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Im Rockerkrieg hautnah dabei: zwischen den Fronten von Hells Angels und Bandidos Schießereien, Auftragsmorde, organisierte Kriminalität: Die Rockerszene ist auch in Deutschland aggressiver und gefährlicher geworden. Was in den Sechzigerjahren mit einzelnen Chartern der Hells Angels begann, ist längst eine eigene Welt aus rivalisierenden Gruppen, die nicht nur im Dauerkonflikt mit der Polizei und den Behörden stehen, sondern auch mit der Konkurrenz. Ende der Neunziger veränderte sich die Szene stark. Kleine Clubs wurden, nicht selten unter Androhung von Gewalt, von größeren, meist Hells Angels und Bandidos, übernommen oder zur Unterstützung verpflichtet. In diesem aufgeheizten Klima begann der junge Journalist Michael Ahlsdorf als Redakteur bei der "Bikers News", einem Magazin für die Rockerclubs, das zwar auch über Motorräder berichtete, aber vor allem über die Geschehnisse bei den jeweiligen Gruppierungen schrieb. Für Michael Ahlsdorf wurde es zum Drahtseilakt: Gab es in einer Ausgabe einen vierseitigen Bandidos-Bericht, dann musste die nächste Titelstory über die Angels mindestens genauso lang sein. Ahlsdorf lernte alle führenden Rocker kennen, erlebte die Kriege um Macht und Einfluss hautnah mit und kam selbst oft genug in brenzlige Situationen. So sehr ihn die hierarchischen Strukturen, Egotrips und Gewaltexzesse gelegentlich auch befremdeten, blieb doch immer die Faszination für diese unangepasste Subkultur mit ihren Ritualen und eigenen Gesetzen. "Auf heißem Stuhl" bietet einen kritischen Einblick in die Rockerwelt, der ganz anders ausfällt, als gewöhnlich in den Schlagzeilen der Medien vermittelt wird. Ein echter Insider-Bericht: schonungslos, offen und provokant!
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Dr. Michael Ahlsdorf
AUF HEISSEM STUHLIM ROCKERKRIEG
Als Chefredakteur eines Rockermagazins
zwischen Hells Angels und Bandidos
www.hannibal-verlag.de
Impressum
Der Autor:
Dr. Michael Ahlsdorf studierte Philosophie, Politologie und Theologie in Berlin. In den Neunzigerjahren begann er als Journalist zu arbeiten und übernahm später die Chefredaktion des Rockermagazins Bikers News. Er veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema Rocker, darunter das Standardwerk Alles über Rocker. Die Gesetze, die Geschichte, die Maschinen. Er lebt in der Nähe von Heidelberg.
Deutsche Erstausgabe 2021
Coverdesign und Satz Innenteil: Thomas Auer
Coverabbildung: © Patrik Walczak
Abbildung Cover Rückseite: © Tobias Kircher
Lektorat und Korrektorat: Dr. Matthias Auer
Juristisches Lektorat: RA Thomas Merk
© 2021 by Hannibal Crime
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
www.hannibal-verlag.de
ISBN 978-3-85445-711-4
Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-710-7
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Vorwort
1 Von Berlin in den Osten
1.1 Sommer in Schweden
Meine erste Begegnung mit Rockern
1.2 Biker im Schnee
Die Szene des Ostens trifft sich auch im Winter
1.3 Ein typisches Biker-Treffen
Bikerromantik: ein Zelt, eine Bühne, ein Lagerfeuer
1.4 Mein erster Ost-Club
Der Black Birds MC Magdeburg lädt ein
1.5 Ungeschriebene Gesetze
Dragons und Dragon Bikers begegnen sich
1.6 Präsidentenversammlung im Osten
Statt einer Reportage erlebe ich ein Tribunal
1.7 Ein West-Club rollt ein
Der Gremium MC besucht die Dragon Bikers
1.8 Wie man kein Bone wird
Von den Flying Unicorns zu den Black Unicorns
1.9 Kontrollierte Freigabe
Abnicken statt Zensur: So funktioniert Rocker-Presse
2 Zwei erste Jahre
2.1 Hohe Ansprüche
Wie ich die Bikers News besser machen will
2.2 Kurze Decke
Vom Keinmannbetrieb zum Einmannbetrieb
2.3 Gremium MC Dresden
Eine Freundschaft entsteht
2.4 Mit dem Gremium vor Gericht
In Sachen Gremium MC gegen Highway Wolves MC
2.5 Der Bones MC
In ihrem letzten Jahr schließe ich sogar die Bones in mein Herz
2.6 Der Hells Angels MC Berlin
Ein unterkühlter Besuch in der Hauptstadt
2.7 Der Hells Angels MC Stuttgart
Die Hells Angels stellen klar: Witze sind unerwünscht
3 Patchover
3.1 Bones und Hells Angels
Aus Feinden werden Brüder
3.2 Der Bandidos MC
Neue Farben kommen nach Deutschland
3.3 Missstimmung
Bikers News und Hells Angels, eine wacklige Verbindung
3.4 Versöhnung
Mainz und Kopenhagen: Wir finden einen gemeinsamen Weg
3.5 Rockerkrieg? Welcher Rockerkrieg?
Es knallt hier und dort, aber irgendwie nicht richtig
3.6 Nebengefechte
Ein Krieg hat viele Gefechtsfelder, auch das der Bikers News
Bilderstrecke
4 Farbenspiel
4.1 Die erste Razzia
Gleich nach dem Patchover erwischt’s den Hells Angels MC Düsseldorf
4.2 Das erste Colour-Verbot
Die Verbote der Club-Abzeichen sollen die Szene lange beschäftigen
4.3 German Bike Week
Hinter den Kulissen einer Großveranstaltung – mit und ohne Colour
4.4 Farbenwechsel
Hells Angels und Bandidos bewegen die Szene, ob sie es will oder nicht
4.5 Mythen, Legenden, Vorurteile
Die bürgerliche Presse wünscht Antworten auf immer gleiche Fragen
5 Die Krise
5.1 Die Lage
Eine ganze Szene ächzt unter einem nicht stattfindenden Rockerkrieg
5.2 Der erste Tote
Mit dem ersten Toten im Jahr 2007 läuft bei mir einiges schief
5.3 Das große Missverständnis
Ein Rockerprozess kostet mich das Vertrauen der Hells Angels
5.4 Routine
Der Reigen der Mordprozesse bildet das Geschehen des Rockerkrieges ab
6 Frieden?
6.1 Front in der Heimat
Zehn Jahre nach dem Patchover gerate ich unter zusätzlichen Stress
6.2 Hannover und zurück
Der Friedensschluss zwischen Hells Angels und Bandidos wird zum Medien-Ereignis
6.3 Zaghafte Annäherungen
Für den Frieden in der Praxis muss viel probiert werden
6.4 Runder Tisch
Fips will in das Geschehen eingreifen und die Szene führen
6.5 Ein Strategiepapier
Eine neue Politik gegen Rocker gefährdet auch den Rechtsstaat
7 Nachbeben
7.1 Alte Knochen
Die Old Bone werden zur Bühne einiger typischer Szenen
7.2 Black Jackets
Mit den Street Gangs tun sich Generationen- und Migrantenprobleme auf
7.3 Der Mongols MC
Gab es wirklich einen Mongols MC Germany?
7.4 Eine heiße Nacht
Eine Nacht mit dem Mongols MC endet mit meiner Festnahme durch die Polizei
7.5 Sons Of Anarchy
Fiktion und Wirklichkeit liefern sich ein kulturphilosophisch spannendes Rennen
7.6 Ein letzter Knall
Mit den United Tribuns verbucht die Szene einen letzten Toten
8 Mein Abschied
8.1 Rücktritt
Zwischenmenschliche Konflikte im eigenen Haus: Ich trete zurück
8.2 Vier letzte Jahre
2016 bis 2020: Als Chefreporter mache ich für Bikers News weiter
8.3 Im Deutschen Bundestag
Was ich mal wieder eigentlich hätte sagen müssen
8.4 On the road
Endlich teile ich das Leben mit Rockern auf der Autobahn!
8.5 Bones, Bones, Bones
Mit Fips begann die Bikers News – mit ihm endet sie auch
Zeittafel
Glossar
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Widmung
Für konstruktive Kritik danke ich Chris (Bandidos MC), Django (Hells Angels MC), Lutz (Hells Angels MC) und Peter (Hells Angels MC). Wir waren oft verschiedener Meinung, aber eine Zensur fand nicht statt.
Für geduldige Suche in meinem Archiv danke ich Roland Fenz aus Berlin.
Vorwort
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung, soweit Liebeserklärungen zwischen Männern möglich sind. Drei Jahrzehnte lang war ich in einer Szene unterwegs, zu der nicht jeder Zugang erhält. Und ich war vor allem in jedem Winkel dieser Szene unterwegs, und das durfte sonst wirklich niemand.
Es ist nicht denkbar, dass ein Bandido mal eben das Clubhaus eines Hells Angels betreten konnte. Wenn doch, war das eine Sensation, über die ich prompt berichtete. Ich selbst aber durfte alle Clubhäuser betreten.
Dort lernte ich in drei Jahrzehnten so viele schillernde, abgedrehte und durchgeknallte Typen kennen, wie sie wohl sonst kaum jemand in seinem Leben kennenlernen durfte. Manche waren mir unsympathisch, manche fürchtete ich sogar, aber mit allen raufte ich mich irgendwie zusammen, ohne dass es jemals zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam.
Es ist möglich, mit der Rockerszene auszukommen und in ihr zu überleben. Ja, es ist sogar möglich, sie zu lieben. Ich fand Männer, die zu ihrer Sache standen, die wussten, warum sie zu ihr standen, und die deshalb taten, was Männer tun müssen. Das ist nicht immer vernünftig. Aber mit dem gemeinsamen Motorradfahren fängt es ja schon an: Was ist daran vernünftig? Es zeichnet die Kultur der Menschen aus, unvernünftige Dinge zu tun, und das mit Leidenschaft!
In der bürgerlichen Welt da draußen will man das nicht verstehen und sucht nach Erklärungen, wenn nicht nach Verschwörungen. Der Politik fiel deshalb mit der Rockerszene ein billiger Popanz in den Schoß, mit dem sie Aktionismus propagieren und Wählerstimmen sammeln konnte. Die Medien vermittelten den sensationshungrigen Lesern zuvor das Gespenst eines Rockerkrieges, der doch so lange gar nicht heiß werden wollte.
Und weil die Medienkonsumenten beim Thema „Rocker“ nur etwas über Schutzgelderpressungen, Waffenschiebereien sowie Drogen- und Menschenhandel lesen wollen, hätte sich meiner nüchternen Schilderungen auch fast kein Verlag angenommen. Umso mehr danke ich bei dieser Gelegenheit dem Hannibal Verlag, der das Wagnis einer wahrhaftigen Darstellung der Rockerszene auf sich genommen hat.
Die unvernünftige Szene wiederum hat sich selbst ausgeliefert und mit den Migranten-Gangs Geister gerufen, die sie nicht mehr loswurde. Heute bemüht man sich um Gesundung. Aber erst mal ist die Szene kaputt. Über ein halbes Jahrhundert Biker-Kultur kann nicht mehr abgebildet werden, weil ihre Symbole nun in der Öffentlichkeit nicht mehr gezeigt werden dürfen – ähnlich wie im Fall von Hakenkreuzen und SS-Runen. Und ich, der ich als Journalist den Menschen die Welt erklären wollte, konnte ihnen die Rockerszene nicht mehr nahebringen. Es wurde gefährlich, den Sergeant at Arms eines Rockerclubs zu nennen, weil Politik und Staatsanwälte sich darauf gestürzt und aus dem schlichten Sachverhalt eines für die Club-Disziplin zuständigen Funktionsträgers einen Straftatbestand gemacht hätten.
Kaputt ist nun auch die Bikers News, ein weltweit einzigartiges Rockermagazin, das neutral aus dieser Szene berichtete und dessen Chefredakteur ich in der heißen Zeit des sogenannten Rockerkrieges war. Aber zwischen sinkenden Verkaufszahlen der Printausgaben und dem kostenfreien Internet zerrieben, konnten wir nicht mehr bestehen.
Immerhin kann ich nun erzählen, was sich im letzten Vierteljahrhundert in unserem Magazin und damit in der Rockerszene wirklich abgespielt hat. Klar wird mit diesem Buch hoffentlich eines: Ich habe diese Szene vom ersten bis zum letzten Tag geliebt. Vielleicht habe ich sie zu sehr geliebt, und ich hoffe, meine Kinder werden eines Tages verstehen, warum sie in diesen Jahren manchmal zu kurz kamen. Vielleicht verstehen sie es, wenn ihnen selbst mal ein Job zufällt, der sie mit faszinierend unvernünftigen Menschen zusammenbringt, und wenn sie dann tun, was Söhne – oder Töchter – eben tun müssen.
Michael Ahlsdorf, im Sommer 2021
1 Von Berlin in den Osten
1.1 Sommer in Schweden
Rocker fand ich scheiße. Sie waren mir zu prollig, zu assi, zu gewalttätig.
So war das bis zu einem sonnigen Samstagnachmittag des Jahres 1990 in Südschweden. Auf meinem alten BMW-Gespann fuhren meine Freundin und ich durch ein Städtchen namens Borås. Sie lenkte das Gespann, ich machte im Seitenwagen mein Nickerchen. An der Kreuzung Alingsåsvägen – Norrby Långgata bogen wir rechts ab und übersahen dabei einen schwedischen Kleinwagen. Der hatte die Vorfahrt.
Der Wagen rammte unser Gespann in der linken Flanke und schleuderte es nach rechts gegen einen Laternenpfahl. Wie immer in solchen Situationen dauerten die Sekunden ewig, aber schließlich stand dieser Pfahl noch immer aufrecht, und zwar genau zwischen Motorrad und Seitenwagen. Motorradrahmen und die Seitenwagenverstrebungen waren verzogen, aus dem Motor lief das Öl auf die Straße. Versicherungsrechtlich war das ein Totalschaden. Wir hatten glücklicherweise nur ein paar blaue Flecken – und so sah ich uns in Gedanken schon in einem schwedischen Zug zurück nach Berlin reisen.
Prompt bildete sich eine kleine Menschentraube um das Geschehen, der Fahrer des Kleinwagens zeterte und versuchte, mir mit großen Gesten die schwedischen Vorfahrtsregeln zu erklären. Im Augenwinkel sah ich, wie sich ein langhaariger, bärtiger Typ mit typischer Weste neben mein Motorrad kniete. Oh nee, dachte ich noch, einen Rocker kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.
Der aber sprach mich unvermittelt an: Die verzogenen Streben könne man geradebiegen, den lecken Motor schweißen und den Rest so lassen. Sein Clubhaus liege gleich um die nächste Ecke, ich solle doch versuchen, das Gespann irgendwie dorthin zu bewegen. Und es ließ sich tatsächlich noch fahren. Mit schlingerndem Seitenwagen und tropfendem Motor rollte ich also auf den Hof des Freya Freaks MC mitten in der Stadt Borås.
Es war Samstag, die meisten Member des Clubs waren vor Ort und schraubten an ihren Motorrädern. Und was waren das für Motorräder! Tiefliegende Harleys mit überlangen Gabeln, chromglänzend und in leuchtendsten Farben, sauber wie geleckt, und jedes Motorrad ein eigenes Kunstwerk. Alle im typischen Stil, den die Skandinavier in den Achtzigerjahren so geprägt hatten, dass der Begriff des „Schwedenchoppers“ in die Motorradgeschichte einging.
Und was war das für ein Clubhaus! Auf der einen Seite des Hofes führte eine Zufahrt in eine Tiefgarage. Dort hatte jeder Member einen eigenen Stellplatz mit Werkzeug für sein Motorrad eingerichtet, insgesamt ein gutes Dutzend Plätze, denn darauf beläuft sich die Mannschaftsstärke der meisten durchschnittlichen Motorcycle Clubs der ganzen Welt. Auf der anderen Seite des Hofes stand das Gebäude für die Member: eine Bar, ein Sitzungsraum, Duschen, Toiletten und mehrere Wohnräume mit Hochbetten für die Member selbst oder für die Member befreundeter Clubs, auf deren Besuch man immer vorbereitet sein muss. So also sah es bei einem typischen schwedischen Rockerclub aus!
Dessen Member versammelten sich nun um unser verbogenes Motorrad, der eine zog los, um Teile zu besorgen, der andere, um etwas zu schweißen, und so schraubten und dengelten wir einen Nachmittag, bis das Gespann tatsächlich wieder einigermaßen geradeaus rollte.
Am Abend lud der Präsident des Clubs uns zu einem Besäufnis ein, nach dem ich mir natürlich in der Nacht die Seele aus dem Leib kotzte …
Wir besuchten den Club im nächsten Jahr mit einem neu aufgebauten Motorrad, hielten noch ein paar weitere Jahre Briefkontakt miteinander und lernten so zuerst die schwedische und nicht die deutsche Rockerszene kennen.
Der Freya Freaks MC war tatsächlich ein ziemlich durchschnittlicher schwedischer Motorcycle Club, wie man sie in jeder schwedischen Stadt finden konnte, wohlgemerkt ohne jedes kriminelle Potential. Eines aber war klar: Pro Stadt durfte es nur einen Club geben. Gab es mehrere, so hatten sie sich über viele wilde Jahre zusammengerauft, die mindestens blaue Flecken, meistens aber Blut kosteten. Das gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen dieser Szene. Und so viel war ebenfalls klar: Nach der Begegnung mit dem Freya Freaks MC wollte auch ich zu den Rockern gehören.
1.2 Biker im Schnee
Bis es zu einer ersten journalistischen Begegnung mit Rockern kam, sollte es noch ein Weilchen dauern. Noch war ich hauptberuflich Taxifahrer, zwar mit Doktortitel, aber mit einem abgeschlossenen Philosophiestudium ließ sich nun mal kein Geld verdienen.
Ich hatte damals wenig Geld, aber viel Zeit. So schraubte ich an meinen alten BMWs und riss auf ihnen Kilometer ab. Auch einen BMW-Chopper hatte ich aufgebaut und damit alle Höllen des Zulassungsrechts durchfahren. Das war durchaus ein authentisches Rocker-Motorrad. Damit aber ritt ich nur allein.
Besonders gerne fuhr ich zum jährlichen Wintertreffen der Motorradfahrer auf Schloss Augustusburg im Erzgebirge. Ich war Westberliner, „Augustusburg“ aber war ein Treffen mit ostdeutscher Tradition. In der DDR wurde sogar offiziell darüber berichtet, wenn auch nur über das Treffen der angepassten Motorradfahrer.
Am Rande dieses Treffens fanden aber auch die Rocker der DDR zusammen, meistens in den Lokalen am Fuße der Burg. Sie fuhren AWOs, kleine 250er-Motorräder von Simson aus Suhl, aber immerhin Viertakter, was den sozialen Status der Besitzer weit über den der MZ-Fahrer hob. Der merkwürdige Name ihrer Maschinen war eine Abkürzung für „Awtowelo“, so getauft von der sowjetischen Militäradministration nach dem Krieg. AWOs waren so ziemlich die einzig legal erhältlichen Viertaktmotorräder in der DDR und damit eine ideale Basis für Chopper-Umbauten: Mit ungeheurer Kreativität und Improvisationskunst bauten ihre Besitzer sie im Stil der aus Westzeitschriften bekannten Harley-Chopper um.
Diese AWO-Treiber lernte ich auf der Augustusburg ebenfalls kennen. Die AWO war das Symbol ihrer Identität, und ihre Motorräder faszinierten mich ebenso wie die Chopper der Rocker in Schweden.
Den freien Journalisten Tom Levine aus Berlin faszinierte die Sache gleichfalls. Nicht das mit den AWOs, aber das mit dem Wintertreffen für Motorradfahrer im dichten Schnee des Erzgebirges.
„Wie bescheuert ist das denn?“, fragte er und stellte mir in Aussicht, einen Artikel darüber zu schreiben, den er dann an die Sonntagsseiten einer Tageszeitung vermitteln könne. Mein ehemaliger Klassenkamerad Andreas Rilz hatte eine Fotografenlehre abgeschlossen und schoss für mich die Fotos.
Der Artikel wurde meine erste eigene journalistische Arbeit. Und weil es in einem Nebensatz auch irgendwie um die Rocker des Ostens ging, schickte ich ihn auf eigene Faust an das Rockermagazin Bikers News. Vor dem hatte ich am allerwenigsten Respekt, denn dessen Artikel waren in der Regel so schlecht geschrieben, dass ich glaubte, mich als Anfänger trotzdem locker mit dessen Reportern messen zu können.
Ich lag richtig. In der Bikers News vom März 1994 erschien dann mein erster Artikel für dieses Blatt. Carsten Heil, der zuständige Redakteur, offenbarte mir im Nachhinein, dass er auch noch andere Einsendungen über dieses Treffen erhalten habe. Die Qualität meines Artikels hatte ihn aber überzeugt. Und überhaupt würden in der Bikers News viel zu wenig Berichte aus der Szene der Ostrocker erscheinen, ergänzte er noch, ich hätte also gute Chancen, weitere Artikel zu veröffentlichen. Prompt erteilte er mir den Auftrag für einen Bericht über den Black Birds MC Magdeburg. Das wurde mein Einstieg in die Szene.
1.3 Ein typisches Biker-Treffen
Eine Telefonnummer, eine Adresse, eine Legitimation. Der Bericht über Augustusburg verschaffte mir neben einem kleinen Honorar auch die Eintrittskarte für die Szene. Der Black Birds MC Magdeburg hatte in der Redaktion angerufen und um eine Vorstellung in der Bikers News gebeten. Das sollte anlässlich eines Treffens des Clubs erfolgen.
Es gehört bis heute zur Etikette der MCs, für befreundete Clubs und überhaupt alle sogenannten „Freien Biker“ ohne Clubzugehörigkeit jährliche Partys oder eben auch Treffen auszurichten. Die Biker rollen auf ihren Motorrädern ein, errichten ihre Zelte, begutachten die Motorräder der anderen Biker und schauen, mit was für einem Programm der gastgebende Club aufwartet.
Hohe Ansprüche erhebt niemand. Im Fall eines klassischen Treffens prasselt ein großes Lagerfeuer, um das sich alle versammeln. Am Rande wird ein Verpflegungsstand errichtet, dazu ein großes Versammlungszelt und eine Bühne. Auf der Bühne spielen Bands, Biker erhalten Pokale für die weitesten Anfahrten oder schönsten Motorräder, befreundete Clubs überreichen ihre Gastgeschenke, und zu später Stunde entledigt sich ein Stripgirl seiner knappen Kleidung.
Irgendwann sind dann alle so betrunken, dass sie sich in ihre Zelte winden oder schon auf dem Weg dahin umkippen. Am nächsten Morgen klötert am Stand des Gastgebers eine Kaffeemaschine. Die ist unter dem Andrang meistens überfordert, aber irgendwie werden alle noch mal mit einem Frühstück versorgt, bis sie zu einer ziemlich verkaterten Heimfahrt aufbrechen.
Die Etikette der Biker-Treffen verlangt es auch, für besonders wichtige Clubs schon vor Beginn der Party ein Areal auf dem Zeltgelände abzustecken. Manchmal erledigen das bereits vorgefahrene Prospects, also die Anwärter eines Clubs, bevor ihre Mannschaft in voller Stärke einrollt. Wer die Hierarchie der Clubs einschätzen will, hat in diesem Brauch einen guten Gradmesser. Und wer ein großer und wichtiger Club ist, der richtet natürlich auch die größten und wichtigsten Treffen aus. In der Bikers News hat das dann mit einem angemessenen Bericht dokumentiert und gewürdigt zu werden.
In den Achtziger- und Neunzigerjahren versuchten einige Clubs, diese Treffen zu größeren Dimensionen aufzublasen, richtige Rockfestivals aus ihnen zu machen. Die traditionellen Feindschaften zwischen den Clubs sorgten allerdings dafür, dass der Kreis der Besucher beschränkt blieb. Nur wenigen gelang es, über die Grenzen ihres eigenen Clubs und seiner Freunde hinaus bekannt und beliebt zu werden. Im Lauf des neuen Jahrtausends wurden Clubveranstaltungen dieser Ausmaße selten. Professionelle Veranstalter übernahmen das Geschäft. Motorradhersteller, wie Triumph oder Harley-Davidson, nutzten den Marketing-Effekt. Und manchmal entstammten die Veranstalter eben doch dem Dunstkreis großer Clubs, die aber peinlich darauf achteten, dass ihr Name nicht genannt wird.
Heute sind die meisten Biker ohnehin so alt und auch so vermögend, dass sie lieber in Hotels übernachten. Auch betrinken Clubmitglieder sich schon lange nicht mehr. Sie bleiben lieber nüchtern, weil sie entweder wissen, welches Unheil sie im Rausch schon angerichtet haben, oder ganz einfach, weil sie nichts mehr vertragen.
1.4 Mein erster Ost-Club
Noch aber befinden wir uns in der Mitte der Neunzigerjahre auf dem Clubgelände des Black Birds MC Magdeburg.
Ich rollte also auf meinem Gespann ein, meine Freundin im Seitenwagen. Noch heute erinnern sich viele aus der Zeit an dieses Bild, und Gespräche beginnen mit den Worten: „… weißt du noch, wie du immer auf diesem BMW-Gespann unterwegs warst und dein Zelt aufgebaut hast!?“ Das brachte mir wohl eine Menge Credibility ein, auch wenn die Harley-fahrenden Rocker damals natürlich immer durch meine BMW „hindurchblickten“.
Und schon erlebte ich die erste Überraschung. Frank, der Präsident der Black Birds, lief an meiner ausgestreckten Hand vorbei und begrüßte zuerst meine Freundin. Den Rockern wird immer wieder Frauenfeindlichkeit unterstellt. Tatsache ist, dass Frauen in so ziemlich allen Clubs keine Mitglieder werden dürfen. Tatsache ist auch, dass sie desto weniger mitreden dürfen, je größer und mächtiger der Club ist. Tatsache ist aber vor allem, dass Frauen in der Szene mit außerordentlichem Respekt behandelt werden. Das gilt auch und noch viel mehr für die wenigen Zuhälter, die ich in den Clubs kennengelernt habe. Rocker können so höflich sein, wie es mir in meiner Verachtung für bürgerliche Konventionen nie gelingen wollte.
Nach der Begrüßung aber zog Frank sich mit mir zum Gespräch zurück. Wir blieben unter Männern …
So viel hatte ich in den Gesprächen auf den Bierbänken von Augustusburg schon mitbekommen: Für viele Clubs war die AWO das Symbol ihrer Eigenständigkeit und damit auch das Symbol ihrer Abgrenzung gegen den Westen. Der ersten Euphorie nach dem Mauerfall war nämlich schnell die Enttäuschung gefolgt. Die Rocker des Ostens wussten anfänglich nichts von den Realitäten der westlichen Szene. Vielleicht hatten sie ein paar verbotene Westfilme gesehen und in ein paar eingeschmuggelten Biker-Magazinen geblättert, und ein paar von ihnen begegneten in Ungarn vielleicht den wenigen West-Rockern, die überhaupt freiwillig in den Osten fuhren, weil sie mit ihrer „Deutschmark“ dort allmächtig auftreten konnten.
Die Ereignisse in Berlin zeigten ihnen allerdings schnell, was passieren konnte. In Westberlin teilten sich in den Achtzigerjahren vier etablierte MCs die Herrschaft über die Rockerszene: Born to be Wild MC, Dragons MC, Rolling Wheels MC und der Phoenix MC, aus dem später der Hells Angels MC Berlin wurde. Gemeinsam sorgten diese MCs dafür, dass sich in Westberlin keine weiteren MCs mit Rückenabzeichen mehr gründeten. Als die Mauer fiel, erhoben die vier über Nacht auch Anspruch auf das Gebiet von Ostberlin. Die Ostberliner Clubs gaben schnell auf, „viel zu schnell“, wie manche später meinten. Sie legten ihre Namen und ihre Colours in Furcht vor den richtigen Rockern aus dem Westen ziemlich eilig ab.
Die Rocker des Ostens zogen sich zurück und verfielen in die typische Haltung der Ossis, die von den Wessis nicht über den Tisch gezogen werden wollten. Sie konnten es nicht verwinden, so schnell von den Westrockern abgewickelt worden zu sein und brachten ihren bescheidenen Widerstand entsprechend mit einer eigenen AWO-Szene zum Ausdruck.
Es ging aber auch anders. Man konnte ja mitmachen. Das Gespräch mit dem Magdeburger Präsidenten offenbarte schnell einen Riss in der Rockerszene des Ostens. Von einer Abschottung der Ost-Szene wollte der nämlich nichts wissen. Auf die AWOs angesprochen, winkte er ab: „Willst du damit ständig liegenbleiben und der Letzte sein? Die AWOs sind doch viel zu lahm!“ Jeder Black Bird fuhr fünf Jahre nach dem Mauerfall eine Harley. Überhaupt waren die Black Birds ein ambitionierter Club. Auf ihrem Gelände betrieben sie eine Biker-Kneipe, eine Harley-Werkstatt und ein Tätowierstudio.
Und tatsächlich ließen sich auf ihrer Party auch zahlreiche West-Clubs blicken. Darunter auch Frank Weber von den Berliner Hells Angels. Das war typisch. Die Hells Angels mit ihrem stählernen Mythos konnten es sich leisten, mit nur einem einzigen Mann aufzutreten und trotzdem nicht übersehen zu werden.
Aber als ich meine Fotos schoss, sollte ich unbedingt die Member des Road Eagle MC fotografieren, die in großer Zahl vorgefahren waren. Die Fahrt nach Magdeburg sei eine Pflichtfahrt für den ganzen Club mit all seinen Chaptern, wie es hieß. Der Road Eagle MC kam aus dem bayerischen Raum, Fritz war damals sein Präsident, den ich nun also zusammen mit Frank vom Black Birds MC vor dem Clubgelände ablichtete (BN 07/1994, S. 7-10). Die Absicht dahinter musste ich erst begreifen: Es ging nicht nur darum, mit diesem Foto eine Freundschaft zu dokumentieren. Vielmehr bemühten die Black Birds sich darum, eine Mitgliedschaft in einem West-Club anzubahnen. Sie wollten ein Chapter, also eine Ortsgruppe des Road Eagle MC, werden.
Ein paar Jahre später kam es anders. Statt zum Road Eagle MC trat der Black Birds MC zum Hardcore MC Braunschweig über. Wenig später zogen die Chapter des Hardcore MC Braunschweig es wiederum vor, zum Born to be Wild MC aus Berlin überzutreten. Das lag nahe, nachdem der Bones MC Hannover im Jahr 1999 mit allen anderen Bones-Chaptern die Farben des Hells Angels MC übernahm. Die Hannoveraner wurden damit so mächtig, dass der Hardcore MC sich in Gefahr wähnte. Die neuen Farben des in Berlin im Unterschied zu den Hells Angels etablierten Born to be Wild MC boten einfach mehr Sicherheit.
Und so sah ich also die Black Birds wenige Jahre später als „Borns“ wieder. Und Fritz vom Road Eagle MC Allersberg, tja, der trug zusammen mit den Brüdern seines Chapters ab dem Jahr 1999 die Farben des Bandidos MC …
1.5 Ungeschriebene Gesetze
All diese Hintergründe über den Black Birds MC hatte ich in meinem Artikel für die Bikers News natürlich nicht untergebracht. Eine Menge Clubs wären über so eine offene Plauderei im Rockermagazin „not amused“ gewesen, und so lernte ich schnell zu schweigen über Themen, die Komplikationen hervorrufen würden. Aber ich lieferte doch eine History des Clubs und damit mehr als eine bloße Nacherzählung des Partygeschehens, die ja nur von geringem journalistischen Wert gewesen wäre.
Damit gehörte ich zum Team der freien Reporter von Bikers News. Und da diese Szene mir Spaß machte und ich mehr von ihr wissen wollte, trug ich auf jedem Treffen weitere Kontakte zusammen und lieferte weitere Berichte.
Die Szene aus dem Osten schien mir zu vertrauen. Zu vielen Clubs entwickelte sich eine engere Bindung, unter anderem zu den Dragon Bikers aus Weißenfels. Dabei lernte ich sie unter ziemlich merkwürdigen Bedingungen kennen. Das geschah nämlich auf einer Jubiläumsfeier zum 20-jährigen Bestehen des Dragons MC Berlin. Der Dragons MC, einer der vier Westberliner Rockerclubs, stand unter Führung seines Präsidenten Franky, eines riesigen Mannes mit Bart und langen Haaren, eines Rockers wie aus dem Bilderbuch. Franky war allerdings ein nachdenklicher Mann mit Humor, ich führte mit ihm immer wieder sehr interessante Gespräche.
Nur auf dieser Party des Dragons MC ließ Franky seinen Humor und seine Nachdenklichkeit vermissen. Plötzlich rollten nämlich unter mächtigem Donnern die Motorräder des Dragon Bikers MC Weißenfels ein. Die Männer fuhren beeindruckende Maschinen, unter ihnen eine seltene Triumph im Fiedler-Rahmen. Da ließ Franky von mir ab, denn das mit den Dragon Bikers musste er regeln. Von weitem sah ich ihn in ein kurzes Gespräch verwickelt – und dann stiegen die Dragon Bikers wieder auf ihre Maschinen und verließen das Gelände.
Franky wiederum erklärte mir im Anschluss eines der ungeschriebenen Gesetze der Szene: Clubs dürften nicht dieselben oder ähnliche Namen, Farben oder Symbole tragen. Der Name der Dragon Bikers lag mithin eindeutig zu dicht am Namen der Dragons. Als älterer Club hätten die Dragons aber die älteren Rechte, und so habe er die Dragon Bikers wieder nach Hause geschickt, erläuterte er.
Später lernte ich, dass aber auch in diesen Fällen Ausnahmen möglich sind: Liegen Clubs mit identischem oder ähnlichem Namen nur weit genug auseinander, dann können sogar Freundschaften und Zusammenschlüsse daraus hervorgehen. Weißenfels aber lag für Franky wohl noch ein bisschen zu dicht an den Grenzen von Berlin …
Das Ereignis zeitigte unerwartete Konsequenzen. Als freier Reporter veröffentlichte ich eines Tages auch in der Zeitschrift Motorrad einen Artikel über den Dragons MC. Die Zielgruppe der Motorrad-Leser war größer, und um dort die Gepflogenheiten unter Rockern zu veranschaulichen, hatte ich genau diese Szene im Artikel geschildert.
Motorrad wird unter Rockern normalerweise nicht gelesen. Doch irgendwann landete die Ausgabe trotzdem bei den Dragon Bikers, und die fanden es gar nicht komisch, dass ich sie mit dieser Erzählung so bloßgestellt hatte. Es kostete mich einige Anstrengung, um ihren Zorn herunterzutemperieren, aber mein damals fast schon freundschaftliches Verhältnis zum Dragon-Bikers-Präsidenten Buschi rettete schließlich meinen Kopf.
Es war nämlich Buschi, der diese sagenhafte Triumph im Fiedler-Rahmen fuhr und selbst aufgebaut hatte. Sie war damit der idealtypische Klassiker eines Triumph-Choppers, wie ich ihn heute noch fahren würde. Und als ich dieses Motorrad mit einer langen Fotostory in der Bikers News vorstellen durfte, war nicht nur er glücklich, sondern auch ich.
Franky wiederum, der langjährige Präsident der Dragons, musste in den folgenden Jahren sein Amt immer wieder abgeben. In einer dieser Phasen gründete der Berliner Dragons MC sein erstes Chapter im Osten und übernahm den Beacon MC aus Torgelow. Überhaupt sollten die Mitglieder des Dragons MC in den kommenden Jahren noch eine Menge durchmachen. Ihre Schicksale wurden bezeichnend für das Geschehen im neuen Jahrtausend.
1.6 Präsidentenversammlung im Osten
Es war ein eisiges und dunkles Januar-Wochenende, an dem ich ausnahmsweise einmal nicht auf meinem Motorrad, sondern im geborgten Auto meiner Mutter unterwegs war. Der Weg führte mich über die dunkle Autobahn in Richtung Weißenfels. In einem Dorf vor den Toren dieser Stadt sollte die ostdeutsche Präsidentenversammlung stattfinden. Ob ich darüber berichten dürfte, war noch nicht geklärt: Ich solle erst einmal vorbeischauen, dann werde man entscheiden.
Die Präsidentenversammlungen werden auch „Präsi-Sitzung“ oder „Presi-Rally“ genannt, je nach Laune mit oder ohne Umlaut oder Bindestrich. Auf Rechtschreibung legt man unter Rockern keinen Wert.
Diese Versammlungen finden traditionell im Winter statt. Teilnehmen dürfen die Präsidenten oder auch andere Funktionsträger der MCs, also ausschließlich der Rückenabzeichen tragenden Rockerclubs. Zugelassen sind dann immer zwei Mann pro Club, und die besprechen mit den anderen Clubs das Geschehen der vergangenen und der kommenden Saison und koordinieren die Termine ihrer Veranstaltungen, um Überschneidungen zu vermeiden. Deutschlandweite Präsidentenversammlungen wurden zwar mehrfach initiiert, sind aber langfristig immer gescheitert. Regional dagegen funktionieren sie meistens.
Eine besondere Rolle spielte die ostdeutsche Präsidentenversammlung, genannt „Partyplanung Ost“. Ich kämpfte jahrelang darum, an einer teilnehmen und über sie berichten zu dürfen. Es wurde mir stets verweigert. Die Ost-Clubs wollten unter sich bleiben. Mit der Öffentlichkeit, fürchteten sie, würden auch West-Clubs einlaufen und ihr kleines geschütztes Biotop zerstören. Dass ich zumindest über diesen Termin informiert wurde und hinfahren durfte, war schon ein echtes Entgegenkommen, in dessen Genuss ich über die Vermittlung von Dragon-Bikers-Präsident Buschi kam.
Doch es nützte nichts. Die Veranstaltungshalle war offensichtlich mal wieder eines der ehemaligen, mittlerweile leerstehenden LPG-Gebäude. Immerhin durfte ich während der Versammlung im Vorraum warten. Schließlich führte man mich in den leeren Versammlungsraum, und dort glich die Szene einem Tribunal: Fünf Präsidenten saßen hinter einem langen Tisch, ich stand wie der Delinquent eines Verhöres vor ihnen. Unter ihnen war auch Buschi, denn sein Club hatte die Partyplanung ausgerichtet. Wohlgesonnen aber war mir niemand.
Immerhin … einer von ihnen erklärte dann, auf der nächsten Versammlung müsse beschlossen werden, nur noch Tee auszuschenken, denn er sei nun ziemlich besoffen. Das waren sie tatsächlich alle. Der Nächste fragte, warum nur ich und nicht Doc Baumann, der Chefredakteur und später Herausgeber, höchstpersönlich zu ihnen gekommen sei? Es zeuge von der Geringschätzung der Partyplanung durch das westdeutsche Magazin Bikers News, wenn sich nur ein kleiner Schreiberling wie ich blicken lasse.
Das Problem kannte ich schon: Ein Szenemagazin wird immer mit dem Bild des Mannes auf der dritten Seite identifiziert, und das war nun mal Doc Baumann. Alle anderen Reporter nahm man nicht für voll. Als ich Jahre später selbst Chefredakteur war, saß ich auf der anderen Seite. Plötzlich war ich der wichtigste Mann des Hauses, aber ich konnte mich ja nicht klonen und überall vor Ort sein. Das konnte Doc Baumann eben auch nicht, zumal er seine Funktion auf eine spezifische Weise ausübte, die ich im zweiten Kapitel noch erklären werde.
Damit war das Thema der „Partyplanung Ost“, das Thema der ostdeutschen Präsidentenversammlung, erledigt. Ich musste mit leeren Händen zurückfahren. Immerhin konnte ich in der Bikers News eine Seite darüber loswerden, warum die ostdeutsche Szene den Einfluss der West-Clubs fürchte (BN 03/1995, S. 47). Vielleicht brachte ja auch das mir weiteres Vertrauen unter den Ost-Clubs ein. Unterm Strich gelang es mir jedenfalls ganz langsam, die Ost-Szene für die Bikers News zu öffnen.
Viele Jahre später, ich saß längst in Mannheim, erhielt ich dann eine offizielle Einladung eines Ost-Clubs zur Partyplanung. Es war der Stahlpakt MC, der stärkste Club in Thüringen, der sich durch eine Berichterstattung in der Bikers News wohl auch eine Konsolidierung seines Rufes erhoffte.
Bemerkenswert war vor Ort eines: In der Sitzung sah ich die vielen Präsidenten der alten Ost-Clubs wieder. Es waren ebendie Präsidenten der Clubs, die einst den Einfluss des Westens fürchteten. Jetzt trug die Hälfte von ihnen die Rückenabzeichen westdeutscher Clubs, sie waren deren Chapter geworden, Chapter des Born to be Wild MC, des Road Eagle MC, des Rolling Wheels MC oder des Gremium MC.
Und über meine erste Begegnung mit dem westdeutschen Gremium MC im Osten ist nun auch noch zu berichten.
1.7 Ein West-Club rollt ein
Ein Treffen des Dragon Bikers MC in ziemlich normalen Dimensionen: Zelt, Bühne, Lagerfeuer. Es bestand sogar eine Möglichkeit, sich zu waschen, die Dragon Bikers hatten einen Wasserhahn und ein Edelstahlbecken an einen Gartenschlauch angeschlossen. Ich war wohl der Einzige auf dem Treffen der echten Biker, der sich dieser Möglichkeit bediente und danach ziemlich nüchtern in sein Zelt verschwand. Ich war ja immer auch im Dienst und zog es vor, mich nicht zu betrinken, damit ich nicht in die Versuchung kam, mich irgendwie zu verplappern. Womöglich kursieren heute noch Witze über diesen Ahlsdorf, der sich regelmäßig die Zähne putzte und die Füße wusch.
Ungewöhnlich war nur, dass am Nachmittag plötzlich eine Autokolonne auf das Gelände rollte. Es dürften an die 20 oder 30 Mann gewesen sein, die diesen Wagen entstiegen, alle schwarz gekleidet, Mannschaften und ein paar wichtige Entscheidungsträger des Gremium MC Germany, unter ihnen Bernd und Kalle, die ich viele Jahre später beide besser kennenlernen sollte. An Kalle fielen mir prompt sein Charme und seine geistige Regheit auf; Bernd war kräftig und vor allem sehr dunkelhäutig. Es war bemerkenswert, wie oft Dunkelhäutige, heute würde man sie wohl „Migranten“ nennen, in Rockerclubs Aufnahme fanden, denen die bürgerlichen Medien gleichzeitig eine Nähe zu Neonazis nachsagten. Spätestens in solchen Situationen lernte ich, an den üblichen Schlagzeilen zu zweifeln.
Die Lage beim Dragon Bikers MC war trotzdem nicht zum Kuscheln. Der Gremium MC war einer der respektierten, aber auch der gefürchteten großen West-Clubs. Zu Beginn der Neunzigerjahre hatte er ein Verbotsverfahren durchgestanden, und vielen seiner Member steckten noch die Knastjahre in den Knochen. Nun wuchs der Gremium MC zu einem der größten deutschen Clubs an, ein westdeutscher natürlich. Und wenn Clubs in Autos auf ein Gelände rollten, konnte das Stress bedeuten. Im Fall einer Schlägerei war das Vorfahren in Autos jedenfalls praktischer.
Ich hatte den Gremium MC zum ersten Mal erlebt, als er die Security auf der Party der Biker Union in Schleiz stellte. Die Biker Union ist kein Club, sondern sie verstand sich als clubübergreifende Interessenvertretung der Rocker. Das funktionierte nie richtig, denn wenn ein einzelner Club die Veranstaltung der Biker Union sicherte, so konnte sie nicht mehr die glaubwürdige Interessenvertretung der anderen Clubs darstellen. Die Party der Biker Union in Schleiz war aber immerhin eine der wenigen gut laufenden Großveranstaltungen in der Rockerszene, und als solche brauchte sie einen Ordnungsdienst. Den also übernahm der Gremium MC, und ich wurde Zeuge, wie die Member des Gremium MC in dieser Funktion immer wieder ihre eigenen Gäste verprügelten. So war das noch Brauch in den Neunzigerjahren. Und so lernte ich den Gremium MC kennen. Sein Ruf eilte ihm bis in den Osten voraus.
Eisiges Schweigen auf dem Platz der Dragon Bikers nun also. Jeder wünschte sich, die Gremium-Member möglichst bald wieder von hinten zu sehen. Präsident Buschi stand ganz offensichtlich unter großem Stress und wurde von einigen Leuten des Gremium MC in ein Zelt gebeten. Irgendwann kam er wieder auf mich zu. Ich setzte nur einen fragenden Blick auf. Und er meinte: „Schwierig. Schwierig.“ Mehr ließ sich ihm nicht entlocken.
Bernd und Kalle suchten ebenfalls das Gespräch mit mir. Beide kamen aus dem Mannheimer Raum, wo auch die Bikers News-Redaktion zu Hause war, und sie wollten nun wohl auch mal deren Mann im Osten unter die Lupe nehmen. Ich rang um Worte, versuchte, auf diplomatischste Weise zu erklären, wie unbeliebt West-Clubs sich mittlerweile im Osten gemacht hätten, wenn sie dort als die neuen Herren aufträten, da unterbrach mich Kalle schon mit charmantem Grinsen: „Ist das wirklich so?“
Wenig später nahmen die Member des Gremium MC noch auf einer Bierbank Platz, alle hatten Getränke geordert und ordentlich bezahlt. Sie riefen mich herbei, ich sollte unbedingt Fotos von ihnen machen, um sie in der Bikers News zu veröffentlichen.
Bis heute hat mir niemand erklärt, welche Gespräche Dragon Bikers MC und Gremium MC damals im Zelt führten. Dabei lag es doch so nahe: Der Gremium MC wuchs und wuchs, und es ist ziemlich sicher, dass er auch dem Dragon Bikers MC ein Angebot zur Aufnahme gemacht hatte. Warum sollten die Gremium-Member sonst unbedingt wünschen, dass ihr Besuch in der Bikers News-Chronik festgehalten würde?
Ob es wirklich so war? Buschi, der Präsident eines MCs aus der Phalanx der renommierten Ost-Clubs, sagte jedenfalls: „Schwierig. Schwierig.“ Er trug einen Konflikt mit sich aus.
1.8 Wie man kein Bone wird
Eines Tages kam mal wieder ein Anruf von Carsten Heil aus der Bikers News-Redaktion: Da sei ein Club, der den Besuch der Bikers News auf einem Party-Termin wünsche – der Flying Unicorns MC Lauchhammer. Von diesem Club habe er nie etwas gehört und auch keine Ahnung, wo dieses Lauchhammer überhaupt liege.
Es lag in der Lausitz, 150 Kilometer südöstlich von Berlin. So folgten zunächst Verhandlungen darüber, welchen Umfang mein Bericht bekäme, damit meine Anreise sich auch rechnen würde.
Die Flying Unicorns waren ein ziemlich bunter Haufen im ganz wörtlichen Sinne und nicht vom Format eines klassischen MCs: wohl an die 30 Mann, wenn sich nicht sogar ein paar Frauen darunter befanden, ihre Motorräder waren bunt, von jeder Sorte war etwas dabei, sogar ein Trike fuhr mit. Ihr Präsident war ein kleiner, aber gutaussehender Mann, der mich bis heute an Tom Cruise erinnert. Man nannte ihn damals den „Ölscheich“, weil ihm in seiner Region ein gewisses Vermögen und Einfluss nachgesagt wurde. Er hatte Charisma, aber inzwischen an Rockerclubs gewöhnt, konnte ich seine Mannschaft nicht wirklich ernst nehmen.
Ich fuhr dann wohl das übliche Programm, musste eine journalistisch anspruchslose Party-Nacherzählung schreiben, weshalb ich Probleme hatte, meine Zeilenzahl herunterzureißen. Der Road Crew MC Jessen/Elster rollte als wichtigster und renommiertester Club ein, und als solchen hatte ich ihn auch zu nennen. Und immer wieder sollte ich in meinem Text das Clubhaus loben, in dem eine Bikerkneipe betrieben wurde – und unbedingt solle ich doch auch erwähnen, dass diese Kneipe mit einer Dartscheibe und einem Billardtisch ausgestattet sei.
Ich ahnte, dass es für irgendwas gut sein würde, zumal der Ölscheich mich auch danach immer wieder anrief. Dann plauderten wir freundlich, und jeder versuchte, vom anderen etwas Relevantes über die Szene herauszukriegen. Ich fühlte mich noch immer als Außenstehender, aber er schätzte mich wohl als Insider ein. Vielleicht war ich tatsächlich schon ein Insider geworden.
Plötzlich wurde es still um die Flying Unicorns, der Ölscheich hüllte sich in Schweigen, deutete an, dass er bald mehr erzählen werde. Am Rande einer regionalen Präsidentenversammlung stach mir sein Club dann wieder ins Auge: Die Member waren komplett neu eingekleidet, nicht mehr bunt, sondern alle in Schwarz. Auch das Rückenabzeichen war nun schwarz mit weißer Schrift. Und klar, die Flying Unicorns hießen von nun an „Black Unicorns“.
Als ich den Ölscheich im Treppenhaus des Gebäudes der Präsidentenversammlung ansprach, gab er sich nach wie vor wortkarg. Demnächst, versprach er mir aber, würde ich mehr über seinen Club zu berichten haben …
Die erste Party des Black Unicorns MC war anders als die der Flying Unicorns im Vorjahr. Die Black Unicorns hatten eine Menge Kohle investiert, eine Freilichtbühne für ihre anspruchsvoll „Rock- & Bikeshow“ getaufte Veranstaltung gemietet und hochrangige Biker-Bands engagiert. „Hochrangig“, das war damals entweder die Hank Davison Band, in der ein sonnenbebrillter Bartträger, in einen Staubmantel gehüllt, sang, der dem Publikum der ersten Reihe Whisky ausschenkte. Oder es war Highlander. Bikers News-