur über Nacht zu Vorträgen, manchmal wochenlang für Workshops, manchmal einen Monat, um meine erwachsene Tochter zu besuchen. Deshalb nimmt das Kofferpacken mehr von meiner Zeit in Anspruch, als mir lieb ist, und meine Schuhe sollten wenig Platz im Koffer wegnehmen und so einsatzfähig wie möglich sein. Obwohl Uggs viel Raum in Anspruch nehmen, erhalten sie von mir das Prädikat »reiseideal«, weil ich sie bei der An- und Abreise trage und sie überall einsetzbar sind. Besonders wenn man wie ich oft kalte Füße hat, dann sind sie ein wahres Gottesgeschenk.

Immer noch vor meinem Schuhschrank, finde ich zwei Paar Ballerinas. Zusammenklappbar. Wenn man zu lange in High Heels unterwegs war, dann kann man sich diese kleinen Ballerinas aus der Handtasche holen. Ich hatte sie mir vor ein paar Jahren gekauft und schnell wieder vergessen, denn ich konnte nicht wirklich gut mit ihnen gehen. Sie sind komplett flach, und irgendwie war mir das unangenehm. Vielleicht jetzt nicht mehr, weil ich mit dem Ballen und nicht mit der Ferse auftrete?

Ich gehe mit ihnen in meiner Wohnung im Ballengang und merke, dass ich mich jetzt in diesen Schuhen wohlfühle. Für den Fersengang sind sie nicht genügend gepolstert. Glücklicherweise haben sie auch noch außen ein weiches Gummiband, das nicht an meiner Haut reibt. Eingepackt in einem Säckchen sind sie nicht größer als ein Paar zusammengefaltete Socken. Ideal zum Mitnehmen. Voilà! Ich habe ein Paar Schuhe!

Beim näheren Betrachten steigen jedoch Zweifel in mir auf. Die aufgeklebte Sohle ist eindeutig zu dick. Also brauche ich doch noch ein Paar Schuhe, die mir ein Barfußgefühl vermitteln, mir den Ballengang erlauben und einfach zu transportieren sind – und die es neuerdings unter dem Label »Barfußschuhe« zu kaufen gibt. Natürlich will ich nicht den gleichen Fehler wie mit meinen »richtigen« Schuhen machen: Plötzlich habe ich einen vierten Schrank für Barfußschuhe. Ich verspreche mir, aufzupassen – und dann wird mir die Absurdität bewusst: Ich habe schon so viele Schuhe, wieso brauche ich jetzt noch mehr Schuhe, damit ich ein Barfußgefühl habe? Ich lache laut auf und beschließe, später darüber nachzudenken. Das mache ich zwar schon seit meiner Teenagerzeit nicht mehr, aber irgendwann einmal sind alte Gewohnheiten wirklich nützlich. In diesem Moment zum Beispiel.

Ich bin kein großer Freund von Internet-Recherchen. Nach ein paar Minuten werde ich unruhig – so auch jetzt. Ich google »Barfußschuhe«. Hier wird bestätigt, was ich schon weiß: Ein Barfußschuh ist nur dann wirklich ein Barfußschuh, wenn er eine sehr dünne (drei, höchstens fünf Millimeter dicke) und flexible (!) Sohle hat, genügend Freiheit für die Zehen bietet und komplett flach, also ohne Absatz ist.

Ich scrolle durch die verschiedenen Anbieter und frage mich mehr als einmal: Gibt es die auch in Schön?

Die Vibram FiveFingers finde ich als Erste. Ein letzter Versuch mit meinen hat mir gezeigt, wie unbequem die sind. Obwohl sie meinem Schönheitsempfinden schon energisch widersprechen, weiß ich aber auch, dass es mir nicht schadet, meine gelegentlichen Eitelkeitsschübe weiter nach unten zu fahren.

Bei mir um die Ecke gibt es einen Laden für Gesundheitsprodukte, und ich erinnere mich, durch das Fenster Schuhregale gesehen zu haben. Soll ich da jetzt barfuß hingehen? Ich würde das gern tun, aber ich probiere schließlich Schuhe an und will sie nicht mit meinen Füßen verschmutzen. Obwohl ich meine Feuchtigkeitstücher dabeihabe, fehlen mir Erfahrungswerte. Wie sauber wird meine Fußsohle, wenn ich sie mit so einem Tuch abwische? Gerade eben wird mir klar, dass dieses gut trainierte Ritual beim Rausgehen (Schuhe anziehen, Handtasche und Schlüssel mitnehmen) jetzt gerade einem längeren Nachdenkprozess Platz macht. Ich entschließe mich, die zusammenklappbaren Ballerinas anzuziehen.

Im Laden haben sie eine Auswahl an FiveFingers. Sogar in dezentem Grau-Weiß. Sogar im Angebot. Sogar in meiner Größe. Das Obermaterial ist elastischer Stoff. Die Schuhe schauen überhaupt sehr blasenfrei aus. Ich stecke meine Zehen in die vorgesehenen Kammern, und mein rechter kleiner Zeh meckert. Aber trotzdem sind sie auszuhalten. Ich gehe für ein paar Minuten im Ballengang auf und ab. Ich bin hoch motiviert, meinen Körper nicht mehr mit meinem harten Auftritt durch die Ferse zu prügeln. Ich wünsche ihm, dass er bei jedem Schritt von mir diese Ruhe bekommt, die ich von meinen Meditationen kenne. Ich schaue mir die FiveFingers an, seufze und bezahle sie.

FiveFingers sind fürs Laufen konzipiert worden. Das Joggen habe ich immer wieder mal probiert, aber bei mir wird da kein Glückshormon ausgeschüttet. Ich mag es, so lange zu sprinten, bis ich lachen muss, aber lange zu laufen macht mir keinen Spaß. Natürlich kann man mit den FiveFingers auch gehen. Allerdings sehen sie doch recht komisch aus.

Ich gehe über die Straße, und mir wird in dem Moment klar, dass ich schon wieder beim Schuhkauf einen kapitalen Fehler begangen habe: Ich habe sie draußen getragen. Es meckern beide meiner kleinen Zehen.

Das ist nicht gut. Das ist wirklich nicht gut.

Ich werde vorsichtiger sein müssen. Wirklich sehr viel vorsichtiger. Knappe achtzig Euro für Schuhe ausgegeben, die meine Zehen nicht mögen. Kein Wunder, dass ich über hundert Paar Schuhe habe! Manchmal frage ich mich, ob ich lernfähig bin.

Ich ziehe die Schuhe aus und gehe den Rest des Wegs barfuß nach Hause, hoch konzentriert im Ballengang. »Natürlich« gehen sieht anders aus. Ich bedanke mich bei der Münchner Straßenreinigung für ihre Arbeit. Auf dem Gehweg liegt wirklich nichts herum. Ich beobachte mich, wie ich aufmerksam den Weg vor mir betrachte. Werde ich jetzt immer nach unten schauen müssen, damit ich nirgendwo reintrete?

Ich bleibe stehen. Das mache ich auf keinen Fall.

Vor vielen Jahren in Los Angeles hatte ich schon mal eine Phase, in der ich viel barfuß ging. Ich hatte mich damals mit dem indianischen Schamanismus beschäftigt, und Mutter Erde zu spüren gehörte zum kleinen Einmaleins. Deswegen ging ich auch oft barfuß wandern. Auch da bat ich mein Energiefeld, sich darum zu kümmern, dass ich nicht irgendwo reinsteige. Ab und zu bin ich ganz automatisch irgendetwas ausgewichen, und beim Nachschauen – wo kommt denn jetzt bitte dieser komische Seitwärtsschritt her? – sah ich oft etwas, in das ich eben nicht hineingetreten war.

Ich schließe meine Augen und fühle mich in meinen Körper ein. Ich erspüre um meinen Körper herum mein energetisches Feld. Es wird sich darum kümmern, dass ich nirgendwo reintrete.

Das energetische Feld erspüren

Für diejenigen, die mit ihrem energetischen Feld, ihrer Aura, nicht so vertraut sind, gibt es eine Übung zum Ausprobieren: Wenn kein geeigneter Partner in der Nähe ist, strecken Sie Ihre Arme mit den nach innen deutenden Handflächen aus, als ob Sie jemanden umarmen möchten. Dann schließen Sie die Augen und führen die Hände vor Ihnen langsam zusammen. Wenn Sie sich dabei auf Ihre Handflächen konzentrieren, werden Sie einen Widerstand vor dem Zusammenführen spüren. So als wenn Sie durch Watte gehen würden. Das ist ein ganz subtiler Prozess, und manchmal muss man das ein paarmal machen, damit man es erspürt. Der Beginn dieses »Widerstands« ist der Beginn des Energiefeldes Ihrer Hände.

Wenn Sie einen Partner haben, können Sie sich in drei Meter Abstand gegenüberstellen. Halten Sie die Hände auf Brusthöhe mit den Handflächen in Richtung Ihres Partners. Dann schließen Sie die Augen, konzentrieren sich wieder auf Ihre Handflächen und gehen sehr langsam aufeinander zu. Auch dabei werden Sie allmählich einen leichten Widerstand spüren. Wenn Sie Spaß daran haben, können Sie das mal beim Abendessen mit Ihrer Familie ausprobieren. Bei jedem gibt es einen anderen Abstand, ab dem Sie den Widerstand spüren.

Dass ich die Schuhe ausgezogen habe, macht meine kleinen Zehen glücklich, obwohl ich mir um die beiden Sorgen mache. Die haben schon einiges erlebt. Ich habe gelegentlich die Angewohnheit, mit ihnen barfuß an Stuhl- oder Tischbeinen hängen zu bleiben. Bei Türen mache ich das auch, und der kleine Zeh wird dann brutal und schmerzhaft nach außen gerissen, als ob ich ihn loswerden möchte. Werden meine kleinen Zehen mein Barfuß-Abenteuer überleben? Oder soll ich mich gleich von ihnen verabschieden?

Frau Obrigkeitshörig mischt sich noch mal ein (sie ist wirklich zurzeit sehr schwer loszuwerden): »Wir sind gesund, wenn ich dich daran erinnern darf. Dieses Barfußgehen mag vielleicht wirklich ganz praktisch sein für Leute, die Fuß-, Knie- oder Hüftprobleme haben, aber wir haben keine. Wir könnten uns verletzen. Und dabei schauen wir auch noch aus, als ob wir dumm wären!«

»Man kann nie gesund genug sein, und gelegentlich dumm auszusehen kann meinem Ego auch nicht schaden.« Frau Herbergsmutter und mein Ego zucken fühlbar zusammen. Dumm aussehen will keiner von beiden.

Thema beendet. Mal schauen, für wie lange.

Zu Hause gehe ich sofort auf Zehenspitzen ins Bad und wasche mir im Waschbecken meine Füße. Dankbar, dass ich durch dreißig Jahre Yoga meine Beine über jede Theke schwingen kann. Wieder sehen die Fußsohlen nicht so schlimm aus wie befürchtet. Ich habe sehr helle Fußsohlen und mag das auch. Ich schrubbe mit dicker Bürste und viel Seife meine Füße sauber. Das dauert nur ein paar Minuten. Dann creme ich sie ein.

Zurück im Home Office, google ich wieder nach Barfußschuhen. Manche laufen unter dem Label »Barfußschuhe« und haben doch Absätze oder dicke Sohlen. Manche sind lediglich hässlicher als normale Schuhe. Verkaufen da nur ein paar Geschäftsleute ihre »normalen« Treter einfach als Barfußschuhe, nur weil sie den Zehen mehr Platz lassen?

Dann finde ich bei Merrell die »Wish Gloves«. Die gibt es in Beige, Schwarz und Dunkelrot. Sie sehen von der Form her wie Ballerinas aus. Allerdings sind sie vorn am Ballen sehr viel breiter und oben mit zwei Gummibändern, die den Schuh sicher am Fuß halten. Optisch sind sie ganz in Ordnung. Sie erfüllen fast alle meine Kriterien. Auf jeden Fall sind sie unauffällig, und damit lande ich bei einem neuen Bewertungskriterium, das ich bisher noch nie für Schuhe angewendet habe: unauffällig. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, sie in allen drei Farben zu bestellen. Ich entschließe mich für das neutrale Beige.

Ich erinnere mich an eine Übung im Buch von Carsten Stark, die ich nicht ausprobieren konnte, da ich sie im Flugzeug las. Beim Stehen überprüfen, wohin man das meiste Gewicht auf die Füße verlagert: nach vorn, nach hinten oder gleichmäßig verteilt.

Ich stelle mich zur Kontrolle seitlich vor meinen großen Garderobenspiegel. Mein Gewicht ist eindeutig vorn am Ballen. Meine Ferse wird kaum belastet. Ich sehe mich im Spiegel nach vorn lehnend. Meine Knie sind durchgedrückt. Wahrscheinlich muss sich mein Körper – ohne dass ich dies bewusst wahrnehme – beständig anstrengen, damit ich nicht nach vorn falle. Kann ich deswegen nicht lange stehen?

Als ich die Ferse mitbelaste, spüre ich, wie es meinen ganzen Oberkörper nach hinten zieht und ich jetzt gerade stehe. Das war's? Gleichmäßig Ballen und Ferse belasten? Warum musste ich fünfundfünfzig Jahre alt werden, bis ich das irgendwo lese, bis mir das irgendjemand erklärt?

Ich habe immer schon bemerkt, dass an meiner Haltung etwas nicht stimmt, und von Yoga über Pilates bis zur Alexander-Technik hat mich noch nie jemand darauf aufmerksam gemacht, dass ich nur das Gewicht gleichmäßig auf Ballen und Ferse verteilen soll. Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die das nicht weiß?

Ich bin neugierig, ob es zu dem Vorderfußgang auch wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Ich entdecke bei meiner Internet-Recherche Professor Daniel Lieberman, der an der Harvard-Universität »evolutionäre menschliche Biologie« lehrt und unter anderem dort das »Skeletal Biology Lab« leitet. Er und seine Kollegen untersuchten Läufer mit und ohne Schuhe, mit Fersen-, Ballen- und Mittelfußlauf (die eher ganz flach auftreten), um herauszufinden, welchen Impact das auf das Skelettsystem des Menschen hat. Ich schaue mir diverse Videos an, die alle einen klaren Unterschied zeigen. Ballenlauf beziehungsweise Mittelfußlauf ist eleganter. Unser Fuß ist so gestaltet, dass er beim Aufkommen mit dem Ballen mehr abfedern kann. Ich sehe Tests, die den Aufprall als Grafik zeigen. Der Unterschied ist also nicht nur hörbar, wenn man die Finger in die Ohren steckt, sondern auch messbar.

Beim Ballengang zeigt die Grafik eine Welle ohne Störungen, von unten nach oben. Beim Fersengang zeigt die Welle bei jedem Schritt harte Stufen und Einrisse. Mir fällt auf, dass der Fuß bei den Schuhträgern mit dicken Sohlen beim ersten Schritt nach vorn auch ziemlich nach oben gezogen wird. Das ist anstrengend für die Muskeln und Sehnen, die bei jedem Schritt den Fuß nach oben halten müssen. Beim Vorderfuß- oder Ganzfußlaufen passiert das nicht. Der Fuß ist entspannt.

Lieberman leitete ebenfalls Untersuchungen in Kenia. Er ging dorthin, wo noch nie jemand Schuhe getragen hat. Er und seine Mitarbeiter filmten diese Menschen beim Laufen und verglichen die Untersuchungsergebnisse mit den Schuhläufern aus den USA. Dabei stellten sie fest, dass die Läufer, die Schuhe mit dicken Polstern trugen (um den Aufprall abzuschwächen), mehr Aufprall aushalten mussten als die Kenianer, die barfuß mit dem Ballen aufkamen!

Professor Lieberman erklärte das in einem Fernsehinterview so: »Wenn wir mit der Ferse aufkommen, dann kommt ein großer Teil unseres Körpers auf einmal zu einem kompletten Stillstand. Man schlägt mit einer bestimmten Kraft auf dem Boden auf, und der Boden schlägt zurück! Leute, die barfuß laufen, landen auf dem Ballen, also genau vor dem Fußgewölbe. Dann erst kommt die Ferse nach unten. Das ist sehr viel bequemer. Der Grund dafür ist, dass dadurch ein sehr viel kleinerer Teil des Körpers zum abrupten Stillstand kommt. Seit über zwei Millionen Jahren sind die meisten Leute so gelaufen.«

Das ist nicht nur beim Laufen ganz einfach festzustellen. Auch wenn wir hochspringen – jetzt einfach so aus dem Stand –, kommen wir mit dem Ballen wieder auf. Wir kämen niemals auf die Idee, mit der Ferse zuerst zu landen. Das tut einfach zu weh.

Professor Lieberman glaubt – und da ist er nicht der Einzige –, dass wir Menschen zum Laufen geboren sind. Unser ganzer Bewegungsablauf ist darauf eingestellt. Durch unsere Haut ohne Fell können wir uns durch das Schwitzen abkühlen und deswegen lange, lange laufen. Viele Tiere kühlen sich zum Beispiel über die Zunge ab. Bei jedem Hund ist das leicht zu beobachten. Ist ihm heiß, fängt er an zu hecheln. Wenn ein Tier in den Galopp fällt, dann kann es nicht mehr hecheln. Um sich abzukühlen, muss es dann irgendwo stehen bleiben. Lieberman und viele andere mit ihm glauben, dass dies der Grund war, warum wir – noch vor der Erfindung tödlicher Waffen – in der Lage waren, sehr viel größere Tiere zu erlegen: Wir haben sie zu Tode gejagt. Eine Gruppe von Läufern stöberte die Tiere immer wieder im schattigen Gebüsch auf und zwang sie weiterzulaufen, bis deren Körper die Hitze nicht mehr regulieren konnte und sie stehen blieben und umfielen. Durch einen Hitzschlag.

Am Abend kommt mich mein Freund Stanko besuchen, und ich zeige ihm die Übung mit den Fingern in den Ohren. Er geht sowieso oft barfuß und ist beeindruckt. Aber nicht halb so beeindruckt wie ich.

Am nächsten Morgen wache ich mit einem Muskelkater auf. Mein Schienbein und mein Vorderfuß tun mir weh – da, wo die Zehen aufhören und der Rest vom Fuß beginnt. Auch meine Waden blieben von meinem veränderten Gang nicht ganz verschont. Offensichtlich benutze ich Muskelgruppen, die ich bisher weniger gebraucht habe.

Die Wish Gloves kommen zwei Tage später mit der Post und erfüllen meine Erwartungen. Außer dass man sie nicht zusammenfalten kann. Mit meinen neuen Barfußschuhen klappt der Ballengang ganz gut. Sie sind vorn schon ein bisschen zu breit für meinen Geschmack, aber daran werde ich mich gewöhnen müssen. Ich habe also jetzt drei Paar Schuhe: die Wish Gloves und meine beiden zusammenklappbaren Ballerinas. Recht viel mehr Schuhe hatte ich als Kind auch nicht. Ich bin mit Sonderangeboten aufgewachsen. Es hat mir nicht geschadet, aber meine Füße haben diese Zeiten nicht besonders genossen. Mein Vater war der Meinung, dass man erst dann neue Schuhe braucht, wenn die alten kaputt oder wirklich viel zu klein waren. Ich erinnere mich, dass ich oft eingezogene Zehen hatte.

Meine Tochter ist mit großem Garten und Holzböden aufgewachsen, und als Baby trug sie, wenn überhaupt, nur diese Söckchen mit angenähten dünnen Lederstreifen. Obwohl auch ich die süßen Schuhe für Babys und Kleinkinder ganz entzückend fand, war mir klar, dass sie eher für Fotos als fürs Gehen geeignet sind. Mittlerweile hat auch da ein Umdenken stattgefunden. Ärzte haben bestätigt, dass Füße sich nur richtig entwickeln, wenn sie sich frei bewegen können. Ihre Muskeln, Sehnen und Knochen brauchen unterschiedliche Untergründe, um ausreichend trainiert und nicht schon im zarten Wachstumsalter mit Schuhen eingeschränkt und damit verweichlicht zu werden.

Da Julias Vater und ich zu Hause barfuß gingen, war das auch für sie lange eine Selbstverständlichkeit. Bis sie Teenager wurde, und ab da gab es kein Halten mehr: Es sollten Designerschuhe her. Je höher, desto besser. Da sie sich das von ihrem Taschengeld natürlich nicht leisten konnte, wartete sie auf ihre Sonderangebote.

Vor ein paar Jahren – vom Studium mal wieder zu Hause – erzählte sie mir beiläufig beim Abendessen, dass sie ihre Zehenspitzen schon seit einer Weile nicht mehr spüre.

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