Aus der Tiefe des Raumes - Jan Schoon - E-Book

Aus der Tiefe des Raumes E-Book

Jan Schoon

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Beschreibung

"Greta hatte ein Talent für Fehlentscheidungen" Dennoch versucht die scheue Greta, ihren Alltag mit einer gewissen Würde zu meistern. Wenn sich nicht von Zeit zu Zeit ihre Familiengeschichte zeigen und wie ein dunkler Schatten über ihr Leben legen würde. Doch dann tritt ein fremder Mann auf und nähert sich ihrem Geheimnis. Einen Sommer lang teilen sie ihre Scheu und verscheuchen jede Fehlentscheidung. Kann er Gretas Vertrauen gewinnen? Kann er ihr Herz erobern? Sie von den Fesseln der Familie befreien?

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Seitenzahl: 189

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Jan Schoon

Aus der Tiefe des Raumes

Jan Schoon

Aus der Tiefe des

Raumes

Roman

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by Jan Schoon

Umschlag:© 2022 Copyright by Jan Schoon

Verantwortlich

für den Inhalt:Jan Schoon

Erich-Heckel-Ring 20

26389 Wilhelmshaven

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Erste Halbzeit

Aus dem Leben

„Can you help me remember how to smile?“

Soul Asylum

Runaway Train

VorspielIm Tal der Tränen

Greta hatte ein Talent für Fehlentscheidungen. Das Telefon hatte bereits dreimal geklingelt, als sie erwachte. Dreimal einen Hauch von Unruhe in die Luft gelegt an diesem heiteren Sonntagmorgen, an dem Greta nichts anderes zu tun hatte als zu schlafen. Aber das Telefon läutete beharrlich. Sechsmal, siebenmal hämmerte das dumpfe Tuten durch die Räume, die im milden Dämmerlicht wie gespenstisch weite Hallen wirkten.

Beim neunten Klingeln hatte Greta einen Bademantel übergeworfen, der ihr gerade bis zum Knie reichte und nur so viel Bein offenbarte, dass man Gretas Schönheit erahnen konnte. Mit einer schleichenden Eile erreichte sie das Telefon beim elften Klingeln. Mit erwartungsfrohem Blick hob sie ab, auch wenn dieses Bild schief geraten ist in einer Zeit, in der Telefone gedrückt werden wollen und grüne und rote Knöpfe die mechanischen Drehscheiben ersetzt haben – und statt in einen Hörer sprechen wir in das bewusstlose Nichts modernen Designs.

So auch Greta, die das Mobilteil von der Station nahm und mit einem leichten Luftsprung Raum und Zeit überwand, um sich auf das Sofa zu setzen. Dann erst meldete sie sich mit einem fragenden „Ja“, das sie sich angewöhnt hatte, seitdem vor zwei Jahren über einen zehrenden Zeitraum von zwei Monaten Nacht für Nacht ein fremder Mann angerufen hatte, der nichts anderes tat als zu schweigen. Einmal hatte er sie angesprochen, sie Spätzchen genannt, und dann hatte es plötzlich aufgehört. Das fragende „Ja“ war geblieben.

Im Laufe des Gesprächs mit ihrer Mutter veränderte sich nichts in dem Raum, in dem Greta saß. Die Luft stand weiterhin still und wartete auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages. Die Gegenstände in dem Raum fristeten weiterhin ein unbewegliches Dasein, das sich nur überwinden ließ im steten Zusammenspiel von Schatten und Licht. Nur Greta hatte ihre bequeme Bademantelhaltung aufgegeben und ein Bein auf das Sofa gezogen, unmerklich beinahe, hielt die rechte Hand das Knie umschlungen und den Körper in einer Spannung, die nötig war, um das Gespräch mit der Mutter zu überstehen. Greta standen die Tränen im Gesicht.

Die Anrufe waren seltener geworden in letzter Zeit. Die Anrufe waren auch kürzer geworden. Sie waren härter und kälter. Aber daran zu denken, dass diese Minuten beredeten Schweigens für Greta auch nur ein Stück weit angenehmer geworden waren, kam einer Schande gleich, wenn man um Gretas Lage wusste.

„In zwei Wochen? Aber ich muss arbeiten“. Eine Frage, ein Satz nach einer Minute schweigenden Zuhörens, dazwischen einatmen, ausatmen. Eine Stille erfüllte den Raum, die unwirklich wirkte, wenn man bedachte, dass Greta telefonierte. Ihre Antworten waren kurz und knapp, und nach leise gehauchten Sätzen ergaben sich Pausen, die vor Verlegenheit und Kummer nur so strotzten.

„Und wie lange wollt ihr bleiben?“ Greta tastete sich fragend durch das Gespräch. Minute um Minute hörte sie zu, nickte bedächtig, schüttelte den Kopf zart, damit ihre Mutter die Gesten nicht hören konnte. Greta hörte die Worte der Mutter, hörte sie mit einer wachsenden Fassungslosigkeit, die sie kraftlos machte. Sie hätte lügen können, brüllen, schreien oder weinen. Sie hätte eine Geschichte erzählen können, die einen Besuch unmöglich machte, hätte flunkern können oder aber zumindest ein wenig verschleppen, indem sie nachfragte, irritierte, am Gang des Telefonats rüttelte wie ein kleines Kind an den Gitterstäben eines eisernen Bettes.

„Gut, dann machen wir das so“, hauchte Greta stattdessen. „Freitag in zwei Wochen, ich hole euch ab.“

1

In den Bergen

Im gemächlichen Tempo eines spanischen Stierkampfes rollte ein Schäfchen nach dem anderen den Berg hinauf. Schraubte sich ruhigen Fußes immer weiter in Richtung Himmel – vorbei an grasenden Kühen, erstarrten Felszeugen und wartenden Zuschauern, die mit orgiastischem Brüllen den leicht geformten Metallschrott und sich sanft vorwärts schiebende Reifen vorantreiben wollten.

Serpentine um Serpentine ließen die Fahrer hinter sich und atmeten von Minute zu Minute dünnere Luft, auf zweitausendachthundert Meter Höhe rief der Berg schon merklich laut. Rief den Athleten verstaubte Wörter wie Ehre und Ruhm entgegen. Und diese beschleunigten tatsächlich noch den Schritt, erhöhten die Schlagzahl der gleichmäßig stampfenden Bewegung, die ein flüchtig ausgebildeter Moderator am Fernsehbildschirm mit dem schweren Wort der Schönheit in Verbindung brachte, um so diese Tour de Farce sprachlich fein zu überhöhen – auf eine Art und Weise, die ganz und gar unanständig genannt werden darf.

Ehre, dachte Dieter Paluschke vor dem Bildschirm bei sich. Wo früher die Ehre im feinen Duell mit Pistolen umkämpft wurde, benutzen sie heute Spritzen. Ob dies ein Fortschritt sei, dachte Paluschke noch in dem kurzen Augenblick zwischen Wachen und Ruhen. Aber er hatte schon die Augen geschlossen und die Welt der radelnden Roboter verlassen. Träumte schon fast, als irgendein Spanier mit klingendem Namen über den Zielstrich rollte, angetrieben von dem ohrenbetäubenden Brüllen der Zuschauer, das Paluschke nicht erschüttern konnte, angetrieben auch von unsichtbaren Substanzen, von sichtbaren Sponsoren, von dem unstillbaren Hunger nach Erfolg und Gipfelluft.

Unverbraucht atmet sich diese Luft wohl am besten, und der Spanier mit dem klingenden Namen konnte den Moment voll auskosten und rollte im gemächlichen Tempo eines spanischen Stierkampfes über die Ziellinie. Dieter Paluschke schnarchte.

Es ist eine gute Gelegenheit, mit dieser Geschichte zu beginnen, während Paluschke schläft. Dies ist Mahnung genug für uns, dass wir behutsam und leise erzählen, verborgen und verschlungen im Dickicht der Gegebenheiten, die Paluschke vor ein, zwei Jahren so sehr erschütterten, wie sie einen Berg von Mann nur erschüttern können. Jede Erinnerung an diese bewegten Zeiten sollte vermieden werden, da sie Spannungen unter einer leicht köchelnden Oberfläche freisetzen könnte, die mit Worten nicht mehr aufgefangen werden könnten, die vermutlich selbst stummes Papier reißen lassen würde. Wer reizt schon einen Vulkan, der neben uns sachte schlummert?

Es muss somit mit leisen Tönen zum Klang gebracht werden, was für eine kurze Zeit wie eine vollkommene Symphonie in Paluschkes Herz ertönte. Vorsichtig und mit Umsicht, zuweilen auch mit Nachsicht müssen wir diese Geschichte vorantreiben, um Erschütterungen zu vermeiden und unliebsame Nebengeräusche gar nicht erst zum Leben zu erwecken.

Dass dies ein einfaches Unterfangen werden wird, hat keiner behauptet, und überhaupt sollten wir uns von der wärmenden Atmosphäre des Sofas verabschieden, die diese bequemen Leser der Neuzeit immerzu suchen, als wäre es ein Vergnügen, in die seelischen Abgründe Paluschkes zu blicken. Es geht um existenzielle Fragen, die verhandelt werden, wenn ein Mann eine Frau erobern möchte – und wenn diese Frau dies nicht bemerkt, oder es sich nicht wünscht. Ein bisschen Risikobereitschaft wird der Leser schon aufbringen müssen, um den verzweifelten Versuchen eines Verliebten zu folgen, und ganz leise dabei, in der stillen Hoffnung, dass Paluschkes Schlaf hält, wenn schon nicht ewig, dann zumindest doch eine Weile.

2

Augustzeit

Dieter Paluschke hatte bessere Tage gesehen. Morgens beim Blick in den Spiegel hatte er das Gefühl, sich wegducken zu müssen, da er seinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte.

Ein kurzes Abtauchen nur würde Befreiung bringen, unter die weiße Linie, die sich am unteren Rand seines liebevoll mit Window Color verzierten Spiegels befand. Diese weiße Linie bildete zusammen mit den drei anderen Strichen ein Fußballfeld und erinnerte Paluschke jeden Morgen an seinen geliebten Sport, brachte leise ein Gefühl der Genugtuung in sein geschundenes Herz.

Am oberen Rand des Spiegels vereinten sich Lebensliebe und Phantasie, Vereinstreue und Größenwahn. Die Werder-Raute stach hervor aus einem Stillleben grün-weißer Zärtlichkeit. Namen von Spielern, Abbilder der Helden, umgarnt von den Vereinsfarben, die im steten Wechsel die Bilder umspielten und letztlich verschmolzen auf dem Weg zum Herzstück von Paluschkes Spiegelkunst: Zahlenspiele deuteten sanft die Triumphe des Vereins an – Meisterschaften, Pokalsiege, internationale Achtungserfolge, angedeutet nur durch einzelne Ziffern, die vor Paluschkes Augen Morgen für Morgen in die einzig richtige Reihenfolge huschten.

Dieser Spiegel, der bei den meisten Besuchern nur zu einem Kopfschütteln, im besten Falle zu einem verständnisvollen Schmunzeln führte, war Paluschkes ganzer Stolz, zuweilen die Quelle seiner Lebenskraft. Zwischen den ganzen sorgsam versammelten Requisiten konnte er ja kaum sein Gesicht erkennen bei der Rasur oder beim Putzen der Zähne, aber warum sollte er auch? Dieter Paluschke hatte bessere Tage gesehen.

Es war Augustzeit, noch eine Woche bis zum Start der neuen Bundesliga. Schon zehn Wochen fußballerische Enthaltsamkeit hatte sich in Paluschkes Gesicht gebrannt. Verlebt sah er aus, vereinsamt, geknechtet. Dieses tägliche Aufraffen am Morgen, Badezimmer, Frühstückstisch, Büro. Dann ins Auto, zurück in die häusliche Hölle, ohne Sinn und ohne Fußball. Am Abend ein Testspiel unter österreichischer Sonne, Schalke 04 gegen Antalyaspor, dafür war Paluschke sich mit seinen 46 Jahren nun wirklich zu schade. Also raus ins Freie, dachte Paluschke bei sich, was auch sonst.

Auf dem Weg in die Stadt sah er auf den Straßen Autokorsos. Den Menschen zog er in Gedanken Trikots an, und an einer Ampel bereiteten sich die Wartenden darauf vor, durch einen Sprung in Richtung Ampelmännchen einen Freistoß abzuwehren. Paluschke erfreuten diese Gedankenmomente, und immer wieder dachte er, dass sich im Fußball die Liebe der Welt vereine.

Diese Menschenmenge an der Ampel, in zittriger Erwartung des Balles, wusste beim Umspringen von grün auf rot noch nicht, was auf sie zukommen sollte. Die Millionärsgattin und der verwahrlost wirkende Jugendliche, der Bankangestellte und die allein erziehende Anita, die neben dem Kinderwagen noch zwei Einkaufstüten bei sich trug und eine Zigarette künstlerisch zwischen den Lippen balancierte – dazu der Schatten eines Mannes, der in sich gekehrt am Ampelpfosten kauerte.

Er musste die Reihen schließen, dachte Paluschke bei sich, die sozialen Gräben zuschütten für das eine Ziel, das alle an dieser vom Schicksal verfolgten Ampel vereinte – sie mussten Paluschkes Ball abwehren. Kurz bevor das Ampelmännchen von rot auf grün springen sollte, ach was, kurz bevor es sich nach unten wegducken sollte, kurz bevor es in einer Situation wie dieser, in der fiebrigen Stille vor dem Freistoß, die nur falscheste Bewegung machte, sich nämlich nach unten davon machte, musste der Schatten des Mannes die Reihen schließen.

Die Millionärsgattin in betont aufrechter Haltung, Anita leicht gebückt durch die Last der Zeit, der Junge hingegen mit der Kraft der Jugend, aber das Bindeglied fehlte, dachte Paluschke, das ist doch keine Mauer, fünf Mann, schrie er, fünf Mann, doch der Schatten des Mannes kauerte noch immer am Ampelpfosten – und sah seine Aufgabe nicht.

In diesem Moment huschte das Ampelmännchen, wechselte rasch die Farbe und sorgte für einen Augenblick der Zerstreuung. Menschen gingen ihrer Wege, Menschenmengen lösten sich auf und gaben sich wieder der Anziehungskraft ihrer Lebensbahnen hin. Nur Dieter Paluschke stand noch immer an der Ampel, sah den Pfosten gegenüber, das Männchen gute zweieinhalb Meter darüber, und dachte, dass der Mann die Reihen hätte schließen müssen.

Es war schon wieder rot und dann wieder grün, als Paluschke endlich weiter ging, und sein Gang war eher ein Schlurfen, an diesem Abend im August.

3

Pfützen

Greta schleuderte ihre Schuhe durch die Wohnung und weinte hemmungslos. Nichts konnte die Tränen mehr zurückhalten, nachdem sich so viel angestaut hatte. Nichts war zu machen, als Gretas Augen sich leicht gefüllt hatten und als sie merkte, dass ihre Verzweiflung nicht mehr im Körper bleiben wollte. Und dann weinte sie hemmungslos.

Grenzenlos suchten ihre Tränen das Weite. Sturzbäche flossen über ihre Wangenknochen zu ihrem lieblichen Mund mit den leicht nach oben gebogenen Mundwinkeln, den vollen Lippen, die durch die lächelnden Tränen noch voller wurden, bis sie abperlten und ins Uferlose fielen. Eine Befreiung war dies, für Greta und die Tränen, die lächelten und strahlten, da sie der Verzweiflung Gretas entkamen und ein wenig frische Luft schnappen konnten. 170 Zentimeter tiefer dann versanken die Tränen im blauen Stoff des Teppichs, der sie zwar aufnahm und wohlig wärmte, sie aber zugleich auch verstummen ließ.

Zwei Minuten schon dauerte das Schauspiel und wollte nicht enden. Gretas zarte Wangen waren schon ganz aufgeweicht von so viel Trauer und Erlösung. Eine Träne nach der anderen machte sich auf den Weg, schnell wurde es brenzlig eng und Umwege wurden gemacht. Das war kein Bächlein mehr, das sanft Augen und Mund zusammenführte wie ein Fluss die Quelle und den Ozean.

Gretas Weinen hatte die Züge eines Stromes angenommen, der schon beinahe über die Ufer trat, und Gretas Weinen wollte nicht enden. Da hatte sich aber auch etwas aufgestaut, dachten die Tränen und wehrten sich nicht, verließen immer dankbarer Gretas Körper, um den Anschluss zu den Freunden nicht zu verlieren.

Langsam, aber beharrlich kam nun noch ein Schluchzen auf, zunächst nur ganz leise, lieferten die Stimmbänder die Hintergrundmusik zu diesem Tränenfest – Trauer und Erlösung, in Gretas Blick war beides, und auch die Tränen fanden die Erlösung spätestens im blauen Teppich, in dem sie sich als unschöner Fleck alle wieder trafen. Das Schluchzen aber blieb in der Luft wie der kalte Geruch von Räucherstäbchen. Immer wieder setzte Greta nach mit verzweifelten Lauten – ein Wimmern war es zunächst, das immer lauter wurde, und mit krächzender Stimme strömten immer mehr Laute ins Freie, raus, mussten die Laute, raus, und aus dem Wimmern wurde ein Heulen, aus dem Heulen ein Stöhnen, aus dem Stöhnen ein Schluchzen, bis es Greta packte und sie aufsprang. Sie schrie mit allem, was sie hatte, schrie Wut und Kummer raus, brüllte fast schon bis in die Nachbarwohnung hinein, wo Herrn Groth in diesem Moment ein Keks in die Teetasse fiel.

Er wechselte einen entsetzten Blick mit seiner Ehefrau, bevor er wütend den Löffel nahm und seinen Butterkeks aus der Teepfütze fischte. Herr Groth war seit zwei Jahren zu Hause und gewohnt, dass alles in geordneten Bahnen verlief. Frühstück um 8, Tageszeitung, zweite Tasse Kaffee und Besorgungen bis zum Mittagessen, das seine Frau jeden Tag mit gespielter Hingabe zubereitete. Eine Mütze Schlaf bis zum Tee, zu dem seit zwei Jahren schon Kekse gereicht wurden, seitdem Groths Hausarzt ihm geraten hatte, dass sich das tägliche Stück Kuchen nicht unbedingt mit einem hohen Lebensalter vereinbaren ließe. So sehr Herr Groth seinen Vater auch gehasst hatte, älter werden als der 88-jährige Ostfrontmuffel wollte er schon. Groths hatten eine zähe körperliche Verfassung.

Nach dem Tee überbrückten Groths die Zeit bis zum Abendbrot meist mit einem ausgedehnten Spaziergang durch endlose Wälder, am Wochenende fuhren sie zuweilen auch mal ein Stück weiter hinaus. Der Rest dann Routine nach dem Sonnenuntergang, Abendbrot, Fernsehstunden und gesunder Schlaf ab halb elf, im Sinne des Ostfrontkampfes. Herr Groth und seine Frau waren so sehr in ihren Ritualen aufgegangen, dass jede Störung das Gleichgewicht des Tages empfindlich verletzten konnte. Gretas Brüllen am Nachmittag war solch eine Störung, und Herr Groth hatte nicht die Absicht, diese zu dulden oder gar zu belächeln.

Hektisch sprang er auf, nachdem er seinen Keks vor dem Ertrinken gerettet hatte, stürmte zum Fenster und zurück zum Wohnzimmertisch, wusste nicht so recht, wohin mit sich, bis er einem Reflex gehorchend wieder zum Fenster rannte, da er sich dort im Dämmerlicht des Nachmittages Aufklärung erhoffte. Die Häuserfronten standen wie gewohnt Spalier und gestatteten einen zaghaften Blick ins Grüne. Büsche, kleine Bäume und die Ahnung eines Spielplatzes. Groth konnte das heitere Gemurmel glücklicher Kinder nicht hören und schaute wie immer durch die Glasscheibe mit dem matten Blick geballter Erfahrung. Er sah nichts Überraschendes und konnte die Quelle des Lärms nichts ausmachen. In der Hektik der Suche entdeckte er auch nicht die kleine Schwalbe, die auf einem Schild saß, auf das jemand die Worte Theodor-Storm-Straße geschrieben hatte. Aber die Schwalbe entdeckte Groth.

Der Schrei kam aus der Nachbarwohnung und nicht von der Straße, dachte Frau Groth bei sich und verkniff sich den Kommentar, da dies schon lange zu nichts mehr führte. „Nichts zu sehen“, murmelte Herr Groth wie zur Bestätigung, „nichts zu sehen“, um den Blick wieder zum Tee und zu seiner Frau zu wenden. In diesem Blick lag etwas von Ratlosigkeit. Mittlerweile waren das Brüllen und sogar das Schluchzen in der Nebenwohnung längst verklungen, eine beunruhigende Ruhe lag in der Luft und zwang Herrn Groth zu weiteren Bewegungen.

Er stolperte zunächst in die Küche, um mehr Nähe zum Corpus Delicti zu gewinnen, legte ein Ohr und seine Hand an die kalte Wand, wollte sich wohl einfühlen in das Geschehen am dunklen Ort, aber das Brüllen war längst verklungen, ja selbst das Schluchzen war verschwunden, das Stöhnen versandet, und das Heulen hatte sich im Teppich verfestigt in einem Meer verstorbener Tränen, das Herr Groth weder sehen noch erahnen konnte. Auch das Wimmern war so leise geworden, dass Groth sich hätte sehr anstrengen müssen, um es zu vernehmen. Doch dafür war er zu aufgebracht und zu hektisch. Es vergingen noch einige Augenblicke, bis seine Frau rief: „Nun setz dich doch wieder hin. Es scheint ja vorbei zu sein.“

Widerwillig kehrte er zurück an seinen Platz und dachte noch, dass die Haltung seiner Frau nicht korrekt sei. Er hatte sich seine Ruhe verdient, er zahlte hier Miete, und er wohnte schon so lange hier, dass er Respekt und Rücksichtnahme verdient habe. „Wo kommen wir denn da hin, wenn hier jeder einfach so rumschreit. Das hier ist ein Mietshaus. Das geht so nicht“, bluffte er seine Frau an, die für den Schrei noch am wenigsten konnte. Woher aber sollte Groth auch wissen, dass Greta Besuch erwartete, in einer Woche.

4

Nach der Saison ist vor der Saison

Paluschke begab sich in seinen Stammbiergarten an der Schlachte, der wie immer zu dieser Zeit gut besucht war. Greta flog zwischen den Tischen hin und her, nahm Bestellungen auf, setzte sachte Bierkrüge ab, wischte mit einer Behaglichkeit über die Tische und ließ Teller vor die hungrigen Sommermäuler rutschen, dass einem ganz schwindelig werden konnte. Sie tat dies mit einem leicht wippenden Gang in einem Tempo, das Erfahrung andeutete, und mit einer Selbstsicherheit, die Berufung wahrlich nahe legte. Paluschke bestaunte dieses Schauspiel jedes Mal, er wusste nichts über das Leben und die geheimen Gedanken dieser Frau, nichts über ihre Sehnsüchte oder ihre verborgenen Laster – er wusste nur, dass sie geschaffen war für diesen Biergarten, für dieses Labyrinth der fordernden Blicke und der offensichtlichen Erwartungen.

Paluschke erwartete sein Bier, nicht mehr. Im raschen Vorbeigehen hatten Greta und er sich ein Nicken gegönnt, das als Bestellung galt. Paluschke schätzte dieses Einvernehmen, diese unkomplizierte Form von Komplizenschaft, die ihn an das blinde Verständnis von Spielmacher und Stürmer erinnerte. Es gab Momente im Leben, in denen Worte nur störten und einer Verschleppung gleichkamen, da sie wertvolle Sekunden raubten und die Magie des Augenblicks zerstörten. Das erste Atmen des Babys im Arm der Mutter war solch einer, oder die nervöse Stille zwischen letztem Blick und erstem Kuss.

Diese Magie lag auch in der Luft, wenn der Spielmacher aus dem Nichts den Ball in die Spitze schickte und dadurch die Zeit kurz zum Stillstand zwang. Den Laufweg des Spielers erahnend, die Bewegung des Balles vorhersehend, zeigte er in solchen Sekunden die ganze Schönheit des Spiels und rang den Fans einen Augenblick der Atemlosigkeit ab, bevor sein einer Pass die gesamte Abwehr aushebelte und den Stürmer in Szene setzte. Der Spielmacher kannte seine Aufgabe, und der Stürmer sein Ziel. Paluschke und Greta fühlten sich ähnlich verbunden an diesem lauen Abend im Biergarten, ihr kurzer Blick war wie eine Bestellung, wie ein Pass des Spielmachers aus der Tiefe des Raumes.

Aber Paluschke schmeckte das Bier kaum. Es war Augustzeit, noch eine Woche bis zum Start der neuen Bundesliga. In Gedanken ging er noch einmal den Kader durch, jonglierte mit Namen und Stärken, bedachte in Ruhe Abgänge, Zugänge. Irgendetwas stimmte noch nicht, da war er sich sicher. Aber sein Vertrauen in die Fähigkeiten des Umfeldes war grenzenlos, der Trainer war seit Jahren da, hatte schon genügend Testspiele in den Sommermonaten erlebt. Am Fernseher hingegen versetzten die Auftritte auf Eurosport Paluschke in eine düstere Stimmung, wie vor ein paar Wochen, als seine Grünweißen Alemannia Aachen unterlagen. Auch Paluschke wusste, dass diese für den Fan nichtigen Auftritte kein Gradmesser für den Saisonerfolg waren, Testspiele hießen sie ja nicht ohne Grund. Oftmals gibt das schmale Wörtchen Test Dingen ja den Geruch des Vorläufigen und Halbwichtigen, dachte Paluschke bei sich. Testfahrt, Testkauf, Raketentest.

Das schlechte Gefühl aber blieb, je mehr Testspiele seiner Jungs er sah. In der vergangenen Saison war die größte Baustelle die Abwehr gewesen, obwohl Tim als Rückhalt durchaus gewachsen war, zuweilen auch über sich selbst hinaus. Als Paluschke nun von den Stadionumbauten hörte, von dem Weserstadion als Baustelle, schmunzelte er in sich hinein und dachte, dass das Management wirklich jede Finte beherrschte. Man hätte die Abwehr ja auch verstärken können, neue Spieler holen, um den Alten zumindest zu zeigen, dass Alternativen da waren. Oder aber man verwandelte das direkte Umfeld der Abwehr in einen inneren Zufluchtsort, sorgte für Wärme und Vertrauen, um Sicherheit und Glaube an die eigenen Stärken zurückzubringen. Ein Schachzug allerersten Ranges also, die Baustelle Abwehr zu beseitigen, indem man das Stadion zunächst einmal selbst in eine verwandelte. Man muss die Abwehrspieler da abholen, wo sie stehen, dachte Paluschke. Und dachte weiter an den schwachen Sturm, während Greta sein Bier holte und über sandigen Kies trug, dachte an talentierte Nachwuchskräfte und gescheiterte Torjäger. Im Sturm sah Paluschke das größte Problem.

„So, ein Pils, lassen Sie’s sich schmecken“, sagte Greta mit leicht verrutschter Stimme. Paluschke war empfänglich für solche Kleinigkeiten, er trank immerhin seit über einem Jahr hier sein Bier, kannte Greta nun schon seit einigen Monaten. Sie musste einen langen Tag gehabt haben, dachte er, zu viele Gespräche mit den Gästen, zu viele laute Ansagen in Richtung Küche. Da konnte die Stimme schon mal um sich schlagen. In dem heiteren Stimmengewusel des sommerlichen Spätabends wäre diese Nuance kaum jemandem aufgefallen, aber Paluschke lebte von diesen Absonderlichkeiten des Alltags. Er war in diesem Sinne ein Feingeist, auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah. Keiner wusste dies, und Greta schon gar nicht. Sie war schon wieder auf dem Weg zum nächsten Tisch, drei Pils und drei Jägermeister, zweimal Currywurst mit Pommes, und am Wegesrand eine Apfelschorle.

Paluschke dachte an das Geräusch von Äpfeln, die ins weiche Gras fallen. Das Schachern auf dem Erdboden, bevor eine Kartoffel das Licht der Welt erblickt. Das Rascheln des Laubes, während der Jäger um einen Baum schleicht. Er spürte eine Verbundenheit zu dieser Bedienung, die ihn überraschte. Während Wegelagerer bei ihr bestellten und sie notierte, dachte er an sie.

Dabei gab es zwischen ihnen immer wieder nur ein Nicken, das dumpfe Aufschlagen des Bierkruges auf Holz, einen Satz im Vorbeigehen. Und seinen Dank für eine Selbstverständlichkeit, denn er bezahlte sie ja für das, was sie da tat. Dennoch blieb der schöne Beigeschmack des Vertrauten, denn sie hatte seinen Pass vorhin bekommen, hatte in stummer Anerkennung das Spiel mitgespielt und es um eine weitere Woche verlängert.