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Hochsommer an der Flensburger Förde: Bauer Brodersen liegt neben seinem Jagdgewehr tot im Weizenfeld. Wählte er den Freitod? Die desaströse finanzielle Lage des Hofes legt die Vermutung nahe. Zudem scheint außer der Witwe niemand um den Patriarchen zu trauern – nicht einmal seine Kinder. In der alteingesessenen Bauernfamilie stößt Kommissarin Helene Christ auf einen Abgrund aus Hass und Vorurteilen, doch die fanatisch religiöse Witwe schweigt beharrlich. Mit fortschreitenden Ermittlungen tun sich immer mehr Fragen auf – und der Kreis der Verdächtigen wird nicht kleiner, sondern größer.
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Seitenzahl: 285
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H. Dieter Neumann
Blutmöwen
Kriminalroman
© 2018 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Jo.Sephine/photocase.de
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
Über dieses Buch
Hochsommer an der Flensburger Förde:Bauer Brodersen liegt neben seinem Jagdgewehr tot im Weizenfeld. Wählte er den Freitod? Die desaströse finanzielle Lage des Hofes legt die Vermutung nahe. Zudem scheint außer der Witwe niemand um den Patriarchen zu trauern – nicht einmal seine Kinder.
In der alteingesessenen Bauernfamilie stößt Kommissarin Helene Christ auf einen Abgrund aus Hass und Vorurteilen, doch die fanatisch religiöse Witwe schweigt beharrlich. Mit fortschreitenden Ermittlungen tun sich immer mehr Fragen auf – und der Kreis der Verdächtigen wird nicht kleiner, sondern größer.
Der Autor
H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte.
Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.
Für Barbara
Die Silbermöwe ist mit 55–67 cm etwa so groß wie ein Mäusebussard, die Flügelspannweite ist mit 125–155 cm sogar noch etwas weiter. Der Blick dieser häufigen Großmöwe wirkt etwas grimmig. Der relativ klobige Schnabel ist zwischen 44 und 65 mm lang. […] Ihre Nahrung sucht die Silbermöwe vorwiegend im Bereich der Küste. […] Von besonderer Bedeutung sind jedoch auch ganzjährig Orte, an denen Abfälle eine sichere Nahrungsquelle bieten, wie Mülldeponien, Fischereihäfen und -betriebe, aber auch Schlachthöfe. In geringerer Zahl findet man die Art jedoch auch auf landwirtschaftlichen Nutzflächen […] Die Silbermöwe zeigt aufgrund ihres opportunistischen Nahrungsverhaltens ein sehr breites Nahrungs- und Beutespektrum. Oft wird ein lokal oder saisonal reiches Nahrungsvorkommen ausgiebig und auch einseitig genutzt. Wenn aber ein solches nicht vorhanden ist, ist die Art recht erfinderisch im Auftreiben von Ersatz.
www.wikipedia.de
Die Silbermöwe ist ein Nesträuber, das heißt, dass sie die Eier, aber auch die Jungvögel aus anderen Nestern verspeist. Doch auch Abfälle und Aas stehen bei der Silbermöwe auf dem Speiseplan.
www.kinder-tierlexikon.de
Möwen sind fantastische Vögel. […] Gut, es sind […] Aasfresser, ihr Kot lässt Schiffe rosten, zerbröselt Beton. Aber ist es nicht schön, sie am blauen Himmel schweben zu sehen?
Dieter Klössing,
Prolog
Der junge Rotfuchs verharrt regungslos am Rande der Buschgruppe, verborgen unter dem Blattwerk des dichten Gestrüpps. Nur seine Nase zuckt, während er den verführerischen Duft einsaugt.
Eigentlich ist er satt. Sein Tisch ist in diesen Tagen reich gedeckt. Die sengende Sonne hat den Boden ausgetrocknet, und die Feldmäuse irren auf ihrer verzweifelten Suche nach unverdorrtem Gras, nach ein paar Kräutern oder Körnern hungrig auf dem verkarsteten Land herum. Leichte Beute sind sie für ihn, haben in ihrem Kampf ums Überleben alle Vorsicht fahren lassen.
Doch was er jetzt plötzlich wittert, schwach noch, lässt den Fuchs leise beben. Ein ganz anderer Geruch als der alltägliche der Mäuse. Unwiderstehlich. Der warme Wind weht von See her ins Land, streicht dabei über die Weiden, führt das strenge Aroma des Viehs und Tausende andere Düfte mit sich. Einer davon, weit entfernt, verheißt ein Festmahl.
Das Beben verstärkt sich und Speichel tropft dem Fuchs aus dem Fang, als er sich auf den Weg macht. Geduckt schnürt er geräuschlos durch das ausgedörrte Gras. Je weiter er läuft, desto stärker wird der Duft, der ihn lockt.
Immer wieder blickt er argwöhnisch über das Land, das vor ihm liegt, sichert nach allen Seiten. Seine Nase weist ihm den Weg, untrüglich. Geschickt nutzt er Mulden und Bodenwellen, schlüpft blitzschnell unter Stacheldrahtzäunen durch und hält sich unsichtbar in ausgetrockneten Gräben, bis er die weidenden Rinder umlaufen hat und auf ein Rapsfeld stößt. Im Frühling ein hell strahlendes, in langen Wellen flutendes Gelb, rascheln nun bis hinunter zum Strand dicht stehende graubraune Stängel im Wind.
Hier beherrscht der köstliche Geruch schon völlig die Luft. Kein anderes Aroma vermag der Fuchs jetzt noch wahrzunehmen. Getrieben von seiner Gier, rast er wie ein Blitz durch die Halme, bis er mit zwei mächtigen Sprüngen einen Feldweg überquert und unter dem dichten, wogenden Dach des angrenzenden Weizenfeldes wieder Schutz findet.
Seine feinen Ohren zucken. Schon von Weitem hat er sie gehört: laute Schreie, die er allzu gut kennt. Dicht hinter dem Korn erhebt sich ein niedriges Wäldchen aus knorrigen, im Seewind verwachsenen Kiefern. Der Fuchs riecht es genau: Dort irgendwo liegt das Ziel seiner Begierde. Er duckt sich auf den Boden und kriecht weiter bis an den Feldrand. Endlich hat er einen freien Blick auf den Schauplatz des Getümmels. Seine Flanken zucken, er hechelt flach und seine bernsteinfarbenen Augen verfolgen gebannt das wilde Spektakel.
Möwen.
In großer Zahl haben die Räuber sich auf der Quelle des betörenden Duftes niedergelassen, hüpfen hektisch hin und her, krakeelen, fliegen immer wieder auf, die gelben Schnäbel blutverschmiert. Der Himmel scheint voll von schwirrenden Schwingen, nichts ist zu hören außer eiferndem Gezeter.
Furcht einflößend. Der Fuchs muss es dennoch versuchen – der Reiz ist übermächtig. Den Leib flach an den Boden geduckt, schleicht er langsam näher.
Sie sehen ihn sofort.
Eine hitzig flatternde Horde schreiender Vögel stürzt sich zornig auf ihn. Stechend dringt der unbeschreibliche Lärm in seine feinen Ohren, und tief fahren messerscharfe Schnäbel immer wieder in seinen Leib.
Es dauert nur wenige Sekunden, dann rast der junge Rotfuchs jaulend und aus vielen Rissen blutend davon, in panischen Sprüngen zurück unter den Schutz der Weizenhalme, fort von dem wundervollen Duft.
Keuchend und am ganzen Leib zitternd, wirft er sich im Schatten des Baldachins aus reifen Ähren zu Boden und leckt seine Wunden.
Die Möwen setzen gierig ihr Festmahl fort.
1
Obwohl es erst kurz nach sieben Uhr war, strahlte die Sonne bereits munter in den weißen Cinquecento hinein. Helene Christ hatte das Faltdach geöffnet, bevor sie losgefahren war, und ihre neue modische Sonnenbrille aufgesetzt. Im warmen Wind flatterte ihre dichte weißblonde Mähne fröhlich im Fahrtwind, während sie auf der Landstraße der Stadt entgegenfuhr. Aus den Lautsprechern sang Ed Sheeran Castle On The Hill. Als er den unwiderstehlichen Refrain erreichte, drehte Helene die Lautstärke noch weiter auf und stimmte übermütig ein: »I’m on my way, driving at ninety down those country lanes.« Ein vergnügtes Lächeln trat ihr ins Gesicht, als im Osten hinter den Feldern das Meer in den Blick kam, glitzernd im Licht der Morgensonne und schon zu dieser frühen Stunde belebt von ein paar weißen Segeln.
Tief sog Helene die herrliche Luft ein. Die langen Monate des norddeutschen ›Schietwetters‹, die Stürme, die klamme Feuchtigkeit, das schwermütige Grau – endlich vorbei. Bis weit in den Frühling hinein hatte das schlechte Wetter die Küste in missgünstigem Griff gehalten. Selbst im Frühsommer waren immer wieder ausgedehnte Tiefdruckgebiete über das Land gezogen. Während man in Süddeutschland schon lange unter Temperaturen von weit über dreißig Grad stöhnte und bis in die Nacht hinein auf den Terrassen, in Biergärten oder Straßencafés saß, hatte man sich im Land zwischen den Meeren wieder einmal fatalistisch mit dem Spruch zu trösten versucht, der Sommer im Norden sei doch auch nett, schließlich sei der Regen dann viel wärmer als im Winter. Jetzt erst, Anfang August, zeigte sich die Küste von ihrer schönsten Seite. Dafür aber mit ganzer Macht.
Das nutzten natürlich auch die Landwirte, wie die gewaltigen Mähdrescher und die Schlepper mit hochbordigen Anhängern bewiesen, die bereits zu dieser frühen Stunde geschäftig auf den Feldern unterwegs waren. Der Weizen stand vielerorts immer noch auf dem Halm. Zu feuchte Ähren und ein durchnässter, schlammiger Boden hatten dafür gesorgt, dass die Ernte in diesem Jahr erst spät beginnen konnte. Seit ein paar Tagen aber war sie in vollem Gang.
»I’m on my way«, sang Ed Sheeran wieder, und Helene schien es, als tanzten die weißen Schaumkronen auf dem Wasser der Ostsee in der Ferne in vollkommenem Rhythmus dazu.
›Glück ist nur ein Augenblick.‹ Das hatte ihr Großvater gesagt. Tatsächlich nur ein einziges Mal, doch Helene hatte diesen kleinen Satz im Gedächtnis behalten.
Der alte Fischer, in dessen Haus sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern aufgewachsen war, mochte keine großen Worte. Um die zwölf, dreizehn Jahre alt musste sie gewesen sein, als sie den stillen Mann gefragt hatte, ob er mit seinem Leben glücklich sei. Im Steuerhaus seines Kutters standen sie, der Alte und seine Enkelin, und der hochbetagte Einzylinder stampfte schwer im hölzernen Schiffsrumpf unter ihren Füßen, als das Boot auf der Schlei seinem Heimathafen Arnis entgegentuckerte. Ein paar Hundert Meter vor dem Anleger kamen sie an dem niedrigen weiß getünchten Haus vorbei, wo die Großmutter, klein und dick, im Garten am Ufer stand und zu ihnen herüberwinkte. Wie immer, wenn der Alte nach Hause kam.
Da kam es Helene in den Sinn, ihm diese Frage zu stellen: »Bist du glücklich, Opa?«
Er sah sie mit einem langen Blick an, nahm bedächtig die verrußte Pfeife aus dem Mund und lächelte. »Wieso fragst du das?«
»Ich weiß nicht, vielleicht weil … Na ja, es ist so schön hier. Ich meine … eigentlich alles, was du hast, was um dich herum ist. Das Haus, das Meer, das Boot … ach, und überhaupt.«
»Und die Oma natürlich«, ergänzte er lachend. »Die wollen wir doch nicht vergessen!« Dann wurde er plötzlich ernst, senkte seine Augen, wie er es immer tat, wenn er nachdachte, und nach einer Weile sagte er: »Weißt du, ein immer glückliches Leben – also glücklich von Anfang bis Ende, die ganze Zeit über nur glücklich –, das gibt es nicht, glaub ich. Hab jedenfalls noch nie davon gehört.« Er fasste den Gashebel neben dem Ruderrad und drosselte die Fahrt, als die Anlegestelle in Sicht kam. »Glück ist immer nur ein Augenblick.« Er hob den Kopf und sah dem Mädchen direkt in die Augen. »Und den muss man erst mal erkennen.« Schließlich, nach einem kurzen Zögern: »… wollen.«
Helene sah ihn noch vor sich, den knorrigen Fischer mit den schwieligen Händen – einen der Letzten seiner Zunft –, wie er da im Ruderhaus gestanden und sie angesehen hatte. Hörte seine tiefe Stimme, als redete er gerade in diesem Moment mit ihr.
So vertraut. So viele Jahre nach seinem Tod.
»I’m on my way«, rief sie laut, reckte vorwitzig die Nase hoch in den Sommerwind, lächelte und sog die Luft tief in ihre Lungen.
Hart stieg sie in die Bremsen, als das Ortsschild Flensburg an ihr vorüberflog. Verdammt, sie hatte gar nicht bemerkt, wie schnell sie fuhr. Das fehlte noch, dass sie hier geblitzt würde. Die feixenden Gesichter der lieben Kollegen, die gern an dieser Stelle auf der Lauer lagen, sah sie schon vor sich. Argwöhnisch suchte sie den Straßenrand ab, doch nirgends war eines der betont unauffälligen Autos geparkt, in dessen Heck man eine Radaranlage vermuten konnte – gut getarnt hinter einer dunklen Scheibe.
Der Zauber des Augenblicks war schlagartig vorbei. Den Blick auf dem Tacho, steuerte Helene den kleinen, aber stark motorisierten Wagen brav mit fünfzig in die Stadt hinein.
Ed Sheeran sang gerade Galway Girl, als das Anrufsignal aus der Freisprecheinrichtung gnadenlos seine Stimme verdrängte.
»Moin, Frau Christ«, meldete sich Nuri Önal, ihr frisch beförderter Mitarbeiter in der Mordkommission.
»Moin, Herr Kriminalkommissar!«
Önal lachte verlegen auf. »Ach, nun lassen Sie mal …«
»Ich freu mich eben immer noch. So pünktlich wie Sie ist bisher kaum jemand Kommissar geworden, soweit ich mich erinnere. Hört sich doch auch viel besser an als ›Kriminalassistent‹, oder?«
»Na ja, das stimmt schon. Ich freu mich natürlich auch. Und meine Eltern und die Oma sind immer noch ganz aus dem Häuschen.« Er lachte auf.
»Mit Recht, Nuri, mit Recht! Immerhin bedeutet das nicht nur eine höhere Besoldungsstufe, sondern auch, dass Ihre Probezeit beendet ist. Ihre Familie hat allen Grund, stolz auf Sie zu sein. Und froh auch, schließlich sind Sie jetzt Beamter auf Lebenszeit.«
Außer einem verhaltenen Räuspern kam nichts von Önal. Helene konnte sich bildlich vorstellen, wie der kaum mittelgroße, muskulöse junge Mann am Schreibtisch in ihrem gemeinsamen Büro in der Polizeidirektion saß und tapfer mit seiner Verlegenheit kämpfte. Wahrscheinlich war sein Gesicht wieder rot angelaufen, eine Körperreaktion, die er noch nicht gänzlich unter Kontrolle hatte.
»Was ist denn eigentlich der Grund Ihres Anrufes?«, kam sie ihm zu Hilfe. »Wie Sie vermutlich hören, bin ich bereits auf dem Weg zur Dienststelle.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie noch nicht allzu weit gefahren sind, weil …«
»Ich bin schon in Flensburg, kurz hinter dem Ortsschild.«
»Dann drehen Sie besser gleich um. Wir müssen nämlich nach Estoft. Gerade wurde ein Leichenfund gemeldet, irgendwo in der Feldmark hinter dem Dorf. Man wartet auf uns.«
»Aha«, sagte die Oberkommissarin, bremste ab und ließ den Wagen auf dem Seitenstreifen vor einer Bushaltestelle ausrollen. »Wer hat das denn gemeldet – und wann?«
»Der örtliche Polizeiposten. Vor zehn Minuten.«
»Irgendwelche weiteren Angaben? Um wen es sich handelt, zum Beispiel?«
»Nein, keine Erkenntnisse bisher. Der Ortspolizist sagte etwas von einem starken Geruch und …«
»Der Ortspolizist? Wer ist denn dort zuständig?«, hakte Helene nach. »Ach, ich weiß schon. Wenn ich mich nicht irre, gehört Estoft zum Revier von Hauptmeister Mommsen. Hat er …«
»Ja, der war gerade am Telefon«, gab Önal zurück. »Wie gesagt: Er vermutet, dass die Leiche schon länger dort liegt, weil sich bereits Möwen daran zu schaffen gemacht haben. Näher angeschaut hat er sich das Ganze aber nicht – wegen der Spuren, sagt er. Er hat alles abgesperrt und wartet auf uns.«
»Also weiß er nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt?«
»Doch, es ist eine männliche Leiche, hat er gesagt.« Önal hüstelte verlegen. »Habe ich das nicht erwähnt?«
»Nein, aber jetzt weiß ich’s ja.« Helene grinste in sich hinein. »Und er hat sich das Gesicht nicht angesehen? Asmus Mommsen kennt doch jeden dort an der Küste. Eigenartig, dass er nicht neugierig ist, wer in seinem Revier tot herumliegt, finden Sie nicht, Nuri?«
»Nun, die Leiche riecht wohl stark. Nach meinem Eindruck war dem Hauptmeister nicht ganz wohl, als er eben anrief.«
»Armer Asmus«, kommentierte Helene glucksend. »Auf seine alten Tage muss er sich noch mit so was herumschlagen.«
»Er hat übrigens ein Gewehr erwähnt, das neben dem Toten liegt.«
»Hm. Hat Mommsen die Leiche selbst gefunden?«
»Nein, nein, das waren wohl irgendwelche Kinder, die hier Ferien machen. Die haben es ihren Eltern erzählt, und die haben bei der Polizei angerufen.«
»Okay, dann sagen Sie mir bitte noch, wo genau der Dorfsheriff auf uns wartet.«
Das tat der junge Kommissar, während Helene den Wagen wendete und in die Richtung zurückfuhr, aus der sie gerade gekommen war.
»Ach ja, Nuri, bevor Sie auch aufbrechen, müssen Sie noch die Kriminaltechnik …«
»Ist schon geschehen«, fiel Önal ihr sofort ins Wort. »Oberkommissar Nissen kommt mit seinem Team direkt zum Fundort.«
»Natürlich haben Sie das bereits erledigt, sorry. Hätte ich mir denken können«, erwiderte Helene Christ, der der leicht pikierte Tonfall ihres Kollegen aufgefallen war. »Was ist mit dem Gerichtsmediziner?«
»Ich habe Dr.Asmussen noch zu Hause erreicht, er kommt direkt.«
Der forensische Pathologe arbeitete zwar im Institut für Rechtsmedizin der Kieler Universität, das auch für die Fälle im Bereich der Bezirkskriminalinspektion Flensburg zuständig war, wohnte aber auf einem Resthof in der Nähe von Flensburg. Er hatte angeboten, ihn zu Hause anzurufen, wenn seine Gegenwart an einem Tatort außerhalb der normalen Dienstzeiten erforderlich war.
»Sehr gut. Das klingt ja nach einem ungeklärten Todesfall, da können wir nicht auf ihn verzichten«, erwiderte Helene und gab Gas. »Na, dann wollen wir mal. Bis gleich!«
Kaum hatte sie die Verbindung unterbrochen, tönte die Liedzeile »Baby, I’m dancing in the dark« von der CD. Helene drückte auf Aus. Der Tanz, den Ed Sheeran da besang, war ein anderer als der, den sie vor sich hatte. In die Dunkelheit würde sie aber wahrscheinlich auch geraten. Wie meistens, wenn ein Fall so begann.
2
Der Schweiß lief Polizeihauptmeister Asmus Mommsen in den Hemdkragen. Er streifte seine Schirmmütze ab und fuhr sich mit einem Taschentuch von beeindruckender Größe über den kahlen Kopf und den Nacken.
Seit über einer Stunde stand der alte Dorfpolizist nun schon in der prallen Sonne auf dem staubigen Feldweg, der aus kaum mehr als zwei tiefen Traktorfurchen im ausgetrockneten Boden bestand, und bewachte die Absperrung. Hinter dem rot-weißen Flatterband, etwa zwanzig Meter entfernt, lag die Leiche. Aufgeregt kreisten Möwen darüber, wild kreischend. Immer wieder schossen sie in abenteuerlichen Flugmanövern knapp über den toten Körper, den Mommsen nach einigem Überlegen mit einer Decke aus dem Kofferraum seines Dienstwagens vor den gefräßigen Attacken geschützt hatte.
Hoffentlich würde man ihm keinen Strick daraus drehen. Schließlich hatte er die Auffindesituation verändert. Aber er hatte es einfach tun müssen. Unmöglich konnte er den gierigen Möwen auch nur eine Minute länger gestatten, ihr grausames Werk an den sterblichen Überresten des Mannes fortzusetzen, dessen Gehöft nur etwa drei Kilometer entfernt lag.
Hatte der üble Geruch Mommsen anfangs noch daran gehindert, sich den Toten genauer anzusehen, dessen Kopf zur anderen Seite gedreht war, so hatte er zwangsläufig näher herantreten müssen, um die Decke über den Körper zu breiten. Mit angehaltenem Atem war er vorsichtig um die Leiche herumgegangen, immer begleitet von den wütenden Möwen. Erst als er in die Hocke ging, hatte er das Gesicht erkennen können.
Enno Brodersen. Kein Zweifel.
Der kurze Blick hatte genügt. Das Hemd des Toten war rund um das Loch in der Brust durch und durch mit schwarz verkrustetem Blut getränkt, jedoch hatten die scharfen Schnäbel der Möwen die Wunde offenbar immer wieder aufgerissen. Vor allem den Kopf hatten die Vögel übel zugerichtet. Am schlimmsten waren die leeren Augenhöhlen.
Mommsen schauderte. Dieses Bild würde er so schnell nicht vergessen. Aber etwas anderes beschäftigte ihn noch mehr: Hätte er nach dem gestrigen Anruf der Ehefrau vielleicht doch die Kripo informieren sollen? Er hatte das Telefonat schon wieder vergessen gehabt – bis er in das Gesicht des Toten blickte. Elke Brodersen selbst war nicht sonderlich beunruhigt gewesen, hatte es durchaus für möglich gehalten, dass der Alte wieder mal eine seiner Sauftouren unternahm. Hatte Mommsen mit seiner Entscheidung, noch ein, zwei Tage zu warten, bevor man eine offizielle Vermisstenmeldung aufnahm, dennoch einen Fehler gemacht?
»Offensichtlich«, brummte der Polizist vor sich hin. Der Beweis dafür lag im Gras. Allerdings wäre eh nichts mehr zu retten gewesen, besänftigte er seine Selbstzweifel. Nach dem Geruch zu urteilen, war Enno Brodersen gestern Abend längst tot gewesen.
Mommsen wischte sich noch einmal angewidert mit dem inzwischen pitschnassen Tuch über das Gesicht und sah hinüber zu dem Körper unter der pietätlos bunt karierten Decke.
Es war die Leiche eines Mannes, den er seit Jahrzehnten gekannt hatte. Nicht gemocht, sicher nicht. Gab es überhaupt jemanden, der Enno Brodersen gemocht hatte? Komisch, dass ihm auf einmal diese Frage in den Sinn kam, wunderte sich der alte Dorfpolizist. Nun, Brodersens Familie wahrscheinlich. Obwohl …
»Ei, Herr Wachtmeister, häjern Sie mol! Wie loang misse mer denn do noch waade? Die Sunn verbrennt oam joh do de Wersching«, kam es in zünftigem hessischem Dialekt von hinten, wo Mommsen das Ehepaar, von dem er angerufen worden war, mitsamt dessen drei Kindern in angemessenem Abstand postiert hatte.
Der Dorfsheriff, mit Plattdeutsch aufgewachsen und neben Hochdeutsch keiner weiteren Fremdsprache mächtig, drehte sich irritiert zu der kleinen Gruppe um. »Wie bitte?«
»Mit Wersching moant er soi Kopp«, erläuterte die Ehefrau und wies vorwurfsvoll auf den knallroten Schädel ihres Gatten. Dann rang sie klagend die Hände. »Ei, warum misse aa die Kinner do e Leich finne?«
Da sah der Polizeihauptmeister erleichtert, dass ein kleiner weißer Wagen etwa hundert Meter entfernt anhielt. An der Abzweigung der ausgefahrenen Ackerfurchen von einem sandigen Feldweg, den man mit dem Pkw gerade noch befahren konnte, hatte auch er seinen Dienstwagen abgestellt. Eine groß gewachsene junge Frau mit sehr blonden Haaren stieg aus dem Auto und sah sich suchend um.
»Hierher!«, rief Mommsen laut und winkte. »Das ist Kriminaloberkommissarin Christ aus Flensburg«, teilte er der Urlauberfamilie mit und fügte mit hörbarem Stolz hinzu: »Ich habe schön öfter mit ihr zusammengearbeitet.«
Helene hob kurz einen Arm, kam im Laufschritt heran und begrüßte die kleine Gruppe mit einem Nicken und einem knappen »Moin!«.
»Einen Augenblick noch, ich bin gleich bei Ihnen«, sagte sie und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. »Danke, dass Sie so lange hier ausgehalten haben.« Sie ging hinüber zum Hauptmeister, der den Feldweg hinuntersah und dann erstaunt fragte: »Sind Sie denn allein hergekommen, Frau Christ?«
»Moin erst mal, Herr Mommsen«, erwiderte Helene und gab dem alten Polizisten die Hand. »Kommissar Önal hat mich angerufen, als ich schon unterwegs nach Flensburg war. Er müsste jeden Moment auftauchen. Und die Kollegen von der Spurensicherung ebenfalls.« Sie warf einen Blick hinter die Absperrung und runzelte die Stirn. »Lag die Decke schon auf der Leiche, als Sie …«
»Nein, nein«, beeilte sich der Hauptmeister zu erklären. »Die habe ich selbst drübergelegt. Wegen der Möwen … äh, weil … na, Sie können sich ja denken, was die Viecher mit dem Körper angestellt haben. Ich hoffe, dass das nicht …«
Helene nickte. »Völlig okay, Herr Mommsen.« Sie sah, dass die großen Vögel noch immer aufgeregt in wilden Manövern dicht über die bunt karierte Erhebung im Gras hinwegflogen.
»Und … äh, ich weiß nun auch, wer das ist«, murmelte der Dorfsheriff.
»Wie bitte? Sie konnten den Toten doch identifizieren?«
»Ja, als ich vorhin die Decke über ihn … Also, das ist Enno Brodersen, ein Bauer aus dem Dorf«, erklärte Mommsen und holte tief Luft. »Es gab da übrigens einen Anruf gestern Abend bei mir auf der Dienststelle. Von seiner Frau.«
»Von seiner …« Helene kniff die Augen zusammen. »Sie meinen, die Ehefrau des Toten hat gestern bei der Polizei angerufen?«
»Äh, ja. Sie hat gesagt, dass sie ihren Mann seit zwei oder drei Tagen nicht gesehen hat.« Nicht das erste Mal, dass so etwas vorgekommen sei, fuhr Mommsen fort. Jedenfalls hätte Elke Brodersen das behauptet. Ihr Mann habe stets getan, was er wolle, und niemanden jemals über seine Absichten informiert – im Gegenteil, er habe sehr unangenehm werden können, wenn jemand ihm ›auf die Nerven ging‹, wie er das auszudrücken pflegte. Und daher sei Mommsen sich mit der Ehefrau rasch einig geworden, dass es für die Aufnahme einer Vermisstenanzeige noch zu früh sei.
»Aha. Dann war Brodersen gestern also schon seit mindestens zwei Nächten nicht zu Hause«, sagte Helene nachdenklich. »Bitte erwähnen Sie dieses Telefonat in Ihrem Bericht für die Akte, Kollege Mommsen – Anrufzeitpunkt, was die Frau gesagt hat et cetera. So genau, wie Sie sich erinnern, ja?« Sie deutete auf die hessische Familie. »Und jetzt sagen Sie mir bitte noch etwas zu diesen Leuten.«
»Die machen Urlaub auf einem Ferienhof in der Nähe. Die Kinder sind vor dem Frühstück zum Spielen in die Feldmark raus, Schnitzeljagd oder so was Ähnliches.« Mommsen verzog das Gesicht. »Ich kann die nur schlecht verstehen. Jedenfalls haben sie dabei die Leiche gefunden. Dann ist der größere Junge wohl zu den Eltern gerannt. Die haben sich den Fundort angesehen und von hier aus mit dem Handy die 110 angerufen. Um halb sieben klingelte die Leitstelle bei mir durch und bat mich, herzufahren und mir die Sache einmal anzusehen. Im Anschluss habe ich dann sofort die Kripo …«
»Okay, danke. Kommissar Önal hat Ihren Anruf entgegengenommen, ich weiß.« Helene sah hinüber zu der Leiche. »Noch mal zu Brodersen – Sie kannten ihn also persönlich?«
»Klar.« Der Polizist schluckte. »Er war älter als ich, über siebzig. Hat hier schon gewohnt, als ich geboren wurde. Sein Hof liegt drüben am Ortsausgang, nicht allzu weit entfernt. Man soll ja nichts Schlechtes über die Toten sagen, aber er war kein sehr beliebter Mensch, soweit ich weiß. Hat ständig Streit im Dorf gehabt.«
»Ein schwieriger Zeitgenosse also.«
»Das ist höflich ausgedrückt«, bestätigte der Dorfpolizist.
»Na gut, falls hier tatsächlich ein Gewaltverbrechen vorliegt, werde ich mich wahrscheinlich noch näher mit seinem Charakter beschäftigen müssen. Aber das wissen wir ja bisher nicht.« Helene fiel plötzlich etwas ein. »Kommissar Önal hat ein Gewehr erwähnt.«
»Eine Jagdwaffe, ja. Sie liegt direkt rechts neben der Leiche. Brodersen war Jäger, das weiß ich.«
»Aha. Ich schaue mir gleich alles genau an.«
Mommsen zeigte zum Ende des Weges. »Sehen Sie mal, da kommen die Kollegen schon.«
Die Oberkommissarin wandte sich um und erkannte einen grauen Dienstpassat der Kripo Flensburg, aus dem gerade Nuri Önal stieg. Außerdem näherte sich von der Landstraße ein heller Kastenwagen – wahrscheinlich die Spurensicherung.
Helene sah den alten Polizeibeamten an. »Okay. Bevor die alle hier herumwuseln – der Rechtsmediziner ist auch schon unterwegs –, möchte ich Ihre Meinung hören. Sie haben schließlich in all den Jahren viel gesehen, Herr Mommsen, und Sie kannten den Toten. Können Sie sich vorstellen, dass er Selbstmord begangen hat?«
Der Dorfsheriff wiegte seinen kahlen Kopf hin und her. »Könnte sein. Es gibt Gerüchte im Ort. Der Hof soll in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Obwohl …« Er kratzte sich heftig die Glatze. »Das ist ja nichts Besonderes mehr. Welchem Bauern geht es schon gut in diesen Zeiten, wo sie für die Milch nicht mal genug bekommen, um ihre Kosten zu decken?«
»Finanzielle Probleme also«, sagte Helene und nickte. »Darum werden wir uns kümmern müssen.«
»Andererseits war das ein Schuss in die Brust, soweit ich gesehen habe – eigentlich sonderbar für Selbstmord mit einem Gewehr, oder? Auf jeden Fall liegt Brodersen nicht erst seit gestern hier, das steht fest. Grässlicher Geruch.«
Irritiert blickte Helene sich um, weil sie das immer lauter werdende Schimpfen in ihrem Rücken nicht länger ignorieren konnte.
»Häjern Sie mol, mer waade jetz nämäj länger!« Die Stimme des Familienvaters klang aufgebracht. »Sou kennese mid uns nedd umdabbe!«
»Entschuldigung, ich bin gleich bei Ihnen!«, rief Helene. »Wir reden nachher weiter«, sagte sie leise zu ihrem Kollegen und ging mit ihm zu der kleinen Gruppe hinüber. »Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Nur noch ein paar Fragen, dann fährt Herr Mommsen Sie zu Ihrer Ferienunterkunft zurück.«
Der Dorfsheriff verdrehte die Augen.
3
»Drei Tage, würde ich sagen – natürlich erst einmal nur grob geschätzt«, erklärte Dr.Asmussen, der Gerichtsmediziner. »Wenn ich ihn in Kiel auf dem Tisch habe, kann ich es genauer bestimmen.« Er überlegte kurz. »Heute haben wir Donnerstag, also können Sie davon ausgehen, dass der Tod am Montag eingetreten ist. Wahrscheinlich schon vormittags. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder vollständig gelöst. Bei diesen Temperaturen geht das schnell mit der Verwesung. Im Winter hätte er wesentlich länger hier liegen können und würde immer noch nicht derart muffeln.« Der schlaksige Mann, dem sein weißer Schutzanzug um die Knochen schlotterte, stand mit einem leichten Ächzen auf, nahm den Mundschutz ab und zog sich die Kapuze vom verschwitzten grauen Haar. »Wenn die Kollegen von der Spurensicherung fertig sind, lassen Sie die Leiche bitte sofort nach Kiel in die Rechtsmedizin bringen. Ich werde sie mir dann vornehmen.«
Helene Christ nickte. »Können Sie uns denn schon etwas sagen, Dr.Asmussen? Todesursache ist der Gewehrschuss, nehme ich an. Gibt es noch etwas Auffälliges?«
»Die Möwen haben ihn übel zugerichtet, wie Ihnen nicht entgangen sein wird … Aber nein, ich konnte keine anderen prämortalen Verletzungen feststellen – ich nehme an, darauf zielt Ihre Frage. Der tödliche Schuss kam aus nächster Nähe. Sie haben ja selbst gesehen, wie dicht an der Leiche die Patrone liegt.« Er wandte sich an Oberkommissar Nissen, den Leiter des Spurensicherungsteams, der zugehört hatte. »Ihre Leute können jetzt loslegen.«
Der Kollege nickte und winkte die drei Beamten in weißen Schutzanzügen heran, die bei ihrem Fahrzeug standen. »Zuerst wird die Geschosshülse vor den Füßen des Toten fotografiert und die Entfernung vermessen, damit wir die Kugel aufsammeln und uns genauer ansehen können. Und wenn ihr mit der Spurensicherung fertig seid, macht euch gleich auf die Suche nach dem Projektil, wie vorhin besprochen.«
»Gut, dann fahr ich jetzt nach Kiel«, erklärte der forensische Pathologe und begann, sich aus seinem Overall zu schälen.
»Was meinen Sie, Doktor?«, versuchte Helene es wider besseres Wissen. »Hat er sich selbst getötet oder …«
»Keine Ahnung«, kam es knapp von Asmussen. »Könnte ja auch ein Unfall gewesen sein.«
»Tatsächlich?«
»Eher unwahrscheinlich«, räumte der Mediziner ein, als er Helenes zweifelnden Blick auffing. »Aber vielleicht hat er mit dem Gewehr herumhantiert, als es schon entsichert war, oder er ist gestolpert. Ich würde nichts ausschließen. Habe schon Jagdunfälle gesehen, bei denen ich mich fragte, wie blöd man sich eigentlich anstellen kann.«
»Sie werden feststellen können, ob Alkohol im Spiel war.«
Asmussen nickte. »Das wäre eine Möglichkeit, ja. Jedenfalls ist die Kugel sauber in den Körper ein- und hinten wieder ausgetreten. Das Loch im Rücken ist deutlich größer, und es gibt Schmauchspuren auf der Brust.« Er knüllte den Plastikanzug zusammen, sah sich suchend um und drückte ihn dann nach kurzem Zögern Nuri Önal in die Hand, der neben seiner Chefin stand. »Den können Sie entsorgen, junger Mann, danke. Und tschüss!« Damit griff der Rechtsmediziner sich seinen Koffer und stapfte den staubigen Weg zu seinem Wagen hinunter.
»Wir reden gleich noch über die Unfalltheorie und die Suizidfrage, Helene«, sagte Oberkommissar Nissen und grinste.
»Wieso?«, hakte sie erstaunt nach. »Ist dir etwas aufgefallen, was dem Doktor entgangen ist?«
»Nö, aber der denkt eben medizinisch. Es hat was mit dem Gewehr zu tun. Ich zeig’s dir nachher, erst muss ich …«
Ein Spurensicherer, der etwa zwanzig Meter von der Leiche entfernt auf dem Boden kniete, rief: »Chef, kommen Sie doch bitte mal her!«
Helene folgte Nissen. »Was ist das denn?«, fragte sie, als sie das etwa drei Zentimeter große bunte Plastikfigürchen sah, auf das der Kollege zeigte. Es lag am Rande des Feldwegs im trockenen Sand.
»Micky Maus, wenn ich mich nicht irre«, sagte Nissen.
»Ja, und am Kopf ist eine kleine Öse aus Draht befestigt«, sagte der Spurensicherer. »Die wurde aber aufgebogen. Ein Schlüsselanhänger, wenn Sie mich fragen. Den hat wohl jemand hier verloren.«
»Okay, erst fotografieren, dann sichern und ab ins Labor damit. Daktyloskopie und DNA – das volle Programm, wenn ich bitten darf!«, verlangte Nissen. »Kann viel oder gar nichts bedeuten«, sagte er zu Helene.
Die holte ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe Hauptmeister Mommsen an und bitte ihn, die Urlauberkinder auf die Figur anzusprechen. Vielleicht hat eines von ihnen sie ja beim Spielen verloren.«
Der Fotograf, der in den letzten Minuten den Fundort und die Leiche von allen Seiten und aus unterschiedlichen Perspektiven abgelichtet hatte, machte Bilder von der Mickymaus und erklärte dann: »Ich bin fertig.« Damit stapfte er hinüber zum Einsatzwagen und begann, sich fluchend aus dem weißen Overall zu schälen.
»Aber nicht abhauen!«, rief Oberkommissar Nissen ihm zu. »Wenn wir das Projektil noch finden sollten, sind Sie wieder gefragt.«
»Wie wahrscheinlich ist das denn, Kay?«, fragte Helene.
»Was meinst du?«
»Na, dass ihr die Kugel findet.«
»Entweder wir haben recht schnell Glück oder gar nicht«, gab der Leiter des Spurensicherungsteams zurück und zeigte auf seine Kollegen, die in einiger Entfernung das Gelände absuchten. »Die Kugel ist förmlich durch den Mann hindurchgefahren. Kein Wunder bei dem Kaliber; und dann auch noch ein Schuss aus nächster Nähe. Die Wucht des Aufpralls hat ihn von den Beinen gerissen, und er ist auf den Rücken gefallen. Als er auf dem Boden auftraf, war er bereits tot, hat sich also nicht mehr bewegt, da bin ich sicher.« Nissen ging ein paar Schritte näher an den Leichnam heran und stellte sich vor dessen Füßen auf, die in derben Arbeitsschuhen steckten. Mit der rechten Hand wies er in gerader Linie über den Kopf des Toten ins Gelände, genau dorthin, wo seine Leute die Stämme eines kleinen Kiefernwäldchens absuchten. »In diese Richtung ist das Projektil geflogen, nachdem es aus dem Rücken wieder ausgetreten ist. Also müsste es dort zu finden sein – mit viel Glück. Falls die Kugel allerdings auf kein Hindernis getroffen ist, kann sie wer weiß wo im Sand stecken.«
Kommissar Önal hatte aufmerksam zugehört und fragte: »Kann ich jetzt die Kleidung des Toten durchsuchen?«
»Von mir aus«, knurrte Nissen.
»Und bringen Sie bitte auch die Waffe mit, Nuri«, sagte Helene.
»Aber Vorsicht, die müssen Sie erst sichern, bevor Sie sie in den Asservatenbeutel schieben!«, warnte Nissen.
Önal nickte. Sein Schutzanzug raschelte, als er hinüber zur Leiche ging. Dort kniete er sich hin und fuhr mit seinen Handschuhen in die Hosentaschen des Toten.
Helene wandte sich noch einmal an den Kriminaltechniker. »Das Gewehr nehmt ihr euch bitte so schnell wie möglich vor, Kay. Vielleicht helfen uns die Fingerabdrücke weiter.«
»Wenn welche drauf sind – also andere als die des Opfers.«
»Nicht sehr wahrscheinlich, oder?«
»Nee, der Täter wird Maßnahmen getroffen haben, um keine zu hinterlassen.«
»Verstehe ich dich richtig: Du bist dir sicher, dass der Mann sich nicht selbst erschossen hat?«
»Na ja, was heißt schon ›sicher‹?« Nissen zog sich die Kapuze vom Kopf. »Scheißhitze, und dann noch in diesem Kittel.« Er warf einen abschätzigen Blick auf Nuri Önal, der mit dem Jagdgewehr in einem durchsichtigen Plastiksack und mit einem kleineren Asservatenbeutel in den Händen herankam. »Ich überlege die ganze Zeit, woher ich den Typen kenne.«
»Den ›Typen‹? Was ist das denn für ein sonderbarer Ausdruck?«
Nissen grinste. »Warte, jetzt erinnere ich mich: der junge Hilfspolizist aus Anatolien. Ölhaar oder so ähnlich.«
»Önal heißt er, ist inzwischen Kriminalkommissar und übrigens in Husum geboren!«, bellte Helene den Kollegen wütend an.
»Oha, schon Kommissar – das ging ja schnell«, sagte Nissen ungerührt. »Der kam doch erst im letzten Jahr von der Akademie, oder? Na ja, der Ratschluss der Personalführung ist in diesen Zeiten unergründlicher denn je …«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Nuri Önal, der den letzten Teil des Wortwechsels mitbekommen hatte. Vor Aufregung bebte seine Stimme. »Haben Sie etwas gegen mich, Herr … Oberkommissar?«
Helene legte dem jungen Mann sanft eine Hand auf den Arm und sagte gepresst: »Der ›Herr Oberkommissar‹ gibt gern das Arschloch, Nuri. Nehmen Sie ihn nicht ernst. Macht niemand bei uns. Außer, wenn er etwas zu seinem Fachgebiet von sich gibt.« Mit zuckersüßer Stimme wandte sie sich an Nissen, der sie sprachlos anstarrte. »Nicht wahr, Kay, als Kriminaltechniker bist du ziemlich gut, das weiß jeder. Aber sonst …« Sie ließ die Worte einen Augenblick in der Luft hängen. »Du wolltest gerade etwas zum Thema eines möglichen Suizids sagen. Also los, tu dir keinen Zwang an.«
Vielleicht waren plötzlich noch ein paar Falten mehr im zerknitterten Gesicht des Kriminaltechnikers erschienen, doch er bekam sich schnell in den Griff. Ohne erkennbare Regung zeigte er auf das Gewehr und sagte neutral: »Das ist eine halbautomatische Langwaffe. Jäger benutzen solche Büchsen zum Beispiel für Rehe oder Wildschweine. Kaliber .308Winchester, soweit ich sehe, und …«
»Was bedeutet das?«, unterbrach ihn Helene.
»7,62x51mm – gängige Munition für die Jagd, aber auch in der gesamten NATO. Sehr hohe Durchschlagskraft. Ins Magazin passen drei Patronen, mehr sind gesetzlich nicht erlaubt. Wir werden nachher sehen, wie viele noch drin sind.«
»Und was soll uns das alles sagen?«, hakte Helene nach.