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Eine neue, einzigartige Perspektive auf die deutsche Geschichte – der Weg der Deutschen von 1942 bis heute, vom Volk der Täter zum anerkannten Partner in der Welt. Erstmals erzählt der renommierte Historiker Frank Trentmann die Geschichte Deutschlands der letzten 80 Jahre aus dem Blickwinkel der Moral. Wie kam es dazu, dass die Deutschen nach Shoah und Vernichtungskrieg im Jahr der »Willkommenskultur« 2015 als moralisch geläutert galten? Und sind sie das wirklich? Mit der Schlacht bei Stalingrad im Winter 1942/43 änderte sich die Perspektive der deutschen Bevölkerung auf den Krieg: Fragen von Schuld und Verantwortung kamen auf, Ausgangspunkt für einen Aufbruch des Gewissens. Von der »Entnazifizierung« über Wirtschaftswunder und 68er bis zur Umweltbewegung, von der Erinnerungspolitik bis zu Migration und Asyl, von der Friedensbewegung bis zum Krieg in der Ukraine führt Frank Trentmann die Vielfalt von Haltungen, Debatten und Handeln vor Augen. Dabei geht es um die Bundesrepublik genauso wie um die DDR und das wiedervereinte Deutschland. Wie »lernten« die Deutschen im Westen Demokratie? Wie gingen sie in der DDR mit dem Widerspruch zwischen dem Versprechen einer neuen Gesellschaft und der Realität der Diktatur um? Wie wurde in beiden Ländern über Krieg und Frieden debattiert, über Arbeit und Kindererziehung, über Pflichterfüllung gegenüber der Nation, über die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion oder über Heimat? Es geht um die (nicht nur finanziellen) Kosten der Wiedervereinigung in Ost und West, um die Ölkrise von 1973 und die aktuelle Abhängigkeit von russischem Gas, um den jüngsten Klimaaktivismus und um die wachsende soziale Ungleichheit. Immer wieder erzählt Frank Trentmann von den Menschen selbst, von ihren Einstellungen, Ängsten und Wünschen, von Liebe und Hass, Ehrgeiz und Mitgefühl. Dafür hat er eine Vielzahl an Dokumenten ausgewertet, Schülerzeitungen und Flugblätter, Briefe und Tagebücher, Predigten und Gemeindebriefe. Er lässt zahllose Menschen zu Wort kommen, deutsche Soldaten und Überlebende der Shoah, Vertriebene und Jugendliche, die in der Kriegsgräberfürsorge engagiert waren, Ladenbesitzer in der DDR, die über den Mangel an Waren klagten, Frauen, die um ihr Recht auf Erwerbsarbeit kämpften, Migrant*innen und Geflüchtete, Umweltaktivist*innen und Bergleute, Konservative und Liberale. Ein lebendiges Porträt, das zeigt, dass die Deutschen nicht einfach »gut« wurden, und das viele überraschende Details und Erkenntnisse bietet. Frank Trentmanns »Aufbruch des Gewissens« ist das wichtigste Buch zur deutschen Geschichte seit Heinrich August Winklers »Der lange Weg nach Westen«. (Mit 42 teils farbigen Abbildungen.) »Herausragend – Frank Trentmanns groß angelegte, nuancierte Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten der Deutschen und der moralischen Herausforderungen seit der NS-Zeit ist ein Meisterwerk.« Ian Kershaw »Ein fesselndes Buch, das uns ins Zentrum des deutschen Selbstverständnisses führt und dabei elegant Politik, Wirtschaft, Kultur und individuelle Haltungen der Menschen zu einem Gesamtbild fügt.« Christopher Clark »Ein großes Panorama, eine Geschichte Deutschlands nach dem Krieg, die gerade recht kommt in einer krisenhaften Zeit.« Benjamin Ziemann, Professor für Neuere deutsche Geschichte, University of Sheffield »Brillant und fesselnd zeigt das Buch, was die Deutschen seit 1942 erreicht haben – und wo sie gescheitert sind.« Suzanne L. Marchand, Boyd Professorin für Europäische Geschichte
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Seitenzahl: 1734
Frank Trentmann
Eine Moralgeschichte der Deutschen von 1942 bis heute
Wie ist es den Deutschen gelungen, vom Volk der Massenmörder zu einem angesehenen, einflussreichen Mitglied der Weltgemeinschaft zu werden? Frank Trentmann erzählt die Geschichte der Deutschen in beiden deutschen Staaten und dem wiedervereinigten Deutschland als moralisches Ringen um den richtigen Weg: von der Niederlage in Stalingrad bis zur Unterstützung der Ukraine 2022.
Dabei schildert er die Debatten in der deutschen Gesellschaft über mehrere Generationen, die Haltungen und Handlungen der Menschen: Was sahen sie als moralisch richtig an? Wohin ging ihr Mitgefühl, was bewegte sie?
Auf Basis zahlreicher historischer Quellen lässt Frank Trentmann die Vielfalt der Positionen sichtbar werden: Es gab Stimmen für die Wiederbewaffnung genauso wie die Friedensbewegung. Es gab die Umweltbewegung, aber auch den Wunsch nach Wachstum und Konsum. Die Erinnerung an den Holocaust wird wachgehalten, doch es gab und gibt weiterhin Antisemitismus. 2015 gab es die Willkommenskultur, doch davor und danach immer wieder auch rassistische Anschläge.
Deutlich wird: Es gibt nicht »die guten Deutschen« – doch die Deutschen haben sich gewandelt. Wie das geschah, zeigt dieses Buch.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Frank Trentmann, geboren 1965, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London und an der Universität von Helsinki. Zuvor war er Assistant Professor an der Princeton University. Sein Studium absolvierte er an der Universität Hamburg, der London School of Economics und in Harvard. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den Humboldt-Preis für Forschung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Sein Buch »Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute« wurde 2018 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Im Jahr 2023 erhielt er den Bochumer Historikerpreis.
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[Widmung]
[Motto]
Vorwort und Dank
Einführung
TEIL I Der Krieg der Deutschen und die Folgen
Kapitel 1 Parzival im Krieg
Kapitel 2 Lohn der Sünde
Stalingrad: Opfer wofür?
Gomorrha: Bestraft wofür?
Ein Gefühl der Mitschuld
Das geteilte Volk
Deutsche Juden und andere Deutsche
Scham, Mitgefühl, Gleichgültigkeit, Furcht
Moral, hart und rein
Grausame Entscheidungen
Das Ende
Kapitel 3 Die Mörder sind unter uns
Die moralische Wende
Ein Land der Lager
Schuld und Scham
Dämonische Kräfte
Geteilte Kirchen
Nach innen gewandte Schuld
Vor Gericht
Von der Entnazifizierung zur Amnestie
Zunehmende Straflosigkeit
»Fort mit der Nazi-Justiz«
Gerechtigkeit und Kompromiss
Kapitel 4 Zögernde Zugeständnisse
Wiedergutmachung
Opferpolitik
Erinnerung neu gestaltet
Grenzen der Wiedergutmachung
Entschädigung zu deutschen Bedingungen
Jüdischsein in Deutschland
Beharrlicher Antisemitismus
Versöhnung und ihre Grenzen
Sühne
TEIL II Ein Volk, zwei Staaten
Kapitel 5 Aufbau der Demokratie
Zur Demokratie befähigen
Das Patriarchat und seine Grenzen
Die Grenzen der freiheitlichen Gesinnung
Konflikte mit dem Staat
Terror in Rot und Braun
Körperpolitik
Basisdemokratie
Werte im Wandel
Neue Horizonte
Globales Gewissen
Bürger zweiter Klasse
Demokratie mit Behinderung
Kapitel 6 Der neue sozialistische Mensch:
Moralität und Materialismus
Ankunft im Sozialismus
Überwachung und Repression
Kollektiv und Zwang
Das ist so ungerecht!
Der Traum vom guten Leben
Kapitel 7 Heimatsuche
Vertreibung und Flucht
»Merkwürdige und fremde Elemente«
Helfende Hände
Solidarität des Elends
Und tschüss, DDR
Neue Heimat
Politik der Nostalgie
Liebe, Arbeit und Kaninchen
Loslassen
Kapitel 8 Krieg und Frieden
Pflichterfüllung bis zum Tod
Heimkehr
Umstrittene Trauer
Grabenkämpfe in den Kasernen
Zwischen Disziplin und Demokratie
Reaktionäre Tendenzen
Die roten Preußen
Schlüssel zur Hölle
Gewissensprüfung
»Lieber aktiv als radioaktiv«
Verantwortungsethik
Schwerter zu Pflugscharen
Die Soldaten mit dem Spaten
Einspruch!
»Frieden, Ausgeglichenheit und Innigkeit«
»Soldaten sind Mörder«
Kapitel 9 Fremde Heimat:
»Deutschland ist kein Einwanderungsland«
»Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen«
Miteinander und nebeneinander
Rein oder raus
»Deutschland, bittere Heimat«
Sozialistische Leibeigene
Sozialismus, Rassismus
Ein problematischer Zufluchtsort
Schwankendes Mitgefühl
Das Boot ist voll
TEIL III Nach der Mauer
Kapitel 10 Vereint und doch entzweit
Die friedliche Revolution
Wir sind das ein Volk
Keine Arbeit, keine Liebe, keine Heimat
Vergangenheitsbewältigung – zweite Runde
Erfindung eines besseren Gestern
Baustelle
Wer ist »das Volk«?
Kapitel 11 In der weiten Welt
Der Ruf des Ostens
Tough Love – liebevolle Strenge
»Wir schaffen das«
Anhaltende Gewalt
Populismus nach deutscher Art
TEIL IV Das Bestreben, gut zu sein
Kapitel 12 Geld spielt eine Rolle
Das Evangelium der Sparsamkeit
Familienwerte
Spar dich reich!
Konsum mit schlechtem Gewissen
Krösus und Habenichts
Schuldenberg
Eine Nation von Erben
Bekommen, was man verdient
Neue Armut
Recht und Strafe
Kapitel 13 Die sorgende Gesellschaft
Subsidium (lat.), Nomen: Hilfe, Stütze, Beistand
Mehr Arbeit für Mutter
Fürsorge und Vernachlässigung in der DDR
»Eine ruhige Hand und ein gutes Herz«
Ein Land von Freiwilligen
Sorgenvolle Zukunft
Kapitel 14 Mutter Natur
(West-)Deutschland ergrünt
Kernkraft: Von »Ja bitte« zu »Nein danke!«
Der deutsche Wald
Dunkler Himmel über Ostdeutschland
Die Lichter dürfen nicht ausgehen
Energiewende
Emissionen ohne Ende
Mitgeschöpfe
Zukunft als bessere Version der Gegenwart
Nachwort Wohin steuert Deutschland?
Verzeichnis der Archive
Bildnachweise
Register
Bildteil
Für meine Mutter
»Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt.«
Friedrich Schiller, 1789
Ich begann mit diesem Buch im Herbst 2015, kurz nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutschen Grenzen für Hunderttausende von Flüchtlingen geöffnet hatte. Zum Abschluss brachte ich es im Herbst 2022, neun Monate nach Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine, der Bundeskanzler Olaf Scholz dazu veranlasste, eine »Zeitenwende« zu verkünden. In meinem Buch setze ich mich jedoch mit einer Frage auseinander, die sich bereits seit Jahrzehnten stellt: Was bedeutet es, nach Hitler Deutscher zu sein? Es ist eine unausweichliche Frage, aber sie gewinnt besondere Bedeutung, wenn man im Ausland lebt. Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen, bevor ich 1986 das Land verließ. Zunächst zog ich nach England, um dort zu studieren, und dann in die Vereinigten Staaten, wo ich einen Doktortitel erwarb und zu lehren begann. Seit 2000 lebe ich wieder in London, abgesehen von gelegentlichen Aufenthalten in anderen Ländern. Obwohl ich immer noch eine enge Beziehung zu meinem Heimatland pflege und es regelmäßig besuche, habe ich viele tiefgreifende Veränderungen vor allem von außen beobachtet: vom Fall der Berliner Mauer bis hin zu den Auseinandersetzungen um die heutige Stellung Deutschlands in der Welt. Das Leben als Emigrant ist nicht einfach, auch wenn es freiwillig ist, aber es hat einen Vorteil: Man lernt, zwischen der Innen- und der Außensicht zu wechseln. Natürlich steht man dem Land, in dem man geboren wurde, wohlwollend gegenüber, gleichzeitig hat man aber den nötigen Abstand, um es kritisch zu betrachten. Was in der Heimat selbstverständlich und normal wirkt, erscheint im Ausland ungewöhnlich und manchmal sogar fremd. Das Leben in einer fremden Kultur – mit einer amerikanischen Frau und zwei Kindern, die zusammen acht Pässe haben – war eine hervorragende Schulung in Sachen interkultureller Sensibilität.
Ich habe das Buch auf Englisch geschrieben. Es erscheint bei Verlagen in Großbritannien, den USA sowie anderen Ländern, die Deutschland oft nicht einschätzen können und manchmal Angst vor diesem Land haben. Sie wissen vor allem von der Zeit des Nationalsozialismus. Das Bewusstsein für den Holocaust wachzuhalten ist so wichtig wie eh und je. Aber das sollte nicht zur Folge haben, dass man die spätere Entwicklung ignoriert. Es ist bedenklich und erschreckend, wie wenig über die Deutschen nach Hitler bekannt ist, sowohl in den Ländern der einstigen Alliierten, deren Sieg über Nazideutschland einen hohen Blutzoll forderte, als auch in den Gesellschaften, die von Hitlers Regime geplündert und geschunden wurden und die heute Deutschlands Nachbarn in der Europäischen Union sind. Auch die Opfer verdienen eine umfassendere historische Darstellung. Das vorliegende Buch versucht, einige dieser Lücken zu schließen, Stereotypen in Frage zu stellen und die Leser dazu anzuregen, sich eingehender mit der Materie zu befassen.
Ich habe das Buch aber ebenso für die Deutschen selbst geschrieben. Gewiss sind viele mit den wichtigsten Ereignissen ihrer eigenen Geschichte vertraut. Doch ich hoffe, der besondere Blickwinkel, den das Buch einnimmt, lässt sie Teile dieser Geschichte mit anderen Augen sehen. Die Bundesrepublik hat in den vergangenen achtzig Jahren viele Herausforderungen gemeistert, aber es ist zu bequem, dies als Erfolgsgeschichte zu erzählen, insbesondere heute, wo das Land versucht, sich neu zu orientieren. Es ist an der Zeit, einen kritischeren Blick auf die jüngste Vergangenheit zu werfen, und mit kritischer meine ich differenzierter. Mein Ziel ist es, zu verstehen und zu erklären, nicht zu urteilen.
Diese neue Geschichte hätte ich nicht schreiben können ohne die Unterstützung vieler Personen und Institutionen. Mein erster Dank gilt der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für die Verleihung ihres Forschungspreises, der mir einen längeren Aufenthalt an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Konstanz ermöglichte, sowie den beiden Hochschulen für ihre großzügige Gastfreundschaft. Ich danke ferner den vielen Archivaren, die ihr Wissen und ihre Sammlungen mit mir geteilt haben. Als ich dieses Projekt plante, hatte ich das Glück, Rat und Ermutigung von zwei großen Historikern zu erhalten: Ian Kershaw und Axel Schildt. Es ist sehr bedauerlich, dass Letzterer das Endergebnis nicht mehr miterleben konnte. Äußerst dankbar bin ich einer Reihe von Wissenschaftlern, deren Arbeiten mich inspiriert haben und die freundlicherweise die Entwürfe einzelner Kapitel kommentierten: Paul Betts, Frank Biess, Marcus Böick, David Feldman, Constantin Goschler, Rüdiger Graf, Christina von Hodenberg, Maren Möhring, Alexander Nützenadel, Till van Rahden, Laura Rischbieter und Felix Römer. Benjamin Ziemann, der es selbstlos auf sich nahm, das gesamte Manuskript zu lesen, gab mir wichtige Impulse. Eine Reihe von Seminaren und Konferenzen bot mir die Möglichkeit, Ideen zu diskutieren, unter anderem an der Humboldt-Universität, in Konstanz/Reichenau, London, Paris, Helsinki, am California Institute of Technology sowie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle«. Alle Beteiligten halfen mir, dieses Buch besser zu machen. Die Zeitgeschichte genießt in Deutschland einen hohen Stellenwert, und wie aus den Anmerkungen ersichtlich wird, bin ich den Arbeiten vieler jüngerer und älterer Wissenschaftler zu Dank verpflichtet. Bibliotheken in Berlin, die Forschungsstelle für Zeitgeschichte sowie das Hamburger Institut für Sozialforschung und das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) versorgten mich bei zahlreichen Besuchen sowohl mit obskurer als auch neuester Literatur. Mein Dank gilt ferner den (heutigen und ehemaligen) Mitarbeitern des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). In London ist das Deutsche Historische Institut nach wie vor eine wichtige Oase der Toleranz und des Austauschs, und ohne seine hervorragende und hilfreiche Bibliothek wäre ich nicht in der Lage gewesen, diese Arbeit abzuschließen. In mehreren Arbeitsphasen hatte ich das Glück, findige und freundliche Assistenten an meiner Seite zu wissen, die verstreutes Material aufspürten und komplexe Daten sammelten: Heather Chappells, Riitta Matilainen, Rasmus Randig und Jasper Stange.
Viele andere Kollegen und Personen standen mir mit Rat und Tat zur Seite, darunter: Günther Bachmann, Patrick Bernhard, Ute Frevert, Gerhard Haupt, Ulrich Herbert, Säde Hormio, Ilja Kavonius, Volker Nowosadtko, Helge Pösche, Martin Sabrow, Andreas Schönfelder, Gunter Scholz, Bernd Schrage, Elke Seefried, Bärbel Spengler, Nicholas Stargardt, Agnes Stieda und Familie, die Familie Taghizadeh, Malte Thießen, Dieter Thomä und Klaus Töpfer. Die historische Abteilung am Birkbeck College der Universität London ist und bleibt ein seltener Hort der Kollegialität und der geistigen Anregung. Ein herzliches kiitos auch an alle Mitarbeiter des Center for Consumer Society Research an der Universität Helsinki für die Unterstützung meiner Streifzüge durch die Welt der Moral. Ich danke dem Arts and Humanities Research Council (UK) für die Fördermittel zur Erforschung der »Material Cultures of Energy«, das sich als segensreich erwies, als es zu einer erneuten Energiekrise kam, was mir die Arbeit am letzten Kapitel erleichterte. Mein Agent David Godwin ermutigte mich, »die Deutschen« in Angriff zu nehmen. Zudem hatte ich das Glück, dass mich Stuart Proffitt bei Allen Lane/Penguin und Jonathan Segal bei Knopf von Anfang bis Ende mit ihrer Erfahrung und Geduld unterstützten. Nina Sillem gab dem Buch seine deutsche Heimat beim S. Fischer Verlag, wo Tanja Hommen es unter ihre fachkundigen Fittiche nahm. Ein kollektives Dankeschön an Peter Palm für die hervorragenden Graphiken und an die Übersetzer für ihr sprachliches Feingefühl über einen Zeitraum von achtzig Jahren, in dem sich die deutsche Sprache selbst wandelte: Hennig Dedekind, Heide Lutosch, Sabine Reinhardus, Franka Reinhart und Karin Schuler. Jede Seite profitierte zudem vom enormen Sachverstand der Lektoren Heiko Arntz und Ulrich Wank. Die gemeinsame Arbeit an diesem Buch war gleichermaßen »an honour and a pleasure«, wie es auf der Insel so treffend heißt.
Zusätzlich zu ihren Mühen bei der Zivilisierung eines Deutschen mussten meine Frau und meine Kinder die letzten Jahre mit dem deutschen Volk in den Jahrzehnten nach Hitler verbringen. Wie bei früheren Büchern reichen Worte nicht aus, um meiner Frau, Elizabeth Ruddick, für ihre Unterstützung, ihre Intelligenz und ihre Sorgfalt bei diesem Projekt zu danken. Sie hat mir nicht nur geholfen, bestimmte Argumente zu verdeutlichen, sondern auch, den Text zu glätten. Kein Autor (oder Ehemann) kann sich mehr erhoffen. Dieses Buch ist jedoch dem Menschen gewidmet, der von Beginn an für mich da war: meiner Mutter.
London
Januar 2023
Im Jahr 1945 lag Deutschland in Trümmern, sowohl moralisch als auch materiell. Die Deutschen hatten den grausamsten Krieg der Geschichte geführt und waren für Völkermord und Massenmord verantwortlich. Siebzig Jahre später hieß dasselbe Land fast eine Million Flüchtlinge willkommen. Für wohlgesonnene Beobachter war Deutschland damit 2015 zur moralischen Stimme Europas geworden. Andere hingegen sahen darin den Ausdruck eines moralischen Imperialismus: Deutschland war so sehr darauf bedacht, Gutes zu tun, dass es die Interessen von Fremden über seine eigenen stellte. Mit dem erneuten Einzug einer rechtsextremen Partei in ein deutsches Parlament 2017 kamen alte Befürchtungen wieder auf, dass sich die Deutschen im Grunde nie geändert hätten.
Im Februar 2022 überfiel Wladimir Putin die Ukraine, und die Sorge kehrte sich um: Vielleicht hatten sich die Deutschen zu sehr geändert. Zum ersten Mal seit 1945 gab es wieder einen Eroberungskrieg in Europa. Das stellte die Doppelstrategie in Frage, mit der die Bundesrepublik stark geworden war: weltweiter Export und militärische Zurückhaltung. Viele Deutsche waren zu der Überzeugung gelangt, so lange sie sich selbst friedlich zivilisierten, bliebe Europa ein Krieg erspart. Der russische Angriff auf die Ukraine ließ diese Annahme platzen. Am 27. Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz eine »Zeitenwende« und versprach 100 Milliarden Euro für die ausgedünnte Bundeswehr.[1] Welche Art von Unterstützung das Land der Ukraine gewähren sollte, blieb jedoch umstritten. Im Mai verwies eine Gruppe bekannter Intellektueller und Kunstschaffender in einem Brief an den Kanzler auf die besondere »historische Verantwortung« ihres Landes, die es verlange, sich dem Ruf nach schweren Waffen zu widersetzen.[2] Da sie die blutige Vergangenheit ihres Landes aufgearbeitet hatten, fühlten sich manche in besonderer Weise berufen, anderen moralische Lektionen zu erteilen, sogar den Ukrainern, die Opfer von Nazideutschland gewesen waren. Bis zum Ende des Sommers schickte Deutschland zehn Panzerhaubitzen, aber vor allem Geld, Hilfsgüter und Helme.[3] Erst auf zunehmenden Druck seiner Verbündeten erklärte sich Deutschland im Januar 2023 bereit, im Rahmen eines gemeinsamen NATO-Engagements auch Kampfpanzer zu schicken. Die Invasion führte vor Augen, wie sehr sich das Land in eine gefährliche Abhängigkeit von autoritären Regimen begeben hatte, indem es Gas, Öl und Kohle aus Russland bezog und mit China immer intensiveren Handel trieb.
Die alles überragende Frage der deutschen Geschichte lautet, wie ein Land von »Dichtern und Denkern« den Holocaust hervorbringen konnte. Studien über den deutschen Weg in die Moderne, das Scheitern der Weimarer Republik, Hitlers Aufstieg zur Macht, die Funktionsweise des NS-Regimes und den Weg zur sogenannten »Endlösung« füllen heute ganze Bibliotheken. Doch es stellt sich ebenso die Frage: Wie überwand ein Volk Totalitarismus, Eroberungskriege und Völkermord? Und wie ging der Weg danach weiter? Dieses Buch begleitet die Deutschen vom Zweiten Weltkrieg über die Teilung ihres Landes und die Wiedervereinigung 1990 bis in die Gegenwart und geht dabei zahlreichen moralischen Herausforderungen und Widersprüchen auf den Grund. Dieser Prozess wurde durch den Krieg und seine Nachwirkungen in Gang gesetzt, ging aber wesentlich weiter und bahnte sich seinen Weg in praktisch sämtliche Lebensbereiche, bis schließlich Familie, Arbeit, Außen- oder Umweltpolitik in Begriffen von richtig und falsch definiert waren. Es ist eine Geschichte von Konflikten um Schuld, Scham und Wiedergutmachung, um Wiederbewaffnung und Pazifismus, um Toleranz und Rassismus, um Rechte und Pflichten, um Gerechtigkeit und Ungleichheit, um materiellen Komfort und den Schutz der Natur.
Mein Buch beginnt mit dieser Geschichte nicht am Ende des Kriegs, sondern in der Mitte, im Winter 1942/43. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten am 8. Mai 1945 bedeutete das formale Kriegsende in Europa. In vielerlei Hinsicht war es jedoch nicht die »Stunde null«, wie sie schon bald genannt wurde. Herzen und Köpfe konnten nicht einfach abgelegt werden wie Waffen und Uniformen. Die Menschen nahmen ihre Kriegserfahrungen mit in die Zeit des Friedens. Indem wir 1942 beginnen, sehen wir die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« an einem kritischen Punkt, nämlich in dem Jahr, als Deutschland zur Ermordung der Juden von Gewehrkugeln auf Gaskammern umstellte und der Zweite Weltkrieg seine entscheidende Wende nahm.
Die Macht der Nationalsozialisten war gewaltig, weil sie sowohl mit Zwang als auch mit Zustimmung herrschten.[4] Sie genossen die breite Unterstützung der Mittelschicht und von Teilen der Arbeiterklasse sowie der alten Eliten und des Großkapitals. »Feinde« wurden durch Gestapo und SS terrorisiert. Bis 1939 schlossen sich die meisten »arischen« Deutschen wenigstens einer der NS-Organisationen an. Ordnung, Disziplin und die Wiederherstellung nationaler Ehre und Stärke waren populäre Ideale, ebenso wie der Ausschluss »rassischer«, politischer und sozialer »Feinde« aus der »Volksgemeinschaft«. Wenn auch nicht alle Deutschen den Ausbruch eines neuen Kriegs begrüßten, so hielten ihn doch fast alle für notwendig und gerecht. Gleichwohl begannen SS-Verbände bereits mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939, Juden und Kriegsgefangene zu exekutieren. Der Überfall auf die Sowjetunion (»Unternehmen Barbarossa«) am 22. Juni 1941 war als Vernichtungskrieg angelegt. Im September desselben Jahres begann die Deportation aller im Reich verbliebenen Juden. Hatten Gaskammern bis dahin vorwiegend zur Ermordung behinderter Menschen innerhalb Deutschlands gedient, wurde diese Tötungsmaschinerie nun ausgeweitet. Im besetzten Polen richteten die Nationalsozialisten Vernichtungslager ein, in denen Juden aus ganz Europa bei ihrer Ankunft ermordet wurden. Chełmno, das erste dieser Vernichtungslager, wurde im Dezember 1941 in Betrieb genommen. Belzec, Sobibor, Treblinka und Auschwitz, das größte, sollten bald folgen. Hinter den 200000 Deutschen, die zu Tätern wurden, stand die Wehrmacht, die häufig Beihilfe zum Massenmord leistete, und hinter ihr wiederum stand eine Bevölkerung, die das Regime mit überwältigender Mehrheit unterstützte. Für Millionen Deutsche war das Dritte Reich also nicht das Joch, unter das sie sich beugen mussten, wie viele nach 1945 gerne behaupteten: Sie waren ein Teil davon und mussten sich neu definieren, um sich wieder als »gut« empfinden zu können.
Als sich das Kriegsglück 1942 drehte, veranlasste dies einen Teil der Deutschen erstmals zum Umdenken. Die Städte im Reich waren zunehmend dem alliierten Bombenhagel ausgesetzt, während an der Ostfront die deutschen Kriegsanstrengungen zum Stillstand kamen und mit der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 endeten. Viele Eltern begannen sich zu fragen, wofür ihre Söhne starben. Geschichten über Gräueltaten der Nazis gewannen eine neue Bedeutung, da das Gefühl der Verletzlichkeit die Angst davor weckte, zur Verantwortung gezogen zu werden. Heute wissen wir, dass die Flächenbombardements militärische Ziele verfolgten. Damals glaubten jedoch viele Deutsche, die alliierten Bombenangriffe stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit der Judenverfolgung, was ein völlig anderes Denken über Recht und Unrecht auslöste. Waren die Bombenangriffe eine Vergeltung für die Deportationen ihrer jüdischen Nachbarn, ein Zeichen göttlichen Zorns oder umgekehrt ein Beweis dafür, dass die Juden die Vernichtung des deutschen Volkes planten, und damit eine weitere Rechtfertigung für ihre Ausrottung? Solche Gewissenserforschung reichte nicht aus, um das NS-Regime zu stürzen – dazu brauchte es alliierte Panzer und Soldaten –, aber es zeigten sich erste Risse in der »Volksgemeinschaft«.
Der Weg aus der Finsternis war lang und schwierig und führte durch ein Dickicht moralischer Herausforderungen. Niederlage, Tod und Zerstörung warfen gewaltige Probleme in Bezug auf Verbrechen, Bestrafung und Wiedergutmachung auf. Die Deutschen hatten sechs Millionen Juden ermordet, dazu drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, acht Millionen nicht-jüdische sowjetische, polnische und serbische Zivilisten, fast eine halbe Million Roma und Sinti, eine Viertelmillion behinderte Menschen und viele tausend politische Gegner, »Asoziale«, Homosexuelle und Zeugen Jehovas.[5] Deutsche Truppen hatten den Balkan und Osteuropa verwüstet. Wer trug die Schuld daran, und wer sollte dafür bezahlen? Hitlers Schergen, die Mitglieder der NSDAP oder die gesamte deutsche Bevölkerung? Schuld konkurrierte mit Scham und Leugnung, Entnazifizierung mit Antisemitismus und Forderungen nach Amnestie. Eine Übergangsjustiz – die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit aus Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen resultierenden Altlasten umgeht – steht vor dem Problem, ein Gleichgewicht zwischen Zurechenbarkeit und Bestrafung einerseits und Versöhnung andererseits zu finden. Im Fall Deutschlands versuchten der demokratische Westen und der sozialistische Osten zudem, sich im Kalten Krieg auf entgegengesetzten Seiten neu zu positionieren. Wiedergutmachung sah zu beiden Seiten der Grenze jeweils anders aus. Da die Kommunisten zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten gezählt hatten, verstand sich die Deutsche Demokratische Republik als Frucht des heldenhaften Siegs der Kommunisten. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen definierte sich als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs, was bedeutete, dass sie dessen Verbindlichkeiten übernahm. Die Frage, wer zu den Opfern des Nationalsozialismus zählte und welche Gruppen und Länder Anspruch auf Entschädigung hatten, war damit aber noch lange nicht geklärt: deutsche Juden oder alle Juden? Politische Gefangene, Homosexuelle, Sinti und Roma, Ausländer, ausländische Staaten? Nicht alle hielten es für richtig, Geld als Wiedergutmachung für die Verbrechen der Nazis anzubieten oder anzunehmen.
Heute definieren sich die Deutschen über eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Bundespräsident Joachim Gauck formulierte es 2015 so: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.«[6] Unmittelbar vor dem Reichstag und dem Brandenburger Tor stehen große Mahnmale für die ermordeten Juden, Sinti und Roma. Wenn es um die Aufarbeitung einer grausamen Vergangenheit geht, ist Deutschland weltweit führend und wird häufig als Vorbild für andere herangezogen. Manche Länder sind dem Beispiel gefolgt. So rang sich Belgien 2018 zu einer Entschuldigung für seine Kolonialverbrechen im Kongo durch. Keines dieser Länder hat jedoch wie Deutschland die Sühne für die Sünden der Vergangenheit zu einem Gegenstand staatsbürgerlichen Stolzes gemacht.[7] Die Aufarbeitung des Faschismus in Italien und Spanien verlief vergleichsweise schleppend und uneinheitlich – erst 2019 wurde Francos Leichnam aus seinem Mausoleum entfernt –, und in Japan werden bis heute Kriegsverbrecher im Yasukuni-Schrein in Tokio verehrt. In Polen droht jedem, der behauptet, dass für die von NS-Deutschland begangenen Verbrechen auch Polen mitverantwortlich gewesen seien, eine Freiheitsstrafe. Amerikaner und Briten streiten sich erbittert darüber, wie man an die Verbrechen der Sklaverei und des britischen Kolonialismus erinnern und sie wiedergutmachen soll.
Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen war ein wesentlicher Bestandteil des moralischen Wandels in Deutschland, doch fand sie erst in der Mitte unserer hier betrachteten Zeitspanne statt und war nur eine von mehreren Quellen gesellschaftlicher Veränderungen. Zwar fuhren schon in den fünfziger Jahren Jugendgruppen in das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen, die ersten Überlebenden der KZs sprachen vor Schülern in Schulen, und der Ulmer Prozess gegen die Einsatzgruppen der SS im Jahr 1958 schärfte das öffentliche Bewusstsein. Zeitgenossen begannen, eine »Vergangenheitsbewältigung« zu fordern. Das kann sowohl Zurechtkommen mit der Vergangenheit als auch deren Überwindung bedeuten (was streng genommen unmöglich ist, da Geschehenes nicht rückgängig gemacht werden kann). Der Philosoph Theodor W. Adorno schlug 1963 den Begriff »Aufarbeitung« vor, und viele Wissenschaftler sind ihm seitdem gefolgt.[8] Damals war die Vergangenheit, an die sich die meisten Deutschen erinnern wollten, jedoch ihr »gerechter Krieg« und ihr eigenes Leid, nicht das, was sie anderen angetan hatten. Erst in den siebziger und achtziger Jahren, als der Holocaust allmählich in den Mittelpunkt des öffentlichen Gedächtnisses rückte, entwickelte sich eine kritische Erinnerungskultur.
Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge machte die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit die Deutschen zu Missionaren der Gegenwart: Nachdem die Schuld zunächst verdrängt worden war, begann eine neue Generation im Westdeutschland der sechziger Jahre, ihre Eltern für deren Sünden zur Rechenschaft zu ziehen. Je mehr sie über die Verbrechen der NS-Zeit erfuhren, desto mehr wurde ihnen bewusst, wie glimpflich ihr Land davongekommen war. Gute Taten waren der Ausgleich dafür, dass man von der verdienten Strafe verschont geblieben war, und zeigten einem selbst und der Welt, dass man sich gebessert hatte. Aus einem Volk von Sündern wurden Heilige. Von der Mülltrennung bis hin zur Hilfe für die Armen dieser Welt – alles, was sie tun, entspringt in dieser Sichtweise letztlich ihrem schlechten Gewissen.[9]
Die moralische Erneuerung Deutschlands ist jedoch sehr viel reichhaltiger und überraschender als diese Darstellung, und es ist mein Bestreben, ihre Komplexität herauszuarbeiten und zu erklären, anstatt sämtliche Beweggründe auf die Schuldfrage zu reduzieren. Dass die Erinnerung an den Holocaust für die deutsche Identität von zentraler Bedeutung ist, heißt nicht, dass alles, was die Deutschen tun und wofür sie sich einsetzen, auf dieses Gedenken zurückzuführen ist. Ehrenamtliches Engagement, Fürsorge und Umweltschutz, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, haben ihre eigene Geschichte. Familie und Arbeit, Kaufen und Konsumieren, Wohlstand und Wohlfahrt, Industrie und Natur – all diese Bereiche waren bereits mit Vorstellungen von richtig und falsch aufgeladen, von angemessenem und unangemessenem Verhalten, davon, was als gerecht galt, und davon, was Menschen einander und der Welt schuldeten. Zusammen ergaben sie eine dichtes Geflecht gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Dieser Prozess einer fundamentalen Moralisierung erfuhr durch die »Aufarbeitung« der Vergangenheit in den sechziger Jahren einen neuen Schub, aber er erschöpfte sich nicht darin. Er war bereits vorher im Gange gewesen und setzt sich bis in die Gegenwart fort.
Zwischen 1949 und 1990 bestand Deutschland aus zwei Staaten. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Vorstellungen von der Gesellschaft, die er aufbauen wollte, doch beide versuchten, Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer Bürger zu verändern. In der DDR prägte die sozialistische Moral den Alltag: die Einschulung der Kinder, die Arbeitswelt mit ihren Brigaden, die Hausgemeinschaften, die »Rentnerbrigaden«. Wie nahe kam man dort dem Ziel, einen neuen Menschen zu schaffen, der »gute Taten für den Sozialismus« vollbrachte, wie es das vierte der »Zehn Gebote« des Sozialismus forderte? Die BRD wurde als liberale Demokratie mit einem Parlament und freien Wahlen geboren, aber sie musste Toleranz, öffentliche Auseinandersetzung und bürgerliches Engagement erst fördern, also genau das Gegenteil dessen, was unter den Nationalsozialisten kultiviert worden war. Beide Länder standen in Sachen sozialer Gerechtigkeit vor historischen Herausforderungen, da sie neben den wenigen überlebenden Juden, die geblieben waren, Millionen von Bürgern integrieren mussten, deren Leben in Trümmern lag: Kriegsversehrte, Kriegsheimkehrer, Kriegerwitwen, Ausgebombte und nicht zuletzt die zwölf Millionen ethnischen Deutschen, die aus Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland und anderen Gebieten vertrieben worden waren. Ihre Opferrolle wirkt oft selbstgerecht und heuchlerisch, da die meisten von ihnen Hitler zugejubelt und den Krieg unterstützt hatten, der zu ihrer Notlage geführt hatte. Dennoch wäre es ein Fehler, ihre Leidensgeschichten auf den Versuch zu reduzieren, die eigene Schuld zu vertuschen. Sie wetteiferten um Anerkennung und Unterstützung, machten Ansprüche geltend und erhoben Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidarität. Was der Einzelne vom Staat erwarten konnte, war Gegenstand einer spannungsgeladenen Debatte, die in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich geführt wurde. Umgekehrt wurde die Frage, was der Staat von seinen Bürgern erwarten konnte, durch die Wiederbewaffnung im Atomzeitalter zu einer existenziellen Angelegenheit. Wie die Pflicht und die Opferbereitschaft des Soldaten (manche nannten dazu auch die »Ehre«) mit dem Gewissen des Bürgers in Einklang zu bringen seien, spaltete nicht nur die Kasernen, sondern die ganze Nation.
In ihren Verfassungen versprachen beide Staaten Gleichheit. Für Frauen, Minderheiten und Menschen mit Behinderungen blieb die Realität oft weit hinter diesem Versprechen zurück, und die Kämpfe für ihre Rechte werfen ein interessantes Licht darauf, was auf der jeweiligen Seite der Grenze als normal angesehen wurde. Gleiches gilt für die Behandlung von Fremden. In der BRD, einem Land mit 63 Millionen Einwohnern, lebten 1989 fünf Millionen Ausländer, überwiegend sogenannte »Gastarbeiter« aus Südeuropa, die in den fünfziger und sechziger Jahren gekommen und geblieben waren. In der DDR kamen auf 16 Millionen Einwohner 160000 Ausländer, die meisten davon Studenten und Vertragsarbeiter aus Vietnam, Polen und Mosambik. Im Gegensatz zu den Vertriebenen aus Schlesien oder dem Sudetenland waren diese Fremden von der deutschen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, die seit 1913 durch die Abstammung definiert war. Die Gäste trugen ihren Teil zum Neuaufbau Deutschlands bei, ihre Erfahrungen lassen allerdings die Schwierigkeiten der Gastgeber mit Menschen einer anderen Herkunft und Religion und dem Leben mit Differenz sichtbar werden. Migration und Asyl sind besonders heikle Themen, weil sie den Kern dessen berühren, was es bedeutete (und bedeutet), Deutscher zu sein.
Jahrzehntelang erschien die Teilung Deutschlands wie ein abschließendes Urteil der Geschichte. Mit dem unerwarteten Fall der Berliner Mauer 1989 begann ein neues Kapitel in der Selbstfindung des Landes. Die Wiedervereinigung brachte eine Neuordnung von Grenzen und Biographien. Die Ostdeutschen sahen ihre Welt auf den Kopf gestellt: Was als richtig oder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht galt, war plötzlich nicht mehr dasselbe. Das Land, in dem Millionen von Deutschen aufgewachsen waren, in dem sie gearbeitet und ihre Familien gegründet hatten, wurde zur Diktatur, zum Unrechtsstaat erklärt. Im Herbst 1989 hatten die Ostdeutschen das Regime zunächst mit der Parole »Wir sind das Volk« herausgefordert. Bald wurde daraus »Wir sind ein Volk«. Wie steht es mehr als drei Jahrzehnte später um die Einheit des neuen Deutschlands?
Für die Millionen türkischer, griechischer und anderer Migranten, die in Köln oder West-Berlin ihre Heimat gefunden hatten, ebenso wie für vietnamesische Arbeiter in Rostock oder Ost-Berlin, klang der Slogan »Wir sind ein Volk« eher bedrohlich. Der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft wurde zwar im Jahr 2000 geöffnet, die nationale Identität hingegen blieb eng gefasst, nicht zuletzt deshalb, weil die kollektive Erinnerung an die NS-Verbrechen darin bestand, dass sich die ethnischen Deutschen an die Sünden ihrer Väter erinnerten. Kulturelle Offenheit und die Anerkennung von »Menschen mit Migrationshintergrund«, wie sie offiziell genannt werden, standen Gewalt, Rassismus und Antisemitismus gegenüber, die in beiden Teilen des Landes nie ganz verschwunden waren.
Auch international sorgte die Wiedervereinigung für Desorientierung. Während der Schuldenkrise (2010–2015) drohte die Europäische Union, zu deren Entwicklung die Bundesrepublik über ein halbes Jahrhundert hinweg so eifrig beigetragen hatte, fast daran zu zerbrechen, dass Deutschland den vermeintlich faulen und verschwenderischen Mittelmeervölkern Vorträge über gute Haushaltsführung hielt. Das Ende des Kalten Kriegs vertiefte die Kluft zwischen dem wirtschaftlichen Ehrgeiz Deutschlands und seiner strategisch-militärischen Zurückhaltung. Während deutsche Unternehmen nach Osteuropa und China drängten, hielten sich deutsche Regierungen in internationalen Angelegenheiten zurück. Ab und zu sagte ein Politiker, das Land müsse im Ernstfall für die Demokratie auch kämpfen. Doch die Bundeswehr wurde drastisch verkleinert, und Auslandseinsätze waren selten und begrenzt. Die Deutschen brüsteten sich damit, aus der Geschichte gelernt zu haben, aber es wurde immer unklarer, worin diese Lektion bestand. Bedeutete das »Nie wieder« in Bezug auf Hitler und Auschwitz automatisch ein Veto gegen die Entsendung deutscher Soldaten in ein Konfliktgebiet? Oder eher das Gegenteil: dass Soldaten entsendet werden sollten, um zu verhindern, dass sich Eroberung und Völkermord wiederholen? Die Deutschen waren in dieser Frage zunehmend geteilter Meinung, wie der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 und der Kosovokrieg von 1998/99 zeigten.
Nicht nur die »großen« Themen – Krieg und Frieden und die NS-Vergangenheit – werden in Deutschland unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert. Der letzte Teil dieses Buches beleuchtet drei wichtige Bereiche, in denen moralische Ideale im Alltag mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen umgesetzt werden: Geld, Wohlfahrt und Umwelt. Alle drei sind mit nationalen Idealen und Stereotypen über deutsche Tugenden verbunden, die es zu überprüfen und zu bewerten gilt.
Sparsamkeit wird oft als typisch deutsche Charaktereigenschaft dargestellt, doch nachdem die Ersparnisse deutscher Bürger erst in der Hyperinflation von 1923 und dann im Zuge der Währungsumstellung von 1948 vernichtet worden waren, war sie nicht länger so selbstverständlich, und es bedurfte vieler Appelle und gezielter Anreize von Regierung, Banken und Schulen, damit sie weiterhin plausibel erschien. Was die Menschen tatsächlich mit ihrem Geld machten und ob sie wirklich verantwortungsvoller damit umgingen als ihre Nachbarn, sind Fragen, denen man nachgehen sollte. Die wachsende Ungleichheit seit den achtziger Jahren war keine deutsche Besonderheit. Beunruhigend daran war jedoch, dass sie mit tief verwurzelten Vorstellungen von Leistung und Gerechtigkeit kollidierte. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahrzehnte hatte den Bürgern suggeriert, dass ihr Erfolg der Beweis für ein nationales Leistungsethos sei, nach dem sich harte Arbeit auszahlte. Was wurde aus diesen Idealen, wenn arme Menschen trotz Job auf Sozialhilfe angewiesen waren, während reiche Erben immer reicher wurden?
Die Frage nach den Verpflichtungen der Menschen untereinander gehört zum Kern des moralischen Selbstverständnisses einer Gesellschaft und zeigt sich darin, wer sich um wen kümmert. In Deutschland hat die Wohlfahrt eine besondere Form angenommen. Sie beruht auf dem Subsidiaritätsprinzip, bei dem die Fürsorgepflicht von innen nach außen verläuft, zunächst ist die Familie verantwortlich, dann die Kommunen und Kirchen, und erst danach ist der Staat zur Stelle. Deutschland ist ein »Sozialstaat«, in dem die Verfassung den Staat verpflichtet, für seine Bürger zu sorgen, der sich jedoch stark auf die Familie stützt. Das wiederum hat tiefgreifende Folgen für die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, da Frauen nach wie vor den größten Teil der Pflegearbeit leisten.
Zu guter Letzt verstehen sich die Deutschen als naturverbunden und haben mit der Energiewende versucht, eine Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien zu übernehmen. Gleichzeitig lieben sie ihre Autos, ihren Komfort und ihre Bratwurst, verbrennen Kohle und stoßen mehr Kohlenstoffdioxid aus als der Durchschnittseuropäer. Dieser Widerspruch ist es, der heute die größte Gefahr für die Welt darstellt, nicht deutsche Soldaten.
Die Moral in den Mittelpunkt des deutschen Wandels der letzten achtzig Jahre zu stellen, wirft Fragen nach Definition, Methode und Quellen auf. Moral ist traditionell der Philosophie und Theologie vorbehalten. Ihr fundamentales Dilemma begleitet uns schon seit der Antike: Woher wissen wir, was gut und richtig ist? Moralphilosophen versuchen zu verstehen, warum Menschen die Welt nach ihren Vorstellungen von richtig und falsch definieren, und wie sie in dieser Welt miteinander leben sollten. Eine Denkschule vertritt die Auffassung, dass Moral in der menschlichen Natur verankert ist: Wir wollen von Natur aus Gutes tun. Die Menschen handeln nach »ethischen Gefühlen«, wie es die Aufklärer David Hume und Adam Smith formulierten. In den letzten Jahren wurden bei Gehirnscans neuronale Entladungen festgestellt, wenn Menschen für wohltätige Zwecke spenden, und Anthropologen konnten Altruismus und Empathie auf eine frühe Phase der Evolution zurückführen, als Zusammenarbeit die Überlebenschancen erhöhte. Für eine andere Schule gründet Moral auf der Vernunft und erfordert eine leidenschaftslose Analyse. Unter Moralphilosophen besteht somit ein grundlegender Dissens darüber, was eine Handlung zu einer richtigen oder falschen macht. Für die einen (Aristoteles folgend) besteht das Lebensziel in Glückseligkeit, und gutes Handeln ist tugendhaftes Handeln. Für die anderen (die sogenannten Konsequentialisten) ist entscheidend, ob eine Handlung zu guten Ergebnissen führt. Für eine dritte Gruppe (die Deontologen, vom griechischen déon für Pflicht) ist der moralische Wert der Handlung selbst ausschlaggebend. Letzteren zufolge werden bestimmte Handlungen verlangt (etwa eine Sorgfaltspflicht), während andere unabhängig von ihren Folgen verboten sind (Töten oder Betrügen).[10]
Wie weit diese Schulen auseinanderliegen, ist umstritten. Der Philosoph Derek Parfit war der Ansicht, dass ihre Vertreter »denselben Berg von verschiedenen Seiten erklimmen«.[11] Philosophen sind – unabhängig davon, ob sie konkrete Beispiele oder Gedankenexperimente anführen – auf der Suche nach universellen Wahrheiten. Im Gegensatz dazu interessieren sich Historiker für die dem Wandel der Zeit unterworfene moralische Landschaft. Sie versuchen, Aufkommen und Verfall moralischer Werte zu verstehen und dabei zu ergründen, was die Menschen in der Vergangenheit für richtig und falsch hielten, ganz gleich, ob dies nach heutigen oder philosophischen Maßstäben fehlerhaft ist oder nicht. So mag beispielsweise der Altruismus tief in unserer Biologie verwurzelt sein, doch hat sich sein Bedeutungsumfang im Laufe der Geschichte offensichtlich grundlegend verändert. Historiker besteigen nicht »denselben Berg«, sondern navigieren auf einem Fluss, der an manchen Stellen tief, an anderen seicht ist, mit Strömungen hier und Strudeln dort, immer in Bewegung und nie gleichförmig. Wenn es um normative Darstellungen der Welt geht, sollten Historiker daher nicht versuchen, mit Moralphilosophen zu konkurrieren.[12] Sie können jedoch aufzeigen, wie die Menschen im wirklichen Leben hin und her schwankten zwischen moralischem Anspruch (den Menschen »als Zweck, niemals bloß als Mittel« zu behandeln, wie Immanuel Kant es formulierte) und Nutzen (»das größte Glück der größten Zahl« zu suchen, wie Jeremy Bentham forderte) und wie sich ihr moralischer Kompass änderte und mitunter ganz versagte.
Wenn die Deutschen vor heiklen Entscheidungen stehen, ziehen sie in der Regel nicht die Philosophie zu Rate, sondern ihren berühmtesten Soziologen, Max Weber, der vor hundert Jahren eine »Gesinnungsethik« und eine »Verantwortungsethik« unterschied. Die Begriffe sind vielfach verwendet (und missbraucht) worden. Politiker haben sich bei bestimmten Entscheidungen wiederholt auf die Verantwortungsethik berufen. Bundeskanzler Helmut Schmidt etwa rechtfertigte damit 1979 die Stationierung amerikanischer Atomsprengköpfe auf deutschem Boden. In jüngerer Zeit, im Jahr 2022, kritisierte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer Sanktionen gegen Russland als Abkehr von der Verantwortung für das nationale Interesse und als Gefährdung von Arbeitsplätzen und sozialem Frieden.[13] Nach solchen Auffassungen ist in einer unübersichtlichen Welt widerstreitender Interessen »Realpolitik« gefragt, nicht Überzeugung. Weber sagte jedoch etwas anderes. Er zog keine scharfe Trennlinie zwischen Werten und instrumenteller Rationalität. Der wahre Politiker war kein kalter, berechnender Pragmatiker, sondern jemand, der aus »Hingabe an eine Sache« handelte. Weber hoffte, dass Politiker einen Punkt erreichten, an dem sie ihre »Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele« empfanden, um gleichsam mit Luther zu sagen: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Diese Worte hatte der große Reformator auf dem Wormser Reichstag 1521 gesprochen, als er sich weigerte, zu widerrufen. Prinzipientreuer konnte man nicht handeln.[14]
Es gibt drei moralische Themen, die in diesem Buch immer wieder zur Sprache kommen: Gewissen, Mitgefühl und Mitschuld. Das Gewissen ist ein mächtiger innerer Regulator unseres Verhaltens mit einer langen Geschichte.[15] Unser Gewissen bringt uns dazu, unsere Handlungen und uns selbst anhand dessen zu bewerten, was wir für richtig und falsch halten, und wenn wir dem nicht gerecht werden, bekommen wir ein schlechtes Gewissen. Im alten Rom glaubte Seneca, dass der Mensch Gott in sich trüge. Für die Mönche des Hochmittelalters war das Gewissen das Gesicht der Seele und ein Spiegel, in dem der Einzelne das eigene Handeln betrachtete. Luther ersetzte die äußere Autorität der Priesterschaft durch die göttliche innere Stimme, die eine direkte Verbindung zwischen dem sündigen Menschen und Gott herstellte. Protestantische Eliten machten das Gewissen zu einer Form sanfter Macht, indem sie es dazu nutzten, ihre Untertanen zur Einhaltung gesellschaftlicher Normen zu disziplinieren. Erst durch die Aufklärung erhielt das Gewissen eine autonomere Rolle. Für Kant war es sowohl ein »innerer Gerichtshof« als auch das Empfinden, dass dessen Urteile zu befolgen seien.
Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass das Gewissen grundsätzlich »gute« Arbeit leiste. Seine Geschichte ist ein Tauziehen zwischen der Einhaltung von Normen und deren Überschreitung auf der Suche nach höheren Idealen. Solche Ideale können sowohl liberal als auch illiberal sein. In Deutschland kam der Pflicht gegenüber dem Staat ein besonders hoher Stellenwert zu. Das Gewissen wurde zur Waffe, als deutsche Soldaten zunächst einen Eid auf Gott leisteten und dann, nach 1934, den »heiligen Eid« schworen, »dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, unbedingten Gehorsam (zu) leisten«. Indem sie das Volk über alles andere stellten und Hitler als dessen Erlöser darstellten, schufen sich die Nationalsozialisten ihr eigenes gutes Gewissen, mit dem sie ältere moralische Bedenken beiseiteschieben konnten. Reichsmarschall Hermann Göring soll angeblich gesagt haben: »Mein Gewissen heißt Adolf Hitler.« Wie wir sehen werden, befragten manche Soldaten unablässig ihr Gewissen, aber auf eine Art und Weise und mit Ergebnissen, die für uns heute fremd und schockierend sind. Nach dem Krieg gewann das Gewissen eine zentrale Bedeutung für die Frage, was es hieß, ein guter Deutscher zu sein, sowie bei der Abwägung zwischen bürgerlichen Pflichten und dem Widerstand gegen den Staat. In den fünfziger Jahren standen Millionen von Kriegsteilnehmern, die der Meinung waren, sie seien durch die Erfüllung ihres Eides ihrem Gewissen gefolgt, der Gruppe hoher Offiziere gegenüber, deren gescheitertes Attentat auf Hitler im Juli 1944 nun als »Aufstand des Gewissens« gefeiert wurde, für den sie mit ihrem Leben bezahlt hatten. Bei Großdemonstrationen gegen die Wiederbewaffnung trugen die Menschen Plakate mit den berühmten Worten Luthers. Die wachsende Zahl der Kriegsdienstverweigerer führte zu hitzigen Debatten darüber, wie die »innere Stimme« zum Ausdruck gebracht und geprüft werden sollte.
Das Gewissen lauscht nach innen, das Mitgefühl schaut nach außen. Arthur Schopenhauer sah im Mitleid die Grundlage der Moral. Wie entsteht dieses Gefühl? Für Aristoteles entsprang es dem Bewusstsein, dass man selbst eines Tages unverdienten Schmerz erfahren könnte. Im 18. Jahrhundert forderte Rousseau Lehrer dazu auf, bei ihren Schülern die pitié zu fördern, damit sie durch das Bewusstsein für das Leid anderer Menschen ihren eigenen moralischen Wert erkennen lernten. Die Philosophin Martha Nussbaum geht noch einen Schritt weiter. Mitgefühl, so sagt sie, setze voraus, dass jemand das Leid eines anderen Menschen als Beeinträchtigung des eigenen Wohlergehens begreife: Man müsse sich »in der Person eines anderen verletzlich« machen.[16] Idealerweise umfasst Mitgefühl also drei Schritte: die Fähigkeit, das Leid anderer zu erkennen und zu fühlen; den Gedanken »das könnte mir auch passieren«; und schließlich das Bewusstsein, dass (auch wenn man selbst davon verschont bleibt) das Leid anderer das eigene Wohlbefinden mindert.
Wo die Deutschen in diesem Prozess zu verschiedenen Zeitpunkten standen, ist eine wiederkehrende Frage dieses Buches. Nussbaum hat das Mitgefühl mit einem Auge verglichen, durch das »die Menschen das Glück und das Leid anderer sehen«. Nach den Jahren des Nationalsozialismus wieder zu lernen, mit dem Auge des Mitgefühls zu sehen, war eine enorme Herausforderung. Tatsächlich trafen überlebende Juden, Zwangsarbeiter, Displaced Persons (DPs) und auch deutsche Flüchtlinge zunächst vor allem auf Kaltherzigkeit (und Schlimmeres). In den sechziger Jahren forderten die Friedensbewegung und »Dritte Welt«-Gruppen die Menschen auf, sich in die Lage der weniger Glücklichen dieser Welt zu versetzen – der Armen in den lateinamerikanischen Slums, der hungernden Kinder in Afrika und der behinderten Menschen in Israel. Mitgefühl für marginalisierte Gruppen im eigenen Land war etwas anderes. Hier konkurrierte es mit Selbstbezogenheit und Solipsismus.
Die Philosophie weiß viel zu sagen über Gewissen und Mitgefühl, doch die Frage von Mittäterschaft und Mitschuld stellte selbst für die größten Köpfe ein vertracktes Problem dar. Kant und seine Anhänger konzentrierten sich auf die kritische Vernunft des Einzelnen und dessen Verantwortung für Schäden, auf die man einen gewissen Einfluss hat: Man ist entweder verantwortlich oder nicht. Bei einer Beteiligung an kollektiv verursachten Schäden ist die individuelle Verantwortung jedoch diffus. Die an Jeremy Bentham orientierten Utilitaristen beschäftigten sich mit den guten oder schlechten Folgen individueller Handlungen. Wie aber ist die moralische Bedeutung eines gemeinschaftlich begangenen Unrechts zu bewerten, wenn der Beitrag eines Einzelnen marginal ist, da Millionen anderer ebenfalls beteiligt sind? In jüngerer Zeit hat der Philosoph Christopher Kutz eine Möglichkeit vorgeschlagen, individuelle Verantwortung mit kollektivem Handeln zu verknüpfen. Das persönliche Motiv ist in dieser Sichtweise nicht entscheidend. Es reicht aus, dass sich eine Person willentlich an einem kollektiven Geschehen beteiligt. Das Konstrukt der Mittäterschaft berücksichtigt, dass Einzelne für die Folgen kollektiven Handelns verantwortlich sind und verantwortlich gemacht werden können.[17]
Krieg und Völkermord stellten die Deutschen hinsichtlich der Mittäterschaft vor ein unvorstellbar großes Problem, und die Art und Weise, wie sie es begriffen und darauf reagierten, sagt viel über ihre moralische Neuorientierung und deren Grenzen aus. Das Problem der Mittäterschaft im weiteren Sinne ist jedoch nicht auf den Holocaust beschränkt, wenngleich dieser richtigerweise im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. In Form der »Mitverantwortung« spielt es bis heute eine Rolle bei vielen Themen, die ihre eigenen Dilemmas aufwerfen. Dazu gehören insbesondere die Wiedervereinigung, die Konsumgesellschaft und die Energiewende.
Eine Geschichte der Deutschen unter moralischen Gesichtspunkten zu schreiben, wirft eine grundlegende Frage auf: Warum gibt es in modernen Gesellschaften überhaupt Moral? Die maßgeblichen Antworten stammen von Marxisten und den Vätern der Soziologie. Für Marxisten sind Moralvorstellungen Ausdruck der materiellen Grundlage gesellschaftlicher Entwicklung und der Interessen der in einer bestimmten Phase herrschenden Klasse. Mit ihren Gesellschaftsnormen verschleierte die Bourgeoisie, dass sie weit davon entfernt war, das allgemeine Glück zu fördern, und sich auf Kosten der Mehrheit bereicherte. Innerhalb der Fabrik herrschte brutale Ausbeutung, außerhalb hatte man Mitleid mit Kindern und Tieren.[18] Die herrschende Klasse, so schrieb Leo Trotzki 1938, könnte sich »durch Gewalt allein auch nicht eine Woche lang halten«, sie brauche »den moralischen Zement«.[19] Der Soziologe Émile Durkheim indes konzentrierte sich vor allem auf die Frage, wie Gebote und Verbote einer komplexen Gesellschaft ermöglichen, zu funktionieren, ohne zu zerfallen.[20]
Für eine Moralgeschichte werfen beide Perspektiven ebenso viele Probleme auf, wie sie lösen. Natürlich erleichtern Normen die gesellschaftliche Ordnung, und es spielt eine Rolle, ob diejenigen, die sie propagieren, mächtig sind oder nicht. Die Schwäche dieser Ansätze besteht darin, dass sie dazu neigen, Moral als einfach, stabil und von oben nach unten durchgesetzt zu betrachten, was es schwierig macht, nationale Unterschiede und Veränderungen im Laufe der Zeit zu erklären bzw. die Frage zu beantworten, warum Konflikte nur in gewissen Momenten auftreten und in anderen nicht. Moral ist nicht das Monopol der Mächtigen. Sie kann ebenso die Waffe der Machtlosen sein, wie Friedrich Nietzsche in seiner »Genealogie der Moral« (1887) feststellte. Unsere Vorstellungen von Gut und Böse seien eine historische Erfindung und stammten von unterdrückten Gruppen, die die Nächstenliebe zu einem Ideal erhoben, mit dem sie den Adel in Frage stellten. Nietzsche nannte dies den »Sklavenaufstand in der Moral«. Darin sah er den Ursprung eines Schuldgefühls, das die Menschen daran hinderte, ihre wahre Größe zu erreichen. Man braucht nicht Nietzsches Plädoyer für die Abschaffung der Moral zu folgen, um zu begreifen, dass Gut und Böse, Richtig und Falsch das Schlachtfeld rivalisierender Gruppen, Ideale und Praktiken sind.
Moral ist ein Instrument gesellschaftlicher Disziplin und Ordnung, aber sie kann auch für den Einzelnen bestärkend wirken. Auf der Suche nach Sinn und Identität bietet die Moral Orientierung und zeigt uns, woher wir kommen und wohin wir gehen oder gehen sollten. Tatsächlich war Durkheim nicht der Funktionalist, für den er oft gehalten wird. In seinen späteren Vorlesungen bezeichnete er die Gesellschaft als »moralische Kraft«, die ihre Mitglieder zu höheren Zielen ansporne.[21] Als im 17. und 18. Jahrhundert die Autorität von Kirche und Monarchie unter Druck geriet, gewann die Moral für das individuelle Selbst an Bedeutung. Mitgefühl, Vernunft, Gewissenserforschung und Pflichtgefühl gegenüber den Mitmenschen in diesem Leben traten an die Stelle des Strebens nach einer Belohnung im Jenseits. Literatur, Bühne und natürlich die Historie waren Mittler der moralischen Weiterentwicklung – wie in Schillers berühmten Worten, die diesem Buch vorangestellt sind.[22] Durch den Wunsch, Gutes zu tun, fanden die Menschen zu sich selbst. Während moralische Vorschriften und deren Überwachung den Handlungsspielraum begrenzen, eröffnen moralische Werte daher auch neue Perspektiven. Werte sind gesellschaftlich, doch die Menschen passen sie an und fügen sie in einer Weise zusammen, die ihnen hilft, ihren eigenen Erfahrungen einen Sinn zu geben. Kurz: Sie richten sich nicht nur nach der Moral ihrer Gesellschaft, sie schaffen sie auch.
Die Geschichte der deutschen Neuorientierung in diesem Buch zu erzählen, wäre ohne die bereits bestehende, umfangreiche Literatur nicht möglich gewesen, aber sie bricht mit der Erfolgsgeschichte, an die wir uns gewöhnt haben. Deren Reiz ist unschwer zu erkennen: Aus den Tiefen der Nazi-Hölle gab es nur einen Weg – den nach oben. Die Bundesrepublik hat sich als enorm stabil erwiesen und existiert 2023 länger als das Deutsche Reich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich zusammengenommen. Viele namhafte westdeutsche Historiker haben das große Narrativ von der Verwestlichung und Liberalisierung favorisiert.[23] Jede einzelne dieser Darstellungen hat ihre Vorzüge, sie alle tendieren aber zur teleologischen Vorstellung von Fortschritt, hin zu einer besseren Gegenwart. Das Problem mit der Geschichte vom »langen Weg nach Westen« ist, dass der Westen kein klar umrissenes Ziel darstellt. Ist er Hort der Freiheit oder des Großmachtstrebens? Der Wohlfahrt oder des Reichtums? Ist es der Westen von Barack Obama oder der von Donald Trump? Die Bundesdeutschen wurden in den sechziger und siebziger Jahren aufgeschlossener gegenüber alleinerziehenden Müttern oder etwa gegenüber Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten. Doch gab es zu liberalen Tendenzen auch gegenläufige Entwicklungen, darunter Rassismus, Terrorismus (von rechts und links) oder strikte Regelungen bei der Abtreibung.
Gewalt ist aus dem täglichen Leben nicht verschwunden, sondern hat sich verändert. Aus Sicht der Umwelt sieht das Wirtschaftswunder gar nicht so wunderbar aus. Rückblickend erscheinen uns Gewinner wichtiger als Verlierer. Das aber trübt den Blick dafür, wie die Zeitgenossen selbst ihre Zeit erlebt haben. Eine Berücksichtigung moralischer Konflikte stellt das Gleichgewicht wieder her und schärft den Blick für ungelöste Konflikte und Widersprüche, die bis heute andauern. Konservatives Ethos, familiäre Werte, Heimatstolz, Soldaten und Atomkraftbefürworter gehören ebenso zum heutigen Deutschland wie fortschrittliche Großstadtzirkel, Kriegsdienstverweigerer und Atomkraftgegner. Man darf nicht vergessen, dass die Bundesrepublik bis 2023 in zweiundfünfzig von vierundsiebzig Jahren ihrer Geschichte christdemokratische Bundeskanzler hatte.
Vor allem beim Thema Ostdeutschland stoßen solche Narrative an ihre Grenzen. Die DDR läuft leicht Gefahr, nur als lästiger Umweg zu erscheinen, der mit der Wiedervereinigung zurück auf die Hauptstraße in den liberal-demokratischen Westen führte. Verständlicherweise nehmen Ostdeutsche Anstoß daran, wenn ihre eigene Vergangenheit geschichtsklitternd auf das Bild eines klapprigen Trabants neben einem eleganten Mercedes reduziert wird. Eine Möglichkeit, dies zu vermeiden, ist die Beibehaltung getrennter Geschichtsbücher für das geteilte Land zwischen 1949 und 1990. Die umgekehrte Strategie besteht darin, sie in allen Bereichen bis ins Detail miteinander zu vergleichen.[24] Dies ist besonders ergiebig, wenn man die beiden deutschen Staaten als Varianten einer modernen Gesellschaft betrachtet, die einem dynamischen Wandel unterworfen ist – beide mit einem industriellen Kern, ähnlichen Wohlfahrtstraditionen und (seit den siebziger Jahren auch in der DDR) steigendem Konsum und einer gleichzeitigen Auflösung der Klassen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Osten letztlich immer eine Diktatur war, der Westen dagegen eine Demokratie – nie perfekt, aber trotzdem eine Demokratie.
Ich habe versucht, dieses Problem pragmatisch zu lösen. Wo es aufschlussreich ist, werden Entwicklungen in Ost und West direkt verglichen, beispielsweise im Hinblick auf die Entnazifizierung, den Umgang mit Fremden, die Betreuung von Kindern und älteren Menschen sowie die Energie- und Umweltpolitik. Die beiden gegensätzlichen Systeme und der Platz der Menschen darin sind jedoch Gegenstand von zwei getrennten Kapiteln. Demokratie und Sozialismus schufen für ihre Bürger grundlegend verschiedene moralische Lebenswelten mit jeweils eigenen Zwängen und Verlockungen. Die DDR sollte weder auf ein Stasi-Land reduziert werden, noch sollte sie nur deshalb als normal dargestellt werden, weil viele Menschen glaubten, ein völlig normales Leben zu führen. Die Schaffung einer sozialistischen Normalität war integraler Bestandteil der diktatorischen Herrschaft.
Dieses Buch erhebt keineswegs den Anspruch, dass die Moral etwas einzigartig Deutsches sei, geschweige denn, dass sie die Deutschen in irgendeiner Weise besser mache. Etliche ihrer Anliegen und Überzeugungen finden sich auch in anderen Gesellschaften, und wo immer es möglich war, habe ich versucht, die deutschen Entwicklungen in einen internationalen Kontext zu stellen. Moral kennt keine regionalen Grenzen. Deutsche Pazifisten ließen sich von Martin Luther King und Mahatma Gandhi anregen. Den Dänen liegt die Umwelt mindestens ebenso sehr am Herzen. Weltweite Armut, Menschenrechte und Tierrechte sind internationale Themen. Die Besonderheit liegt nicht in den einzelnen Anliegen, sondern in der deutschen Angewohnheit, sämtliche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme in moralische Fragen zu verwandeln. Krieg und Frieden, der persönliche Lebensstil, ob jemand arbeitet oder nicht, spart oder sich verschuldet, pflichtbewusst Müll trennt, sich um seine alten Eltern kümmert – all dies wird als Ausdruck moralischer Wertvorstellungen wahrgenommen. Das bedeutet nicht, dass die Deutschen frei von Doppelmoral, Widersprüchen und Versäumnissen wären, nicht zuletzt, wenn es um Gleichberechtigung und Umwelt geht. Es bedeutet aber, dass Leben und Politik unter einem moralischen Vorzeichen gestaltet werden. Wie sich dieses Muster etabliert hat, darum soll es hier gehen.
Diese Geschichte über einen Zeitraum von achtzig Jahren zu erzählen, bricht mit der gängigen Fixierung auf die sechziger Jahre als gesellschaftliche Zäsur. Unmittelbar nach den Protesten von 1968 kritisierte der konservative Denker Arnold Gehlen Studenten und Intellektuelle dafür, dass sie mit ihrem feministischen und humanitären Gerede eine neue »Hypermoral« verbreiteten.[25] Dabei übersah er, dass Familie, Krieg, Frieden und viele andere Themen bereits stark moralisch aufgeladen waren, nur nicht unbedingt mit radikaler Energie. Unterdessen erkannten Politikwissenschaftler in Meinungsumfragen Anzeichen für eine »stille Revolution«, weg von »materiellen Werten« (Brot, Arbeit, Recht und Ordnung) hin zu »postmateriellen Werten« (Freiheit, Umweltschutz und Selbstverwirklichung), die den Westen erfasst habe, als die jüngeren Generationen in den Genuss von Wohlstand, Wohlfahrt und höherer Bildung gekommen seien.[26] Diese These ist in vielerlei Hinsicht problematisch, insbesondere, weil sie von einer vereinfachten Bedürfnishierarchie ausgeht, nach der sich die Menschen erst dann für Höheres interessieren, wenn sie sich den Bauch vollgeschlagen haben. Sie ignoriert einerseits, wie viele Deutsche (in Ost und West) sich bereits vor den sechziger Jahren um Natur, Freiheit und andere »postmaterielle« Werte bemühten, und andererseits, welchen hohen Stellenwert materielle Sicherheit, Arbeit und Leistung bis heute besitzen.
Die vorliegende Arbeit basiert damit zum Teil auf vorhandenen Studien über Werte, Emotionen und Erinnerung, geht aber über diese hinaus.[27]Gefühle, die sich selbst überlassen werden, können das moralische Urteilsvermögen verzerren, wie Adam Smith und viele andere erkannt haben. Für die Orientierung unseres Handelns sind deshalb Vernunft, Gewissen und Pflichtgefühl erforderlich. In diesem Buch habe ich versucht, die Erkenntnisse der Sozialtheoretiker, dass unsere Identitäten in Handlungen eingebettet sind, auf die moralische Identität der Deutschen anzuwenden, indem ich ihren sich wandelnden Sinn für Recht und Unrecht anhand ihres tatsächlichen Handelns nachgezeichnet habe.[28] Ehrenamtliches Engagement, Selbsthilfe, Pflege, Sparen, Konsum und viele andere Aktivitäten haben bei der Herausbildung dieser Identität eine entscheidende Rolle gespielt. Um moralisches Handeln zu erfassen, müssen wir uns jenseits der Worte von Priestern und Philosophen mitten ins Leben begeben und Familien, Wohlfahrtsverbände und ihre Klienten, Spitzel und ihre Opfer, Soldaten und Kriegsdienstverweigerer und viele andere begleiten. Da die Moral vielgestaltig, uneinheitlich und in Bewegung ist, stellt ihre Erforschung eine große Herausforderung dar. Moral hat keine eigene Sphäre, sondern wird in der Familie, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben praktiziert. Folglich wird sie auch nicht gesondert archiviert. Um Gewissen, Mitgefühl und Mittäterschaft nachzuspüren, müssen soziale, politische und wirtschaftliche Themen und Quellen untersucht werden, und zwar von oben bis nach unten in der Gesellschaft und zurück. Ich habe vor allem jene Momente aufgegriffen, in denen Brüche auftraten, Ansichten über Recht und Unrecht unter Druck gerieten und angefochten wurden – Momente, in denen Menschen über ihr Handeln nachdachten oder dazu gezwungen wurden.
In jüngster Zeit haben Soziologen und Anthropologen neue Studien zur Moral eingefordert, um besser zu verstehen, wie Gesellschaften zwischen richtig und falsch unterscheiden und diese Unterscheidung umsetzen.[29] Was die Geschichtsforschung leisten kann, ist, die Entstehung eines moralischen Universums nachzuzeichnen und zu verdeutlichen, wie sich scheinbar selbstverständliche Normen und Praktiken als Ergebnis historischer Kräfte herausgebildet haben. So haben Anthropologen beispielsweise gezeigt, dass die heutige humanitäre Politik zunehmend auf Mitleid statt auf einem Gerechtigkeitsempfinden beruht und von Flüchtlingen und Armen verlangt, dass sie ihr Leid zur Schau stellen, um zu beweisen, dass sie der Hilfe würdig sind.[30] Ein derartiges Mitgefühl mag gewisse neoliberale Elemente aufweisen, es hat aber Wurzeln, die bis zu den Kampagnen gegen die Sklaverei im späten 18. Jahrhundert zurückreichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schilderten deutsche Flüchtlinge in Dankesbriefen an ausländische Spender oft Geschichten von ihrer Vertreibung und den Vergewaltigungen, um zu unterstreichen, dass sie der Hilfe würdig waren. Pflicht, Gerechtigkeit, Toleranz, Opferbereitschaft und Solidarität haben ebenfalls eine lange Geschichte. Die wissenschaftliche Literatur ist nach wie vor fragmentarisch und reicht von umfassenden Studien zum Aufstieg der Menschenliebe im 18. Jahrhundert bis hin zu Werken über die Sorge um Fremde, Tiere und den Planeten in den vergangenen Jahrzehnten. Dazwischen finden sich zahlreiche Fallstudien zur Wohltätigkeit, zur Prostitution, zu Drogen. Anstatt sie auseinanderzudividieren, versucht dieses Buch, das Zusammenspiel moralischer Belange im Leben einer Gesellschaft über einen Zeitraum von achtzig Jahren zu beleuchten. Ich hoffe, dass es andere dazu anregt, ebenfalls diesen Weg zu beschreiten und auf ihm weiterzugehen.
Die Quellen für dieses Buch sind entsprechend umfassend und breit gefächert. Sie reichen von staatlichen Dokumenten und Nachlässen von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden über private Briefe und Tagebücher, Eingaben und Boykottaufrufe, Gerichtsakten und Schuldenstatistiken bis hin zu Aufsätzen von Kindern, Theaterstücken und Filmen. Es kommen viele verschiedene Stimmen zu Wort: deutsche Soldaten und deutsche Juden, die zu verarbeiten versuchen, was ihnen und ihrem Land widerfahren ist; Vertriebene, die zwischen Rache und Neubeginn hin und her gerissen sind; junge Menschen, die in Frankreich Kriegsgräber pflegen und in Israel mit ihrer Arbeit ein Sühnezeichen setzen wollen; kleine Leute, die sich über die Energieknappheit in der DDR beklagen; Frauen, die für das Recht auf Abtreibung kämpfen, und Abtreibungsgegner, die eine neue Euthanasie für behinderte Menschen befürchten; »Gastarbeiter«, die sich ein neues Leben aufbauen wollen, Umweltaktivisten, Bergleute und viele andere mehr. In moralischen Debatten gibt es seit jeher sowohl konservative und reaktionäre als auch liberale und fortschrittliche Stimmen. Ich habe mich bemüht, ihnen allen zuzuhören und ihre Auffassung von Recht und Unrecht nachzuvollziehen. Das gilt insbesondere für jene, deren Standpunkte uns heute fremd oder geradezu gefährlich erscheinen. Wenn wir die Erneuerung Deutschlands verstehen wollen, müssen wir alle Seiten hören. Es ist diese enorme Vielfalt unterschiedlichster Stimmen, es sind die Spannungen und Widersprüche zwischen Idealen und Handlungen, welche die Deutschen zu dem machten und machen, was sie sind.
1942 bis in die sechziger Jahre
Das geplagte Gewissen
Es kam alles anders als gedacht. Am 22. Juni 1941 war die deutsche Armee in die Sowjetunion einmarschiert. Im November standen die deutschen Truppen nur noch 35 Kilometer vor dem Kreml. In Erfurt, im Herzen von Hitlers Reich, konnte der Schüler Reinhold Reichardt einen Monat vor seinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr warten und meldete sich kurzerhand als Offiziersanwärter. Am 1. Februar 1943 wurde er schließlich zum Reservebataillon eines Infanterieregiments einberufen. Als er abends in seiner Kaserne in Frankfurt an der Oder eintraf, wurden im Rundfunk die letzten Nachrichten der bei Stalingrad geschlagenen 6. Armee verlesen, der auch viele Männer seines Regiments angehörten. In den folgenden Tagen versuchten die Offiziere ihr Bestes, um die Moral der neuen Rekruten zu heben, indem sie die Naziparole des »notwendigen Opfers der Stalingrad-Kämpfer« wiederholten. Doch klang dies eher »befehlsgemäß« und »hergebetet«, wie Reichardt seinem Tagebuch anvertraute, und konnte die »Trauer mit dem Zorn und der Wut über die sinnlose Preisgabe der Kameraden nur notdürftig verstecken«.[1]
Im Juli 1943 traf der Tod seine eigene Familie. Sein älterer Bruder Rainer fiel durch eine Granate in der Schlacht von Kursk nördlich von Belgorod in Russland, in der größten Panzerschlacht der Weltgeschichte, bei der die Rote Armee den entscheidenden strategischen Vorsprung errang. »Er ist tot – er ist tot – er ist tot!«, schrieb Reinhold. »Ganz hinten in mir spüre ich, weiß ich: Ich finde ihn wieder, er kommt zu mir – ich weiß es! Vielleicht, wenn ich draußen bin mitten im Sturm … Für uns, in unserer brüderlichen Gemeinsamkeit kann es keinen Tod, kein endloses Nichts geben. Er ist gefallen für uns, für unsere gemeinsame Liebe zum Vaterland als unsere bleibende Heimstatt. Aber nein, er ist nicht ›gefallen‹, nicht gesunken in den Hades, aufgeflogen ist er, emporgestiegen zum Sonnenthron – er ist heimgekehrt!«[2]
Als kleiner Junge hatte Reichardt bisweilen davon geträumt, in einer Fischerhütte an der Nordsee zu hausen oder vielleicht in einem abgeschiedenen Farmhaus in Südwestafrika. Jetzt wusste er, »mein Lebensziel keine Flucht in die Idylle einer allein auf den inneren Frieden des eigenen Ichs gegründete Insel sein soll …, sondern die Auseinandersetzung mit den realen Mächten dieser Welt«. Er war zum Krieger bestimmt. Beim Verfassen seines Tagebuchs ließ er sich von dem großen deutschen Dichter der Romantik, Friedrich Hölderlin, und dessen Briefroman »Hyperion« (1797) inspirieren, in dem ein Held für die Befreiung Griechenlands von der türkischen Herrschaft kämpft. Reichardt beschloss, die Briefe in seinem Tagebuch an Patroklos zu richten, Achilles’ treuen Gefährten, der im Trojanischen Krieg fiel. Reichardt erklärte, dass er sich »dem Kampf dieser Welt um die Freiheit und geistige Reinheit des Vaterlandes stellen muss, um in mir mein Glück, meinen Seelenfrieden zu finden«. Alles andere würde sein »geistiges Vaterland entwürdigen«. Er habe eine große Hoffnung: »das Wagnis der Schlacht auf mich zu nehmen, in der Gefolgschaft Parzivals und seiner Tafelrunde«.[3]
Im Januar 1944 stieß er zu einer Infanterieeinheit in Sarajevo, einem der brutalsten Schauplätze des Zweiten Weltkriegs.[4] In den Hügeln und Bergen Bosniens kämpfte die deutsche Armee an der Seite der SS