Augen auf und durch - Clelia Meyer - E-Book

Augen auf und durch E-Book

Clelia Meyer

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Beschreibung

"Wer jedes Jahr nach MALOJA kommt, wird lange auf dieser Erde bleiben", steht in Französisch auf der Stirnwand eines Hotels am Malojapass. Clelia Meyer will es wissen und ist schon weit über siebzig Mal da gewesen. Und als ihr Mann sich in einen dortigen Berg verliebt und nur noch hört: "Mal" und antwortet "O JA", beginnt sie, den hoch über Maloja entspringenden Gewässern, die in Nordsee, Mittel- und Schwarzem Meer münden, und ihrem eigenen Lebensfluss nachzuspüren.

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für meinen Bruder Georg meinen Sohn Achim meinen Mann Klaus

Inhaltsverzeichnis:

Erster Teil

Rheinaufwärts mit Scho-ka-kola

Erste Station: Eguisheim

Wurzelsuche Zweite Station: Flaach

Meine Mutter: Dr. med. Marguerite Meyer-Baur

Vom Rhein zur Rhone. Dritte Station: Mörel

Mein Vater: Dr. med. Ernst Meyer-Baur

Zur Zeit des zweiten Weltkriegs

Das Haus meiner Eltern und Schulzeit

Zum Ticino. Vierte Station: Lago Maggiore

Neue Horizonte am Pfauen

Planet Venus

Nach dem Tod meiner Mutter

Die Bretter, die mir die Welt bedeuten

Fünfte Station: Arogno u. sechste Station Aqua Rossa

Siebte Station: Trun u. achte Station: Chur

Am Ziel: Maloja unsere neunte Station

Der Sprung ins Rheinland

Ein neues Leben

Die Weihnachtsmäuse

Das Eifelhäuschen: Eine Pastorale

Im Lechenicher Haus

Zwischenspiel in Pulheim

Wieder auf eigenem Grund und Boden

Die Jahre nach der Scheidung

Zehnte Station: Zürich

Letzte, elfte Station: Tunisee

Zweiter Teil

Nach meinem 50. Geburtstag

Erste und zweite Station: Tübingen u. Regensburg

Inn und Donau. Dritte Station: Linz

Vierte Station: Wachau u. fünfte Station: Jennersdorf

Nach meinem 55. Geburtstag

Sechste Station: Am Meer in Slowenien

Siebte Station: Aquileia und achte Station: Venedig

Neunte Station: Müstair im Val Müstair

Zehnte Station: Maloja

Elfte u. zwölfte Station: Zürich u. Gräfenberg

Gegenwart in kursiv

Vergangenheit nicht kursiv

Der Zeiten-Wechsel ist gekennzeichnet durch XXXX

Erster Teil

Rhein aufwärts mit Scho-ka-kola Start in die Ferien im Juni 2009.

Klaus, mein Mann, plante diese Reise, rheinaufwärts zu den Quellen, mit dem Ziel bei Vollmond in Maloja vor dem Piz Lagrev zu sein. Er hatte sich vor einem Jahr auf dem Campingplatz in den Berg, den wir täglich vor Augen hatten, verliebt und bereits malerisch einige Stimmungen eingefangen. Eine Arbeit, die er fortsetzen will. Angesichts dieser lunaren Zielsetzung beschließe ich, mich auf den Weg zu konzentrieren und ein schon lange Vorgehabtes endlich zu tun und unterwegs täglich den Verknäuelungen, Sackgassen und Gabelungen meines wirren Lebensweges nachzugehen und sie aufzuzeichnen. Das Engadin ist für mich ein wichtige Wegkreuzung, die mich magisch immer wieder anzieht. Ursprung und Endpunkt der Reise ist für mich Zürich, meine Geburts- und Vaterstadt, von der ich einfach nicht loskomme. Spiralig wollen wir uns diesem Ziel nähern.

Seit wir, Klaus und ich, zusammen sind, ist Camping unser Ding. Zuerst mit Zelt, dann mit selbst gebastelten Liegen im kleinen Lieferwagen. Seit vier Jahren besitzen wir einen komfortablen Campingbus, mit Küche, Bad und Festbett, wendig, alltags- und bergtauglich.

Der Stress der letzten Wochen liegt uns noch in den Knochen. Wir hatten eine große gemeinsame Ausstellung an einem Wochenende in einem Rohbau mit über 300qm auf drei Ebenen. Klaus hat neben seinen großformatigen Zyklen zum ersten mal wieder Landschaften u. a. eben den Piz Lagrev ausgestellt, nachdem jahrzehntelang der Mensch im Zentrum seiner Bildwelten stand. Ich hatte eine 3x2x1-meter große Rhein-Installation aufgebaut um darauf hinzuweisen, dass der Mythos: „Deutscher Rhein“ seine Quellen auf ca. 1900 m.ü.M. in der Schweiz und seine Mündungen in Holland hat. Dazu kommt, dass Liechtenstein, Österreich und Frankreich ihn zeitweise begrenzen. So habe ich mit 13 Kisten sowohl sein Gefälle als auch seinen 1320 km langen Verlauf mit großem Knie bei Basel nach 400 km simuliert; in Köln strömt er nach etwa 950 km vorbei. Über die Kisten ergoss sich ein türkiser Leinenfluss, aus dem schwarzweiße Rheinkiesel ragten. Auf dem Mündungssand sonnte sich eine Robbe, ein Schwemmholz-Fundstück aus dem Bodensee.

Besuche aus Berlin und Bayern waren zuletzt noch bei uns, mein Sohn Achim und Klaus' Sohn Stephan mit seiner neuen Freundin.- Wir beschließen alles hinter uns zu lassen; sollten wir beim hastigen Einpacken etwas vergessen haben, kann man es meist ersetzen. Klaus übernimmt wie immer die erste Etappe. Als ich dann am Steuer sitze, überfällt mich schon bald eine Müdigkeit, die ich mit Tiefatmen, Kauen, Daumen-beißen und Wangentätscheln zu überwinden suche. Der Segafredo im Rasthof Wonnegau hilft wenig; ich muss, will auch weiterfahren, denn mein Soll von 90 Minuten ist noch nicht erfüllt und Klaus ist auch müde. Mit den gesammelten Pipibons von SANIFAIR ersteht Klaus eine Dose SCHO-KA-KOLA. Für mich ein Schlüsselreiz: Wie ein Pawlowscher Hund steige ich in einen alten Film ein:

XXXX

Ich fahre, acht Tage nach der Geburt meines Sohnes Achim, am 26. Mai 1972 mit meinem alten, kleinen Saab mit der Nummer ZH131754 (ich konnte mich in den sieben Jahren, die ich schon in Deutschland wohne, nicht von ihr trennen) von Köln nach Boppard, wo meine Tante Hilde, eine Cousine meines Vaters wohnt. Sie ist die Tochter meines Großonkels Wilhelm Meyer-Lübke, der in Bonn Professor für Romanistik und Linguistik war. Von welchem es in der Familiensaga heißt, dass er erst mit vier Jahren anfing zu sprechen, aber dann gleich perfekt. Tante Hilde ist verwitwet und war lange Zeit mit zwei Söhnen alleinerziehend. Sie hatte mich eingeladen, ein paar Wochen nach der Geburt bei ihr zu verbringen.

Da ich in meinem Psychologie-Studium kurz vor dem Abschluss stehe und nur noch selten zur Uni muss, habe ich dieses Angebot gerne angenommen. Ich fahre also auf der Bundesstraße 9 rheinaufwärts mit meinem kleinen Meyerlein, der friedlich auf dem Rücksitz in seiner roten Tragetasche schläft. Ich fühle mich noch etwas schlapp.

Und plötzlich überfällt mich schlagartig eine bleischwere Müdigkeit. Ich versuche dagegen anzukämpfen, beiße auf meinem Daumen herum, grimassiere und kneife die Pobacken zusammen. Ich reiße die Augen auf, trotzdem fängt die Straße an zu flimmern und verschwimmt. Als ich dann nach einer Kurve auf eine Bahnunterführung zusteuere, und die Mauer so seltsam auf mich zu wankt, wird mir schlagartig klar, dass ich anhalten muss. Zum Glück kommt rechter Hand ein Parkplatz, auf dem ich den Wagen ausrollen lassen kann. „Mensch, Mensch, du bist nicht mehr allein, du hast ein Kind!“- hämmert es in meinem Kopf, während mir der Schweiß ausbricht -„So kannst du nicht weiterfahren!“ Ich atme erst einmal tief durch. Und sehe mich nach Achim um. Er schlummert friedlich. Tränen steigen auf: „Was bist du für eine Mutter!“ Der Dammschnitt, kaum verheilt, fängt an zu brennen. Ich komme zu mir. Sehe mich um. Auf dem Parkplatz steht ein Büdchen. Ich fahre näher ran und parke davor. Gehe rein.

Kaffee hat sie gerade nicht. Dann sehe ich die rote Dose SCHO-KA-KOLA. Ich hatte so was noch nie gekauft: war mir irgendwie zu deutsch. Doch jetzt erscheint mir die Dose wie ein Rettungsanker. Ich greife danach und bezahle. Gehe zum Auto zurück. Achim reckt sich, runzelt seine Stirn, drei tiefe Querfalten entstehen, er zieht ein Schnütchen, seine winzigen Hände fuchteln herum, ich murmele beruhigend auf ihn ein, und er sinkt wieder in Tiefschlaf. Nun mache ich mich über die Dose her, versuche sie zu öffnen, was nicht gleich gelingt. Ich esse langsam vier Stück und hoffe auf die versprochene Wirkung: „Wie ein starker Espresso“. Langsam fühle ich mich besser. Ein paar Minuten gönne ich mir noch. Es ist nicht mehr weit bis Koblenz. Noch niemand aus meiner Familie hat den kleinen Kerl gesehen, und ich möchte bald ankommen. Also fahre ich los. Die Strecke hinter Koblenz verläuft direkt am Rhein, ich genieße die Fahrt und lande sicher mit meinem Kind vor Tante Hildes Haus. Sie empfängt uns sehr herzlich und bewundert den Familienzuwachs gebührend. Nur einer meiner Vettern meint mosern zu müssen: „So ein hässliches Kind habe ich noch nie gesehen.“

XXXX

Erste Station: Eguisheim

Dank Scho-ka-kola sind wir heil in Eguisheim im Elsaß eingetroffen, unserem ersten Campingplatz. Er liegt mitten in den Weinbergen über dem enggassigen, von drei Schlössern bewachten, pittoresken Weinort südwestlich von Colmar. Von hier ist es nicht weit bis Ronchamp und der von Corbusier erbauten Kapelle. Bei Sturm und heftigen Gewittern fahren wir dahin. Wir platzen in eine Messe, die für eine Schar Kinder auf Klassenfahrt abgehalten wird. Wir setzen uns. Doch die anschließende Führung, bei der die Kinder herum rennen und quatschen, lässt nicht die Ergriffenheit aufkommen, die ich vor 50 Jahren verspürte, als ich mit meinem Vater die Kapelle besuchte. Die Lichtstrahlung, das durch die durchbrochenen Wände hereinflutende Licht, die Lichtgebilde in dem dunklen, höhlenartigen, fast leeren Raum hatten mich damals überwältigt. Jetzt war es kaum möglich, das Innere in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen. Die äußere Gestalt jedoch, mit ihren Rundungen und Schwebungen, mit ihren scharfen Kanten und Spitzen, ihren Ein- und Ausrollungen, wie sie da auf dieser Erhebung, als Mahnmal des Friedens und der Einheit in der Vielfalt, in alle Himmelsrichtungen ausstrahlt, hat mich wieder tief beeindruckt.

Morgen ziehen wir weiter, denn das Wetter rät uns, die Nähe einer Stadt aufzusuchen. Ich sitze im Beifahrersitz des Busses und sehe zu, wie der Wind eine Wolkenwand nach der anderen aus der Burgundischen Pforte herübertreibt. Vielleicht nach Basel, das in etwa 60 km Luftlinie Rhein aufwärts liegt?

XXXX

Basel, wo meine beiden Brüder geboren wurden und etwa zwei Jahre lebten. Mein Bruder Georg Felix kam im August 1928, wegen Überfüllung des Kreißsaals, in der Bibliothek des Frauenspitals zur Welt. Ein gutes Jahr später folgte Peter David. Mein Vater, Ernst Meyer, war Assistenzarzt am Kinderspital. Ein französisch sprechendes Kindermädchen betreute die beiden Buben, so dass sie zuerst Französisch sprechen lernten. Meine Mutter, Marguerite Meyer-Baur, die als gebürtige Zürcherin in Lausanne und Genf aufgewachsen war, eröffnete an der Weinbergstraße in Zürich eine Kinderarztpraxis, so dass sich die Familie nur an den Wochenenden traf. Die drei Männer folgten der Mutter 1930 mit Kindermädchen nach Zürich, zuerst an die Hochstraße, 1932 an die Boleystraße, um schließlich 1935 an der Stampfenbachstr. 115 eine große Wohnung zu beziehen, in der auch die Praxis Platz fand. Kindergartenbesuch gab es wie später auch bei mir nicht. Dafür wohnten ganz in der Nähe zwei Pfarrers-Familien mit vielen Kindern, die eine deutsch, die andere französisch, sprechend, wo meine Brüder aus und eingingen und nun auch mit Züridütsch vertraut wurden. Die beiden machten alles zusammen. Georg war eher ruhig, besonnen, Peter dagegen war ein kleines Energiebündel mit umwerfendem Charme. Georg wurde im Frühjahr 1935, Peter ein Jahr später in die Übungsschule des Lehrerseminars Unterstrass eingeschult. Direkt daneben kauften die Eltern ein großes, damals etwa hundertjähriges Haus, das sich hinter einer riesigen Blutbuche versteckte, die der Rötel- und Rotbuchstraße, an deren Kreuzung sie stand, auch die Namen gegeben haben soll. Dieses Haus hat eine frappierende Ähnlichkeit mit dem „Doktorhaus“ in Dübendorf, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Ein Anbau für zwei Praxisräume mit einer großen Terrasse darüber wurde angefügt. So war reichlich Platz für Praxis und Wohnen vorhanden. Die Erweiterung war schon fast fertig, der Umzug ins eigene Haus bereitete sich vor: Da infizierten sich meine beiden Brüder Weihnachten 1936 mit Masern. Georg war danach ziemlich geschwächt und wurde zur Erholung mit Tante Hilde aus Boppard, die zufällig in Zürich weilte, auf die Lenzerheide geschickt. Dort hörten die beiden Ende Januar am Telefon: Peter sei wieder erkrankt und liege jetzt im Kinderspital. Dann nach wenigen Tagen kam erneut ein Anruf mit der Nachricht: Peter sei gestorben. Georg solle jetzt ganz tapfer sein und nicht weinen. Peter war an einer Mediastenitis erkrankt. Das heißt der ganze Bronchialbereich und dann auch die Lungen waren total vereitert. Ein Luftröhrenschnitt konnte ihn auch nicht mehr retten. Er starb am 3. Februar 1937. Die Familie war traumatisiert.

Doch es musste weitergehen. Meine Mutter war oft krank und fast 40 Jahre alt. Zum Trauern ließ man sich keine Zeit: bald war sie wieder schwanger – der Umzug fand statt, die Praxis wurde eröffnet – und am 7. Februar 1938 wurde ich in der Klinik Hirslanden per Kaiserschnitt in diese Welt befördert. Mit meinen leicht schrägen Schlitzaugen versetzte ich meine Mutter in Angst und Schrecken: Sie dachte ich sei mongoloid. Ich bekam drei Namen: Clelia als Rufname von meinem Vater, Marguerite nach meiner Mutter und Madeleine von meinem Bruder, der heimlich für ein Mädchen dieses Namens schwärmte.

Mir wird ziemlich bald bewusst, dass ich nur auf dieser Welt bin, WEIL mein Bruder Peter verstorben ist. Sein Charme, seine Originalität, seine Fantasie, sein spitzbübisches Lachen werden immer wieder gern erinnert von allen, die ihn kannten.

Im Elternschlafzimmer stand auf einer Kommode seine Urne. Der kürzeste Weg ins Badezimmer von meinem Zimmer aus führte durchs Elternschlafzimmer und an dieser Urne vorbei. Das Gefäß aus gebranntem Ton wurde von einem indisch gemusterten Tuch bedeckt. Davor steht ein gelbes Holz-Eimerchen mit farbigen Ringen, darin der Sand und die Steinchen, womit Peter zuletzt gespielt hat. An der Urne lehnt ein großes, schwarz gerahmtes Foto, aufgenommen in den Bergen, aus dem Peter, mit einem Strauß Alpenrosen in den Händen, mich mit zusammengepresstem Mund trotzig und vorwurfsvoll anblickt. Als Kind nahm ich an, dass es üblich und normal ist, dass die Urnen von Verstorbenen im Schlafzimmer stehen – ich kannte es nicht anders. Die Urne meines Bruders Peter wurde erst beim Tod meiner Mutter 1958 zusammen mit ihrer Urne im Familiengrab auf der Hohen Promenade beigesetzt.

XXXX

Wurzelsuche und GrenzsituationenZweite Station: Flaach

Wir beschließen doch nicht nach Basel zu fahren, sondern mitten durch den Schwarzwald das Rheinknie plus Industrie vermeidend. Wir queren das Rheintal und halten kurz in der Europastadt Breisach, wo wir das im Krieg zerstörte, wiederaufgebaute Stephans-Münster mit seinem grandiosen Holzschnitzaltar besuchen und in einer Minirösterei einen köstlichen Kaffee trinken. Weiter geht's durchs Münstertal über den Belchen nach Bad Säckingen mit der längsten Holzbrücke in Europa, fast 300 Meter lang. Wir spazieren über die Schweizergrenze in der Mitte dieser Brücke ohne Grenz-kontrollen nach Stein hinüber und wieder zurück. Das Schengener-Abkommen ist tatsächlich in Kraft. Keine Kontrollen mehr zwischen der Schweiz und dem Resteuropa. Viele Schweizer scheinen die neue Freiheit zu nutzen um im billigeren Eurodeutschland einzukaufen. Die wenigen Geschäfte auf der Stein-Seite trocknen aus.

Bad Säckingen besticht durch einen eleganten, nicht überladenen Barockkirchenbau, der dem heiligen Fridolin gewidmet ist. Wir folgen dem rechten Rheinufer stromaufwärts, bis wir wieder ohne jede Grenzkontrolle ins Rafzerfeld und ins Zürcher Weinland einfahren. Bei Rüdlingen überqueren wir den Rhein und rollen gleich links auf den idyllisch gelegenen Campingplatz in Flaach. Wir bekommen einen Platz direkt am Rhein, pure Natur, Vogelgezwitscher noch und noch. Gelegen ganz in der Nähe von Eglisau und Berg am Irchel, den beiden Orten, aus denen meine väterlichen und mütterlichen Vorfahren ausgezogen sind, um in der Stadt Zürich ihr Glück zu suchen. Es ist schon witzig, dass meine Vorfahren aus Orten kommen, deren Kirchen in Luftlinie fünf Kilometer auseinander liegen. Ein erstaunlicher Umstand, den ich mir jetzt erst wirklich klar mache. Ich dachte meine Herkunftsfamilien stammten aus verschiedenen Kontinenten. Die Welt meiner Mutter eher unkonventionell, weltoffen, mehrsprachig, leichtfüßig, die meines Vaters pflichtbewusst, autoritätsgläubig, traditionsverhaftet, bescheiden, sparsam, eher genussfeindlich.

XXXX

Die Biografie über meinen Ur-Ur-Großvater mütterlicherseits beginnt: „Nach dem Osterfest des Jahres 1837 zog der früh verwitwete, wackere Bauersmann Jakob Baur mit seinen fünf Kindern aus der alten Väterheimat Berg an Irchel fort, wo seit Menschengedenken sein Geschlecht gewohnt, geackert und gehirtet, gerebwerkt und geholzet hatte.“ Mein Ur-Ur-Großvater Jakob Baur begründete eine Baumeisterdynastie, die u.a. in der Gründerzeit nachhaltige Spuren in Zürich hinterlassen hat.

Zur gleichen Zeit, in der Jakob Baur aus Berg am Irchel auszog, 1837, lebte mein Ur-Ur-Großvater väterlicherseits Wilhelm Meyer-Ott bereits in Zürich als Stadtrat und Finanzvorstand. Er war der zwei Jahre ältere Bruder von Dr. Ferdinand Meyer, Historiker, Regierungsrat und Vater des Dichters Conrad Ferdinand Meyer. Ferdinand Meyer starb 1840 als sein Sohn eben 14 Jahre alt war. Die Mutter bezeichnete den Tod ihres Mannes als ihren Todesstoß und vergrub sich in ihren pietistischen Neigungen: 0bwohl sie protestantisch war, ließ sie sich als Nonne malen. Die Familie zog in das Haus meines Ur-Urgroßvaters, ihrem Schwager. Conrad, der eine lebhafte Fantasie besaß, konnte es seiner Mutter nicht recht machen. Von seinen poetischen Neigungen hielt sie nichts. Um mit ihm fertig zu werden, ließ sie ihn von ihrem Schwager verprügeln. Seine jüngere Schwester Betsy berichtet, dass er danach „wie gebrochen“ war. C.F. Meyer hat seinem Onkel Wilhelm, meinem Ur-Urgroßvater in der Novelle „Das Leiden eines Knaben“ ein Denkmal gesetzt: indem er ihn als grausamen Jesuiten Tellier porträtierte. Etwa 200 Jahre vor diesen Ereignissen sind die Meyerschen Vorfahren aus Eglisau weggezogen und haben das dortige Hirschenwappen mitgenommen und nannten sich fortan in Zürich die „Hirschen-Meyer“.

XXXX

Da es am nächsten Morgen aus Kübeln gießt, ziehen wir es vor, erst mal nach Schaffhausen zu fahren und den Ausflug in die unmittelbare Umgebung zu verschieben. In Rheinau, dem vom Rhein umschlungenen Dorf mit seiner barocken Klosterinsel, hören wir schon das gewaltige, urtümliche Brausen und Dröhnen des Rheinfalls. Über eine alte Holzbrücke wechseln wir wieder zweimal unkontrolliert die Grenze. Das Groteske ist allerdings, dass wir jetzt hinter der deutschen Grenze vom deutschen Zoll inspiziert werden, mit der Begründung, dass wir ja nicht aus einem EU-Land kämen. Wir nähern uns dem weltberühmten Naturschauspiel auf der rechten Rheinseite über einen Fußweg rheinaufwärts. Man muss sich schon sehr anstrengen, die scheußlichen Umbauungen auszuklammern um von einem „Naturwunder“ zu sprechen. In Schaffhausen enttäuscht uns das Museum zu Allerheiligen durch weitgehende Renovierungen. Offen ist nur die Geschichtsabteilung. Hier allerdings sehe ich die Bombardierung von Schaffhausen so dokumentiert, dass sie mir die Tränen in die Augen treibt. Ein Film der Wochenschau vom April 1944 ist zu sehen.

„Schaffhausen erlebte am 1. April 1944 einen folgenschweren Bombenangriff durch amerikanische Flieger. Um 10.50 Uhr fielen rund 500 Brand- und Sprengbomben auf das Stadtgebiet und lösten nahezu 50 Großbrände aus. 40 Menschen wurden dabei getötet, 270 wurden verletzt und zahlreiche Gebäude zerstört. Im Museum zu Allerheiligen und im Naturhistorischen Museum gingen unschätzbare Kulturgüter in Flammen auf.

Bomben mit tödlichen Folgen fielen 1944 noch auf Thayngen. 1945 auf Stein am Rhein und auf Neuhausen.“

XXXX

1945 war ich sieben Jahre alt. Kurz vor Ende des Krieges fielen auch Bomben auf Zürich, ganz in der Nähe unseres Hauses, nördlich, etwa tausend Meter Luftlinie entfernt, auf Häuser links neben dem Strickhof, einem Bauernhof am Waldrand. Ich war eben dabei am Klavier auf Geheiß „Hänschen klein“ 50 mal zu wiederholen, als eine gewaltige Detonation die Scheiben erklirren und mich vor Entsetzen erstarren lässt. Wir alle runter in den Luftschutzkeller - doch das Schlimmste war schon vorbei. Wir waren mit Angst und Schrecken davongekommen und pilgerten mit Schaudern zu den Zerstörungen, in denen zum Glück niemand umkam. Vorerst war ich von der Wiederholungsfron am Klavier befreit.

Die Leichtigkeit mit der man heute die Deutsch-Schweizerische Grenze passieren kann, kontrastiert stark zu dem von Furcht durchsetzten Grauen, das diese Grenze mir als Kind einflößte. Da drüben auf der anderen Rheinseite war Feindesland. Ich war anderthalb als der Krieg ausbrach.

XXXX

Im August 2009: Ich bin zurück von unserer Reise und da fällt mir ein Artikel vom 15./16.August S. 38 in der NZZ in die Finger, der genau an diese Stelle passt. „Trümmerfeld und Mondlandschaft / In der ersten Phase des zweiten Weltkriegs wäre Zürich bei einem Angriff zur Frontstadt geworden – Die Verteidigungslinie wäre mitten durch die Stadt verlaufen, entlang der Limmat bis zum Escher-Wyss-Platz.“ „Zürich war Teil der sogenannten Limmat-Linie entlang von Walensee, Linth, Zürichsee, Limmat und Bözberg. Hinter den Truppen an der Grenze sollte sich hier eine zweite Front formieren.“ Die Zürcher Behörden waren entrüstet. Es waren keine Evakuierungsmaßnahmen vorgesehen! „Im Juni 1940 wandte sich der Regierungsrat an den Bundesrat. Er solle sich vor Augen führen, <was es bei den modernen Kampfmethoden bedeutet, eine Stadt mit 350000 Einwohnern ohne jede wirkliche Schutzmaßnahme für die Bevölkerung der Vernichtung anheimzugeben>“.

XXXX

Unser Haus lag auf der falschen, der rechten Seite der Limmat: Es wäre „anheimgegeben“ gewesen. Ich wusste natürlich nichts von diesen Plänen. Aber ich habe diese Atmosphäre von Angst, Wut und Entsetzen voll mitbekommen. Noch heute fallen in meinen Träumen Bomben auf unser Haus, brennt es überall, träume ich oft von Krieg und Zerstörung. Im Juni 1940 sind meine Mutter, mein Bruder und ich mit vielen, vielen anderen aus Zürich in die Innerschweiz geflohen, wir nach Luzern. Mein Vater wollte uns in Sicherheit wissen. Er blieb in Zürich, führte die Praxis weiter. An einen menschenwimmelnden Bahnhof kann ich mich erinnern, an ein Geschiebe, Gewühle an aufgeregtes Suchen und Rufen und endloses Warten im überfüllten Zug. Nach Stunden erst kamen wir im 60 km entfernten Luzern unter: Bei meiner Tante Ida, der Tante meiner Mutter. Doch Hitler marschierte nicht durch die Schweiz nach Frankreich ein, wie befürchtet, und so sind wir dann wieder nach Zürich zurück. Doch die Angst vor einer Invasion saß uns allen in den Knochen.

Später, 1942/43 griff der Krieg noch stärker in unsere Familie ein. Mein Vater war öfter wochenlang weg. Da er mit neunzehn eine Tuberkulose durchgemacht hatte, wurde er „nur“ als Hilfsarzt eingesetzt. Aber immerhin trug er eine Offiziersuniform, wenn auch ohne Rangabzeichen. Er gefiel mir in Uniform. Er war in Flüelen und in Truns am Vorderrhein im Militärdienst. In diesen Zeiten war meine Mutter allein in der Praxis. Für mich war dann noch weniger Zeit. So kam es, dass ich immer wieder ein paar Tage in Luzern war bei meiner verwitweten Tante Ida, in einem großen Geschäftshaushalt. Mein Taufpate Albert, als ältester Sohn, führte das Sanitätshaus Schubiger, der Jüngste, Armin arbeitete ebenfalls im Geschäft. Dann waren da noch drei Töchter: Meine Patentante Kläri, noch in Ausbildung als Kinderärztin, Nelly und Helen, eine leidenschaftliche Bergsteigerin. Sie alle waren noch nicht verheiratet und mehr oder weniger zu Hause. Ich fühlte mich in Luzern sehr wohl. Das 5-stöckige Haus am Kapellplatz hatte einen Lift, der wie ein offener Korb durch das Haus schwebte. Ich durfte auch in den Geschäftsräumen herum stöbern - die Praxis zu Hause, wenn Patienten da waren, war tabu – zum See war es nicht weit - bald kannte ich alle Schiffe des Vierwaldstättersees mit Namen und zeichnete sie auf dem sandfarbenen Geschäftspapier, das unerschöpflich schien. Dann gab es in der Nähe auch ein Pelzgeschäft, das einer Verwandten gehörte, mit einem Spiegelkabinett, in dem ich mich vertausendfachte und, was mich fast noch mehr entzückte: bei jedem Besuch fiel ein Pelzrestchen für mich ab. Meine Tante ging auch öfter mit mir über die Totentanzbrücke, ich wollte die Bilder immer wieder erzählt bekommen. Sie faszinierten mich sehr.

XXXX

Ich habe die Brücke erst vor drei Jahren wieder entdeckt und dabei erst realisiert, dass es in der Altstadt von Luzern zwei Holzbrücken über die Reuss gibt. Die eine ist weltbekannt. Die Spreuerbrücke (von Spreu, weil auch eine Mühle dabei war) gehört zu den ältesten noch erhaltenen Holzbrücken der Schweiz . Ich hab sie mit der berühmten Kapellbrücke in eins gesehen, aber da war ja gar kein Totentanz abgebildet, was mich sehr irritierte und an meiner Erinnerung zweifeln ließ. Nach längerem Suchen fand ich dann auch ein Buch, das den Totentanz sehr schön dokumentiert: „Die Spreuerbrücke in Luzern. Ein barocker Totentanz von europäischer Bedeutung“ Im Raeber Verlag Luzern.

XXXX

In der Küche herrschte Lyss, die mollige, bodenständige Köchin, die schon seit Jahrzehnten im Haushalt war und für das Wohl der Familie sorgte. Nach dem Mittagessen gönnte sich Tante Ida eine Zigarette und einen Kirsch. Ich war ganz hingerissen von ihren Rauchringkünsten. Sie produzierte mehrere Rauchringe, durch die sie dann einen letzten hindurch schweben ließ. Und sie tropfte Kirsch auf ein Zuckerstück in einem Silberentchen und ließ mich das „Canard“ lutschen. Lauter Dinge, die in Zürich verpönt waren. In Luzern verspürte ich auch nichts vom Krieg. Es wurde nicht verdunkelt, ich merkte nichts von Rationierung, die Männer waren da. Es wurde nicht Punkt halb eins Radio Beromünster eingeschaltet und stumm die Suppe gelöffelt. Alle hatten Zeit für mich. Kurz: Luzern war herrlich.

Meine frühsten Erinnerungen betreffen meinen Bruder, meinen Vater und Käthi und spielten sich nach meinem zweiten Geburtstag ab. Käthi war im Frühjahr 40 zu uns gekommen als Praxisschwester. Käthi war jung mit strahlenden, blauen Augen und ihr mittelblondes Haar war von der weißen Schwesternhaube kaum zu bändigen. Ich erinnere mich an den Moment, als sie ankam, alle standen auf dem geräumigen Treppenabsatz im ersten Stock, es ging darum ihr das Zimmer zu zeigen, in dem sie wohnen sollte. Ich gehe auf sie zu, strecke ihr die Hand entgegen und ziehe sie zur breiten, spiralförmigen Treppe zum Estrich. Nun steigen wir gemeinsam hoch. Es geht langsam, weil ich noch eine Stufe nach der anderen erobern muss, aber ich bringe sie zu ihrem kleinen Dachzimmer. Käthi wurde sehr wichtig für mich. Sie schloss mich auch gleich in ihr Herz. Sie stammte aus Fehraltorf (bei Uster) und nahm mich öfter zu ihrer Familie mit, in der es fröhlich und unkompliziert zuging. Diese Fröhlichkeit brachte sie auch in unser Haus mit ein, soweit das möglich war. Eine Zeit lang war ihre Schwester Regine ebenfalls bei uns. Sie war zuständig für den Haushalt. Doch das war dann wohl zu viel der Fröhlichkeit. Man befand sich ja schließlich in einem Trauerhaus.

Die früheste Erinnerung an meinen Vater ist weniger schön. Es war an einem Sonntag: denn nur Sonntags stand das ganze Haus zur Verfügung. Ich spielte allein im Flur unten mit einem Nachzieh-Hündchen, wollte zur Haustür vor laufen, den Sonnenstrahlen entgegen, die durch die Gitterfenster fielen, in den Strahlen tanzte der Staub so lustig, - da kam mein Vater hinter mir her und trat auf das Tierchen, so dass der Schwanz abbrach. Die Szene brannte sich mir tief ein.

Die dritte frühe Erinnerung ließ mich um meinen Bruder zittern. Er war 12 und hatte sich beim Skifahren das Bein gebrochen. Er lag zu Hause auf seinem Bett, der Gips sollte entfernt werden, ich durfte dabei sein. Mein Vater hantierte mit der Gipsschere. Plötzlich packte mich die Panik, dass sie ihm das Bein abschneiden, und als ich dann den Gips neben dem Bett stehen sah, fing ich an jämmerlich zu heulen und war untröstlich. Keiner wusste warum.

XXXX

10.Juni: Ein wunderschöner Morgen. Ich sitze am Zürcher-Rhein, Schwäne mit sechs Jungen, Enten mit einem Dutzend Küken ziehen durch das blaugrüne Wasser- ich bin etwas verwirrt, weil der Rhein hier von West nach Ost fließt, der aufgegangenen Sonne entgegen, wo er doch eigentlich von Ost nach West fließen sollte, aber so ist es halt beim Mäandern. Klaus ist abwaschen gegangen, eigentlich wäre ich dran gewesen. Denn er will sich nach einem Veloweg nach Eglisau erkundigen. Direkt am Rhein führt am Steilufer entlang nur ein schmaler Fußweg. Und ich sitze hier in der Sonne und möchte an meinem Bericht herum basteln, und mein schlechtes Gewissen stört mich dabei, so dass ich nicht so recht in Gang komme. Aber ich hab mir nun einmal vorgenommen auf dieser Reise täglich ein paar Seiten zu schreiben, sonst wird nie was daraus, jetzt oder nie, rechtfertige ich mich.

Doch es ist auch die Scheu vor dem, was jetzt ansteht: Meine Beziehung zu meiner Mutter. Dieser wunde Punkt lässt mich einmal mehr auf das weiße Blatt vor mir starren.

XXXX

Dr. med. Margaretha Louise Meyer-Baur 27.3.189727.2.1958

Himmelblau und Rosenrot sind die schönsten Farben, oftmals war man plötzlich tot, solche Leute starben.

Diesen Spruch hörte ich von meiner Mutter öfter mal; wenn ich an meine Mutter denke, verbindet sich sehr bald dieser Reim mit ihr. Sie konnte sarkastisch sein, spöttisch, sie konnte gut austeilen und weniger gut einstecken. Den Spitznamen „Mimosa“, den sie aus Studentenzeiten hatte, mochte sie nicht besonders. Meine Mutter hatte mich in meinem ersten Lebensjahr kaum betreut, so dass ich zu ihr auch keine wirklich innige Beziehung entwickelte. Mit meiner Pflege wurden nach einander zwei Kinderschwestern beauftragt, an die ich keine Erinnerung mehr habe. Es gibt Fotos von ihnen: die eine streng, ernst blickend, versorgte mich die ersten Monate, die andere, freundlicher wirkend, in der warmen Jahreszeit.

Wie soll ich meine Mutter beschreiben, um ihr gerecht zu werden? Sie war sehr intelligent und sehr schwierig, und sie machte sich das Leben nicht leicht. Meine Eltern kannten sich nicht lange, bevor sie beschlossen zu heiraten. Beiden fehlte früh der Vater, beide übernahmen sie, als Älteste, früh Verantwortung für ihre ein- und zwei Jahre jüngeren Geschwister. Vielleicht war dieser Punkt das Verbindende. Mein Vater war 1926 Assistenzarzt am Bezirksspital Langenthal, als meine Mutter dort im November aus Herisau, wo sie in der Psychiatrie gearbeitet hatte, als neue Ärztin im Pelzmantel aufkreuzte. Dieser Pelzmantel brachte sie ins neidische Gerede: wie konnte sich eine junge Ärztin einen so teuren Mantel leisten. Ein Jahr später waren sie verheiratet. Mein Vater hatte die konventionelle Rollenvorstellung, dass meine Mutter sich um Kinder und Haushalt kümmern sollte, so wie seine Mutter. Das konnte meine Mutter aber nicht. Sie stammte aus einer geschiedenen Ehe, war schon früh mit ihren zwei Geschwistern bei Pflegeeltern untergebracht worden, wo sie nach ihren eigenen Worten „erniedrigt und gedemütigt“ wurde. Wieder bei ihrer Mutter, in Lausanne, mit der sie sich nicht gut verstand, und die hauptsächlich theosophischen und spiritistischen Ideen nachhing, erkrankte sie an Skoliose, einer seitlichen Verkrümmung der Wirbelsäule und besuchte die Schule nicht mehr; übernahm aber die Verantwortung für Haushalt und die jüngeren Geschwister. Der Vater, neun Jahre älter als die Mutter, war fernost unterwegs: Er hieß nur der Sumatra-Baur, und hatte wohl mit der Familie nicht viel am Hut. Meine beiden Großeltern mütterlicherseits habe ich nicht kennengelernt. Der Großvater Heinrich Emil Baur starb 1928, Frida Baur-Bigler, Petitemaman, wie mein Bruder sie nannte, 1935. Jedenfalls hat meine Mutter ein – sagen wir mal – etwas gespanntes Verhältnis zum Muttersein und zur Haushaltsführung gehabt.

Sie fuhr dann mit 17 mit ihrer Schwester nach England, beide absolvierten dort eine Gartenbauschule. Nachdem sie - zurück in der Schweiz - kurze Zeit als Gärtnerin und als medizinische Laborantin gearbeitet hatte, beschloss sie mit zwanzig, in einem zweijährigen Kurs am Tschulok-Institut in Zürich, die Matura nachzuholen. Danach hatte sie in kürzester Zeit Medizin studiert und ihren Doktor gemacht. Mein Vater hatte zur Zeit der Heirat seinen Doktor noch nicht. Das Bedürfnis, den harterkämpften Traumberuf dann auch auszuüben, wollte und konnte sie wohl bei aller Liebe nicht aufgeben.

Nie habe ich meine Mutter in der Küche am Kochherd gesehen. Bis sie starb, hatten wir Küchenfeen, die bei uns wohnten und auch am Sonntag fürs Essen sorgten. Das hat den großen Vorteil, dass sich meine Kochkünste nicht an denen meiner Mutter messen müssen, und es ermöglicht mir heute, die Küche, nach anfänglichen Schwierigkeiten, obwohl ich gern koche, weitgehend meinem Mann zu überlassen, der in seiner vorigen Ehe immer nur zuarbeiten durfte. Ich kann es manchmal sogar genießen bekocht zu werden. Auch die anderen üblichen weiblichen Rollenklischees hat sie mir nicht beigebracht. Dafür habe ich von ihr auf frühen Bergwanderungen viele Blumen und Kräutlein kennengelernt, die Liebe zur Natur hat sie mir eingepflanzt. Ich fürchte mich weder vor Mäusen noch vor Spinnen, Spinnennetze begeistern mich geradezu. Ich liebte die Blindschleichen und Kröten und Igel in unserem Garten. Mein erster Berufswunsch war dann auch Tierärztin. Meine Mutter war überhaupt nicht eitel, es war ihr