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Sie sind jung. Sie sind Freunde und Pflegebrüder. Und sie teilen eine Leidenschaft: die Naturwissenschaften. Doch während der eine ein überzeugter Christ ist, lehnt der andere den Glauben strikt ab. Als der Zweite Weltkrieg sie plötzlich auseinanderreißt, setzen beide alles daran, den anderen wiederzufinden. Aber unschuldig angeklagt und von Freunden hinters Licht geführt, sind ihre Bemühungen vergeblich. Doch ihre alte Leidenschaft ist ungebrochen. Und so nimmt die Karriere als Naturwissenschaftler bald alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Denn dabei geht es um nichts weniger als den Beweis, dass die eigene Überzeugung auch in Leben und Forschung standhält. Ist der Glaube des Christen stark genug, um alle Krisen zu meistern? Wird der Verstand des Atheisten ausreichen, um die Rätsel der Natur zu knacken? Und werden sich die Wege der beiden je wieder kreuzen?
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Seitenzahl: 690
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Sie sind jung. Sie sind Freunde und Pflegebrüder. Und sie teilen eine Leidenschaft: die Naturwissenschaften. Doch während der eine ein überzeugter Christ ist, lehnt der andere den Glauben strikt ab. Als der Zweite Weltkrieg sie plötzlich auseinanderreißt, setzen beide alles daran, den anderen wiederzufinden. Aber unschuldig angeklagt und von Freunden hinters Licht geführt, sind ihre Bemühungen vergeblich. Doch ihre alte Leidenschaft ist ungebrochen. Und so nimmt die Karriere als Naturwissenschaftler bald alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Denn dabei geht es um nichts weniger als den Beweis, dass die eigene Überzeugung auch in Leben und Forschung standhält. Ist der Glaube des Christen stark genug, um alle Krisen zu meistern? Wird der Verstand des Atheisten ausreichen, um die Rätsel der Natur zu knacken? Und werden sich die Wege der beiden je wieder kreuzen?
Über den Autor:
Richard Kilian wurde 1970 in Köln geboren und ist dort auch aufgewachsen. Seine beiden Geschwister hatten das Down-Syndrom und einen schweren Herzfehler. Sie starben schon als Kinder. Bereits in jungen Jahren entschied er sich für den Glauben an den Herrn Jesus Christus. Heute wohnt er mit seiner Frau in einem kleinen Dorf im Siegerland und arbeitet als Projektleiter bei einem Unternehmen für Transporttechnik. Der christliche Glaube ist das zentrale Thema seines ersten Romans.
Autorenkontakt:[email protected]
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Die Bibelzitate sind der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen) entnommen.
Coverfoto: © BOAS media e. V. Umschlaggestaltung und Satz: BOAS media e. V. E-Book-Erstellung: Stefan Böhringer, eWort
Paperback: ISBN 978-3-942258-00-5 Art.-Nr. 176.800
eBook (ePub): ISBN 978-3-942258-50-0 Art.-Nr. 176.850
Copyright © 2010 BOAS media e. V., Burbach Alle Rechte vorbehalten
www.boas-media.de
Als er sich dem Fenster zuwandte, scheuerte der Kragen über die sechzig Jahre alte Narbe des Streifschusses. Der weißhaarige Mann auf Platz 15A des American-Airlines-Flugs 473 von New York nach Stockholm lockerte den Krawattenknoten und öffnete den obersten Knopf des Hemdes. Er sah in die Nacht hinaus ... direkt in ein faltiges Gesicht. Neugierig musterten ihn die funkelnden Augen seines Spiegelbilds.
Rasch schaute er weg und richtete den Blick nach unten. Dort flimmerten die Lichter einer Stadt, der Stadt, in der er seit damals lebte. Boston. Langsam wurde ihm bewusst, dass dies nicht seine Heimat war. Denn eine wunderbare Stimmung hatte ihn erfasst, seit er dieses Flugzeug bestiegen hatte. So hatte er sich als Kind auf dem Heimweg von einem Ferienbesuch bei seinem Freund Hans gefühlt. Er spürte, wie er seiner wahren Heimat näher kam.
Vor sechzig Jahren verließ er Waldstein, jenes kleine Dorf in Deutschland, um als Wehrmachtssoldat in Norwegen seinen Dienst zu tun. Aber er kam nie dort an.
Er hatte gehofft, in einigen Wochen oder spätestens ein paar Monaten wieder zu Hause zu sein. Doch er sollte seine Heimat nie wiedersehen.
Denn er tat, was er niemals tun wollte.
Damals geriet sein Glaube an die Gnade und Güte Gottes zum ersten Mal ins Wanken. Und seitdem führte sein Lebensweg durch viele dunkle Täler, die seine Glaubenskraft nach und nach aufzehrten. Bis er schließlich sogar an Gott zweifelte.
Doch Gott ließ ihn nicht los. Vor ein paar Monaten hatte seine feste, aber milde Hand wieder in sein Leben eingegriffen. Und jetzt staunte er jeden Tag aufs Neue über Gottes Wege.
Sollte er nun die Gelegenheit der Reise nach Europa nutzen und noch einmal seine alte Heimat besuchen? Hatte Gott das für ihn geplant? Doch was würde er dort vorfinden? Ob sein Elternhaus noch stand? Und wie verwahrlost würde wohl das Grab seiner Mutter sein? – Er spürte Angst aufkommen. Würde die Erinnerung seinen Schmerz über das, was er durch eigene Schuld verloren hatte, nicht übermächtig werden lassen? War er noch stark genug, diese aufwühlenden Gefühle zu ertragen?
Die Lichter von Boston verschwanden. Tief durchatmend wandte er sich dem Essen zu, das vor ihm auf dem Klapptischchen stand. Unwillkürlich krempelte er den rechten Ärmel des Hemdes bis über den Ellenbogen auf, bevor er zum Besteck griff. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Dieses Hochkrempeln des rechten Ärmels war eine Gewohnheit, die er durch alle Wirren der Zeit bewahrt hatte wie ein Kind sein Schmusetier.
Als kleiner Knirps übernahm er eines Tages das Geschirrspülen, weil seine Mutter krank war. Er zog einen Stuhl an die Spüle, kletterte hinauf und krempelte den rechten Ärmel bis über den Ellenbogen auf.
Gerade wollte er ins schäumende Wasser greifen, als seine Mutter rief: „Du hast den anderen Ärmel vergessen.“
Verdutzt schaute er auf den linken Arm und dann zu seiner Mutter. „Aber mit der Hand trockne ich doch ab.“
Als sie lachte, war er ganz verwirrt. Trotzdem führte er ihr seitdem das einseitige Hochkrempeln des Ärmels bei jeder Gelegenheit vor. Denn man hatte ihm erklärt, dass seine Mutter viel lachen müsse, um wieder gesund zu werden.
Das dumpfe Brummen der Triebwerke machte ihn schläfrig. Obwohl er noch nicht aufgegessen hatte, legte er das Besteck zur Seite. Er lehnte sich in den dunkelblauen Business-Class-Sitz zurück und schloss die Augen. Seine Muskeln entspannten sich, der Atem wurde gleichmäßiger.
Er stand im Flur seines Elternhauses vor der Eichentür zum Arbeitszimmer seines Vaters. Oft hatte er Menschen durch diese Tür gehen sehen, mit gesenktem Kopf, Verzweiflung ins Gesicht geschrieben und mit Tränen in den Augen. Doch als sie wieder herauskamen, strahlten ihre geröteten Augen.
Wenn die Tür geschlossen war, war das Büro seines Vaters für ihn tabu. Aber seine Neugier, das Geheimnis der Verwandlung all dieser Menschen zu ergründen, war größer.
Vorsichtig glitt er heran, betätigte behutsam die gusseiserne Klinke, öffnete die Tür langsam einen Spalt breit und schob erst die Nase, dann das Gesicht und schließlich seinen ganzen Kopf hinein. Abgestandene Luft, getränkt mit dem Staub alter Bücher, strömte ihm entgegen.
Ein wuchtiger Schreibtisch beherrschte das Zimmer wie eine Burg seine Umgebung. Obenauf thronte die zerlesene Bibel seines Vaters. Sie war aufgeschlagen. An den Wänden drängten sich einfache Regale, vollgestellt mit Büchern, und ein zweitüriger Schrank mit Füßen, so dick wie die Säulenbeine eines Nilpferds.
Hinter dem Schreibtisch bewegte sich etwas. Sein Vater. Er kniete vor einem Stuhl. Er betete. War das das Geheimnis?
Leise zog er sich wieder zurück. Noch hielt er die Türklinke in der Hand, da schallte plötzlich der Gong durchs Haus, mit dem seine Mutter zum Kaffeetisch rief.
Er stürmte ins Esszimmer, denn heute gab es Nusskuchen mit Schokoladenüberzug. An der Tür prallte er fast mit seinem Freund Hans zusammen, der wieder einmal zu Besuch war. Ungeduldig warteten sie auf das Amen, als sein Vater das Tischgebet sprach.
Rasch schmolz der Kuchen auf der Platte zusammen. Gerade schob er sich den letzten Brocken des zweiten Stücks in den Mund, da angelte Hans sich bereits das vierte. Braune Spuren glänzten in seinen Mundwinkeln, als er ihn triumphierend angrinste. Hans war schon wieder schneller.
Später streiften sie durch den Wald. Plötzlich hielt Hans ihn zurück. Sie hatten den Waldrand erreicht und vor ihnen auf der Wiese weideten Schafe. Auf der anderen Seite der Herde stand Onkel Gustav. Eine Zigarette wippte zwischen seinen dünnen Lippen, die beiden deutschen Schäferhunde lagen zu seinen Füßen. Sein Sohn Fritz hatte sich einige Meter weiter auf einen Felsbrocken gesetzt.
Hans zwinkerte ihm zu, strich sich mit der linken Hand die blonden Haare aus dem Gesicht und sprang auf die Wiese hinaus. Mit lautem Kriegsgeschrei schoss er auf die Schafe zu. Diese stieben blökend auseinander.
Während Hans zurückspurtete, jagte Onkel Gustav unter wildem Fluchen die Hunde los. Fritz, dessen linkes Bein seit einem Unfall beim Baumfällen steif war, stemmte sich hoch und humpelte hinter dem Übeltäter her. Lachend verschwanden sie im Wald.
Am Abend lagen sie auf dem Fußboden und lasen. Ihr immerwährender Wettkampf um das bemerkenswertere naturwissenschaftliche Phänomen ging in die nächste Runde. Hans strahlend blaue Augen saugten die Worte und Bilder aus den abgenutzten Seiten seines Lieblingsbuchs Die Welt des Lichtes heraus. Er selbst versank in der faszinierenden Welt der Atome und Moleküle, die ihm der neue Band Chemie für Studierende und zum Selbstunterricht eröffnete.
In solchen Momenten verlor er jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Endlich hatte er das beeindruckende Periodensystem der 95 chemischen Elemente entdeckt, da stieß Hans ihn an und deutete mit dem Zeigefinger in sein Buch.
„Dr. Brunner.“ Jemand berührte ihn sacht an der Schulter.
„Was? ... Ja bitte?“
„Ich wollte Sie eigentlich nicht wecken, aber Sie sagten vorhin ... Wir fliegen gerade über die Küste von Norwegen.“ Die Flugbegleiterin wies zum Fenster hinüber. „Sehen Sie?“
„Wir fliegen über die Küste von Norwegen?“ Er rieb sich die Augen, beugte sich vor und blickte hinaus. Aus tiefschwarzer Nacht flogen sie in den strahlenden Morgen hinein. Und unter ihnen war schemenhaft die zerklüftete norwegische Küste zu erkennen.
„Ging das schnell. - Oder habe ich ...?“
„Sie haben geschlafen wie ein Kind in den Armen seiner Mutter“, antworte die Stewardess lächelnd.
Er nickte versonnen und starrte auf die skandinavische Landschaft hinab. Seine Wangen glühten.
Hans war damals sein bester Freund. Eigentlich wohnte er in Essen, wo sein Vater ein Stahlwerk leitete. Doch als Hans Eltern und sein älterer Bruder bei einem Bombenangriff umkamen, wurde er sein Pflegebruder.
Was mochte aus Hans geworden sein? Lebte er noch? Und hatte er sich bekehrt? Oder hatte er an seinen tausend klugen Gründen, die es ihm unmöglich machten zu glauben, festgehalten? Er seufzte. Wenn kein göttliches Wunder geschah, würde er Hans nie wiedersehen. Aber … wie viele göttliche Wunder hatte er eigentlich in den letzten Monaten erlebt? Warum sollte da nicht auch noch …?
Ob er doch nach Waldstein reisen sollte? Vielleicht würde er dort selbst nach so vielen Jahren noch einen Hinweis darauf finden, wo Hans abgeblieben war. Aber wenn ihn schon diese Überlegungen so aufwühlten, wie würde er sich dann erst an den mit Erinnerungen beladenen Plätzen seiner Jugend fühlen? War er wirklich bereit dazu?
Mit einem durchdringenden Pling wurden die „Fasten seat belt“-Zeichen eingeschaltet. Und dann erklang aus den Lautsprechern die tiefe Stimme des ersten Offiziers.
„Sehr geehrte Fluggäste, wir befinden uns bereits im Anflug auf Stockholm. – Und wie jedes Jahr im Dezember steht hier in wenigen Tagen wieder die Verleihung der Nobelpreise an. ...“
Der Zweite Weltkrieg
„Du musst hierbleiben!“ Hans riss die Arme hoch und seine Stimme schwang irgendwo zwischen Verzweiflung, Empörung und Zorn. „Wofür haben wir das denn alles besprochen?“
Erich Brunnhöfer blieb einen Moment stehen, rückte den Rucksack zurecht und sah seinen vier Jahre jüngeren Freund Johannes Wolf an. „Wir haben im Scherz darüber geredet. Das war doch nicht ernst gemeint.“
„Das klang aber bisher ganz anders. Was hast du denn auf einmal?“
Hans begleitete ihn an diesem Mittwochmorgen, dem 14. Juni 1944, auf dem fünf Kilometer langen Weg von Waldstein durch den Wald zum Bahnhof in Langenbach.
„Glaubst du etwa, ich würde gern gehen? Ich bliebe wirklich lieber hier.“
„Dann tu es doch.“
„Und wie stellst du dir das vor? Mein Genesungsurlaub ist zu Ende. Ich habe einen Marschbefehl in der Tasche. Du willst doch nicht, dass ich desertiere?“
„Ich will dich nicht verlieren.“ Hans strich sich mit der linken Hand das blonde Haar zurück. „Außerdem wirst du hier dringend gebraucht. Du musst dich um die Arbeit in den Betrieben kümmern. Die Leute im Dorf erwarten ...“
„Es ging doch auch, als ich in Russland war.“
„Aber mit dir geht es viel besser.“
Erich schüttelte den Kopf.
„Wir werden dich gut verstecken. Wir schaffen das. Ganz bestimmt.“
„Aber Hans, sei realistisch. Die werden mich finden. Wenn nicht die Wehrmacht, dann die SS oder die Gestapo. Meinst du, die werden das einfach hinnehmen?“
Erich krempelte den rechten Ärmel des Hemdes seiner Wehrmachtsuniform bis über den Ellenbogen auf und setzte sich wieder in Bewegung. Er schritt den ansteigenden Weg trotz des schweren Rucksacks mit einer Schnelligkeit hinauf, dass Hans regelrecht hinter ihm her hetzen musste.
„Niemand kennt Euren Wald so gut wie du. Wenn du dich in der Waldhütte oder in einem der alten Bergwerksstollen versteckst, werden sie dich nicht finden. Niemals.“
„Wenn ich mich verstecke, kann ich nicht bei der Vieh- und Holzwirtschaft helfen.“
„Aber du kannst wenigstens aufpassen, dass Onkel Gustav nicht den ganzen Betrieb ruiniert. Wenn er nur weiß, dass du in der Nähe bist, wirkt das Wunder.“
Da hatte Hans recht. Seit sein Vater in Russland gefallen war, tat Onkel Gustav, was er wollte. Doch erstaunlicher Weise hatte er vor ihm einen gewissen Respekt.
„Wenn Onkel Gustav weiß, dass ich hier bin, wird er eines Tages nach ein paar Schnäpsen irgendeinem Gestapo-Mann erzählen, wo ich mich verstecke.“ Erich spähte vorwärts, als erwarte er bereits hinter dem nächsten Baum einen Beamten der Geheimpolizei. „Die werden mich finden.“
„Aber denk doch an deine Mutter.“ Hans blaue Augen funkelten, als ein Sonnenstrahl, der sich einen Weg durch das dichte Laub des Waldes gesucht hatte, sein Gesicht traf. „Du hast selbst gesagt, dass sie in den letzten Tagen, seit du den Marschbefehl erhalten hast, noch schwächer geworden ist.“
„Du bist doch auch noch da. Du kannst auf sie aufpassen.“ Erich sah ihn an. „Ich weiß, dass du das kannst.“
„Ich lasse mir bestimmt nicht so schnell Angst einjagen. Aber was kann ich schon ausrichten? – Nein, du musst hier bleiben.“
Einen Moment lang war das Rauschen der Blätter, das Zwitschern der Vögel und das Knirschen des Schotters unter ihren Stiefeln zu hören.
„Wenn ich desertiere und sie mich finden, komme ich vor ein Kriegsgericht und werde exekutiert.“
„Und an der Front wirst du erst recht erschossen.“
Vor über einem Jahr war Erich Brunnhöfer direkt nach dem Abitur zur Wehrmacht eingezogen worden. Nach einer kurzen Grundausbildung hatte man ihn nach Russland geschickt. Doch er hatte Glück und wurde einer Nachschubeinheit zugeteilt ... bis er eines Tages beim Verladen von Munitionskisten auffiel.
Zwei Stunden lang hatten sie ununterbrochen Kisten geschleppt. Die Kameraden stolperten bereits keuchend zwischen Lager und Lastwagen hin und her oder hatten sich erschöpft auf Kisten gesetzt. Nur Erich fiel einem vorübergehenden dreckverschmierten Hauptmann einer Fronteinheit auf. Schweißgebadet eilte er immer wieder mit neuen Kisten vorüber. Auf einen so leistungsfähigen und willigen Mann konnte man an der Front nicht verzichten. Zwei Wochen später wurde er bei einem Gefecht verletzt.
„Wenn du dich schon nicht verstecken willst, dann lauf zu den Amerikanern oder Engländern über“, fuhr Hans fort. „Ich will doch nur, dass du diesen Krieg überlebst.“
„Hey. Ich werde nur nach Norwegen geschickt. Das ist nicht mit Russland zu vergleichen.“
„Noch nicht. Aber wenn es dort auch eine Invasion gibt? Das wird dann sicher genauso schrecklich wie in der Normandie.“
Mit einem tiefen Atemzug nahm Erich die würzig-feuchte Waldluft seiner Heimat in sich auf. „Um mein Leben mache ich mir keine Gedanken.“
„Das solltest du aber. Oder glaubst du den BBC-Berichten über die Normandie nicht?“
Unverdrossen hämmerte ein Specht über ihnen. Links plätscherte ein Bach, in dem sich Forellen fröhlich tummelten. Ein Eichhörnchen schoss unbeirrt den bemoosten Stamm einer auf der rechten Seite des Wegs stehenden Eiche hinauf. Vor ihnen knackten Zweige, als eine junge Hirschkuh in großen Sätzen übermütig vorüberjagte.
Die ganze Natur vertraute bedenkenlos auf ihren Schöpfer. Nur die Menschen waren notorische Zweifler, er eingeschlossen. Es war keine Kleinigkeit für ihn, in dieser Lage auf Gott zu vertrauen. Es war ein schwerer Kampf. Und es wäre so hilfreich, wenn Hans ihn nur mit dem Glauben eines Senfkorns unterstützen würde.
„Ich gehe nicht allein und ich lasse meine Mutter nicht allein zurück.“ Seine Stimme klang wieder so weich wie gewöhnlich. „Wir haben eine Verheißung des Herrn Jesus: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters. Darauf vertraue ich.“
Einige Meter gingen sie schweigend nebeneinander her.
„Ich weiß, dass du diesen Glauben hast“, sagte Hans schließlich. „Den hatten meine Eltern auch. Trotzdem starben sie bei dem Bombenangriff und ließen mich als Waise zurück.“
Sein Blick war starr auf den Weg vor ihnen gerichtet. Er trat gegen einen Stein, der im hohen Bogen in den Wald flog.
„Auch dein Vater glaubte. Und heute liegt er auf irgendeiner russischen Steppe begraben. Deine Mutter glaubt. Dennoch hatte sie eine Totgeburt und seitdem eine so schwache Gesundheit, dass jede Erkältung fast lebensbedrohlich ist.“ Hans schüttelte den Kopf. „Gott kümmert sich doch gar nicht um Euch. Ich verstehe nicht, wie du immer noch glauben kannst.“
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Rund um das Bahnhofsgebäude von Langenbach, einem Fachwerkbau mit Schieferdach, und insbesondere auf dem betonierten Bahnsteig, an dem in zehn Minuten der Zug nach Münster einfahren sollte, herrschte reger Betrieb. An einem Ende der Plattform wurden Kisten und Säcke herangeschleppt, während am anderen schon etliche Fahrgäste auf und ab gingen oder sich auf eine der Bänke gesetzt hatten. Die meisten Wartenden waren Männer in Wehrmachts- oder SS-Uniformen.
Erich Brunnhöfer setzte seinen Rucksack auf einer abseits stehenden Bank ab und wischte sich mit dem linken Hemdärmel den Schweiß von der Stirn.
„Bitte hilf meiner Mutter, so gut du kannst“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Und achte darauf, dass sie die biblischen Schriften in dem Geheimfach im Keller versteckt. Sie ist damit zu nachlässig und könnte sonst leicht Ärger mit der Gestapo bekommen.“
„Du solltest dich besser selbst um deine Mutter kümmern“, grummelte Hans.
„Das haben wir doch bereits geklärt.“
„Schon gut.“ Hans nickte. „Ja, ich pass auf sie auf, wenn ich zu Hause bin. Aber wahrscheinlich werde ich bald als Flakhelfer eingesetzt. Dann muss sie allein klar kommen.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Erich schob die Hände in die Hosentaschen. Seine Finger spielten mit ein paar losen Fäden der Nähte. „Wenn es Schwierigkeiten gibt, wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Friedrich Kirchner.“
„Mein Bedarf an Du musst dich bekehren-Vorträgen ist für die nächsten Jahre gedeckt. Außerdem hat der Alte genug mit sich selbst zu tun. Der kann doch froh sein, wenn ihn die Gestapo mal ein paar Wochen in Ruhe lässt.“
Hans hielt nicht viel vom Schwiegervater seiner Schwester Annemarie, der in der nahegelegenen Kreisstadt Burgenheim wohnte. Dessen war sich Erich durchaus bewusst.
„Trotzdem ist er ein kluger Mann und kann dir einen Rat geben.“
Polternd wurde die Tür zum Bahnhofsgebäude aufgestoßen. Der Bahnhofsvorsteher richtete sich kerzengerade auf und riss seinen rechten Arm nach oben.
„Heil Hitler, Herr Untersturmführer.“
Mit militärisch präzisem Schritt betrat ein junger SS-Offizier den Bahnsteig. „Heil Hitler“, antwortete er gnädig.
Hinter ihm erschien eine junge Dame, die sogleich die Aufmerksamkeit aller Männer auf sich zog. Einige lupften den Hut oder die Kappe. Doch sie zogen sofort wieder den Kopf ein oder drückten sich hinter einen Pfeiler, als der Blick des SS-Offiziers wie eine Rasierklinge über den Bahnsteig glitt.
Da. Für einen winzigen Augenblick entspannten sich die Gesichtszüge des Untersturmführers. Er legte der jungen Frau die Hand auf den Arm und deutete den Bahnsteig entlang.
Die Dame wandte sich in die angezeigte Richtung. Als sie Erich sah, weitete sich ihr Schmollmund zu einem Lächeln. Die rot gefärbten Lippen gaben den Blick auf eine perfekte Aufstellung makelloser Zähne frei, die einer Parade Hitlers alle Ehre gemacht hätte. Sie eilte auf Erich zu, wobei ihre Haare wie ein goldener Schleier hinter ihr her wehten.
„Hallo Erich. Dich hatte ich hier nicht erwartet.“ Sie sah ihn von oben bis unten an. „Musst du schon wieder einrücken?“
„Leider ja, Ingrid.“
„Aber du hast mir immer noch keinen richtigen Antrag gemacht ... so mit Blumen und ... Ach, du weißt schon.“
Hans gluckste wie ein kleines Mädchen. Ingrid schien das nicht zu bemerken. Sie wandte sich mit einer raschen Bewegung dem SS-Offizier zu, der ihr gefolgt war und Erich soeben wortlos die Hand drückte.
„Kann man denn da nichts machen, Joseph?“
Joseph Neumann, Ingrids Bruder, schüttelte den Kopf.
„Nur ein paar Tage, bis wir offiziell verlobt sind“, bettelte sie.
Ingrid war wirklich ein hübsches Mädchen. Es war nicht verwunderlich, dass ihr die Jungs scharenweise nachliefen. Wäre sie nicht so überheblich, auch er hätte sich glatt in sie verlieben können. Und natürlich war da noch die Glaubensfrage.
„Ingrid, du weißt, dass auch ein paar Tage, nichts ändern werden“, sagte Erich. „Ich kann mich nicht mit dir verloben. Das widerspricht meiner Glaubensüberzeugung. Du glaubst nicht an den Herrn Jesus.“
„Aber Erich, wie kannst du nur immer auf diesen Kleinigkeiten herumreiten. Vielleicht kommt das ja noch.“
„Nein, Ingrid, schlag es dir aus dem Kopf.“
„Mit deiner Sturheit wirst du eines Tages noch ins Unglück rennen. Wichtig ist doch nur, dass ich dich liebe.“
„Und vor allen Dingen dein Geld“, murmelte Hans und konnte einen Lachanfall nur schwer unterdrücken.
Ingrid fuhr zu ihm herum. „Wie bitte?“
„Ich, ähm ... ich habe nur gehustet.“
„Johannes Wolf. Du solltest deine albernen Späße unterlassen ...“
Ingrids Redeschwall wurde von einem scharfen Pfiff unterbrochen. Der Zug fuhr stöhnend, als sei er von der langen Fahrt erschöpft, in den Bahnhof ein. Gewaltige Rauchschwaden zwängten sich durch den schwarzen Schornstein der Lok und verbreiteten den staubigen Geruch verbrannter Kohle. Die Bremsen kreischten und schossen ein Sperrfeuer aus Funken auf die wartenden Fahrgäste. Endlich kam der Zug zum Stillstand. Rundherum entspannten sich die Gesichter wie nach einem Fliegerangriff.
Erich nahm seinen Rucksack von der Bank auf.
„Du fährst nach Münster?“, fragte Joseph. „Und dann weiter mit dem Truppentransport nach Norwegen?“
„Du hast das gewusst und mir nichts gesagt?“, kreischte Ingrid.
Erich ließ den Rucksack wieder sinken und starrte Joseph an. Hans sah zwischen beiden hin und her.
„Ich bin jetzt beim Reichssicherheitshauptamt Abteilung IV.“ Joseph schien ein paar Zentimeter zu wachsen.
„Gestapo.“ Erich wusste selbst nicht, ob das eine Frage oder eine Feststellung sein sollte.
„Ja, so nennt man das wohl allgemein.“ Der Hauch eines Lächelns zeigte sich auf Josephs Gesicht. „Also? Bin ich richtig informiert?“
„Was? ... Ach so. Ja, ich muss mich in Münster in der Kaserne melden.“
„Prima. Ich fahr heute auch nach Münster. Da können wir unterwegs ein bisschen plaudern.“ Joseph strich sich über die glattrasierte Wange. „Ach nein. Wir reisen doch gar nicht in der gleichen Klasse. Aber vielleicht ...“
„Doch. Ich fahre auch 2. Klasse.“ Erich musste lachen, als Joseph ihn nun seinerseits anstarrte. „Mensch, Joseph, tu nicht so überrascht. Das zahl ich selbst. – Von Münster aus wird es schon noch ungemütlich genug.“
„Dann verabschieden wir uns mal und ab in die bequemen Polster.“
Joseph umarmte seine Schwester Ingrid. Doch gegenüber der herzlichen Art, mit der Erich seinen Freund Hans an sich drückte, wirkte ihr Abschied steril.
„Grüß meine Mutter noch mal“, flüsterte Erich. „Und denk daran: Pflegebruder und Freund ist zusammen mindestens soviel wie ein echter Bruder.“
Schrill schallte der Pfiff des Schaffners über den Bahnsteig. „Bitte einsteigen und Türen schließen!“
„Pass gut auf dich auf, Bruder. Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ Hans Augenlider verloren den Kampf und eine dicke Träne rollte über seine rechte Wange.
„Ich bete für dich. Damit du auch noch mein Bruder im Herrn wirst“, sagte Erich und sprang mit dem schweren Rucksack hinter Joseph in den Eisenbahnwaggon.
„Und ich? Bekomme ich denn noch nicht einmal einen Abschiedskuss?“, jammerte Ingrid und lief neben dem anfahrenden Zug her.
Sie hatten ein Nichtraucher-Abteil ganz für sich allein. Als sie es sich bequem machten, wurden Josephs undurchdringliche Gesichtszüge ein wenig freundlicher.
„Weshalb musst du denn nach Münster?“ Erich lehnte sich gegen seinen Rucksack und grinste Joseph an. „Oder ist das ein Geheimauftrag?“
„In Münster habe ich nur zwei oder drei Tage zu tun. Dann fahre ich weiter nach Berlin.“
„Du scheinst ja richtig Karriere zu machen.“
„Ich habe jetzt ein Büro in der Prinz-Albrecht-Straße.“ Joseph zog die schwarze Uniformjacke mit den SS-Runen auf dem Kragenspiegel glatt.
„In der Gestapo-Zentrale? – Ich glaub es nicht. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht. Der kleine Joseph Neumann, auf dem damals alle herumhackten, ...“
„... gehört heute zu den Leuten, vor denen sie alle Angst haben? – Ja, genau so ist das.“
„Du willst dich doch nicht etwa rächen?“
„Wer Kinder wie Dreck behandelt, nur weil deren Mutter unverheiratet und arm ist, hätte es schon verdient.“ Joseph starrte aus dem Fenster. „Aber für solche Kleinigkeiten habe ich keine Zeit. Ich will noch was erreichen im Leben.“
„Hör mal“, rief Erich. „Du bist gerade 21 Jahre alt und schon Untersturmführer. Was hast du denn vor? Willst du Göring oder Himmler ablösen?“
„Ganz so hoch habe ich meine Ziele noch nicht gesteckt.“ Joseph sah ihn an. „Aber auch du müsstest nicht in einer Gefreiten-Uniform rumlaufen, wenn du vor zwei Jahren auf mich gehört hättest.“
„Ich weiß. Wenn ich das vorgezogene Notabitur gemacht und nicht noch ein weiteres Jahr in der Schule vergeudet hätte.“ Das freudige Strahlen wich aus Erichs Gesicht.
„Und dich dann freiwillig zur SS gemeldet hättest. Richtig.“ Joseph schlug die Beine übereinander. „Auch jetzt gibt es noch Möglichkeiten.“
„Ich wollte es damals nicht und ich will es heute immer noch nicht.“
„Mann, du verbaust dir deine Zukunft.“
„Das mag sein. Aber ich bin Naturwissenschaftler. Ich will Chemie studieren und forschen.“
„Solche Leute werden bei der SS auch gebraucht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was wir für Labore für die Forschung an chemischen Kampfstoffen, Sprengstoffen und Raketentreibstoffen haben.“
„Du weißt, dass das meiner Überzeugung widerspricht.“ Erich schob den Rucksack von sich weg. „Ich will etwas tun, was Menschen hilft, nicht etwas, das sie vernichtet.“
„Pass auf, wann und wo du so etwas sagst.“
„Schon klar. Ich bin doch nicht blöd.“
„Dann sei auch schlau genug, dich nicht an die Front schicken zu lassen.“
„Aber nicht um diesen Preis.“
„Mensch, glaubst du etwa immer noch, die schießen mit Papierkügelchen?“ Joseph beugte sich vor. „Du hast doch in Russland selbst erlebt, wie es an der Front zugeht. Ich dachte, du willst lebend zu deiner Mutter zurückkommen?“
„Na klar. Aber ich komme nach Norwegen. Das ist nicht Russland ...“ Erich zögerte kurz und fuhr dann fort: „ ... und auch nicht die Normandie.“
Joseph sah ihm in die Augen. „Du hast also auch Feindsender gehört.“ Er lehnte sich in den Sitz zurück. „Ja, in der Normandie geht es tatsächlich ganz schön zur Sache. Aber glaubst du nicht, dass die Amerikaner und Engländer auch noch woanders landen könnten?“
Joseph hielt stand, als Erich ihn mit einem Röntgen-Blick zu durchdringen versuchte. „Was weißt du?“
„Sie werden auch noch an anderen Stellen landen.“
„Auch in Norwegen?“
Joseph nickte.
Erichs Mund war ausgetrocknet. Er zog eine Feldflasche aus dem Rucksack und trank einen kräftigen Schluck des abgestandenen Wassers. Dann blickte er aus dem Fenster, an dem draußen die Bäume vorüberstürmten so wie in seinem Kopf die Gedanken. Der Boden des Abteils gab das Vibrieren des periodischen Tong-Tong an seine Füße weiter.
„Vielleicht kann ich dir ein wenig helfen“, nahm Joseph das Gespräch wieder auf, „auch wenn du nicht zur SS willst.“
Erich wandte sich ihm wieder zu.
„Ich könnte dafür sorgen, dass du ins Büro des Militärbefehlshabers von Paris abkommandiert wirst.“
„Warum?“
„Warum was?“
„Warum willst du mir helfen?“
„Du hast noch was gut bei mir.“
„Was sollte das sein?“
„Du erinnerst dich, dass mich früher alle anderen Kinder mieden, auslachten und wegstießen ...“
„Die wurden von ihren Eltern aufgehetzt“, unterbrach ihn Erich.
„Aber eines Tages kam der Sohn der reichsten Leute in der Gegend zu mir und sagte: Ich heiße Erich. Ich will heute ein Baumhaus bauen. Möchtest du mir helfen?“
„Da wischte sich der kleine Joseph die Tränen aus den Augen und antwortete: Aber ich bin doch arm und habe keinen Vater.“
„Worauf Erich mit den Schultern zuckte und meinte: Na und? Du kannst doch wohl auf einen Baum klettern?“
„Von da an haben die beiden eine Menge Spaß zusammen gehabt ...“
„... und seitdem hat sich nie wieder jemand getraut, öffentlich schlecht über seine Schwester und ihn zu reden“, vollendete Joseph die Kindheitserinnerungen.
„Natürlich weiß ich das noch.“ Erich zuckte mit den Schultern. „Und weiter?“
„Meinst du nicht, dass du dafür noch etwas gut hast?“
„Dafür?“
Joseph nickte. „Ohne dich hätte meine Kindheit nur aus Peinigung und Schikane bestanden.“
„Na, wenn du meinst“, lachte Erich. „Dann bin ich eben dein Held und lasse mich zum Dank dafür nach Paris schicken.“
„Also abgemacht? – Du gehst nach Paris?“
„Wenn du das so einfach arrangieren kannst?“
„Das ist ein Kinderspiel.“ Joseph räusperte sich. „Ich hätte nur eine kleine Bitte an dich.“
„Was denn?“
„Ich benötige ein paar Informationen aus Paris und dachte, du könntest mir die dann vielleicht beschaffen.“
Erich lauschte den Worten Josephs nach. „Was bedeutet das? Du musst doch nur in Paris anrufen und erhältst alle Auskünfte, die du haben möchtest.“
„Diese leider nicht.“
Erichs Blick bohrte sich erneut in Josephs Augen. Das Tong-Tong bebte immer noch unter seinen Füßen. Tong-Tong. Tong-Tong. Tong-Tong. Erich wusste nicht, wie viele es schon waren, doch dann musste Joseph für einen winzigen Moment die Augenlider senken.
„Nein, Joseph.“ Das Beben des Fußbodens schien sich auf Erichs Stimme zu legen. „Ich werde nicht den Spitzel für dich spielen.“
„Erich, das ist wirklich keine große Sache. Es geht nur um ein paar Kleinigkeiten.“
„Nein.“
„Ich werde auch dafür sorgen, dass deine Mutter in der Zwischenzeit nicht von der Gestapo behelligt wird.“
Der Zug durchfuhr eine Kurve. Erich wurde plötzlich geblendet, als das Sonnenlicht von den silbernen und goldenen Orden und Auszeichnungen auf Josephs Brust reflektiert wurde. Doch sein Verstand ließ sich davon nicht betören.
„Nein.“
„Ich könnte sogar ein bisschen auf Euren alten Freund ... wie hieß er noch gleich ... Friedrich Kirchner achtgeben. Wäre nicht schön, wenn er in seinem Alter noch mal wegen seiner ständigen frommen Predigten ins Gefängnis müsste.“
„Diese Kleinigkeit scheint eine ziemliche Bedeutung für dich zu haben.“ Erich keuchte. „Du willst mich sogar erpressen.“
Joseph lächelte ihn an. „Aber Erich. Wir verhandeln doch nur. Ich helfe dir und im Gegenzug tust du mir einen winzig kleinen Gefallen.“
Tong-Tong. Tong-Tong. Es hämmerte nun auch in Erichs Kopf. Tong-Tong. Die Gedanken wurden hin und her geschleudert. Sein Glaube lag auf dem Amboss der Prüfung. Tong-Tong.
„Nein, nein und noch mal nein. Ich vertraue auf einen mächtigeren Schutz. Ich vertraue lieber auf Gott und fahre nach Norwegen.“
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Der Güterwaggon war mit Soldaten der Wehrmacht vollgestopft. Der Gestank von Mist, der vom schmutzigen Boden des Eisenbahnwagens aufstieg, mischte sich mit den Schweißausdünstungen der Kameraden. Glücklicherweise hatte der klapprige Waggon keine Tür mehr, sodass der Fahrtwind für frische Luft sorgte. Gelegentlich wehte er aber auch Rauchschwaden von der Lokomotive herein, was jedes Mal zu einem Hustenkonzert führte. Erich hatte sich einen Platz neben dem Ausstieg erkämpft. So konnte er die Umgebung beobachten und das Lichtspiel der untergehenden Sonne genießen.
Der Zug zuckelte und schaukelte vorwärts. Er schien zu ahnen, dass es keiner der mitfahrenden Helden der hochgepriesenen deutschen Armee eilig hatte, wieder an die Front zu kommen.
Erichs Gedanken kreisten um die Gespräche, die er heute morgen geführt hatte. Erst der fragwürdige Vorschlag von Hans und dann Josephs anrüchiges Angebot. Er hatte all seine Kraft aufbringen müssen, um standhaft zu bleiben. Welcher andere 20-jährige hätte diese Willensstärke gezeigt? Aber jetzt musste er sich dringend mit der Frage beschäftigen, wie er diesen Krieg überstehen könnte.
Die großen Siegeszüge der deutschen Streitkräfte waren längst Vergangenheit. Inzwischen ging es an den Fronten nicht mehr um Ruhm, sondern nur noch ums Überleben, auch wenn die Propaganda-Meldungen im Rundfunk beharrlich das Gegenteil behaupteten. Wie viel tausend Tote hatte dieser Krieg schon gefordert? Tausende? Nein, es waren doch sicher schon hunderttausend. Oder sollten es sogar bereits eine Million Tote sein? Und einer davon war sein eigener Vater.
Aber nicht nur an den Fronten, auch in den Städten war niemand mehr sicher. Der sichtbare Terror aus der Luft tobte ebenso wie der unsichtbare Terror der Gestapo. Bisher waren sie auf dem Land vom Schlimmsten verschont geblieben. Doch selbst da wurde es von Tag zu Tag heftiger. Und seine kränkliche Mutter war ohne Hilfe. Denn Onkel Gustav würde, anstatt zu helfen, seinen Beitrag zum Terror leisten.
Onkel Gustav hatte den Tod seiner Frau, die kurz nach der Geburt von Fritz starb, nie überwunden. Er hatte seinen Anteil des Brunnhöferschen Vermögens an Erichs Vater verkauft und alles in Aktien investiert. So wollte er auf leichte Weise sein neues Leben finanzieren. Er wollte das Leben auskosten, wie er es nannte. Den Tod seiner Frau verdrängte er mit zweifelhaften Vergnügungen.
Doch dann vernichtete die Weltwirtschaftskrise binnen weniger Tage sein gesamtes Vermögen. Bettelarm und als Kettenraucher und unberechenbarer Gelegenheitstrinker kehrte er nach Waldstein zurück. Erichs Vater nahm ihn auf und übertrug ihm einen Teil der Arbeiten in den Betrieben.
Onkel Gustavs Sohn Fritz, den er in diesen weggeworfenen Jahren einfach bei der Familie seines Bruders zurückgelassen hatte, war nun das erste Opfer seiner Launen. Denn Fritz hatte nicht den Verstand und die Persönlichkeit, um seinem Vater Paroli zu bieten.
Und nun führten diese beiden Männer die Brunnhöferschen Betriebe, von denen der Unterhalt von fast ganz Waldstein und etlicher Einwohner Langenbachs abhing. Von ihm erwarteten die Leute, dass er ein würdiger Nachfolger seines gefallenen Vaters würde. Aber er war auf dem Weg in den Krieg. Rückkehr ungewiss.
Hätte nur Hans geglaubt, dass auch in Norwegen eine Invasion der Alliierten erfolgen könnte, dann hätte er das einfach abgetan. Aber auch Joseph hielt das für möglich, ja sogar für wahrscheinlich. Und der war Offizier bei der Gestapo, hatte Zugriff auf vertrauliche Informationen. Das musste er ernst nehmen. Würden ihn in Norwegen wirklich schwere Gefechte erwarten? Wie sollte er sich verhalten, um unversehrt wieder nach Hause zu kommen?
Hans und Joseph gegenüber hatte er natürlich auf seinen Glauben an Gott verwiesen. Doch wenn er ehrlich gegen sich selbst war, dann glich sein Vertrauen einem Potemkinschen Dorf. Natürlich glaubte er an Gott und an den Herrn Jesus. Aber sein Glaube war noch nie ernsthaft geprüft worden. Er war wohlbehütet und in Wohlstand aufgewachsen. Und die kurze Zeit an der russischen Front war eher wie ein Film an ihm vorübergezogen, nicht als grausige Wirklichkeit. Er stand vor dem Sprung ins Polarmeer des Glaubens. Sollte er wirklich ausschließlich auf Gott vertrauen? Musste er nicht auch selbst etwas tun?
Doch. Irgendetwas musste er unternehmen. Er konnte sich doch nicht einfach in den Kugelhagel stellen und dann erwarten, dass Gott ihn beschützen werde. Käme das nicht fast einer Versuchung Gottes gleich?
Plötzlich wurden die schläfrigen Kameraden rege, riefen laut, deuteten aus dem Waggon heraus zum Himmel. Erich sah in die angezeigte Richtung. Fast gleichzeitig hörte und sah er die Ursache der Aufregung.
Eine Staffel britischer Mosquito-Jagdbomber war im Anflug auf den Zug. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn und jagte Millionen Impulse durch die Nervenbahnen. Die Muskeln spannten sich und schleuderten ihn hoch. Gedanken rasten.
Der langsame Truppentransport war ein leichtes Ziel für die Piloten. Nur noch wenige Sekunden bis zu den ersten Einschlägen. Dann würde es ein Inferno geben. Er hatte sich Gedanken über die Front gemacht, dabei kreiste der Tod bereits hier über ihm. Es gab nur eine Rettungsmöglichkeit.
Sekundenbruchteile nachdem Erich die Flieger gesehen hatte, sprang er. Er landete auf dem Bahndamm, überschlug sich und rollte die Böschung hinab. Unten blieb er einen Moment benommen auf dem Bauch liegen.
In der Nähe begann eine Flak zu feuern. Und dann gab es kurz hintereinander Explosionen. Drei. Vier. Fünf. Er konnte die einzelnen Detonationen nicht mehr auseinander halten. Die Erde zitterte.
„Ist das alles, was Sie über Struktur und Führung der Résistance wissen?“
Untersturmführer Joseph Neumann erhob sich aus dem Sessel und knallte den Bericht auf den wackeligen Schreibtisch, hinter dem Oberstleutnant Selzig saß.
„Glauben Sie etwa, wir könnten mal eben ein paar eigene Leute in diese Untergrundgruppen einschleusen?“
Georg Selzig war vor wenigen Tagen aus Paris nach Münster gekommen. Die in Frankreich stationierten Einheiten wurden durch Attentate und Sabotagen der Résistance dezimiert. Oberstleutnant Selzig sollte sich darum kümmern, dass die Truppe wieder aufgefüllt würde.
„Und was ist mit den Verhören?“
Joseph Neumann trat an die Wand, an der eine Karte von Frankreich hing. Die Standorte aller dort stationierten deutschen Einheiten waren markiert. Außerdem waren Orte gekennzeichnet, an denen Sabotageakte und Anschläge der Aufständischen stattgefunden hatten.
„Sie meinen die Verhöre von verhafteten Mitgliedern der Résistance?“, brummte Selzig. „Die Kameraden der Waffen-SS erschießen doch immer jeden Franzosen, der etwas wissen könnte. Wie vor ein paar Tagen in Oradour-sur-Glane.“
„Wollen Sie etwa behaupten, dass die SS Ihre Arbeit behindert?“
Dass die Gestapo einen Bericht über die Maßnahmen im Kampf gegen die Résistance haben wollte, war nur ein Vorwand. In Wirklichkeit sollte der junge SS-Offizier Neumann den Wehrmachtsoffizier Selzig aushorchen. Denn bei der Gestapo hatte man den Verdacht, dass der Militärbefehlshaber von Paris und einige seiner hohen Offiziere nicht mehr vorbehaltlos hinter dem Führer stünden.
Statt einer Antwort hörte Neumann, wie ein Streichholz angerissen wurde und knisternd entflammte. Einen Moment lang roch es schwefelig. Dann breitete sich der würzige Duft verbrannten Tabaks im Raum aus. Neumann wirbelte herum. Der Wehrmachtsoffizier hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Augen geschlossen und zog an einer Zigarre.
„Warum antworten Sie nicht, Oberstleutnant?“
„Wissen Sie, Herr Untersturmführer“ – Selzig ließ den Rauch durch Mund und Nase ausströmen – „in meiner Heimat, in Bayern, pflegt man älteren und höherstehenden Personen höflich und respektvoll zu begegnen.“
„Ich bin SS-Offizier und befrage Sie im Auftrag des Reichsführers-SS“, schnappte Neumann.
Der Wehrmachtsoffizier richtete sich auf. „Sie hatten sich bereits vorgestellt, Untersturmführer.“
„Ich muss Ihnen als gelerntem Juristen wohl nicht erläutern, welche Folgen Ihr Verhalten haben kann.“
„Man muss kein Jurist sein, um zu wissen, dass man in Deutschland jederzeit mit jedem Unrecht rechnen muss.“
Joseph Neumann holte tief Luft und setzte zu einer scharfen Erwiderung an, aber der freundlich lächelnde Oberstleutnant kam ihm zuvor.
„Glauben Sie wirklich, dass ich vor ihrer schwarzen Uniform und der Gestapo-Marke ehrfürchtig erstarre? Sie müssen noch viel lernen, Neumann.“
Wieder setzte der Gescholtene zu einer aggressiven Antwort an, doch diesmal wurde er durch das Läuten des Telefons davon abgehalten. Selzig beugte sich vor, legte die Zigarre auf dem Aschenbecher ab und griff zum Hörer.
„Oberstleutnant Selzig. – Ja, was gibt’s?“
Der Offizier lauschte in den Hörer. Seine Augen weiteten sich, er schnellte in die Höhe.
„Selbstverständlich. – Ja, Untersturmführer Neumann ist bei mir. – Wir werden gleich zu Ihnen herüber kommen.“
Er legte auf und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Neumann wollte nun endlich seiner Empörung Luft machen, doch als er in das Gesicht des Oberstleutnants sah, blieben ihm die Worte im Hals stecken.
„Es war der Adjutant des Kasernen-Kommandeurs“, erklärte Selzig ausdruckslos. „Der Zug mit dem Truppennachschub für Norwegen ist bereits kurz hinter Münster bombardiert worden.“
„Und? Wie sieht es aus? Hat es Verluste gegeben?“
„Die haben den ganzen Zug zusammengeschossen.“
„Tote?“
„Vermutlich Hunderte.“
Neumann zuckte zusammen. Für einige Augenblicke war es still wie in einer Grabkammer.
„Die Unverletzten und Leichtverwundeten werden hierher zurückgebracht.“ Selzig räusperte sich und seine Stimme nahm wieder den militärisch klaren Klang an. „Sie müssen alle registriert, befragt, versorgt und einquartiert werden. Der Kommandeur bittet um unsere Hilfe.“
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Gebannt musterte Joseph Neumann die Männer, die in die Kantine gebracht wurden. Sie hatten den Fliegerangriff zwar überlebt, aber sie sahen aus wie eine geschlagene Einheit auf dem Rückzug. Die meisten waren mit Dreck und Blut beschmiert, sodass er ihre Gesichter kaum erkennen konnte. Ihre Uniformen waren zerrissen. Einige schreckten zurück, als sie den SS-Offizier im Raum sahen.
Solange Joseph aber auch seinen Blick über die Soldaten schweifen ließ, er konnte Erich nicht entdecken. Sollte Erich unter den Schwerverletzten sein, die ins Lazarett gebracht wurden? Oder war er gar tot? Vielleicht lag er noch unter den Trümmern des Zuges begraben.
Bei diesem Gedanken wurde ihm flau im Magen. Wie sollte er das seiner Schwester beibringen? Ingrid würde außer sich sein, wenn sie erführe, dass er Erich direkt in den Tod hatte fahren lassen.
Ein Unteroffizier trat auf ihn zu und reichte ihm eine dünne Mappe. „Der Kommandeur bittet Sie, einige Männer über den Hergang des Angriffs zu befragen, Herr Untersturmführer.“
„In Ordnung, Unteroffizier.“ Joseph öffnete die Mappe und überflog die Namen auf der Liste.
„Sagen Sie mir, mit wem Sie sprechen möchten. Ich bringe den Mann dann zu Ihnen.“
Gerade wollte Joseph umblättern, als er stutzte. Da war er doch aufgeführt. Brunnhöfer, Erich, Gefreiter. Hatte er ihn tatsächlich übersehen?
„Bringen Sie mir den Gefreiten Brunnhöfer, Unteroffizier.“
„Zu Befehl, Herr Untersturmführer.“ Der Unteroffizier eilte davon.
Einige Augenblicke später betrat Joseph Neumann einen kleinen Raum mit einem winzigen vergitterten Fenster. Er setzte sich auf einen der beiden polsterlosen Stühle und legte die Mappe auf den rohen Tisch. Noch einmal blätterte er die Namensliste durch.
Es klopfte.
„Herein“, rief er ohne aufzusehen.
Die Tür wurde aufgerissen. Jemand trat mit zwei raschen Schritten ein, warf die Tür wieder zu und blieb stehen.
„Gefreiter Brunnhöfer meldet sich wie befohlen, Herr Untersturmführer.“
Das war nicht Erichs Stimme.
Langsam hob Joseph Neumann den Kopf. Neben der Tür stand ein Soldat in einer zerrissenen und verschmutzten Uniform im Stillgestanden, die Fingerspitzen der rechten Hand an die Schläfe gelegt. Ein großes Pflaster klebte auf seiner linken Wange und die linke Hand steckte in einem blutigen Verband.
Das war nicht Erich.
„Stehen Sie bequem, Gefreiter.“
Der Mann nahm die Hand herunter und trat mit dem rechten Fuß ein wenig vor.
„Nehmen Sie Platz.“
Mit festem Schritt trat der Mann vor und setzte sich ihm gegenüber. Joseph Neumann musterte sein Gesicht und seine Gestalt. Wer war der Mann? Gab es noch einen zweiten Erich Brunnhöfer? War ein solcher Zufall möglich?
„Geben Sie mir Ihr Soldbuch.“
Der Soldat griff zur linken Brusttasche und reichte es ihm. Es war mit Dreck und Blut beschmiert.
„Das hat den Luftangriff auch nicht schadlos überstanden“, sagte er und zuckte mit den Schultern.
„Dachte ich mir.“
Neumann schlug das Soldbuch auf. Auch innen waren dicke Dreck- und Blutspuren. Das auf der ersten Seite eingeheftete Foto war nicht mehr zu erkennen, aber die Schrift konnte er noch leicht entziffern. Es war das Soldbuch des Gefreiten Erich Brunnhöfer.
„Erkennungsmarken-Nummer?“
„Nachschubkompanie 337. Stammrollen-Nummer 247. – Das war meine alte Einheit in Russland, Herr Untersturmführer.“
Joseph blätterte weiter. Nein, das war keine zufällige Namensgleichheit. Dies war das Soldbuch des Mannes, mit dem er als Kind Baumhäuser gebaut hatte. Aber wer war der Mann, der ihm gegenüber saß?
„Wann wurden Sie geboren?“
„Am 17. Mai 1924 in Waldstein, Herr Untersturmführer.“
Was war da passiert? Wie kam der Mann an das Soldbuch? Hatte er es gefunden? Oder gestohlen? Vielleicht hatte er es dem toten Erich abgenommen? Warum? Und wo war sein eigenes? Wollte sich der Kerl als Spitzel oder Saboteur einschleichen? Hatten ihn die Engländer geschickt?
Joseph Neumann blätterte einige Seiten weiter. Er würde ihm gründlich auf den Zahn fühlen.
„Waren Sie schon einmal im Lazarett?“
„März 44 im Feldlazarett in Russland. April 44 verlegt ins Reserve-Lazarett Burgenheim.“
„Weshalb?“
„Granatsplitter in Gesäß und Oberschenkeln.“
„Wurden Sie schon einmal ausgezeichnet?“
„Verwundeten-Abzeichen in schwarz, Mai 1944.“
Das war beeindruckend. Der Mann kannte alle Daten auswendig. Doch nun würde sich zeigen, wie gut er wirklich war. Joseph Neumann blätterte wieder einige Seiten zurück.
„Wie heißen Ihre Eltern?“
„Hermann Brunnhöfer und Ruth Brunnhöfer, geborene Bernhardt.“
„Leben Ihre Eltern noch?“
Es war das erste Mal, dass der Mann zögerte.
„Gefreiter?“
„Wir sind im Krieg, Herr Untersturmführer. Wie ich gerade erst erlebt habe, kann sich das von einer auf die andere Stunde ändern.“
„Sie sind wirklich gut.“ Joseph Neumann nickte anerkennend. Der Mann machte so etwas bestimmt nicht zum ersten Mal.
„Wie bitte? Ich verstehe nicht, Herr Untersturmführer.“
„Hören Sie mit dem Schauspiel auf. Ich weiß, dass Sie nicht Erich Brunnhöfer sind.“
Der Mann sprang auf. „Aber Herr Untersturmführer.“
„Setzen Sie sich!“
Einen Moment lang schien der Unbekannte den SS-Offizier und seine Lage einzuschätzen. Dann setzte er sich wieder hin.
„Wie heißen Sie wirklich?“
„Dass ich so schnell auffliege, hatte ich nicht erwartet.“
„Sie waren gut. Es war nur Pech, dass Sie an mich gerieten. Ich kenne den echten Erich Brunnhöfer.“ Joseph Neumann lächelte. „Also? Wie heißen Sie wirklich?“
Er zögerte.
„Wir werden es sowieso herausfinden. Sie machen es sich und uns nur leichter, wenn Sie antworten.“
„Lauer, Kurt. Gefreiter.“
„Der Name ist nicht zufälligerweise auch falsch?“
„Nein, Herr Untersturmführer.“ Er sah Joseph Neumann an. „Ich wurde als Kurt Lauer geboren.“
„Und sie waren auch als Kurt Lauer im Zug?“
„Jawohl.“
Der SS-Offizier musterte den Gefreiten. Er hielt seinem Blick stand.
„Wie sind Sie an das Soldbuch gekommen?“
„Ich habe es nach dem Angriff einem Toten abgenommen.“
Joseph Neumann schluckte.
„Sind Sie sicher, dass er tot war?“
„Ganz sicher. Sein Gesicht war völlig entstellt.“
„Sind Sie sicher, dass es sein Soldbuch war.“
„Ich habe keinen Grund daran zu zweifeln. – Ich habe ihm auch die Erkennungsmarke abgenommen.“
Der Soldat nahm sie vom Hals und legte sie auf den Tisch. Ein flüchtiger Blick genügte Joseph Neumann. Soldbuch und Erkennungsmarke gehörten zusammen.
Erich war tot.
Joseph Neumanns Zähne knirschten aufeinander. Noch vor ein paar Stunden hatte er mit ihm gesprochen. Hätte Erich sein Angebot doch angenommen. Dann lebte er jetzt noch.
Er stand auf und ging ein paarmal hin und her. Es war schrecklich zu wissen, dass Erich tot war. Mit seinem frommen Gerede hatte er zwar manchmal genervt, aber er war doch immerhin sein Freund. Und der Fast-Verlobte von Ingrid. Daran durfte er gar nicht denken. Seine Schwester würde ihn umbringen.
Abrupt blieb er stehen und wandte sich dem Schwindler zu. Es war nun einmal so, wie es war. Dann musste er eben das Beste aus der Situation machen. Vielleicht könnte Erichs Tod sogar ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Der Mann, der dort abwartend saß, schien keine Skrupel zu kennen. Und er hatte ihn in der Hand.
Joseph Neumann kehrte an seinen Platz zurück. „Wann haben Sie das alles auswendig gelernt?“
„Auf der Fahrt, als wir hergebracht wurden. Und hier gab es auch noch lange Wartezeiten.“
Untersturmführer Neumann nickte. „Warum haben Sie das gemacht? Warum haben Sie dem Toten die Sachen abgenommen und sich als Erich Brunnhöfer ausgegeben?“
Der Gefreite zögerte und forschte im Gesicht seines Gegenübers. „Warum sollte ich Ihnen die Wahrheit sagen? Ich komme sowieso vors Kriegsgericht.“
„Wer weiß?“ Lächelnd wiegte Joseph Neumann den Kopf hin und her. „Vielleicht können wir eine Vereinbarung treffen, die Ihnen das erspart.“
Als der Luftangriff auf den Zug begann, drückte Erich sein Gesicht eng an den Bahndamm und legte die Hände im Nacken zusammen. Mit jedem Einschlag wurden Bombensplitter, Holz- und Eisenteile des Zuges, Erdklumpen und Schotter in die Luft geschleudert und regneten im weiten Umkreis nieder.
Zwischen den Explosionen hörte Erich einen gewaltigen Knall, dann kurz ein schwerfälliges Rumpeln. Stahlteile schoben sich kreischend übereinander hinweg. Es gab einen dumpfen Schlag. Schließlich ein ohrenbetäubendes Poltern. Dann hörte er einen Augenblick lang nur das Brummen der sich entfernenden Flugzeuge, bevor es von einem hundertfachen Jammern, Stöhnen, Schreien und Wimmern übertönt wurde.
Vorsichtig hob Erich den Kopf. Er schmeckte Gras und Erde. Über ihm stand eine mächtige Rauchwolke, die den eben noch klaren Himmel verdunkelte. Der Geruch von Sprengstoff und Feuer breitete sich aus.
Arme, Beine, Kopf und Rücken schmerzten, als er langsam aufstand. Er sah an sich herab, versuchte die Glieder zu bewegen, befühlte die schmerzenden Stellen. An seinem rechten Unterarm brannte eine Schürfwunde. Sonst war er unverletzt. Doch die feldgraue Uniform war mit grünen und braunen Flecken überzogen. Am Hemd waren zwei Knöpfe abgerissen und der linke Ärmel zerfetzt.
Erich spähte am Bahndamm entlang. Durch die Rauchschwaden konnte er erkennen, dass einige Waggons die Böschung hinabgestürzt waren und sich dabei überschlagen hatten. Andere waren mitgerissen worden. Sie lagen nun wie überdimensionale Mikado-Stäbchen durcheinander. Dahinter sah er die Lok, die, noch Rauch und Dampf ausstoßend, in einer bedrohlich schiefen Lage auf dem Bahndamm hing.
Er setzte sich in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Er lief auf die Unglücksstelle zu. Sicher gab es unzählige Verletzte, denen geholfen werden musste.
In diesem Moment donnerte die Lok in einer riesigen Staubwolke die Böschung hinab und stieß dabei das Waggon-Mikado an, so dass alles unter Knirschen und Ächzen noch einmal ins Rutschen geriet. Erich erstarrte.
Es dauerte eine Zeit lang, bevor er das Grauen abschütteln konnte. Langsam ging er weiter. In der Nähe der zerstörten Waggons stieß er auf den ersten Kameraden, der reglos am Boden lag. Er beugte sich zu dem Unteroffizier hinab. Kein Puls, keine Atmung. Tot.
Ein Gedanke durchzuckte Erich. Wie leicht wäre es, in diesem Chaos zu verschwinden. Es würde Tage dauern, bis alle Toten geborgen wären. Einige würden nicht mehr zu erkennen sein. Erst in ein paar Tagen würden sie feststellen, falls jemand fehlte. Bis dahin wäre man über alle Berge. Jetzt oder nie.
Es zog ihn von der Unglücksstelle weg. Es war keine bewusste Entscheidung, er handelte wie im Trance. Er rannte los, sprang über einen niedrigen Busch, stolperte und stürzte.
Rasch rappelte er sich wieder auf. Direkt neben ihm lag die Leiche eines Gefreiten. Das Gesicht war furchtbar entstellt. Die Gewalt der Detonationen oder der umstürzenden Waggons hatte ihn offenbar bis hierher geschleudert. Ebenso wie einige Rucksäcke und Bretter, die verstreut umherlagen.
Der Gedanke, der ihn eben hatte loslaufen lassen, griff wieder nach ihm und spann sich fort. Was wäre, wenn er nie vermisst würde? Was, wenn er unter den Toten wäre? Was, wenn er mit dem Toten hier die Identität tauschen würde? Man würde zwar irgendwann feststellen, dass ein Soldat fehlte. Aber man würde den Falschen vermissen.
Unwillkürlich griff Erich in die linke Brusttasche des Toten und zog sein Soldbuch heraus. Er hieß Otto Scholz. Hastig durchsuchte er die übrigen Taschen. Er fand eine kleine Mappe mit Briefen und einem Familienfoto, eine verkratzte Taschenuhr mit einer Namensgravur, ein Taschentuch mit aufgestickten Initialen und eine Geldbörse. Schließlich nahm er dem Toten die Erkennungsmarke ab, hängte ihm stattdessen seine eigene um und schob sie unter das blutgetränkte Hemd.
Rasch zog er seine persönlichen Sachen heraus und steckte sie in die Taschen des Toten. Als er in die untere linke Tasche seiner Feldbluse griff, stutzte er. Er hielt seine Bibel in der Hand. Sollte er das wirklich tun? War das in Ordnung?
Nein, das ging nicht. Die Bibel bedeutete ihm zu viel. Er würde sie behalten und mitnehmen. Er schob sie zurück in die Tasche. Dann stopfte er schnell Soldbuch, Erkennungsmarke und die anderen Gegenstände, die er dem Toten abgenommen hatte, in seine Hosentaschen.
Erich sprang auf, wollte loslaufen. Doch noch einmal hielt er inne. Unterwegs würde er Proviant und Wäsche benötigen. Er sah sich um und riss einen der umherliegenden Rucksäcke an sich. Im Laufen setzte er ihn auf und hastete über ein Feld davon.
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„Ich wollte mir das Chaos zu Nutze machen und mich absetzen.“
„Und wieso sind Sie dann trotzdem hier?“ Der Stuhl schabte über die Fliesen als Untersturmführer Neumann sich zurücklehnte und den Schwindler Kurt Lauer mit einer Handbewegung aufforderte weiterzusprechen.
„Ich wollte es zu perfekt machen.“
Der Gefreite zögerte wieder, doch Joseph Neumann sah ihn nur wortlos an.
„Ich wollte, dass man mich für tot hält. Also habe ich meine Papiere mit denjenigen eines Toten vertauscht.“
„Niemand sollte Sie vermissen.“
„Richtig.“
„Und was ist schief gegangen?“
„Bis ich mich aus den Trümmern des Waggons befreit, orientiert, eine passende Leiche gefunden und den Austausch vorgenommen hatte, war bereits eine ganze Weile vergangen. Als ich davonrannte, lief ich direkt in die Arme eines Feldwebels, der mit seinen Leuten vom nächsten Ort kam.“
Kurt Lauer räusperte sich und sah auf seine Stiefelspitzen hinab. „Es kostete mich einige Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass ich lediglich Hilfe holen wollte.“
Joseph Neumann wandte seinen Blick nicht einen Moment von dem Mann ab. „Warum wollten Sie als tot gelten?“
Der Deserteur sah wieder auf und lächelte. „Was soll’s. Sie können es ohnehin in meiner Akte nachlesen. – Ich habe die eine oder andere kleine Betrügerei hinter mir. Die letzten Anzeigen wurden jedoch nicht mehr bearbeitet, weil die Behörden im Krieg wichtigere Probleme zu lösen haben.“
Draußen wurden Befehle gebrüllt. Im Gang hallten die Schritte vorbeieilender Soldaten.
„Aber eines Tages wird man die Fälle wieder aufnehmen“, fuhr der falsche Erich Brunnhöfer fort. „Ist doch für beide Seiten einfacher, wenn die Akte dann mit dem Vermerk verstorben in den Keller kommt.“
Joseph Neumann erwiderte sein Lächeln. „Ihr Handwerk ist der Betrug. Sie sind ein Profi.“
„Wenn Sie so wollen. Ja. – Und was nun?“
„Ich denke, mein Angebot wird Sie interessieren.“
Ein Windstoß presste sich jaulend durch irgendeine Ritze und stieß die tief von der Decke herabhängende Glühbirne an. Die Schatten der beiden unbewegt dasitzenden Männer sprangen auf und tanzten im Kreis.
„Und wie lautet es?“
Der SS-Offizier nahm das Soldbuch Erich Brunnhöfers vom Tisch und ließ die Seiten über den Daumen laufen. „Setzen Sie Ihre Fähigkeiten für die Gestapo ein. Arbeiten Sie für mich.“
„Unter welchen Bedingungen?“
„Kurt Lauer ist tot.“
Der Soldat beugte sich vor und hob den Kopf. „Ich bin interessiert. – Was muss ich tun?“
„Ich benötige einen zuverlässigen Mann im Büro des Militärbefehlshabers von Paris – einen Informanten, könnte man sagen. Sie erhalten neue, echte Papiere.“
Joseph Neumann klopfte mit dem Soldbuch auf den Tisch.
„Darin werden wir alles auf Sie anpassen. Sie bekommen eine neue Identität. Niemand wird im Traum daran denken, dass bei Ihnen etwas nicht stimmt. Ihre Weste wird so weiß sein, dass Ihre Vorgesetzten Sonnenbrillen brauchen werden. Sie sind Erich Brunnhöfer.“
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Keuchend lehnte sich Erich gegen eine dicke Eiche. Wie lange war er gelaufen? Und wo war er überhaupt? Er sah auf seine Armbanduhr. Doch inzwischen war es so dunkel, dass er die Zeiger nicht mehr erkennen konnte.
Langsam ließ er den Rucksack vom Rücken gleiten und setzte sich am Baumstamm auf den bemoosten Boden. Was tat er hier? Warum war er davon gelaufen? Er schüttelte den Kopf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Heute morgen erst hatte er diese Idee strikt von sich gewiesen. Wo war nur sein Gottvertrauen geblieben?
Irgendwie erschien ihm alles so unwirklich. Obwohl er erst vor wenigen Stunden den verunglückten Zug hinter sich gelassen hatte, war das alles so weit weg und fremd, als habe er es nur geträumt. Doch alles Grübeln half nichts. Jetzt konnte er nicht mehr zurück. Nun war er ein Fahnenflüchtiger, den man erschießen würde, wenn man ihn zu fassen bekäme.
Er lehnte den Kopf gegen den Baumstamm und schob die Hände in die Hosentaschen. Die Gegenstände, die er dem Toten abgenommen hatte, glitten durch seine Finger. Wenn er die bloß loswerden könnte? Aber einfach hier liegen lassen? Nein. Es könnte ihn verraten. Oder aber es würde nie gefunden und dann würden die Angehörigen des Toten nie erfahren, was mit ihm geschehen war.
Erich seufzte. Wo sollte er jetzt hingehen? Nach Hause? Wenn sie herausfänden, dass er gar nicht tot war, würden sie dort zuerst suchen. Außerdem kannte bei ihnen auf dem Land jeder jeden. Und besonders über die Brunnhöfers wussten die Leute doch Bescheid. Da konnte er nicht unentdeckt bleiben, selbst dann nicht, wenn er sich im Wald versteckte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es bekannt würde. Und irgendjemand würde ihn verraten. Mit Absicht oder versehentlich.
Aber wohin dann? Einfach nur irgendwo umherirren und sich verstecken? Das ginge so lange, bis der Krieg zu Ende wäre. Doch wie lange könnte das dauern? Monate? Jahre? Es war zu riskant. Nein, er brauchte ein Ziel, eine Zuflucht, wo er bis zum Kriegsende bleiben könnte.
Bis zum Kriegsende? Und seine Mutter? Wie würde es ihr in der Zwischenzeit ergehen? Man würde ihr mitteilen, dass ihr Sohn gefallen sei. Würde sie diesen Schock überleben? – Oder aber die Gestapo würde sie belästigen, weil ihr Sohn fahnenflüchtig war. Der Gedanke war auch nicht tröstlicher. Er stampfte mit dem Fuß auf. Wie konnte er nur so dumm sein?
Hoffentlich würde Hans wenigstens keine Dummheiten machen. Denn seine Mutter brauchte ihn nun noch dringender, als je zuvor. Aber wenn er schon so unüberlegt handelte, was konnte er dann von Hans erwarten? Nein, er musste selbst etwas tun. Er musste sich in Sicherheit bringen und seine Mutter dann über seinen Verbleib informieren. Danach würde man weitersehen.
Aber wo gab es Sicherheit? Wohin könnte er fliehen? ... Hans Vorschlag kam ihm in den Sinn. Was wäre, wenn er überlief oder in Kriegsgefangenschaft ging? Nach den Genfer Konventionen mussten Kriegsgefangene gut behandelt und nach dem Krieg wieder entlassen werden. Von dort könnte er auch seiner Mutter schreiben.
Also in Kriegsgefangenschaft? Aber nicht zu den Russen. Die waren brutal und unberechenbar. Doch in Frankreich waren die Amerikaner und Engländer gelandet ... Ganz schön weit weg, aber das wäre vielleicht eine Möglichkeit.
Soweit er gehört hatte, hatten sich Amerikaner und Engländer zusammen mit den Franzosen in der Normandie festgesetzt und rückten langsam vor. Wenn er nach Westen ginge, dann kämen sie ihm entgegen. Der Weg würde mit jedem Tag kürzer. Ja, das schien die beste Lösung zu sein.
Erst als es ihn schüttelte, bemerkte er, dass ihm kalt war. Das durchgeschwitzte Hemd klebte auf der Gänsehaut. Hoffentlich war Ersatzwäsche in dem Rucksack. Rasch öffnete er die Schnallen.
Als erstes zog er eine Feldflasche heraus. Er schüttelte sie. Noch fast voll. Er griff wieder hinein. Ein paar Essensrationen. Dann ein Fernglas und ein Kompass. Was hatte er nur für einen Rucksack erwischt? Das gehörte nicht zur Standardausrüstung. Er wühlte weiter. Einige Päckchen Streichhölzer. Da endlich. Er zerrte ein Kleidungsstück hervor. Ein Hemd.
Er faltete es auseinander. Vielleicht eine Nummer zu groß. Egal. Aber was war das? Hastig strich er ein Streichholz an. Er hatte richtig gesehen. Im flackernden Licht des verglimmenden Spans funkelte ein Stern auf dem Schulterstück. Die Uniform eines Oberleutnants.
Er zögerte. Alles in ihm sträubte sich, die Feldbluse eines Offiziers anzuziehen. Doch dann schüttelte es ihn wieder und er hörte seine Zähne aufeinander schlagen. Er riss sich den feuchten Fetzen, der einmal eine Feldbluse gewesen war, vom Leib und schlüpfte in das angenehm frische Hemd.
„Und? Was hat Betty geschrieben?“
„Wie bitte?“
„Du hast doch heute einen Brief von Betty bekommen.“
„Wie kommst du darauf? Den Brief könnte doch auch mein kleiner Bruder geschrieben haben.“
„Ausgeschlossen. – So wie du strahlst, kann er nur von Betty sein.“
Captain Rick Johnson, Chef der D Kompanie des 5. US Ranger-Bataillons, schritt mit seinem Stellvertreter und Freund, dem 1st Lieutenant Daniel Ross, durch das von Tag zu Tag größer werdende Lager der amerikanischen Invasionstruppen in der Normandie. Ein schwerer Lastwagen einer Nachschubeinheit überholte sie hupend und hüllte sie in eine nach verbranntem Öl stinkende Abgaswolke ein. Zwei Sanitäter, die auf einer Trage einen wimmernden Soldaten trugen, dessen rechtes Bein amputiert war, kreuzten ihren Weg.
„Nun erzähl schon.“ Rick Johnson stieß seinem Freund den Ellenbogen in die Seite. „Was hat sie geschrieben?“
„Sie ist einfach wunderbar.“
Daniel schwebte neben Rick her. Er starrte lächelnd vor sich hin, als käme ihm Betty im Brautkleid mit einem riesigen Strauß roter Rosen entgegen. Doch tatsächlich war es ein Platon des 116. Infanterie-Regiments in voller Kampfausrüstung. Die Männer grölten ein Soldatenlied, während sie im Laufschritt vorbeizogen.
„Ich kann sie richtig vor mir sehen, wie sie an dem kleinen Sekretär in ihrem Zimmer sitzt. Sie schreibt, dass ich auch ein wenig auf ihren Lieblingsonkel aufpassen soll.“
„Ich bin ihr einziger Onkel“, stellte Rick richtig.
Daniel schien den Einwurf gar nicht wahrzunehmen. „Sie macht sich große Sorgen, weil du nicht an den Herrn Jesus glaubst. Sie betet jeden Tag dafür, dass auch du den Heiland annimmst und in den Himmel kommst.“
„Besser wäre es, wenn sie dafür betet, dass wir schnell nach Berlin kommen.“
„Sie wünschte, wir wären nicht nach Europa gegangen, um die Welt zu retten. Sie würde lieber jeden Abend mit mir plaudern und am Wochenende Ausflüge machen.“
„Und dich möglichst bald heiraten.“
Daniel sah zu seinem Freund hinüber. „Das hat noch ein bisschen Zeit. Wir sind doch erst seit sechs Wochen verlobt.“
„Na und.“ Rick zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern kannten sich erst drei Monate als sie heirateten.“
„Und außerdem ist Betty gerade erst 18.“
„Sie ist schon fast 19.“
„18 ½.“
„OK. Aber sie ist reifer als manche Andere mit 25.“
„Sie ist ein ganz normales Mädchen.“
„Sie ist etwas Außergewöhnliches. Ich muss das wissen. Ich bin schließlich ihr Onkel.“
„Und ich bin ihr Verlobter.“
„Ich kenne sie schon ihr Leben lang.“
„Wovon du den größten Teil nicht zu Hause warst.“
„Ihr heiratet, sobald wir zurück sind. Das steht fest.“
„Wir heiraten, wenn es so weit ist. Und nicht wenn der Onkel es befiehlt.“ Daniel schüttelte den Kopf. „Das fällt nicht in deine Befehlsgewalt.“
Zwischen Hunderten von kleinen Zelten wogten Tausende von Gewehrmündungen, Stahlhelmen, Spaten und Funkantennen hin und her. Und vor ihnen ragte ein großes Zelt wie ein Fels aus der Brandung. Das Stabszelt der 29. Infanterie-Division.
„Wo gehen wir eigentlich hin?“, fragte Daniel.
„Wir haben eine Besprechung mit Lieutenant Colonel Schneider.“
„Unser Bataillonskommandeur hat sein Quartier aber dort drüben.“
„Wir treffen uns beim Divisions-Kommandeur.“
„Bei Major General Gerhardt?“
„Genau.“
„Warum? Was ist passiert?“
„Ich will einen Spezial-Auftrag.“