Aufgewachsen in der letzten Diktatur Europas - Viktoryia Andrukovič - E-Book

Aufgewachsen in der letzten Diktatur Europas E-Book

Viktoryia Andrukovič

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Beschreibung

Viktoryia Andrukovič ist eine belarusische Menschenrechtsverteidigerin und politische Aktivistin, geboren 1994, als das Regime von Lukaschenka an die Macht kam. Sie kennt ihre Heimat nur unter dem Joch eines zunehmend autokratisch agierenden Regimes, ihr Leben nur zwischen den Entbehrungen und Bedrohungen der Kindheit und Jugend in Belarus und der Hoffnung auf eine bessere, eine freie Zukunft für ihr Land. Vor und nach der Präsidentschaftswahl 2020 war sie in der Opposition aktiv und arbeitet heute mit belarussischen Organisationen im Exil.

Jetzt erzählt sie ihre Geschichte, die Geschichte einer Generation von Belarusen, die unter der Diktatur geboren und aufgewachsen ist, eine Geschichte von Angst und Verfolgung, von Hoffnung und dem Kampf für ein freies Belarus, für Menschenrechte und Demokratie gegen Unterdrückung und Gewalt.

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Viktoryia Andrukovič ist eine belarusische Menschenrechtsverteidigerin und politische Aktivistin, geboren 1994, als das Regime von Lukaschenka an die Macht kam. Sie kennt ihre Heimat nur unter dem Joch eines zunehmend autokratisch agierenden Regimes, ihr Leben nur zwischen den Entbehrungen und Bedrohungen der Kindheit und Jugend in Belarus und der Hoffnung auf eine bessere, eine freie Zukunft für ihr Land. Vor und nach der Präsidentschaftswahl 2020 war sie in der Opposition aktiv und arbeitet heute mit belarussischen Organisationen im Exil.

Jetzt erzählt sie ihre Geschichte, die Geschichte einer Generation von Belarusen, die unter der Diktatur geboren und aufgewachsen ist, eine Geschichte von Angst und Verfolgung, von Hoffnung und dem Kampf für ein freies Belarus, für Menschenrechte und Demokratie gegen Unterdrückung und Gewalt.

Viktoryia Andrukovič

Aufgewachsen

in der letzten

Diktatur

Europas

Mut, Schmerz

und Hoffnung –

der Kampf um

Freiheit in Belarus

Mit Carsten Görig

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 09/2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Petra Kaiser

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München

unter Verwendung von Fotos von: Mindaugas Žiūkas; Picture Alliance / ASSOCIATEDPRESS / TUT.by

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29168-6V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Ein Jahrhundert der Katastrophen

Belarus: Das Land zwischen den Fronten

Meine Familie im Krieg

Die deutsche Besatzung

Die Schwestern

Nach dem Krieg

Die Sowjetzeit

Radioaktiver Fallout

Ein neues Land

Die Trümmer der Sowjetunion

Der Junge aus Kopys

Das Ende des Neuanfangs

Der Sieg der Diktatur

Eine typische Familie

Ein Leben im Wohnheim

Meine ersten Jahre

Backtag

Alkohol

Eine Existenz aus dem nichts

Schule und Lernen

Ein Geschenk füreinen Schulplatz

Lange Schultage

Erster Widerstand

Alehs Musik

Unsere Sprache, unsere Kultur

Fürs Leben lernen

Der Widerstand wächst

Die Jeans-Revolution

Auf dem Oktoberplatz

Ein Studium in Freiheit

Die Universität im Exil

Undichte Fenster und gemütliche Runden

Zu Besuch beim KGB

Lukaschenkos langsamer Abstieg

Der Sommer des Aufbruchs

Mit Traktor und Wodka gegen Corona

Die neue Solidarität

Die Wahl 2020

Rückkehr nach Belarus

Ein Land steht auf

Die Stadt der freien Bürger

Der lange Herbst

Der kleine Protest im Hinterhof

Die Generationenfrage

Die Zeit arbeitet gegen uns

Die Augen der Macht

Das Rückgrat der Diktatur

Die Dokumentation der Verbrechen

Der Straßenkampf

Im Kino

Abschied von Belarus

Im Gefängnis

Sexuelle Gewalt

Folter

Das Ende

Im Exil

Der lange Arm des Regimes

Die neue Repression

Eine Union

Der Krieg

Hilfe

Der belarusisch-ukrainische Untergrund

Am Anfang eines langen Weges

Danksagung

Weiterlesen und Hilfe

Ich widme dieses Buch den Widerstandskämpfern in Belarus, dem ukrainischen Volk und allen Menschen auf der ganzen Welt, die für Freiheit und Demokratie kämpfen – auch wenn es so aussieht, als würde dieser Kampf niemals enden. Eure Opfer werden nie vergessen werden.

Vorwort

Ich werde so lange im Gefängnis sein, bis mich die Belarusen befreien.

Sergei Tichanowski

Wenn mir 2019 jemand gesagt hätte, dass die Welt in einem Jahr von einer tödlichen Pandemie heimgesucht wird, dass Hunderttausende mutiger Belarusen auf die Straße gehen und das Regime dann so hart zurückschlagen wird – ich hätte das alles niemals geglaubt. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich und viele andere aus dem Land vertrieben werden, dass Sergei Tichanowski zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt und seine mutige Frau Swetlana Tichanowskaja seinen Platz einnehmen wird. Und ich hätte niemals geglaubt, dass ich die Kraft und den Mut haben werde, gegen die Diktatur Lukaschenkos aufzubegehren und diesen Kampf bis heute fortzusetzen – weit weg von meiner Heimat, meinen Eltern und meinen Freunden. Ich hätte niemals geglaubt, dass im Februar 2022 ein Krieg in der Ukraine ausbrechen wird und dass Raketen von meinem Heimatland Belarus aus abgefeuert werden. – Und das ging nicht nur mir so: In diesen zwei Jahren wurde nicht nur meine Welt, sondern die Welt aller Belarusen völlig auf den Kopf gestellt. Wir konnten nicht ahnen, dass das Schicksal uns so viel Schreckliches bescheren wird. Wir konnten nicht ahnen, dass Tausende Menschen inhaftiert werden und wir zu Hunderttausenden aus dem Ausland Briefe an all die Gefangenen schreiben.

Manch einer mag uns für naiv gehalten haben, als wir in Belarus 2020 mit Blumen und voller Hoffnung im Glauben an das Gute den Panzern entgegentraten. Und ja, während der Demonstrationen zogen wir Belarusen die Schuhe aus, bevor wir auf eine Parkbank stiegen, und wir warteten an der Ampel auf Grün, bevor wir die Straße überquerten. Ja, wir umarmten in der Tat die Bereitschaftspolizisten und schenkten ihnen Blumen. Waren wir naiv? Vielleicht. Aber es ist diese Naivität, die uns weiterhin den Glauben und die Kraft gibt, unseren Kampf trotz aller Widrigkeiten fortzusetzen. Es scheint mir so wichtig, dass wir uns in all diesen Wirrnissen, die wir durchleben mussten, unsere Menschlichkeit bewahren konnten und die Menschen geblieben sind, die mit einem Lächeln auf den Lippen in der Menge marschierten und freudig »Es lebe Belarus!« riefen. Belarus wird so lange weiterleben, bis wir Belarusen kapitulieren. 

Das ist der Grund, weshalb wir weiterkämpfen.

Der Grund, weshalb ich dieses Buch schreibe.

Den Belarusen ist es aber nicht nur gelungen, sich ihre Menschlichkeit und ihren Glauben an das Gute zu bewahren, sondern sie sind auch stärker geworden: Sie haben es geschafft, die Zivilgesellschaft im Exil wieder erstarken zu lassen und die Arbeit unabhängiger Medien, die kaum noch existierten, wieder zu ermöglichen. Und jetzt öffnen sie den Menschen, die aus der Ukraine flüchten müssen, ihr Heim, engagieren sich bei humanitären Hilfsmaßnahmen und kämpfen in der Ukraine für unsere gemeinsame Freiheit. Und das ist nicht verwunderlich: Die Menschen in Belarus waren schon immer »unglaublich«. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht stolz bin: Die Belarusen, die so viel geopfert und so viel durchgemacht haben, kämpfen weiter und helfen Menschen in Not. Komme, was wolle.

Aber in diesen Stolz mischt sich auch Schmerz: Der Schmerz im Gedenken an diejenigen, die nicht mehr unter uns sind oder deren Angehörige nie mehr nach Hause zurückkehren werden. Die Tochter von Alexander Taraikowski wird ihren Vater niemals wiedersehen, und die Mutter von Alexander Wichor wird ihren Sohn niemals wieder in die Arme schließen können. Die Tochter des politischen Gefangenen Eduard Paltschis wurde ohne ihren Vater geboren und hat ihn noch nie gesehen – und wird ihn, laut Gerichtsurteil, auch weitere 13 Jahre nicht kennen lernen. Mikita Salatarou verbringt seine Kindheit und Jugend im Gefängnis, nachdem er im Alter von 16 Jahren zu viereinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt wurde. Pawel Kutschinski, der zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde und an einer Krebserkrankung im Stadium IV leidet, kämpft nun schon seit einem halben Jahr um sein Leben. Es gibt Tausende solcher Geschichten. Jede einzelne ist voller Schmerz und Hoffnung. Und auch Swetlana Tichanowskaja und die Kinder von Sergei Tichanowski warten immer noch auf ihren Ehemann und Papa und hoffen, dass er bald nach Hause kommt. Dass wir alle bald wieder zu Hause sein werden

Man mag jetzt keine Massenproteste und Menschenmengen mit weiß-rot-weißen Fahnen in den Straßen von Minsk sehen, aber das bedeutet nicht, dass die Belarusen aufgehört hätten zu kämpfen: Viele kämpfen weiterhin im Untergrund, legen Flugblätter und Samisdat-Zeitungen in die Briefkästen ihrer Nachbarn, sabotieren die Arbeit von Fabriken und Staatsbetrieben, organisieren humanitäre Hilfe für die Ukraine und unterstützen die Familien der politischen Gefangenen.

Am Anfang des Krieges weigerten sich mutige belarusische Lokführer, Züge mit russischer Militärausrüstung zu fahren, wofür sie mit ihrer Entlassung und einige sogar mit ihrer Freiheit bezahlen mussten. Und die belarusischen Partisanen setzen ihre Cyberattacken und die Angriffe auf das Schienennetz des Landes fort, indem sie Eisenbahnanlagen sabotieren und die Gleise blockieren. Bereits im ersten Kriegsmonat wurden in drei Regionen von Belarus mehrere Streckenabschnitte, auf denen russische Militäreinheiten befördert werden sollten, lahmgelegt. Mindestens acht Belarusen bezahlten diesen »Eisenbahnkrieg« mit ihrer Freiheit und wurden als »Terroristen« eingestuft, wofür sie nun mit dem Tod bestraft werden könnten. Denn am 4. Mai 2022 billigte der Rat der Republik einen Gesetzentwurf, der die Todesstrafe für »Terrorismus und versuchten Terrorismus« vorsieht. Belarus, das einzige Land in Europa, in dem die Todesstrafe verhängt wird, verschärfte damit die bisherige Gesetzgebung, weitete sie auf die protestierenden Bürger aus, die damit mehrheitlich als sogenannte Terroristen eingestuft werden. Wie auch ich.

Doch wir Belarusen sehen diese Bezeichnung als einen Ehrentitel an, wir tragen ihn mit Stolz – auch wenn es sich dabei nicht um eine akademische, sondern um eine Auszeichnung qua Straftatbestand handelt.

Die Belarusen wissen, dass es ohne eine freie Ukraine kein freies Belarus geben kann. So ist der Krieg dort unser gemeinsamer Krieg, den wir gewinnen müssen. Jahre des Terrors, des Krieges, der Gewalt und der Unterdrückung müssen in Osteuropa ein für alle Mal ein Ende haben. Unsere beiden Völker haben schon viel zu lange leiden müssen.

Als Belarusin hat man keine Wahl. Ob man nun Ingenieur oder Programmiererin, Schauspieler oder Künstlerin, Geschäftsmann oder Ärztin ist: Alle Wege führen in Belarus in die Politik. Früher oder später engagiert man sich, setzt sich für die Menschenrechte ein, wird zum Aktivisten oder zur Bloggerin. Auch ich habe mir meinen Weg nicht ausgesucht: Meine Geschichte spiegelt die Geschichte einer Generation von Belarusen wider, die unter Lukaschenkos Regime geboren wurde und aufwuchs. Wir sind die Kinder, die unter Lukaschenkos Porträt groß wurden und zur Schule gingen, denen von der ersten Klasse an beigebracht wurde, »das Vaterland zu lieben«, und die gezwungen wurden, an Militärparaden teilzunehmen.

Wir sind eine Generation, die die postsowjetische Ära mit ihrer Mangelwirtschaft und den vielen Schwierigkeiten erfuhr, die die Lukaschenko-Diktatur mit ihrer Unterdrückung und ihrem politischen Druck über uns brachte – und in der aus dieser Konstellation heraus auf wunderbare Weise ein unerschütterlicher Wunsch nach Freiheit wuchs. Dieser war die Voraussetzung für die Revolution in Belarus im Jahr 2020 und er ist heute das, was uns antreibt, unsere Arbeit fortzusetzen.

In meiner Erzählung überlagert sich die Geschichte von Belarus – ausgehend vom Aufstieg Lukaschenkos 1994 bis zu seiner Machtergreifung 1995 – mit der Geschichte einer ganz normalen belarusischen Familie: meiner Familie, in deren Leben sich unwillkürlich das politische und soziale Gefüge des Landes widerspiegelt. Ich versuche, die unmittelbaren Auswirkungen der politischen Ereignisse auf das Alltagsleben der belarusischen Bevölkerung zu zeigen. Dabei schlage ich einen Bogen von der postsowjetischen Zeit über die Errichtung eines autoritären Regimes bis hinein in unsere Zeit, bis zu den Kämpfen der Belarusen im Exil nach 2020 und zu den Auswirkungen aktueller Ereignisse, wie vor allem des Krieges in der Ukraine. Ich möchte mit meinem Buch einen Einblick in die heutige Lebenswirklichkeit der belarusischen Bevölkerung geben.

Jeder Belaruse, der gegen das Regime protestiert, unternimmt einen großen Schritt, bringt große Opfer auf dem Weg in unsere gemeinsame Freiheit, auf dem Weg zu Frieden und Demokratie. Und auch wenn wir jetzt noch nicht nach Hause zurück können, auch wenn wir jetzt noch nicht geliebte Menschen und Verwandte aus den Gefängnissen befreien und über die vielen Helden unserer Zeit laut sprechen können, so bedeutet das nicht, dass wir verloren hätten. Es bedeutet vielmehr, dass der Kampf noch nicht vorbei ist und dass wir weiterkämpfen werden. Komme, was wolle.

Es lebe Belarus und ein Hoch auf die Ukraine!

Viktorya Andrukovič

Vilnius, den 16. Juni 2022

Einleitung

Am 24. Februar 2022 verriet Alexander Lukaschenko sein Land. Er machte Belarus zum Aufmarschgebiet für einen Krieg, der nicht geführt werden dürfte. Einen Krieg, in dem Russland mit erfundenen Vorwürfen die Ukraine angreift, ein freies Land. Ein Land, das uns als Vorbild diente. Ein Land, dessen Bevölkerung sich nach langen Kämpfen und großen Entbehrungen für die Freiheit und gegen die alte sowjetische Ordnung entschieden hatte.

Seine Legitimation als Herrscher in Belarus hatte Alexander Lukaschenko allerdings schon lange vor diesem Datum verloren, spätestens aber am 20. August 2020: Es war der Tag, an dem die jüngste Präsidentschaftswahl stattfand. Und das war der letzte Tag, an dem sich Lukaschenko vor dem Zorn seines Volkes sicher fühlen konnte. Eigentlich hatte ihn sein Volk damals abgewählt. Offiziell aber wurde ihm das Amt mit 80,08 Prozent der abgegebenen Stimmen zugesprochen. Die Wahl war manipuliert worden, gefälscht. So offensichtlich wie keine andere Wahl zuvor unter seiner Herrschaft.

26 Jahre hatte Alexander Lukaschenko zu diesem Zeitpunkt bereits in Belarus geherrscht. Er war 1994 in einer demokratischen Abstimmung gewählt worden, aber nur, um dann nach der absoluten Macht zu greifen. Er zerstörte die gerade erwachende demokratische Kultur eines Landes, das sich gerade aus den Trümmern der Sowjetunion gelöst und unabhängig erklärt hatte. Es war ein Land, dass sich neu orientieren musste, ein verletzliches Land. Und diese Verletzlichkeit muss jemandem wie Lukaschenko verlockend vorgekommen sein. Er nutzte die darin liegende Chance und formte ein Land, das vor allem seinem Machtanspruch und seinem Gewinnstreben dient. Und seinem Wunsch, gemeinsam mit Russland ein Reich zu bilden, Belarus und Russland als zwei bedeutende Länder in Europas Osten zu etablieren. Eine Idee, die er mit Wladimir Putin teilt, den er als einziger Machthaber in Europa bei seinem furchtbaren Zerstörungskrieg gegen die Ukraine unterstützt.

»Der letzte Diktator Europas« wird Lukaschenko immer wieder genannt. Er empfindet diesen Titel als Auszeichnung, macht sich zwar darüber lustig, zitiert ihn aber gern. Während seiner Herrschaft entwickelte er eine gewisse Folklore, tritt gern vor Kulissen auf, die an die Sowjetzeit erinnern. Lukaschenko wirkt auf Menschen aus dem Westen oft voller Klischees. Sie verharmlosen ihn, sehen ihn als kleinen Diktatorendarsteller und machen sich über lustig ihn. Über seine hohe Stimme, seinen Schnauzbart, sein bäuerliches Auftreten. Doch er ist keine Witzfigur. Im Gegenteil: Auf sein Konto gehen viele Tote, Hunderte Schwerverletzte, Tausende politische Gefangene und ein unfreies Land. Er sperrt sein Volk ein, unterdrückt die Opposition und beteiligt sich an dem schwersten Krieg auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Gleichzeitig ist Lukaschenko aber auch ein Mann, der spätestens seit dem Spätsommer 2020 Angst hat. Und diese auch haben muss: Zum ersten Mal rebellierte sein Volk in solch einem Ausmaß gegen ihn, wehrte sich lautstark gegen ihn. Hunderttausende Menschen protestierten friedlich gegen die offensichtlichen Wahlfälschungen. Sie zeigten, dass sie ein anderes Belarus wollen, ein freies Land, ein Land ohne Angst. Ein paar Tage lang schaute Lukaschenko zu, dann schlug er zurück, ließ Tausende Menschen verhaften. Auch wenn sich der Protest seit dem Herbst 2020 neue Wege suchen musste, in der Öffentlichkeit kaum mehr stattfinden konnte: Es gibt Hoffnung für Belarus.

Die Proteste von 2020 setzten etwas Neues in Gang, wirken bis heute nach: Immer mehr Menschen wenden sich von Lukaschenko ab, auch wenn sie sich selten trauen, das offen zu zeigen.

Und das ist nicht verwunderlich: Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen wurden verboten, ihre Mitarbeiter verhaftet und aus fadenscheinigen Gründen verurteilt. Inzwischen gilt man in Belarus bereits als verdächtig, wenn man die falschen Telegram-Kanäle abonniert, wenn man rote und weiße Kleidung trägt oder einen weiß-roten Regenschirm bei sich hat. Rot und Weiß, das sind die Farben der Flagge der ersten belarusischen Republik. Die Farben jener Flagge, die den Widerstand gegen Lukaschenko eint.

Im letzten Jahr stieg die Zahl der Menschen, die verhaftet, verurteilt und eingesperrt wurden, drastisch. Immer wieder gibt es kleine Wellen, bei denen gegen vermeintliche oder tatsächliche Oppositionelle vorgegangen wird: Ihre Wohnungen werden gestürmt, sie werden in Vorlesungen an der Universität festgenommen oder auf offener Straße verhaftet. Sie werden zu langen Haftstrafen verurteilt, teilweise in Schauprozessen, die nicht im Gericht, sondern an ihren Arbeitsplätzen oder in ihren Universitäten stattfinden. Sie müssen unter Zwang Abbitte leisten, sich an den Pranger stellen lassen.

Auch mich hätte beinahe dieses Schicksal ereilt: Auch ich wäre fast im Gefängnis gelandet, hätte einen Prozess über mich ergehen lassen müssen. Doch ich hatte Glück: Ich sah die Warnsignale, konnte einer Verhaftung gerade noch entgehen und fliehen. Ich konnte – und musste – meine Heimat verlassen. Ich musste meine Familie zurücklassen, viele Freunde. Ich musste meine Arbeit aufgeben, musste ein neues Leben beginnen. Jetzt lebe ich in Litauen, in Vilnius. Kaum 200 Kilometer entfernt von meiner Heimatstadt Grodno und doch weiter weg, als jemals zuvor. Zwischen mir und meinem Land liegt eine Grenze, die ich nicht überqueren kann, ohne festgenommen zu werden. Ich weiß, dass ich nicht mehr zurück kann nach Belarus, so lange Lukaschenko das Land beherrscht.

Ich war 26 Jahre alt, als ich fliehen musste. Genauso lange war Lukaschenko damals schon Herrscher über Belarus. Er kam im Sommer 1994 an die Macht, ich wurde im Dezember 1994 geboren. Ich kannte Belarus nur unter seiner Herrschaft, war an sein Gesicht gewöhnt, das in allen Amtsstuben des Landes, in allen Klassenzimmern hängt. Ich dachte auf meiner Reise darüber nach, wie es gekommen war, dass ich auf einmal zur Opposition gehörte, dass ich mich nicht anpassen wollte in diesem autoritären Staat. Wie es dazu gekommen war, dass ich fliehen musste. Es war ein langer Weg für mich. Ein Weg, auf dem ich manches erleiden musste, auf dem ich aber auch viele Menschen kennenlernte, mit denen ich die gleichen Ziele teile, mit denen ich gemeinsam dafür kämpfen werde, dass mein Land ein freies wird.

Am Morgen des 24. Februar 2022 kamen diese Gedanken alle wieder zurück. Ein Jahr nach meiner Flucht stand ich mit der Zahnbürste im Mund im Bad und hörte die Nachrichten, die mir unwirklich vorkamen. Russland hatte seine alte Drohung wahr gemacht, hatte die Ukraine angegriffen. Ein Jahr, nachdem ich in einem alten Militärlaster geflüchtet war, marschierten tatsächlich russische Truppen in die Ukraine ein. Ich hätte mir damals in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass Tschernihiw, eine Stadt im Norden der Ukraine, durch die ich auf meiner Flucht gekommen war, mit Raketen beschossen würde, die von meinem Heimatland aus abgefeuert würden. Ich hätte nie gedacht, dass die Straßen von Kiew, auf denen ich mit meinen Freunden spazieren gegangen war, von russischen Truppen bombardiert werden könnten, dass die U-Bahn-Tunnel der Stadt zu Luftschutzbunkern werden würden. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein Freund in die Ukraine geht, um dort im Krieg zu kämpfen. Oder dass zwei meiner Landsleute in der Ukraine von Geschossen getötet werden könnten, die aus Belarus stammten. Dass aus dem Luftraum über Belarus Raketen auf ein Einkaufszentrum abgefeuert werden könnten.

Wie die Bomben auf Kiew und Charkiw prasselten die Nachrichten auf mich ein. Freunde und Verwandte meldeten sich, wir standen unter Schock. Die Botschaft der Bomben war uns klar: Dieser Angriff galt nicht nur einem Land, er galt der Freiheit, für die wir einstanden, für die wir kämpften. Der Freiheit, die uns in Belarus weiter verwehrt bleibt und die sich die Menschen in der Ukraine mit dem Aufstand während des Maidan erkämpft hatten.

Dieser Krieg ist der schreckliche Beweis dafür, dass die alten Kräfte noch lange nicht besiegt sind. Sie können jederzeit wieder auferstehen, wie dunkle Geister aus der Vergangenheit. Sie suchen nicht nur die Ukraine heim, sondern auch Belarus, Georgien oder die Republik Moldau. Der Geist der Unfreiheit lebt in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, er lässt uns nicht los, erscheint in jedem dieser Länder in einem anderen Licht.

Dieser Krieg, den Russland in der Ukraine angefangen hat, wird gegen Freiheit und Selbstbestimmung geführt, gegen alle, die in diesen Ländern für Freiheit und Frieden eintreten. Es ist ein Kampf, den wir gemeinsam ausfechten müssen, auch wenn die Frontlinien sehr unterschiedlich verlaufen. Und wenn dieser Krieg eines bewirkt, dann ist das eine noch größere Entschlossenheit, für die Freiheit zu kämpfen und die Geister der Vergangenheit endgültig zu vertreiben.

Ein Jahrhundert der Katastrophen

Belarus: Das Land zwischen den Fronten

Ausgedehnte Sümpfe, breite Flüsse, dichte Wälder: Nur wenige Hundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, verhinderte die belarusische Landschaft den weiteren Vormarsch der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Die Wälder im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Polen und Belarus schienen undurchdringlich. Südlich schlossen sich die Sümpfe an die Ufer des Prypjat an, ein großer Fluss im Grenzgebiet zwischen Belarus und der Ukraine.

Belarus lag damals im Westen des russischen Zarenreiches, zwischen den polnischen Gebieten und dem russischen Kernland. Südlich schloss sich die Ukraine an, ebenfalls russisches Gebiet. Beide Länder konnten auf eine bewegte Geschichte zurückblicken, hatten zu immer wieder wechselnden Staatsgebilden gehört. Doch all das war nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was ihnen im 20. Jahrhundert bevorstehen sollte. Sie lagen im Zentrum eines Gebietes, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von Polen bis zur heutigen Westgrenze Russlands reichte und das der amerikanische Historiker Timothy Snyder als »Bloodlands« bezeichnete. Es war ein Gebiet, das zum Schauplatz der schlimmsten Verbrechen an der Menschheit werden würde. Das Zeuge werden würde von großen, erbarmungslosen Schlachten, von Völkermord und von der systematischen Vernichtung von Menschen.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stellte für viele Länder einen hoffnungsvollen Aufbruch in die Moderne dar: Monarchien wurden abgeschafft, Parlamente gebildet, demokratische Strukturen eingeführt, und neue Nationalgefühle gaben den Völkern eine eigene Identität.

Aber inwieweit, für wie lange und unter welchen Bedingungen diese Zukunftsvisionen Realität wurden, fiel sehr unterschiedlich aus: Finnland wurde wieder frei, die baltischen Staaten bekamen – erst einmal – ihre Souveränität zurück, und es gründete sich ein neues Polen. Für Belarus und die Ukraine aber währte die Hoffnung auf Unabhängigkeit nur allzu kurz: 1918 wurde die Belarusische Volksrepublik (BNR) ausgerufen, die jedoch um ihre Anerkennung bei den Verhandlungen zur Neuordnung Europas kämpfen musste. Vergeblich. Die Rote Armee besetzte den östlichen Teil des Landes, der am 1. Januar 1919 schließlich der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Der westliche Teil des Landes fiel an Polen. Nur wenig besser erging es der Ukraine: Das Land wurde nach zwei Jahren Unabhängigkeit von der Roten Armee erobert und als Sowjetrepublik der UdSSR angegliedert.

In Belarus ist die einzige Erinnerung an diese Zeit des Aufbruchs die Rada, der Rat der BNR, der Ende 1917 zum ersten Mal zusammentrat. Diese älteste Exilregierung der Welt arbeitet bis heute in Kanada und unterstützte von dort aus erst die Opposition gegen die Sowjetunion und heute den Kampf gegen Lukaschenko.

Die Besetzung und Teilung der beiden Länder war aber nur der erste Schritt in den Jahrzehnten des Terrors: Josef Stalin folgte auf Lenin, die Sowjetunion wurde zu einem paranoiden Staat, in dem Terror und Mord zum politischen Tagesgeschäft gehörten. Millionen von Menschen wurden unter Stalins Herrschaft getötet. Allein zwischen 1930 und 1933 starben zwischen 3 und 3,5 Millionen Menschen an einer staatlich herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine. »Holodomor« nennen die Ukrainer diese Zeit, Hungertod. Nach dem Hunger kamen die stalinistischen Säuberungen, denen insgesamt Hunderttausende zum Opfer fielen. Im Zweiten Weltkrieg errichtete die deutsche Armee auch in Belarus und der Ukraine Vernichtungslager und brannte auf dem Rückzug große Teile des Landes nieder. Danach plünderte die Rote Armee Felder und Ställe.

Mehr als 14 Millionen Zivilisten wurden zwischen 1933 und 1945 in den »Bloodlands« getötet.

Meine Familie im Krieg

Mein Urgroßvater starb in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Er kämpfte gegen die Sowjets, die in den Osten Polens vorrückten, nachdem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet worden war. Er stammte, wie große Teile der Familie meiner Mutter, aus dem kleinen Dorf Hniezna, knapp 70 Kilometer südlich von Grodno und 70 Kilometer östlich von Białystok gelegen. Ein Ort, der auch heute nicht viel mehr ist als eine Ansammlung kleiner Holzhäuser, die sich um eine Backsteinkirche gruppieren.