Auf Tiefe - H. Dieter Neumann - E-Book

Auf Tiefe E-Book

H. Dieter Neumann

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Beschreibung

Mystische und handfeste, anspruchsvolle und unterhaltsame, düstere und heitere, vor allem aber fesselnde Erzählungen vom Meer und von den Menschen an der Küste.

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Seitenzahl: 89

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H. Dieter Neumann

AUF TIEFE

See- und Küstengeschichten

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2023

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2023) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © magma [Adobe Stock]

Illustrationen:

Seiten 7, 65, 73 und 87 © haiderose [Adobe Stock]

Seite 21 © artemgukasov [Adobe Stock]

Seite 27 © blickland [Adobe Stock]

Seite 51 © Dmitri [Adobe Stock]

Seite 99 © hornung [Adobe Stock]

Seite 107 © Robin [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine geliebten Enkelkinder

Hört, hört nun die Seeleute rufen, riecht das Meer, und fühlt den Himmel, lasst eure Seele und euren Geist fliegen ins Mystische.

(Van Morrison)

INHALT

Dunkles Wasser

Die Botschaft

Flucht übers Eis

Tjark auf Tiefe

Der Apostat

Der letzte Henker von Rungholt

Gelobtes Land

Weihnachten in Brumsby

Nachwort und Dank

DUNKLES WASSER

Sie reden nicht mehr miteinander, sprechen nichts außer dem, was ihre Arbeit fordert. Immer widerwillig, kaum ganze Sätze, eher Fetzen, meistens klanglos. Laut nur, wenn sie das Böllern des Glühkopfmotors übertönen müssen oder das Heulen des Windes in Wanten und Spieren. Selbst ihr Fluchen klingt gequält.

Ganz selten finden sich ihre Augen, ungewollt. Dann fühlt Lars sich nackt, windet sich unter der stummen Anklage.

„Du hast es getan. Ich weiß es.“ Wortlos.

In Lars’ Ohren klirrt es dennoch. Als stieße der Alte immerfort diese Sätze aus. Lars spürt sie sengend unter seiner Haut.

Schrilles Schweigen. Seit dem Tag, an dem Christoph unter dem Schiff versunken ist.

„Ward ruppig hüt“, rief der Alte herüber, der achtern am Ruder stand und im Dämmerlicht über die schmale Innenförde nach Westen starrte. Die Ditte legte sich leicht auf die Steuerbordseite.

Lars hörte das Wasser um den Rumpf rauschen, während er mit Christoph das Klaufall durchsetzte und der Wind ins mächtige Gaffelsegel fuhr. Der Kutter nahm Fahrt auf.

„Lars, mok de Motor ut!“

Befehlston. Lars Jacobsen war nichts anderes gewohnt. Er belegte das Fall auf dem hölzernen Belegnagel und nickte seinem Bruder zu.

„Setz inzwischen den Klüver“, sagte er, klappte das Decksluk hoch, schwang sich mit den Beinen voran auf die Niedergangstreppe und verschwand im Maschinenraum. Sekunden später erstarb der Lärm mit ein paar letzten erbitterten Knallern.

Wieder an Deck, atmete er tief die feuchte, salzige Luft ein. Keine Schwaden von verbranntem Petroleum quollen jetzt mehr stinkend aus dem Auspuffrohr. Dafür wurde der Wind frischer.

Der Alte lag wohl richtig mit seiner Vorhersage. Wie immer.

Rasch warf Lars einen Blick über die Schulter nach Osten, hinüber zum Hafendamm, wo die hölzernen Stege der Flensburger Fischergenossenschaft ins Wasser ragten. Über dem Liegeplatz der Ditte ging eben die Sonne auf. Schwach nur drang ihr Licht durch die tiefhängenden Wolken.

Lars schaute nach vorn, wo sein Bruder mit sicheren Griffen das Vorsegel setzte. Das schaffte er allein, brauchte keine Hilfe von ihm. Siebzehn war Christoph jetzt, drei Jahre jünger als Lars. Seine blonden Haare flogen im Wind, während er mit einem Lachen im Gesicht auf dem Klüverbaum herumturnte. Wollte nichts anderes werden als Fischer, der Junge. Ein geborener Seemann. Wie der Alte, der schon die vierte Generation war in der Fischerfamilie Jacobsen.

Der Alte. Nie hatte er einen seiner Söhne gefragt. Die Jacobsens fuhren zur See und fischten. Fertig, aus. Für sie hatte er sich noch einmal verschuldet, das neue Schiff gekauft. Hatte sich alles gründlich überlegt, wieder und wieder gegrübelt, monatelang.

Sein Entschluss stehe fest, hatte er ihnen dann kurz angebunden erklärt. Gott habe es gut mit ihrer Familie gemeint. Er selbst sei für das Feld zu alt gewesen und seine Söhne noch zu jung. Der Krieg sei nun vorbei, sie seien alle am Leben und gesund, Fisch gebe es da draußen in Hülle und Fülle, und mit ihrem Schiff hätten sie auf lange Zeit die Nase vorn.

Alle Ersparnisse waren draufgegangen. Doch selbst das hatte nicht gereicht. Nicht für einen der hochmodernen ‚Haikutter‘, wie man diese Schiffe inzwischen nannte, weil sie mit ihrem eingebauten Hilfsmotor auf den Fangplätzen hin und her jagten wie die gefräßigen Raubfische. 1912, also erst vor zehn Jahren, war die Ditte auf der Karstensen Skibsværft in Skagen gebaut worden. Eine Hypothek aufs Haus hatte der Alte für sie aufnehmen müssen.

„Für eure Zukunft macht er das. Für seine Söhne.“ Mutters Worte.

Welch ein Wahnsinn. Und er steckte mitten drin, unentrinnbar, das war Lars klar. Hoffnungslos. Dabei kam ihm oft die Idee, er wäre gar kein richtiger Jacobsen. Jedenfalls war er nicht blond wie Christoph und der Alte – früher, bevor der weiß geworden war. Und er hasste die Fischerei. Kälte und Nässe und Knochenarbeit. Elende Quälerei.

Einmal schon war er fortgelaufen. Vor zwei Jahren, als die Sache mit Jens Callsen passiert war, dem Nachbarssohn, der ihn gereizt hatte. Da hatten sie ihn in Hamburg aufgegriffen. Der Alte hatte sich vor ihn gestellt, mit dem Staatsanwalt verhandelt. Seither ließen sie ihn nicht aus den Augen. „Du hast heißes Blut“, sagte die Mutter oft, „dafür kannst du nichts. Aber du musst lernen, dich zu zügeln.“

Lars schielte hinüber zum Ruderstand, wo der Alte inzwischen die Pfeife zwischen den Zähnen hatte. Das Zeichen. Auch er griff in die Tasche, zog seinen bereits gestopften Knösel hervor, bückte sich in den Windschatten der an Deck festgelaschten Körbe und setzte den Tabak in Brand.

In zwei Stunden musste er ihn am Ruder ablösen. Am Nachmittag würden sie ihre Fanggründe erreichen. Drei Tage und Nächte wollte der Alte dort fischen, bevor es wieder nach Hause ging.

Lars fröstelte im kalten Frühdunst. Seine Kiefer schmerzten, so fest hatte er sich in den Pfeifenstiel verbissen. Er nahm den Knösel aus dem Mund und massierte sich das stoppelige Kinn. Ein Schluck aus der Flasche unter seiner Matratze konnte jetzt nicht schaden.

„Bin gleich wieder da“, sagte er zu Christoph, der neben ihn getreten war.

„Ich muss mit dir reden.“

Sofort schoss Lars das Blut ins Gesicht. „Worüber? Etwa …“ Bedrohlich hing das Wort in der Luft. „Ich warne dich. Hab dir gesagt, was ich mit dir mache, wenn du sie auch nur ansiehst.“

Fahrig fuhr sich Christoph mit den Fingern durch die blonde Mähne. „Aber …“

„Kein ‚Aber‘!“, knurrte Lars, stieß den Bruder beiseite und riss die Tür zum Niedergang in die Kajüte auf. Er brauchte einen kräftigen Zug, musste sich beruhigen. „Bin gleich wieder oben. Überleg dir gut, was du mir sagen willst …“ Am besten, er steckte sich den Flachmann gleich in die Jackentasche, bevor er wieder an Deck käme. Es stank nach Ärger. Gewaltig.

Sechs Stunden später passierte die Ditte das Feuerschiff Kalkgrund II im Norden und hielt mit guter Fahrt unter Segeln auf die ausgedehnte Untiefe Bredgrund zu, die ein paar Meilen voraus lag. Dort hob sich der Meeresboden abrupt von etwa dreißig auf nur noch sieben bis fünf Meter Wassertiefe. Rund um den mächtigen Unterwasserberg herum.

Da stand der Dorsch. Genug Fisch für viele lange Tage und durchwachte Nächte.

Der Wind war frisch, blies jetzt aus Nordwest. Die Ditte zog schon hin und wieder die Süllkante an Steuerbord durchs Wasser. Bald würde der Alte den Befehl zum Reffen geben. Gerade hatte Christoph acht Knoten Fahrt geloggt. Gelacht hatte er dabei, schien sich wie ein Kind über die Rauschefahrt zu freuen.

Nun, das Lachen würde ihm vergehen. Als der Flachmann leer war, wusste Lars, was er zu tun hatte. Dass er unter der Fuchtel des Alten stand, dass er noch jahrelang mit eiskalten, aufgesprungenen Händen im stinkenden Fisch wühlen musste, daran konnte er vorerst nichts ändern. Er hatte sich sogar daran gewöhnt, dass alle ihn mieden, wo es nur ging, ihm, den sie hinter seinem Rücken ‚de füünsche Lars‘ nannten, nicht übern Weg trauten. Aber dass sein Bruder ihm Gesa wegnahm, das würde er nicht zulassen. Auf gar keinen Fall. Gesa gehörte ihm. Wenigstens sie.

„Versteh doch, Lars, wir … wir … lieben uns. Es tut mir leid für dich, ehrlich, aber … Mein Gott, dafür kann man doch nichts, das ist sowas wie … Schicksal.“

„Schicksal?“, schrie Lars auf, als hätte ihn jemand getreten. „Sie ist meine Braut, du Schweinehund, und …“

„Nicht so laut, der Alte schaut schon her!“

„Ich mach dich fertig, wenn du sie anfasst“, stieß Lars mit bebender Stimme hervor. „Oder … Hast du vielleicht … hast du sie etwa schon …?“ Ein gurgelnder Laut, als hätte er sich verschluckt. Er keuchte.

Sein Bruder fuhr zurück, als er in das wutverzerrte Gesicht blickte. Blanker Hass. „Wir reden morgen darüber, Lars, bitte. Du hast getrunken, ich kann es riechen. Wenn der Alte das merkt …“

„Sag es, auf der Stelle! Hast du sie gevögelt?“ Seine Hand schoss an die Kehle des Bruders.

„Lars, bist du denn …“, würgte Christoph. Wie Schraubzwingen presste Lars seine kalten Finger um den Hals des Jungen. Christophs Hände fuhren hoch, packten den eisenharten Arm, doch Lars ließ nicht locker. Sein Kopf schoss nach vorn, ganz nah vor das Gesicht des Bruders. Seine Augen loderten.

„Sag es! Habt ihr …“

„Und wenn? Du bildest dir was ein, Lars. Sie …“ Der Druck um den Hals wurde unerträglich. „Mein Gott, Lars, sie … ist dir doch nicht … versprochen, oder?“ Er bekam keine Luft mehr. „Lass … los!“ Nur ein Röcheln.

„Utnanner! Wi hebbt keen Tied to’n Strieten!“, rollte die Stimme des Alten durch den Wind heran. „Wi sünd dor. Kloor bi de Kurr, man fix!“

Lars spürte jeden Knochen im Leib. Drei Hols hatten sie schon hinter sich. Dreimal die Ankerboje gesetzt, die Bootswaden unter Motor in weitem Bogen ausgefahren, wieder an den Ausgangspunkt zurückgedampft und das gewaltige Netz über die Trommel eingeholt, während die Ditte stampfend und bockend an ihrem Anker zerrte. Gute Hols aber, prallvoller Fangsack, jedes Mal.

„So mutt dat!“, brüllte der Alte durch das Heulen und lachte. Stockfinstere Nacht. Aus dem Wind war Sturm geworden, doch er gab nicht auf. Stechend fuhren Lars die eisigen Nadeln ins Gesicht, salzige Spritzer, von den Wellenkämmen abgerissen.

„Een Hol opletzt, denn mokt wi Schluss för hüüt!“

Einmal noch …

Endlich warf Lars den Anker und prüfte, ob er hielt. Das Netz konnte geholt werden. Er fror. Durchnässt bis auf die Haut. Das Salzwasser stand über die Knöchel in den Stiefeln und brannte an seinen aufgescheuerten Füßen.

„Lars, komm rüber, schnell, die Netztrommel …“ Christophs Stimme klang hektisch. „… ganz heiß“, verstand Lars durch das Tosen.

Die Trommel qualmte. Der kleine Benzinmotor jaulte, bewegte die schwere Scheibe keinen Zentimeter mehr. „Das Netz hat sich irgendwo verhakt“, rief Christoph.

„Schiet“, fluchte der Alte, der nach vorn gekommen war, und zeigte im Schein seiner Handlampe außenbords auf die Netzleinen, in denen sich ein Holzstamm verfangen hatte. Der klemmte das Netz an der Bordwand unter der Ankertrosse fest.

„Dat hölpt nix, dat Ding mutt los!“