Stumme Gräber – Kira Lunds dritte Reportage - H. Dieter Neumann - E-Book

Stumme Gräber – Kira Lunds dritte Reportage E-Book

H. Dieter Neumann

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Beschreibung

Uralter Hass – dritter Band der Küstenkrimis mit der jungen TV-Journalistin Kira Lund  Ein junger Surfer, Angehöriger der deutschen Minderheit in Dänemark, wird während eines Sommercamps an der Flensburger Förde erstochen. In Tatverdacht gerät sein deutscher Zeltkamerad, den vor allem die Zeugenaussage eines jungen Dänen schwer belastet. TV-Reporterin Kira Lund ahnt jedoch, dass der Schlüssel zum wahren Täter und seinem Motiv im erbitterten Hass zwischen zwei alteingesessenen Familien liegt, der seit mehr als hundert Jahren schwelt. Bei ihren Recherchen stößt Kira allerdings auf eine Mauer des Schweigens. Doch auch ein heimtückischer Anschlag kann sie nicht entmutigen …  Hochspannung aus dem deutsch-dänischen Grenzland zwischen den Meeren!  H. Dieter Neumann hat mit einer früheren Geschichte beim »NordMord Award 2018« – dem traditionsreichsten Krimipreis in Norddeutschland – den ersten Platz (Jurypreis) gewonnen. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Drews.

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Sea Wave/Shutterstock; lifeforstock/Freepik

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Sommer 2023

1

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Epilog

Randnotizen

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Fürdie Menschen beiderseitsder deutsch-dänischen Grenze

Ländergrenzen? Nicht, dass ich wüsste,sagte der Storch.

Manfred Hinrich

Prolog

Gemarkung Gillestrup, Nordschleswig,6. Juli 1915

Hellblau wölbt sich der Himmel bis zum Horizont über dem weiten Land. Nur ein paar wattige weiße Schönwetterwölkchen ganz hoch oben. Die flirrende Luft duftet nach Sommer, und Lene Marie fühlt die wohlige Wärme des Bodens unter den Sohlen ihrer bloßen Füße.

Übermütig beginnt sie zu hüpfen, während sie den Feldweg hinunterläuft. Immer wieder weicht sie geschickt den Pferdeäpfeln aus, die zwischen den Fahrspuren der schweren Karren liegen, auf denen noch bis vor wenigen Tagen das Heu von den Wiesen abgefahren wurde.

Lange hat es in diesem Jahr gedauert, bis es soweit war: endlich eine ganze Woche nur Sonnenschein und kein Niederschlag. Zuvor waren immer wieder Regenschauer übers Land gezogen. Es war wie verhext. Kaum war das Heu gut genug durchgetrocknet, um eingefahren zu werden, kam der nächste Guss.

Lene Marie ist erst sieben Jahre alt, und schon bald konnte sie die vielen Stunden nicht mehr zählen, die sie mit ihrer Mutter, mit Henrik und den Mägden des Hofes hier draußen hat arbeiten müssen. Bestimmt hat sie die Haufen tausendmal mit der klobigen hölzernen Forke gewendet. Tausend ist viel, das weiß Lene Marie schon. Schwere Arbeit für ein kleines Mädchen. Immer noch sind die Blasen an ihren Händen nicht verheilt. Aber die Mutter ist unerbittlich. Seit Vater Soldat ist, führt sie den Hof mit strenger Hand.

›Wir Krogs werden den verfluchten Preußen beweisen, dass wir klarkommen, auch wenn sie unsere Männer in ihren Krieg gepresst haben.‹ Mutters einziger Kommentar. Jedes Mal, wenn jemand über die Arbeit klagt.

Lene Marie blickt über das flache Land beiderseits des Weges. Schon zeigt sich das erste Grün des nachwachsenden Grases. Bald werden sie das Vieh wieder aus dem Stall hierher treiben können.

Sie stutzt. Bleibt stehen und schirmt die Augen mit der Hand gegen das gleißende Sonnenlicht ab.

Drüben auf der Wiese, die sie Distelgrund nennen – natürlich sagen sie Tidseljord, denn sie sind ja Dänen – hat sich etwas bewegt. Direkt neben dem Brunnen, aus dem sie immer das Wasser fürs Vieh hochpumpen.

Ein paar Atemzüge lang blickt sie dorthin. Nichts.

Wahrscheinlich nur ein Wildkaninchen. Bestimmt ist es wieder in seinem Bau verschwunden.

Muss aber ein ziemlich großes gewesen sein …

Plötzlich merkt Lene Marie, dass sie Durst hat.

Nun, das passt ja prima. Henrik, der Knecht, der schon zu alt für den Krieg ist, hat den Pumpenschwengel über der Blechwanne bereits wieder montiert, sieht sie. Ein Schluck Wasser käme ihr jetzt gerade recht.

Sie steigt über den Weidezaun und geht hinüber zum Brunnen. Das nachwachsende Gras unter ihren Füßen fühlt sich weich an.

Auf einmal steht da eine Frau. Die Bäuerin vom Nachbarhof. Lene Marie kennt sie, auch wenn sie noch nie mit ihr gesprochen hat: Holm Harmsens Witwe. Deren Mann gerade gefallen ist.

›Geschieht ihnen recht, diesen großmäuligen preußischen Hochstaplern, dass ihre eigenen Leute zuerst fallen. Um keinen von denen ist es schade‹, hat Lene Maries Mutter zwischen den Zähnen hervorgezischt, und ihre dunklen Augen haben dabei geglüht. ›Ist schließlich ihr Krieg, nicht unserer.‹

Wie aus dem Nichts ist die deutsche Nachbarsfrau hinter der Blechwanne aufgetaucht, ganz in dunkle Kleider gehüllt, das schwarze Kopftuch tief in die Stirn gezogen.

Bewegungslos verharrt sie neben der Handpumpe.

Mit niemandem von den Harmsens darf Lene Marie reden, das weiß sie. Weil sie Deutsche sind. Die ihren Vater in eine preußische Uniform gesteckt und nach Frankreich geschickt haben.

Unschlüssig verzögert das Mädchen jetzt seine Schritte.

Tidseljord liegt jedoch auf dem Land der Krogs, das steht fest. Was hat eine Harmsen überhaupt darauf verloren? Es ist nicht recht, dass diese Frau hier herumläuft.

Lene Marie bleibt stehen. Fühlt einen fröstelnden Schauer in sich aufsteigen, trotz der Hitze rundum. Etwas Unheimliches geht von dieser schwarzen Frau aus.

»Ich wollte ein bisschen Wasser trinken«, sagt die Frau mit flacher Stimme, seltsam tonlos. Formt ihre Hände zu einer Schöpfkelle und fährt damit in die Blechwanne. Wasser tropft zwischen ihren Fingern heraus, als sie die Hände an den Mund führt und schlürft. »Komm, ist schön kühl!«

Lene-Marie schluckt trocken. Sie ist so durstig. Unsicher macht sie ein paar Schritte vorwärts, tritt an den Brunnen und blickt auf das frische Wasser in der Wanne.

»Mach’s wie ich«, sagt die Deutsche.

Als das Kind den ersten Schluck aus seinen kleinen Händen trinkt, bückt sich die Frau. Hat plötzlich einen schweren Knüppel in der Hand und reißt ihn hoch.

Mit wütender Wucht kracht das dicke Holz auf den Kopf des Mädchens. Ohne einen Laut bricht die Kleine zusammen.

Mit ihren kräftigen Armen hebt die Frau den federleichten Körper hoch und wirft ihn mit Schwung in den Brunnen. Ihre Augen flackern wild, als sie hört, wie der Körper des Kindes mit einem dumpfen Klatschen in der Tiefe aufs Wasser trifft.

»Das ist für meinen Holm«, flüstert sie, wirft ihren Kopf zurück, blickt in den blauen Himmel und ballt ihre Hände zu Fäusten. »Auge um Auge!«

Sommer 2023

1

Er presst sich in den Graben neben der Straße, die den breiten Strand von dem Weideland dahinter abgrenzt. Wenn er seinen Kopf anhebt und über die ausgedörrte Grasfläche landeinwärts blickt, kann er in der Ferne im flackernden Schein des Lagerfeuers einige Zelte erkennen. Schemenhafte Gestalten laufen dort hin und her, ihre Stimmen dringen bis hierher, ihr trunkenes Grölen. Und immer wieder Flaschenklirren.

Das schwach leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr zeigt ihm, dass es schon nach zwei Uhr ist.

Verdammt, wann werden endlich auch die Letzten in ihre Schlafsäcke kriechen? In wenigen Stunden schon wird der Morgen heraufdämmern …

Seit Mitternacht liegt er hier bereits auf der Lauer. Seine Knochen werden langsam steif. Am liebsten würde er aufstehen und ein paar Schritte gehen.

Unmöglich. Auch wenn auf der schmalen Straße kein Durchgangsverkehr herrscht – hin und wieder fährt doch ein Auto vorbei. Gleich da vorn liegt die Zufahrt zu einem großen Campingplatz, und einige späte Ausflügler kommen auch zu dieser nächtlichen Stunde noch dorthin zurück.

Immerhin: Kalt ist ihm nicht. Die Hitze der letzten Tage hat den Boden gut durchgewärmt. Und der Parka, den er über den tarnfarbenen Overall gezogen hat, schützt ihn vor dem kühlen Nachtwind.

Dennoch zittert er.

Er hat es sich leichter vorgestellt, sehr viel leichter. Nur ungern gesteht er es sich ein, aber tatsächlich graut ihm jetzt vor dem, was er gleich tun soll. Je länger er hier liegt, desto mehr wächst das Unbehagen in ihm.

Noch vor wenigen Stunden wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, an ihrem Plan zu zweifeln. Nun aber hat ihn diese unerklärliche Befangenheit überfallen, und widerwillig spürt er Unsicherheit in sich aufsteigen, ein innerliches Zurückweichen, das er von sich gar nicht kennt. Gewissensbisse sind ihm fremd. Heftig schüttelt er den Kopf und stößt ein trotziges Zischen aus. Er muss sich zusammenreißen und tun, was getan werden muss. Wie immer.

Ungeduldig hebt er seinen Kopf, schaut hinüber zum Camp. Wenn sie nur endlich alle in ihren Zelten verschwinden würden!

Doch er muss noch fast eine halbe Stunde warten, bis endlich Ruhe einkehrt. Dann aber hört er keine Stimmen mehr, niemand bewegt sich auf dem Platz vor den Zelten. Das Lagerfeuer ist heruntergebrannt, nur ein schwacher Feuerschein noch. Schon wenige Meter von der Glut entfernt herrscht völlige Finsternis.

Abwarten!, mahnt er sich. Zu früh darf er seine Taschenlampe nicht einschalten. Erst muss er sich sicher sein, dass alle schlafen. Das dürfte nicht allzu lange dauern – gesoffen haben sie schließlich genug. Die meisten werden vermutlich in komatösen Tiefschlaf fallen.

Es ist soweit. Vorsichtig richtet er sich auf, spürt ärgerlich den Schmerz in den Gelenken. Schaut hinter sich auf die Straße. Kein Fahrzeug weit und breit.

Den Schein der Lampe schirmt er mit der Handfläche ab, richtet ihn nach unten vor seine Füße. Dann geht er los, langsam, um keine verräterischen Geräusche zu machen, immer in die Dunkelheit lauschend.

Die erste Schwierigkeit wird sein, das richtige Zelt zu finden. Neun davon stehen im Halbrund um den Feuerplatz herum, weiß er, kann aber von Weitem nur die vier in der ersten Reihe ausmachen.

Es hilft nichts. Wenn er die Markierung finden will, muss er dichter heran und jede Zeltwand absuchen. Bedachtsam setzt er einen Fuß vor den anderen, kommt dem Lager langsam näher, schleicht an der niedergebrannten Feuerstelle vorbei, bis das Licht der Taschenlampe die hinteren Zelte aus der Dunkelheit holt.

Plötzlich ein Gemurmel – direkt neben ihm. Er fährt zusammen, schaltet sein Licht aus, lässt sich auf den Boden fallen, kann nur knapp einen Schmerzensschrei unterdrücken. Etwas Spitzes bohrt sich in seinen rechten Oberschenkel. Er zieht das Bein weg, tastet herum und fühlt einen faustgroßen Stein.

Wütend zwingt er sich, regelmäßig zu atmen, bis der Schmerz nachlässt. Und lauscht. Das Murmeln kam aus dem Zelt, neben dem er liegt.

Minutenlang liegt er starr da, horcht, wartet.

Da ist es wieder, unvermittelt: Hinter der Stoffbahn Stöhnen, unverständliche, gestammelte Worte, halblaut nur.

Fast lacht er auf: Da redet bloß jemand im Schlaf. Keine Gefahr. Er kann seine Suche fortsetzen.

Geräuschlos steht er auf, schaltet die Lampe wieder ein, leuchtet den Boden vor sich ab. Keinesfalls darf er über eines der vielen Seile stolpern, mit denen die Zelte an den Heringen abgespannt sind.

Erst das siebte Zelt ist das gesuchte. Auf dem grauen Stoff an der Rückseite sticht ihm ein kleiner gelb-roter Atomkraft? Nie wieder!-Aufkleber ins Auge.

Noch einmal schaltet er das Licht aus, bleibt regungslos stehen. Alle Sinne geschärft, legt er den Kopf schräg, konzentriert sich auf die Geräusche der Nacht. Hört weit hinter sich den Motor eines Autos, das auf der Straße vorbeifährt.

Dann wieder Stille.

Er meint sogar, schwach das Rauschen der Wellen zu hören, die in der Ferne auf dem Strand auslaufen. Lauter ist das Rascheln der im lauen Nachtwind bebenden Blätter in den Bäumen rundum. Nichts sonst dringt an seine Ohren. Außer den Schnarchtönen direkt vor ihm hinter der Stoffbahn mit dem Aufkleber.

Er nickt entschlossen. Besser kann es nicht für ihn laufen: Die beiden Bewohner schlafen offenbar ihren Rausch aus.

Sie werden nichts mitbekommen, wenn er sich gleich ins Zelt schleichen wird. Und das tut, was getan werden muss.

Endlich.

2

Schon seit ein paar Minuten hatte Kira die Flensburger Außenförde im Blick, deren heller Sandstrand sich nur wenige hundert Meter rechts von der Straße entlang zog. Eine Menge Surfer mit bunten Segeln flitzte dicht unter Land hin und her, und weiter draußen war das tiefblaue Wasser gesprenkelt mit den weißen Tüchern der Segelschiffe. Dahinter, nur etwa zwei Kilometer entfernt, flimmerte das Ufer der dänischen Küste im Licht der Nachmittagssonne.

Nach einer leichten Rechtskurve kam nun auch das Ostseecamp Holnis in Sicht, ein weitläufiger Campingplatz, auf dem sich Wohnwagen an Wohnwagen drängte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein ganzes Stück weit zurückliegend, erkannte Kira Zelte, kleine und große, die ohne erkennbares Muster großzügig verteilt auf einer abgemähten Wiese standen.

Das musste das Surf- und Segellager sein, von dem Lukas gesprochen hatte.

Der alte Volvo Kombi ächzte unheilvoll, als sie von der Straße auf den Feldweg einbog, der zu den Zelten führte. Im Schritttempo ließ sie den Wagen durch die Schlaglöcher der Fahrspuren rumpeln. Im Nu bildete der knochentrockene Sand eine dichte Staubwolke um den Wagen.

Ditch, der auf seiner Decke im Heck lag, hob seinen Bärenkopf, riss den Fang auf und stieß ein lautes, protestierendes Gähnen aus.

Kira grinste und schaute auf den Innenspiegel, der von dem Schädel des schwarzbraunen Labrador-Bernhardiner-Mischlings gänzlich ausgefüllt wurde.

»Bisschen unbequem, mein Alter, sorry. Sehr lange werden wir um den Kauf eines neuen Autos wohl nicht mehr herumkommen, fürchte ich.« Sie verzog die Mundwinkel. »Na ja, vielleicht kein ganz neues …«

Den Vormittag hatte Kira in Lindaunis an der Schlei verbracht und mehrere Interviews geführt. Schon vor Monaten war die dortige über hundert Jahre alte Straßen- und Eisenbahnklappbrücke über den schmalen Ostseefjord, der sich bis Schleswig tief ins Land hineinwand, wegen Baufälligkeit gesperrt worden. Zunächst nur für den Zugverkehr, danach auch für Kraftfahrzeuge. Während direkt daneben mit Hochdruck am Bau einer neuen Brücke gearbeitet wurde, stand die alte, die später abgerissen werden sollte, nun dauerhaft offen, um die Schifffahrt auf der Schlei zu ermöglichen.

All das hatte bei den Menschen in der Region heftige Proteste ausgelöst. Der Bahnverkehr zwischen Flensburg und Kiel musste streckenweise durch Busse ersetzt werden, die weite Umwege fuhren. Auch Landwirte und Geschäftsleute an beiden Schleiufern litten unter der massiven Verkehrsbeschränkung. Nicht zuletzt verzeichnete der Tourismus – eine wichtige Einnahmequelle an der Schlei – schmerzhafte Umsatzeinbußen.

Für ihre Reportage befragte Kira eine Menge Leute vor der Kamera – aufgeregte Gastronomen, erboste Bauern, eine Managerin vom Tourismusverband Ostseefjord Schlei, mehrere Mitglieder einer Bürgerinitiative und natürlich auch die für das Großprojekt Verantwortlichen des Landes und der Deutschen Bahn. Material für über eine Stunde hatte sich so angesammelt – viel Arbeit, um daraus einen knackigen Beitrag für die heutige Ausgabe der Sendung Unser Land am Abend zusammenzuschneiden, der nicht länger als viereinhalb Minuten dauern durfte …

Der wichtigste Teil von Kira Lunds Arbeit als Videojournalistin, kurz VJ, fand meistens draußen im Land statt. Ausgerüstet mit einer kompakten HD-Kamera und einem Dreibein-Teleskopstativ, machte sie nichts anderes als gute alte Reporterarbeit, nur eben als Journalistin, Kamerafrau, Beleuchterin und Tontechnikerin in Personalunion.

Danach folgte jedoch stets noch die Arbeit im Studio. Sie sichtete – oft in Zusammenarbeit mit ihrem Kollegen Tim Scholler – das gedrehte Material, schnitt und vertonte es und sprach die verbindenden Kommentare dazu. Nicht selten nahm das mehr Zeit in Anspruch als die Drehs vor Ort.

Als sie ihre Interviews im Kasten hatte, ließ sie Ditch ein wenig am Ufer laufen, filmte noch ein paar Sequenzen von der hochgeklappten Brücke und den Segelschiffen auf der Schlei und machte sich gegen Mittag auf den Weg zurück nach Flensburg zum Sender.

Kaum war sie fünf Minuten unterwegs, bekam sie jedoch einen unerwarteten Anruf.

»Lukas?«, fragte sie erstaunt. »Ist etwas passiert?«

Ihr Lebensgefährte war schon früh heute Morgen nach Kiel gefahren, wo er als Meteorologe arbeitete. Ein Anruf von ihm war außergewöhnlich. Normalerweise sprachen sie erst wieder am Abend zu Hause miteinander.

»Nein, nein, keine Sorge. Trotzdem: Das könnte dich interessieren. Ich habe eben mit Piet telefoniert, und der hat mir erzählt …«

»Piet? Hilf mir mal bitte. Wer ist Piet?«

»Piet Jensen von der Yachtschule in Glücksburg. Morgen startet ein Hochseetörn nach Island, und er ist der Skipper. Ich mache wieder die Wetterberatung für ihn.«

»Aha«, gab Kira zurück. »So richtig haut mich diese Information aber noch nicht vom Hocker.«

»Es geht ja auch um etwas anderes. Bei denen herrscht nämlich ziemliche Aufregung, und zwar wegen eines …« Er räusperte sich. »Na, nennen wir es einen Todesfall.«

»Wie bitte? Was heißt das denn? Ist jemand verunglückt?«

»Hörte sich noch schlimmer an«, erwiderte Lukas und erzählte Kira von einem deutsch-dänischen Surf- und Seglercamp, eine Art Zeltlager für Jugendliche, das eine Surfschule aus Holnis gemeinsam mit der Glücksburger Yachtschule während der Sommerferien betrieb.

»Sie bieten dort in lockerer Atmosphäre, also neben viel Freizeitspaß, Surf- und Segelkurse für junge Leute ab sechzehn an«, setzte er hinzu. »Ein neues Konzept, sagt Piet, das sie mal ausprobieren wollen. Wer surfen will, findet direkt am Ostseestrand vor dem Camp die besten Bedingungen dafür. Und diejenigen, die Lust auf mehr bekommen, können auf den Booten in Glücksburg einen Schnupperkurs machen. So wollen sie mehr junge Leute fürs Segeln begeistern.«

»Kann mir durchaus vorstellen, dass das zieht«, warf Kira ein. »Bestimmt eine gute Idee – vor allem ganz ohne festen Lehrplan und Schulstress.«

»Ja, sie hatten auch ziemlich viel Zulauf, konnten angeblich gar nicht alle Anmeldungen berücksichtigen«, gab Lukas zurück. »Aber nun kommt’s: Heute Morgen wurde ein Jugendlicher tot in seinem Zelt aufgefunden. Wahrscheinlich ermordet, wenn ich Piet richtig verstanden habe.«

»Wow, das ist ja …Hast du sonst noch etwas erfahren?«

»Nein, mehr wusste Piet auch nicht. Nur, dass die Polizei mit großem Aufgebot dort vor Ort ist.«

Holnis, die Halbinsel, die tief in die Flensburger Förde hineinragte und den Übergang von der Außen- in die Innenförde markierte, war Kira natürlich ein Begriff. Alle, die wie sie und Lukas hier ihr Segelrevier hatten, kannten die gefährliche Untiefe dort, wo die Wassertiefe abrupt von zwölf auf einen Meter wechselte. Früher hatte an dieser Stelle eine rote Fahrwassertonne gelegen, im Seglerjargon ›Schwiegermutter‹ genannt, die jedoch längst durch einen weniger wartungsintensiven roten Pfahl ersetzt worden war. Den allerdings sollte man genauso ernst nehmen und keinesfalls ›schneiden‹, sonst setzte man sein Boot auf Grund.

»Und wo genau ist dieses Lager?«

»Gegenüber vom Ostseecamp Holnis, dem großen Campingplatz. Ein örtlicher Landwirt hat ihnen dort seine Wiese zur Verfügung gestellt, hat Piet gesagt.«

»Na, das werde ich wohl finden, kein Problem«, sagte Kira. »Danke, mein Schatz, dass du an mich gedacht hast. Klingt tatsächlich nach einer heißen Information. Ich fahr da sofort hin – bin gar nicht so weit weg. Wir sehen uns heute Abend!«

Kaum hatte sie das Gespräch beendet, rief sie Michael de Jong, ihren Chef, an und informierte ihn.

»Du willst jetzt gleich dorthin?«, fragte der Leiter des Flensburger Studios. »Und was ist mit deiner Reportage über die Lindaunisbrücke? Die musst du noch schneiden, sonst kommt sie heute nicht mehr in die Sendung. Und da ist sie fest eingeplant.«

»Meine Güte, Michael! Es ist reiner Zufall, dass wir wahrscheinlich die ersten Presseleute sind, die von dieser Sache erfahren haben. Und das auch nur, weil Lukas schnell reagiert hat. Das können wir uns doch nicht entgehen lassen.«

»Natürlich nicht, aber …«

»Hör zu: Ich schicke mein Material über die Lindaunisbrücke jetzt schon mal an Scholli, damit er es sichten und die besten Sachen zusammenstellen kann. Den Beitrag mache ich dann mit ihm fertig, sobald ich wieder im Studio bin. Was hältst du davon?«

De Jong war ein viel zu engagierter Journalist, um darauf nicht einzugehen, da war Kira sich sicher.

Und tatsächlich kam seine Antwort prompt: »Du hast recht. Gute Idee – so machen wir es. Also fahr meinetwegen nach Holnis und nimm dich dieser Sache an.«

»Alles klar. Bin schon unterwegs.«

Die Polizeifahrzeuge vor und zwischen den Zelten auf der Wiese waren unübersehbar.

Kira sah drei oder vier Streifenwagen, den blauen Kombi der Spurensicherung und den betont unauffälligen grauen Passat der Mordkommission, den sie gut kannte. Hauptkommissarin Helene Christ, die Leiterin der Flensburger Mordkommission, pflegte ihn zu benutzen.

Etwa hundert Meter vor den Zelten kam Kira an einem zum Feldweg offenen Schuppen vorbei, in dem ein alter Pflug und andere rostige landwirtschaftliche Gerätschaften herumstanden. Sie bremste, fuhr den Wagen unter das Vordach in den Schatten und stellte den Motor ab.

»Sorry, du musst erst mal im Auto bleiben«, sagte sie zu Ditch, während sie ausstieg, kurz die hinteren Türen öffnete, um die Seitenfenster halb herunterzukurbeln und die Tasche mit ihrer Ausrüstung vom Rücksitz zu nehmen. »Hier wird’s dir nicht zu heiß werden. Und nachher laufen wir eine schöne Runde am Strand, versprochen!«

Damit hängte sie sich die Riemen der Tasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zu dem Camp. Während sie ging, suchte sie das gesamte Gelände mit ihren Augen ab, konnte aber nirgendwo Pressekolleginnen und -kollegen oder ihre Autos entdecken. Nicht einmal die grauenvolle knallig gelbe Karre ihres liebsten Feindes, des LiveSat-Lokalreporters Lutz Schlager. Der war – wie auch immer er das anstellte – meistens der Erste vor Ort, wenn etwas nach einer Sensation roch.

Allerdings konnte es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Presseleute hier auftauchten, da war sich Kira sicher. Schließlich gab es eine Menge junger Leute in diesem Camp, und wenn stimmte, was Lukas erfahren hatte, waren die sozialen Netzwerke bestimmt schon voll von Posts dazu.

Sie blieb stehen, holte ihr Smartphone hervor und begann, sich durch die einschlägigen Kanäle zu klicken.

Schon auf Instagram, der ersten Plattform, die sie sich ansah, fanden sich einige Reels aus dem Camp, in denen aufgeregte Jugendliche von einem Verbrechen berichteten, das angeblich in der letzten Nacht geschehen war. Sogar das Wort ›Mord‹ kam mehrmals vor. Und auch ein Name: Morten.

Kira hörte genau hin, jedoch wurde in keinem der Videos der Familienname dieses Morten genannt. Mehrmals aber hieß es, die Identität des Opfers sei noch nicht offiziell bestätigt.

Und noch etwas fiel Kira auf: Auf den Videos war nur wenig von dem Gelände des Camps zu sehen. Alle Posts, auch die auf anderen Plattformen, schienen vornehmlich in einem Gemeinschaftszelt entstanden zu sein, in dem viele Tische und Stühle standen und im Hintergrund eine Art Tresen erkennbar war. Nur eine Handvoll Aufnahmen waren wohl aus dem Eingang heraus entstanden und zeigten ein paar der Unterkunftszelte, zwischen denen geschäftig Leute herumliefen, einige davon in Uniform. In der Ferne war auf diesen Videos das rot-weiße Flatterband zu erkennen, mit dem das gesamte Areal abgesperrt war.

Kira steckte das Smartphone zurück in die Tasche, und ihr Blick fiel – diesmal von der anderen Seite – auf das Absperrband, das, nur noch etwa hundert Meter entfernt, über einen Feldweg hinweg um das Gelände herum gespannt war. Zwei junge Polizisten in Uniform standen neben dem Feldweg und beobachteten sie aufmerksam, während sie sich ihnen näherte.

»Moin, die Herren!«, rief Kira ihnen aufgeräumt entgegen, zog ihren Presseausweis aus der Tasche und hielt ihn den Beamten hin. »Donnerwetter, alles abgesperrt und überall Polizeifahrzeuge! Was ist hier denn los?«

Ohne wegen Kiras launigen Tonfalls eine Miene zu verziehen, studierte einer der Uniformierten konzentriert den Presseausweis. Der andere aber sah sie an und sagte: »Sie sind doch eine Reporterin vom lokalen Fernsehsender, nicht wahr?«

»Richtig, mein Name ist Kira Lund. Ich arbeite im Studio Flensburg.« Kira produzierte ihr wärmstes Lächeln. »Sie kennen mich vermutlich aus der Sendung Unser Land am Abend, richtig? Freut mich sehr!«

Bevor der junge Mann antworten konnte, gab sein Kollege Kira den Ausweis zurück und erklärte unbeeindruckt: »Tut mir leid, wir dürfen niemanden hinter die Absperrung lassen. Auch Leute vom Fernsehen nicht.«

»Hier findet doch ein Sommercamp für junge Segler aus Deutschland und Dänemark statt, oder?«, fragte Kira unschuldig. »Das interessiert unsere Zuschauer nämlich. Ich wollte eine Reportage darüber machen. Dass hier aber alles abgesperrt ist und vor Polizei wimmelt, überrascht mich.«

»Hier läuft derzeit ein Polizeieinsatz«, erklärte der Polizist schmallippig. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ach, dann wissen Sie also selbst nicht, was hier passiert ist?«, hakte Kira nach. »Erstaunlich, dass man Ihnen das nicht sagt.«

»Spielt keine Rolle, was wir wissen. Jedenfalls bekommen Sie von uns keine Informationen«, stellte der andere Beamte kategorisch fest.

Während dieses Geplänkels hatte Kira zwischen den beiden Beamten hindurchgesehen und aufmerksam danach Ausschau gehalten, ob sich auf dem Gelände im Hintergrund etwas bewegte. Jetzt sah sie, dass eine Gruppe von drei, vier Leuten aus einem Zelt trat, die lebhaft miteinander diskutierten. Zwei davon, einen stämmigen, südländisch aussehenden Mann und eine schlanke weißblonde Frau erkannte sie sofort.

»Hören Sie«, sagte sie zu den Uniformierten, »Ich sehe, dass Oberkommissar Önal und Hauptkommissarin Christ von der Flensburger Mordkommission dort zwischen den Leuten stehen. Die kennen mich beide. Würden Sie so freundlich sein, einmal nachzufragen, ob ich mit ihnen sprechen kann?«

Die beiden jungen Polizisten warfen sich einen kurzen Blick zu. Der eine legte seine Stirn in Falten und kratzte sich am Kopf. Der andere zuckte mit den Schultern, nahm sein Sprechfunkgerät hoch und entfernte sich ein paar Schritte von der Absperrung.

Kira verstand nicht, was er sagte, aber sie sah, dass wenig später jemand an die Chefin der Mordkommission herantrat und herüberzeigte. Hauptkommissarin Christ löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu.

»Lassen Sie mich bitte einen Augenblick allein mit der Dame sprechen, meine Herren«, bat sie die beiden Uniformierten, die eilfertig ein paar Meter beiseitetraten. »Moin Kira«, sagte sie, und fuhr in süffisantem Ton fort: »Warum wundere ich mich nicht, dass du so schnell hier auftauchst?«

»Ach, reiner Zufall. Ich war gerade in der Nähe, als ich von dem … Todesfall hier im Camp erfahren habe.«

»Erfahren?«, kam es gedehnt zurück. »Wie das?«

»Ich hab so meine Quellen«, gab Kira grinsend zurück. »Im Ernst: Lukas hat es von jemandem aus der Yachtschule gehört.«

»So, so. Und was hast du nun vor?« Misstrauisch huschte der Blick der großgewachsenen Frau über Kiras Kameraausrüstung.

Kira ging nicht auf die Frage ein. »Kannst du bestätigen, dass ein Teilnehmer an diesem Seglercamp eines unnatürlichen Todes gestorben ist?«

»Nein, Kira. Wie käme ich dazu, irgendetwas zu ›bestätigen‹, bevor die forensischen Untersuchungen überhaupt angefangen haben?«

»Okay, aber es wurde ein Toter hier im Camp aufgefunden, richtig?«

»Ja, so viel kann ich wohl sagen«, knurrte die Hauptkommissarin.

»Sein Name soll Morten sein, hört man.«

»Hört man das? Wo denn?«

Kira zog ihr Smartphone aus der Tasche und hielt es hoch. »Na, hier – auf allen Kanälen. Sag bloß, das weißt du nicht.«

Unwirsch antwortete die Hauptkommissarin: »Gerüchte aus dem Internet werde ich nicht kommentieren.«

»Wie heißt dieser Morten denn mit Nachnamen?«

»Netter Versuch«, schnappte Helene Christ. »No comment.«

Kira lächelte verschmitzt. »Okay, aber ich muss dennoch über das berichten, was hier geschehen ist, das versteht sich von selbst, oder?«

»Vergiss es«, gab die Kriminalbeamtin schroff zurück. »Ich kann dich hier nicht reinlassen. Das da hinten ist wahrscheinlich ein Tatort. Außerdem sind die Experten von der Spurensicherung noch voll bei der Arbeit.«

»›Wahrscheinlich‹? Du sagst, es sei ›wahrscheinlich‹ ein Tatort?« So schnell gab Kira nicht auf. »Dann steht also noch nicht einmal fest, dass das Opfer hier getötet wurde?«

»Hör bitte auf, mich zu löchern! Noch wissen wir nicht einmal, ob überhaupt ein Gewaltverbrechen vorliegt.«

»Wow! Und wann, meinst du, werdet ihr das wohl wissen – grob geschätzt? Ist ja durchaus von Interesse, oder?«

»Spar dir bitte deine Spitzen.« Helene Christ blickte auf die deutlich kleinere Reporterin herab und setzte unwillig hinzu: »Himmel, Kira, du solltest doch inzwischen wissen, wie professionelle Polizeiarbeit abläuft. Du kannst jetzt keinen Zutritt zum Tatort bekommen, und es wird dir niemand etwas Konkretes sagen – auch ich nicht –, bevor die Ermittlungen wenigstens erste Ergebnisse erbracht haben.«

»Aber wann wird das sein?«, blieb Kira ungerührt am Ball. »Ich meine, wann darf die Öffentlichkeit darauf hoffen zu erfahren, was hier geschehen ist?«

»›Die Öffentlichkeit‹ …« Die Kriminalbeamtin verzog gequält die Mundwinkel. »Klingt reichlich pathetisch, meine Liebe. Aber sei’s drum. Ich kann dir im Augenblick leider …« Sie brach ab, als hinter ihr jemand laut rief: »Frau Christ, können Sie bitte kommen?«

»Du hörst es, ich werde gebraucht.« Sie wandte sich um. »Heute Abend geben wir wahrscheinlich eine Pressemeldung raus«, rief sie über die Schulter. »Da wird allerdings nur wenig drinstehen. Irgendwelche belastbaren Erkenntnisse werden wir bis dahin kaum haben. Und selbst wenn wir welche hätten … Ach, du weißt doch selbst, wie der Hase läuft, oder?« Damit eilte sie mit schnellen Schritten zurück zu den Zelten.

Oha, die ist aber gar nicht gut drauf, stellte Kira fest.

Das war bemerkenswert. Normalerweise herrschte zwischen ihnen beiden ein anderer, eher freundschaftlicher Ton. Doch dies schien ein besonderer Fall zu sein – in welcher Hinsicht auch immer. Helene hatte offenkundig ein ernsthaftes Problem, das war Kira nach diesem Wortwechsel klar.

Und schlagartig erwachte ihr journalistischer Ehrgeiz.

Von den beiden Polizeibeamten am Flatterband argwöhnisch beobachtet, baute sie rasch das Stativ auf, montierte die Kamera darauf, filmte die friedlich unter dem blauen Himmel daliegende Wiese, nahm das rot-weiße Absperrband ins Visier und schwenkte langsam hinüber in das abgesperrte Areal mit den Zelten und den vielen bunten Surfbrettern, die überall auf Gestellen standen oder an Zeltwände gelehnt waren. Schließlich richtete sie das Objektiv auf die Dienstfahrzeuge der Polizei und zoomte sie näher heran.

Selbst wenn sie bis zur Sendung keine neuen Informationen erhalten sollte – Bilder für eine Kurzmeldung hatte sie so zumindest schon mal im Kasten.

3

Ganz so barsch hätte sie Kira nicht behandeln sollen, dachte Helene Christ, als sie zu der Gruppe zurückging, die auf dem Platz vor dem großen Wirtschaftszelt auf sie wartete. Was hier im Lager geschehen war, ging ihr wohl härter an die Nieren, als sie gedacht hatte. Anders war kaum zu erklären, weshalb sie sich so abweisend verhalten hatte.

Natürlich konnte sie niemandem von der Presse Zutritt zum Tatort gewähren, das verstand sich von selbst. Und ebenso, dass sie jetzt noch keinen Namen bestätigen durfte, der im Netz kursierte. Kira Lund war Profi genug, um das selbst zu wissen. Aber das war eigentlich kein Grund, so unfreundlich zu ihr zu sein …

Ärgerlich trat Helene gegen einen kleinen Stein und kickte ihn ein paar Meter fort.

Na gut, später würde sicher noch Gelegenheit sein, ein klärendes Wort miteinander zu sprechen. Helene musste unwillkürlich grinsen. Sie kannte Kira gut genug, um zu wissen, dass die sowieso nicht locker lassen und sich bald wieder bei ihr melden würde.

»Die Spusi hat die mutmaßliche Tatwaffe gefunden«, erklärte Oberkommissar Nuri Önal, Helenes Stellvertreter, als seine Chefin herangekommen war, und hielt einen durchsichtigen Asservatenbeutel hoch. »Lag im Zelt unter einem Haufen alter Wäsche.«

Die Hauptkommissarin starrte auf das Fahrtenmesser mit dem Redwood-Holzgriff und der etwa fünfzehn Zentimeter langen feststehenden Klinge. Selbst durch das Plastik des Beutels hindurch waren rostrote eingetrocknete Flecken darauf zu erkennen. »Was sagt denn Feldkamp dazu? Kennt er das Messer?«

»Hat es angeblich noch nie vorher gesehen. Seines sei es jedenfalls nicht. Er besitzt angeblich gar kein solches Outdoor-Messer. Und er glaubt auch nicht, dass es dem Opfer gehört hat.«

Helene Christ kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.

»Ja, ich weiß«, knurrte Nuri Önal.

»Dann sag’s doch laut«, erwiderte Helene Christ.

»Entweder er lügt, oder der Täter hatte keine Zeit, das Messer verschwinden zu lassen …«

»Was unwahrscheinlich ist, wenn er das Opfer nachts im Schlaf getötet und nicht einmal der daneben Schlafende etwas davon mitbekommen hat«, kam sofort der trockene Einwand. »Dr. Asmussen hat die Leiche um etwa zehn Uhr begutachtet und den Todeszeitpunkt auf sechs bis acht Stunden davor geschätzt, wie du weißt.«

»Oder es war dem Täter egal, ob wir das Messer finden – warum auch immer.«

»Und was, wenn er wollte, dass wir es finden?« Helene Christ erlaubte sich ein schmales Lächeln. »Die Frage wird uns bestimmt noch beschäftigen, Nuri. Aber erst mal muss das Ding hier von den Spezialisten untersucht werden.«

Oberkommissar Önal zeigte auf den grauen Transporter, der gerade den Weg von der Straße heraufkam. »Damit bringen sie gleich die Leiche nach Kiel zur Obduktion in die Rechtsmedizin. Wir geben ihnen die Sachen für die Kriminaltechniker des LKA mit, vor allem das Messer. Wir brauchen Ergebnisse, so schnell wie möglich.«

»Sehr gut.« Die Hauptkommissarin zuckte leicht zusammen, als laute Rufe aus dem Wirtschaftszelt nebenan herausklangen.

»Die jungen Leute werden langsam sauer.« Nuri Önal grinste. »Ziemlich warm da drin im Zelt.«

»Haben wir inzwischen die Teilnehmerliste?«

»Ja, und auch den Belegungsplan für die Zelte. Dreizehn männliche und neun weibliche Jugendliche zwischen sechzehn und einundzwanzig sind hier, davon etwa ein gutes Drittel aus Dänemark, der Rest sind Deutsche. Ich schlage vor, wir lassen sie erst mal wieder an die frische Luft.«

»Okay, aber kläre vorher bitte mit der Spurensicherung, ob wir das Gelände jetzt freigeben können. Und natürlich verlässt niemand das Camp, bis wir mit der Einzelbefragung durch sind. Wer weiß, vielleicht hat jemand doch etwas gesehen oder gehört in der Nacht.«

Önal sah sie zweifelnd an. »Sieht bisher nicht so aus. Alle haben tief und fest geschlafen. Sagen jedenfalls die, die wir schon befragt haben.«

»Ich weiß. Aber möglicherweise war ja doch jemand zum Austreten draußen und hat etwas gesehen. Und bis wir das geklärt haben, bleiben alle im Camp.«

»Alles klar«, sagte Önal. »Allerdings wird das nicht verhindern, dass die Sache nach draußen dringt. Die Leute kommunizieren wie wild mit ihren Smartphones. Telefonisch, per WhatsApp, auf Instagram, TikTok und so weiter. Sogar der Name des Opfers wird da schon genannt.«

»Ist mir bewusst«, gab die Hauptkommissarin knapp zurück. »Vermutlich werden demnächst alle möglichen Freunde und Verwandte der Campbewohner hier auftauchen.«

»Und vor allem die Presse«, erwiderte der Oberkommissar mit einem schrägen Grinsen. »Die erste Reporterin war ja schon da.«

Helene Christ zuckte mit den Schultern. »Kira Lund war am schnellsten, aber die anderen kommen auch bald, verlass dich drauf!«

»Was hältst du denn von diesem Eike Feldkamp?«, wechselte Önal das Thema. »Seltsamer Typ, finde ich.«

»Wie meinst du das?«

»Ach, ich weiß nicht recht. Klingt für mich nicht wirklich glaubwürdig, was er bisher gesagt hat. Zum Beispiel, dass er erst mal duschen geht, als er feststellt, dass sein Zeltkamerad leblos im Schlafsack liegt. Und dann auch die Sache mit dem Messer … Das liegt unter einem Haufen getragener Wäsche – seiner Wäsche – und er will es vorher noch nie gesehen haben? Fällt mir schwer, das zu glauben. Vor allem aber, weil er seine Schlägerei mit Harmsen ein paar Stunden zuvor verschwiegen hat.«

»Schlägerei?«, fragte die Hauptkommissarin überrascht nach. »Er hatte eine Schlägerei mit dem Opfer?«

»Habe ich auch gerade erst erfahren. Deshalb hab ich ja das Gespräch mit deiner Lieblingsreporterin unterbrochen«, feixte Nuri Önal, wurde aber schnell wieder ernst. »Tatsächlich sollen sich Feldkamp und Harmsen gestern Nacht geprügelt haben. Dazu haben wir inzwischen sogar mehrere Zeugenaussagen.«

»Und worum ging es dabei?«

Önal zuckte mit den Schultern. »Alles deutet auf eine Art Eifersuchtsdrama hin. Du solltest dir anhören, was das Mädchen dazu zu sagen hat.«

»Das Mädchen? Wieso … was für ein Mädchen?«

»Na schön, ›die junge Frau‹ sollte ich wohl besser sagen«, berichtigte Önal sich. »Beeke Bahnsen heißt sie.«

Er zeigte auf eine alte Buche, die ein Stück entfernt auf der Wiese stand. Dort hatten die Kollegen von der Bereitschaftspolizei vorhin im Schatten der mächtigen Krone einen als Einsatzleitzentrale ausgerüsteten Sprinter geparkt und ein Vorzelt aufgestellt. »Sie sitzt da drin. Aber ich muss dich warnen: Sie ist ziemlich aufgelöst. Schwer, etwas aus ihr herauszukriegen.«

Seine Chefin runzelte die Stirn. »Wie alt ist dieses ›Mädchen‹ denn?«

»Gerade siebzehn.«

»Ich hoffe, ihr habt sie nicht zu sehr unter Druck gesetzt«, brummte Helene Christ. »Was sagt sie denn nun eigentlich?«

»Sie will die Schlägerei zwischen Morten Harmsen und Eike Feldkamp beobachtet haben. Hier auf dem Platz am Lagerfeuer.«

»Gut, ich hör mir das mal an«, erwiderte Helene. »Und anschließend werden wir beide Eike Feldkamp vernehmen. Und zwar gründlich.« Sie wandte sich zum Gehen. »Was ist mit Morten Harmsens Angehörigen? Sind die …«

»… benachrichtigt, ja«, bestätigte Önal. »Wir haben die dänischen Kollegen informiert, und die haben das übernommen. Scheißjob.«

»Kann man kaum anders ausdrücken.« Helene Christ nickte betreten. »Konntest du schon herausfinden, wie man eigentlich die Aufsicht in diesem Camp organisiert hat? Wie wir wissen, gibt es hier auch Jugendliche unter achtzehn Jahren. Wieso war zum Beispiel niemand vor Ort, der diese nächtliche Schlägerei verhindert hat?«