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»Ich erzähle dir alles, und alles ist wahr.« Das ABC des Dirk von Lowtzow Dirk von Lowtzow, Sänger und Songwriter der Band Tocotronic, einer der einflussreichsten deutschen Rockbands der letzten 25 Jahre, durchmisst in einer poetischen, schrägen und humorvollen Enzyklopädie sein Leben, die Kunst, die ihn beschäftigt, die Welt, die ihn umgibt. Von »Abba« bis »Mohammed«, von »Dachs« bis »Operettenbär«, von »Hysterie« bis »Riten«, von »Ekstase« bis »Idiotentest«. Dirk von Lowtzow erzählt von Kindheit und Jugend in der Schwarzwaldhölle, von Aufruhr und Angst, vom Tod des engsten Kindheitsfreundes, vom sehnsüchtigen Umherschweifen und der Sozialisation durch Popmusik, Comics, Filme. Von Plüschophilie, Piratinnen, Peter O'Toole und Phantomen. Wir erfahren, wohin es ihn treibt, wenn die Musik verstummt, die Festival-Wiese bereits feucht vom Tau und kein Tourbus mehr in Sicht ist. In literarischen Miniaturen durchquert er den Raum, die Erinnerung, die Zeit. Er liest Fährten und legt Spuren, lässt den Alltag surreal werden und das Verrückte alltäglich. Aus scheinbar zufällig angeordneten alphabetischen Einträgen entsteht ein so feinsinniges wie anspielungsreiches Mosaik, das zugleich literarische Erzählung und Porträt des Autors zu sein vermag.
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Seitenzahl: 136
Dirk von Lowtzow
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Dirk von Lowtzow
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
Motto
ABBA
ALEXANDER
ALIENS
APOKALYPSE
AUFRUHR
BARBIE
BRANDTEIGKRAPFEN
COCA-COLA
COSIMA
DACHS
DARK STAR
DEZEMBER
DISKURSE
DOPPELLEBEN
EDEKA
EKSTASE
ENDE
EXIT
EXPEDITION
FÄHRTEN
FESTIVAL
FILM
FREE HOSPITAL
FUCHS
GEBURTSTAG
GEFALLSUCHT
GEPÄCK
GUN CLUB
HIMMELFAHRT
HÜSKER DÜ
HYSTERIE
IDIOTENTEST
INSHALLAH
JUNGE UNION
KALK
KÄSE
L’ALDILÀ
LEUCHTTURM
LOTSO
LUZERN
MÄRCHENBRUNNEN
MEISEN
MODER
MOHAMMED
MUSIK
NEIN
NOCTURNE
OPERETTENBÄR
OSTKREUZ
PARK
PETER O’TOOLE
PHANTOM
PIRATINNEN
QUANTITÄT
REKAPITULATION
REVOLUTION
RITEN
SELBSTGESPRÄCHE
SILBERBLICK
SOMMER
TEENAGE
TOPOGRAFIE
TRÄNEN
UNENDLICHKEIT
UNITED NATIONS
VERZERRER
WALROSS
WEIHNACHTSABEND
WUMBO
XAVER
YVES
ZEIT
Bildnachweis
Inhaltsverzeichnis
Für Jutta
Inhaltsverzeichnis
»The little fox he murmured,
›O what of the world’s bane?‹
The sun was laughing sweetly,
The moon plucked at my rein;
But the little red fox murmured,
›O do not pluck at his rein,
He is riding to the townland
That is the world’s bane.‹«
W.B. Yeats, »The Happy Townland«
Inhaltsverzeichnis
Unsere Nachbarn hielten sich ein Huhn, das sie Ilse nannten. Eines frühen Morgens, es war noch dunstig, stach ich, vor Wut und Rachsucht wie von Sinnen, auf den Fußball der Nachbarskinder ein, der vor mir im feuchten Gras lag. Sie hatten am Vorabend Besuch bekommen, im Garten gekickt, mich aber nicht mitspielen lassen. Ich war am Morgen in die Küche geschlichen und hatte mich mit einem scharfen Messer bewaffnet. Danach war ich im Schlafanzug über den morschen Zaun hinter dem Essigbaum in das gegnerische Feld gehüpft.
Ilse schlief zu diesem Zeitpunkt noch auf ihrer Stange oder legte bereits ein Ei. Gleich würden sie nebenan erwachen, zum Hühnerstall laufen und das erbärmlich erschlaffte Leder auf dem Rasen bemerken. So malte ich es mir aus, als ich zitternd wieder im Bett lag. In einer halben Stunde würde mein Vater ins Zimmer kommen, um mich zu wecken. Nebenan würde die Nachbarstochter aufstehen und dabei ABBA hören.
Sie hörte immer ABBA.
Die Harmoniegesänge und Discobeats versprachen mir, Einsamkeit und Isolation abstreifen zu können, aufgehoben zu sein in Musik und buntem Licht und mich im Tanz als glücklich zu erleben.
ABBA. From A to B and back again.
Inhaltsverzeichnis
1996 stirbt Alexander mit sechsundzwanzig Jahren an einem Gehirntumor. Wir waren fast zwanzig Jahre befreundet.
Ich lerne ihn zunächst nur widerwillig kennen, er ist der jüngere Sohn von Freunden meiner Eltern. Meine Mutter muss mich zu ihm schleppen, ich habe Angst vor neuen Bekanntschaften, bin voller Ablehnung. Doch als ich ihn sehe, bin ich sofort verliebt. Er ist wie ich, er ist mein Spiegel, aber er hat ein heiteres, aufgeschlossenes Gemüt. Es gibt kaum einen Menschen, den er nicht in Sekunden bezaubert.
Alexander scheint völlig eins mit seiner Umgebung zu sein, wie ein Fisch im Wasser. Ich fürchte mich vor dem Mobiliar im Haus seiner Eltern. An den Wänden hängen Zeichnungen von Menschen, die sich in Vögel verwandeln, aus ihren Hälsen wachsen Klauen, und ihre Arme gehen in Gefieder über.
Alexander nimmt mich an der Hand und führt mich in sein Zimmer. STAR WARS ist noch nicht in Deutschland erschienen, aber Alexander besitzt bereits ein Lichtschwert, eine beleuchtete Plastikröhre mit Knauf. Es stellt sich heraus, dass er genau wie ich gerne Comics zeichnet. Die nächsten Jahre werden wir damit verbringen, Geschichten unserer selbst ausgedachten Comicfiguren »Flippi und Flappi« aufzuzeichnen. Die beiden sind Dinosaurier, sie reden in einer Art Babysprache, haben aber Superkräfte.
Wir legen uns Handtücher oder Decken als Umhänge um und klettern auf den Essigbaum im Garten meiner Eltern. Wir sehen uns alte Monsterfilme im Fernsehen an, wenn wir beieinander übernachten dürfen: »Tarantula«, »Formicula«, »Panik in New York«, »King Kong«.
Unsere Eltern stecken uns in den Tennisclub und in den Töpferkurs, doch wir haben nur uns, unsere Freundschaft und die Dinosaurier im Kopf.
Später, als Teenager, entdecken wir Punk. Ich ziehe in den Keller im Reihenhaus meiner Eltern, spiele jeden Tag Gitarre und komponiere Songs. Wir gründen eine Band, gemeinsam mit Hendrik Hallersleben, dem Sohn des Schuhmachermeisters Franz Hallersleben. Auch er wohnt im Keller, hat dort jedoch viel mehr Platz, sodass wir bei ihm proben. Die Band heißt »Die Kranken«. Alexander ist unser Sänger, denn er ist hübsch und charismatisch und kann kein Instrument spielen. Er grölt die Lieder, die ich mir ausdenke, selbstbewusst ins verbeulte Mikrofon.
»Fischkopfmädchen«.
»Husten, Halsweh, Heiserkeit«.
Wir sind Fans der Goldenen Zitronen. Alexander und ich klingeln an ihrer Tür in der Buttstraße am Fischmarkt, als wir Hamburg per Interrail besuchen. Natürlich öffnet uns niemand.
An einem Sommertag macht Alexander mit Hendrik einen Ausflug in den Europapark Rust, wo sie herumrandalieren, Dosenbier trinken und das Geld aus dem nachgemachten Trevi-Brunnen im italienischen Viertel stehlen. Ich bin krank an diesem Tag. Ich bin oft krank in dieser Zeit, meistens habe ich Mandelentzündung, die Lymphknoten unter meinem Kiefer schwellen an wie zwei Tischtennisbälle.
Mit unserer zweiten Band, BIG LEGGY, benannt nach dem Haysi-Fantayzee-Hit »John Wayne is Big Leggy«, spielen wir ein Lied, das von Lymphknoten handelt. Mittlerweile singen wir auf Englisch, die Musik hat sich verändert, wir orientieren uns an Bands wie Dinosaur Jr. »Lymphe« ist ein kleiner Hit im Ortenaukreis. Wir treten im Jugendkeller der Anne-Frank-Schule auf, dem sogenannten »Kessel«, dessen Mitarbeiter wir sind. Alle Punks in Offenburg sind Mitarbeiter des »Kessel«. Alexander spielt jetzt Schlagzeug, er spielt nicht gut, aber dafür zumeist mit nacktem Oberkörper. Er hat schwarz gefärbte schulterlange Haare, manchmal trägt er ein Stirnband. Er ist ziemlich schön, und er weiß es auch. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon von Musik getrieben. Musikkritiken werden mir zur ästhetischen Theorie, in meinem Keller führe ich imaginierte Interviews mit mir selbst.
1993 ziehe ich nach Hamburg, Alexander zieht nach Mainz. Ich lerne zufällig Jan Müller und Arne Zank kennen, und wir gründen Tocotronic. Ich habe das Gefühl, Alexander in der Diaspora zurückgelassen zu haben, und vermisse ihn.
Auf unserer ersten richtigen Tour kommt er als Manager und Fahrer mit, er unterhält uns mit seinem komödiantischen Talent, er scheint sich in seiner neuen Rolle pudelwohl zu fühlen. Ich bin in dieser Zeit oft verunsichert und von den Ereignissen überwältigt. Alles, was mit der Band geschieht, nehme ich viel zu ernst. Im Gegensatz zu Alexander kann ich nicht gut über mich lachen. Um mich zu entspannen, trinke ich nach jedem Aufritt, oft bis zur Besinnungslosigkeit, nur um am nächsten Reisetag noch zerrütteter in unseren Sprinter zu steigen. Das Ende der Tournee führt uns nach Süddeutschland, danach besuchen wir beide in Offenburg unsere Eltern.
Alexander hat seit ein paar Tagen starke Kopfschmerzen, ich denke mir nichts dabei, auch ich habe Kopfschmerzen. Ich höre eine Woche lang nichts von ihm, es ist seltsam, denn wir sind fast Nachbarn, seitdem meine Eltern umgezogen sind. Zehn Tage später bin ich zurück in Hamburg. Beunruhigt laufe ich in meinem winzigen WG-Zimmer umher. Das weiße Telefon, das in einer Ecke auf dem Boden steht, klingelt. Meine Mutter sagt, man habe in Alexanders Kopf ein bösartiges Geschwür gefunden.
Kurz nach seinem Geburtstag im Februar stirbt Alexander. Bei seinem Begräbnis spiele ich »Gott sei Dank haben wir beide uns gehabt«.
Inhaltsverzeichnis
Als kleiner Junge dachte ich lange Zeit, meine Welt werde von Aliens beherrscht. Sie lauerten hinter den verschlossenen Türen unbekannter Klassenzimmer. Sie knüpften Netze, verschleimten die Korridore und brüteten im Heizungskeller der Schule. Bald war ich eingesponnen.
Wie alle Opfer von Alien-Misshandlungen leide ich unter verfälschten und unterdrückten Erinnerungen, aber wenn ich mich konzentriere, glaube ich, einen Grundriss des Gebäudekomplexes skizzieren zu können, in dem die Schwellen zur Welt meiner Peiniger verzeichnet sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass bereits der verglaste Übergang vom Neu- in den Altbau unter der Kontrolle der fremden Mächte stand. Der Biologiesaal war jedoch ihre eigentliche Herrschaftszone. Hier führten sie jene blasphemischen Experimente durch, über die auf den Gängen nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Die Gerüchte breiteten sich bald auch auf dem Pausenhof und in den Schulbussen und von dort bis in die eingemeindeten Dörfer des Umlandes aus.
Ein Zugang zum Alien-Reich führte über eine hell erleuchtete Treppe hinunter in die Sporthalle. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie sich Mitschüler freiwillig mit den Marsianern, die als Körperfresser in die Haut der Sportlehrer geschlüpft waren, verbündeten, um Unsportliche zu quälen.
Gegen Ende des Schuljahres veranstalteten die extraterrestrischen Faschisten regelmäßig sogenannte »Bundesjugendspiele«, grausame Wettkämpfe, bei denen wir für die militärischen Einsätze der Aliens getestet und ungeeignete Kandidaten aussortiert wurden. Für eine der begehrten Siegerurkunden reichte meine Leistung nicht. Es lag am Weitwurf. Ich schleuderte den Ball ein paar klägliche Meter weit, dann plumpste er noch vor der ersten Zählmarke zu Boden. So könne die erforderliche Punktzahl nicht erreicht werden, stellte der Sportlehrer mit scheinheiligem Bedauern fest und machte sich mit einem Kugelschreiber hastige Notizen in eine winzige Tabelle.
Weinend stand ich alleine am Rand der Aschebahn. Der Abend kündigte sich an. Dann holten sie mich ab.
Ich las damals am liebsten Science-Fiction- und Horrorstorys und mochte besonders Filme, Comics und Bücher, in denen sich die beiden Elemente überlappten und Gegensätze kollidierten. Mich faszinierte das saubere, silbrig glänzende Hightech-Design der Raumschiffe und Ufos genauso wie die amorphen, amöbenhaften oder insektoiden Körper der Aliens, die darin lebten und reisten. Ich staunte über HR Gigers Design für Ridley Scotts Film »Alien«, übber den ich einen Artikel im Zeitschriftenstapel meiner Eltern entdeckte. Die Körper der Außerirdischen schienen mit ihren Raumschiffen zu verschmelzen und eine widernatürliche Einheit zu bilden, die jenseits meiner Vorstellungskraft lag. Gigers Weltraum war ein tiefer Abgrund zwischen den Sternen, und seine Airbrush-Orgien wirkten auf mich wie Fotografien aus der Hölle. Noch weiter ging John Carpenter, dessen Film »The Thing« 1982 ins Kino kam. Natürlich durfte ich den Film nicht anschauen, aber ich studierte unruhig auf meinem Fahrradsattel hin und her rutschend die Fotos im Schaukasten des Kinos, nachdem ich in der Nachmittagsvorstellung »Cap und Capper« gesehen hatte. Auf den Fotos waren die Höhepunkte der Handlung abgebildet, die offensichtlich um eine Reihe von Spezialeffekten gebaut war. Der Anblick machte mir deutlich, dass sich von nun an alles verwandeln würde und nichts bleiben konnte, wie es war.
Ich bemerkte die Veränderungen, die in mir und meinem Körper vorgingen, ich wurde mir selbst fremd. Die Kreatur in Carpenters Film konnte jede beliebige Form annehmen, um sich zu tarnen und der Umgebung anzupassen. Zumeist befand sie sich aber in einem bizarren Zwischenstadium. Ein Hybrid aus Mensch, Tier und Pflanze. Das »Ding« wurde ständig in flagranti bei seinen Transformationen erwischt. Es beschwor damit eine grauenvolle Urszene herauf, die ich unter keinen Umständen hätte sehen dürfen, aber dennoch heimlich erspäht hatte: Organe in der Ekstase der Vermischung. Die Bilder suchten mich heim. Meine Eltern vereinbarten einen Termin bei einem Psychologen an der Freiburger Uniklinik, der mir Rorschach-Bilder vorlegte. Ich ahnte schnell, worauf der Doktor hinauswollte, erkannte jedoch in allen Klecksen bloß Furcht einflößende Alienschädel mit gebleckten Zähnen und emporgereckten Klauen. Ich war allein mit meinen Erkenntnissen, die noch die alltäglichste Umgebung in unheimliches Licht tauchten.
Waren die Spielplätze zwischen den Wohnsilos mit den angerosteten Klettergerüsten nicht in Wahrheit Landeplätze für Ufos? Verbargen sich in den mit Unkraut überwucherten Röhren unter dem Bahndamm außerirdische Sporen? Waren die Graffiti auf den Brückenpfeilern unter der Schnellstraße nicht vielleicht Geheiminformationen für die Alien-Armee?
Ich musste mehr darüber erfahren.
Ich musste von nun an lernen, meine Feinde genau zu bestimmen.
Inhaltsverzeichnis
Die Apokalypse endet meist im Gemüsegarten.
Inhaltsverzeichnis
Ich sitze auf dem Balkon und rauche. Es ist Winter in Berlin, deshalb trage ich über meinem Pyjama einen Anorak mit Kapuze. Ich habe den Bären, der seit einiger Zeit bei mir wohnt, früh zu Bett gebracht und ihm noch etwas aus den »Brüdern Karamasow« vorgelesen, woraufhin er gleich tief eingeschlafen ist. Er ist ein Faulpelz, aber er liebt russische Literatur. Bisweilen verlangt er sogar, dass ich ihn Aljoscha nenne.
Ich kann nicht einschlafen, denn ich habe vor einer Stunde noch einen halben Liter Cola Zero getrunken. Ich habe Herzklopfen und bin gespannt wie eine Sprungfeder. Im nächsten Moment stürze ich kopfüber vom Balkon. Doch bevor ich auf dem Kopfsteinpflaster aufschlage, trägt mich ein Wind davon, über die Dächer meiner Straße, am Park entlang, über den Schuttberg Richtung Strausberger Platz, die Karl-Marx-Allee hinunter.
Als Kind habe ich mir in hysterisch langweiligen Schulstunden oft vorgestellt, aus dem Fenster davonzufliegen, während ich Dachse und Dinosaurier aufs Löschpapier zeichnete. Und jetzt fliege ich über den verschneiten Tiergarten Richtung Siegessäule. Es ist nicht zu glauben. Sonntagabend, kaum Verkehr auf den Straßen. Alles ist entschuldigt, alles ist erlaubt.
Inhaltsverzeichnis
Es gibt nur einen Albtraum aus der Kindheit, an den ich mich erinnere. Ich befand mich in einem windschiefen Haus mit steilen Treppen, das mit allen erdenklichen Antiquitäten vollgestopft war, die tiefschwarze Schatten warfen. Noch heute graust es mir vor alten Möbeln und Antikmärkten, den Insignien eines saturierten Bürgertums. Adler und Löwen, Wappen und Schatullen, Klauen und Zähne. Selbstzufriedenes Mobiliar, das von der Zugehörigkeit zum Kreis der Eingeweihten kündet. Empire. In meinem Traum stellte ich winselnd fest, dass allen Bewohnern des Hauses, Frauen, Männern und Kindern, die Köpfe abgeschlagen worden waren. Hinter den blutigen Stümpfen ihrer Hälse, die obszön zwischen den Schultern emporragten, waren Schäfte aus Plastik angebracht. Auf diesen thronten, starr lächelnd, die Köpfe von Barbiepuppen.
Mattel ist nach Lego der zweitgrößte Spielzeughersteller der Welt. Als Firmenlogo benutzt er noch heute einen vielzackigen roten Stern. Vor allem in den Monaten November und Dezember sah ich ihn in der Fernsehwerbung des Vorabendprogramms aufblinken, begleitet von einer Stimme, die verschwörerisch »von Mattel« flüsterte. Eine Zeit lang bekam ich zu Weihnachten von einem alten Schulfreund meines Großvaters muskelbepackte Actionfiguren desselben Spielzeugunternehmens geschenkt. Ich freute mich unbändig, zumal die Gaben auf keinem meiner zahlreichen Wunschzettel je aufgetaucht waren. Gleichzeitig wunderte ich mich, warum Herr Machs, den ich kaum kannte, mir ein so großes Glück zuteilwerden ließ. Vor langer Zeit war er über Frankreich nach Südafrika ausgewandert, erzählte man mir.
1983 wurde der sogenannte »Schlächter von Lyon«, Klaus Barbie, von Bolivien nach Frankreich ausgeliefert, nachdem Helmut Kohl, der ein Jahr zuvor Kanzler geworden war und dessen massige Gestalt mich an einen Riesen aus einem Märchen denken ließ, eine Auslieferung nach Deutschland abgelehnt hatte, um, wie es damals hieß und auch heute noch nachzulesen ist, eine erneute Schulddebatte von Kriegsverbrechern im Land nicht aufkommen zu lassen.
Ich hörte den Namen zum ersten Mal in der Tagesschau, als ich mich hinter der Sofalehne versteckte, um noch nicht ins Bett geschickt zu werden.
Inhaltsverzeichnis
Anfang der Neunzigerjahre bin ich in Wien. Nach dem Zivildienst in der Altenpflege studiere ich Kunstgeschichte und Germanistik, aber ich gehe fast nie in die Uni, ich finde mich dort nicht gut zurecht. Eigentlich will ich Musiker werden, aber die Auftrittsmöglichkeiten für Alexanders und meine Band sind begrenzt. Wir spielen meist nur im »Kessel« oder bei Benefizkonzerten für den kurdischen Befreiungskampf im Autonomen Jugendzentrum Waldkirch.
Susanne studiert seit einiger Zeit in Wien, ich bin ihr nachgefolgt. Gleich am ersten Abend gehen wir ins Burgtheater, »Ritter, Dene, Voss« von Thomas Bernhard. Ich bin erschüttert von Gert Voss, der sich Gebäck in den Mund stopft und dabei ausruft: »Brandteigkrapfen, die ich liebe.« Sein Gesicht verzieht sich, Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ich verstehe nicht viel vom Theater, Filme sind mir lieber, Rockkonzerte sowieso. Aber Gert Voss’ Grimassen und sein exaltiertes Spiel begeistern mich so sehr, dass ich noch am selben Abend den Entschluss fasse, mich an der Schauspielschule zu bewerben.
Die Aufnahmeprüfung findet praktischerweise in Graz statt. Für das Vorsprechen muss man einen klassischen, einen modernen und einen komödiantischen Monolog vorbereiten. Ich wähle den Ferdinand aus Schillers »Kabale und Liebe«, da ich ähnlich wie er mit erhabenen Idealen erfüllt bin. Als Komödie entscheide ich mich für »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« von Christian Dietrich Grabbe,